Material: Formen und Theorien der Demokratie H. 2 MA 18 Politisches System der USA MA 19 Merkmale der Präsidialdemokratie Das US-amerikanische und das deutsche Regierungssystem stehen beide mehr oder minder in der Tradition der Gewaltenteilungstheorie, wie sie von dem französischen Staatsphilosophen Charles de 5 Montesquieu (1689 –1755) in der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Nach dieser Theorie werden die drei Hauptaufgaben der Staatsgewalt, Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung (Legislative, Exekutive und Judikative), 10 drei unterschiedlichen, von einander unabhängigen Staatsorganen zugewiesen, dem Parlament, der Regierung und den Gerichten. Mit seinen Fragen nach den Aufgaben und Befugnissen der drei unterschiedlichen Gewalten stellte Montesquieu die 15 Grundelemente auch für aktuelle Analysen unterschiedlicher politischer Systeme zur Verfügung. 25 Vereinigten Staaten stehen für das präsidentielle, 30 35 40 Unterschiede zum Parlamentarismus Mit Hilfe dieser Verfassungsorgane, ihrer Zustän20 digkeiten und ihrer Stellung zueinander lassen sich 45 das US-amerikanische und das deutsche Regierungssystem beschreiben und ihre Verschiedenheit herausarbeiten. Beide gehören unterschiedlichen Typen demokratischer politischer Herrschaft an. Die 1 Deutschland für das parlamentarische Regierungssystem. Das parlamentarische System hat sich aus der britischen Geschichte entwickelt und ist dort am reinsten vertreten, so dass auch vom „Westminster Modell“ gesprochen wird. Dieses war nicht nur beispielhaft für die ehemaligen Staaten des britischen Commonwealth wie Indien, Australien und Neuseeland, sondern auch für manche europäische Länder wie Deutschland, das seinen Parlamentarismus allerdings relativ eigenständig im Spannungsfeld von Westminster Modell und eigenen Geschichtserfahrungen entwickelte. Das präsidentielle System der USA ist von den Gründungsvätern in bewusster Abgrenzung gegen die absolutistischen Regime im Europa des 18. Jahrhunderts konzipiert worden. Es war Vorbild für viele lateinamerikanische Länder, aber auch für einige asiatische wie die Philippinen und Süd-Korea. Ein Vergleich des US-amerikanischen präsidentiellen mit dem deutschen parlamentarischen Regierungssystem zeigt zwar in beiden die Verfassungsorgane Legislative, Exekutive und Judikative, doch ist das Institutionenarrangement jeweils ein anderes. Bezogen auf Kompetenzen und Material: Formen und Theorien der Demokratie Präsidenten sind. Der „Außenminister“ beispielsgress, der Kanzler schwerlich mit dem Präsidenten weise trägt die Bezeichnung Secretary of State, der vergleichbar. 105 „Verteidigungsminister“ wird als Secretary of Defense bezeichnet. Der Präsident kann in den KabiMangel an Fraktionsdisziplin nettsrang erheben, wen immer er auszeichnen möchIm parlamentarischen Regierungssystem der Bunte. Und an Kabinettssitzungen haben zuweilen auch desrepublik bilden die Mehrheit der Mitglieder des die Ehefrauen von Präsidenten teilgenommen, wenn Bundestages und das Kabinett mit dem Kanzler an 110 sie sich als Beraterinnen verstanden. der Spitze eine politische Aktionseinheit, nämlich die Regierungsmehrheit. Diese tritt in der Regel Punktuelle Gewaltenverschränkung geschlossen auf, wird durch Fraktionsdisziplin und Gleichwohl gibt es auch in den USA Gewalten– da die Regierungen sich meist aus mehreren verschränkung, wenn auch nur punktuell. So ist der Parteien zusammensetzen – durch KoalitionsdisziUS-Vizepräsident als potenzieller Nachfolger des plin verbunden. Der Kanzler als Chef der Exekutive 115 Präsidenten Teil der Exekutive, zugleich gehört er verfügt im Prinzip „automatisch“ über eine Mehrheit aber als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen im Parlament. Ist diese nicht vorhanden, dann gerät leiten kann und bei Stimmengleichheit in dieser die Regierung in eine krisenhafte Situation. Kammer das ausschlaggebende Votum hat, der Im präsidentiellen Regierungssystem der VerLegislative an. Der Präsident kann sich weigern, einigten Staaten kann sich der Chef der Exekutive, 120 Gesetzentwürfe zu unterschreiben, so dass sie nicht der Präsident, dagegen nicht auf eine eigene Mehrin Kraft treten. Er ist befugt, Gesetzentwürfe an den heit in den beiden Häusern des Kongresses, in Senat Kongress zurückzuschicken. Dieser kann dann den und Repräsentantenhaus, stützen. Vielmehr muss er Einspruch des Präsidenten mit einer Zweidrittelfür jede Gesetzesvorlage, die er durchsetzen möchte, mehrheit in beiden Kammern aufheben. Mit diesem ad hoc eine Mehrheit suchen. Dies gilt selbst dann, 125 aufschiebenden, suspensiven Veto wachsen dem wenn in beiden Kammern Abgeordnete „seiner Präsidenten also legislative Möglichkeiten zu. Partei“ die Mehrheit bilden. Prinzipiell mangelt es Ferner bedürfen Verträge mit anderen Staaten, an Fraktionsdisziplin. die der Präsident bzw. einer seiner Mitarbeiter ausgehandelt hat, der Zustimmung von zwei Dritteln Ämtertrennung 130 des Senats. Bei Personalvorschlägen für politische In der Bundesrepublik bilden die KabinettsmitBeamte bzw. für Bundesrichter reicht die Zustimglieder einschließlich des Kanzlers die lebendige mung einer Mehrheit der Senatoren. Der Senat wirkt Klammer zwischen Bundestagsmehrheit und Regiealso im exekutiven Bereich mit. Schließlich kann der rung. Das Kabinett führt als Kollegialorgan die Supreme Court, der Oberste Gerichtshof (nicht mit Regierungsmehrheit. Und die Hauptaufgabe der 135 unserem Bundesverfassungsgericht zu Parlamentarischen Staatssekretärinnen und Staatsverwechseln), über die Verfassungsmäßigkeit von sekretäre, die den verschiedenen Ministerien zugeGesetzen entscheiden, er nimmt also in diesem Fall ordnet sind und die auch als „Juniorminister“ beeine quasi-legislative Funktion wahr. zeichnet werden, besteht darin, die enge Verbindung Neben der recht strikten Gewaltenteilung findet zwischen ihrem Ministerium sowie der Exekutive 140 sich im politischen System der Vereinigten Staaten insgesamt und den Regierungsfraktionen im also so etwas wie eine punktuelle MachtverschränBundestag sicherzustellen. Anders formuliert: Die kung. Daraus ist ein System von checks and balances gleichzeitige Zugehörigkeit zur Exekutive, also zum entstanden, ein System wechselseitiger MachtKabinett, und zur Legislative, zum Bundestag, ist kontrolle und Machtausbalancierung. Der Politikmöglich, ja sogar erwünscht, um die politische 145 wissenschaftler Richard Neustadt, enger Berater Aktionseinheit der Regierungsmehrheit zu gewährmehrerer US-Präsidenten, spricht von separate instileisten. tutions sharing power, von getrennten Institutionen, In den Vereinigten Staaten hingegen ist die die aber in der Ausübung von Macht kooperieren gleichzeitige Zugehörigkeit zu Exekutive und Legismüssen, also gegenseitige Unabhängigkeit mit lative nicht möglich. Und das Kabinett wirkt nicht, 150 Zwang zur Zusammenarbeit verbinden. Bewusst wie im parlamentarischen Regierungssystem, als haben die Verfassungsväter die Institutionen so Kollegialorgan. Mitglied des „Kabinetts“ zu sein, gestaltet, dass Macht nicht in einer Hand, nicht in hat in den USA eher symbolische Bedeutung. Dort einem Verfassungsorgan konzentriert werden kann. sitzen die engsten Berater des Präsidenten, darunter Vielmehr geht es in der Politik der USA immer die Chefs der wichtigsten Behörden, die bewusst den 155 wieder um Machtaufteilung, Machtdiffusion, MachtTitel Secretary tragen, weil sie Sekretäre des fragmentierung. Dem entspricht ein Grundzug in der 50 Aufgaben ist der Bundestag kaum mit dem Kon- 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 H. 2 2 Material: Formen und Theorien der Demokratie 160 165 170 175 180 185 190 195 200 politischen Kultur des Landes, der sich grundsätzlich jeder Machtanhäufung widersetzt, sei es im Bereich des big government, des big business oder des big labor. Politisch unerfahren zu sein, gegen das Establishment in Washington anzutreten, kann für einen Präsidentschaftskandidaten von Vorteil sein, ihm Popularität verschaffen. Auf diese Weise zog Jimmy Carter, der unbekannte Erdnussfarmer aus Georgia, 1976 in das Weiße Haus ein. Politische Macht ist in den Vereinigten Staaten also ziemlich fragmentiert, während sie in Deutschland – nicht zuletzt durch die Verbindung von Parlamentsmehrheit und Exekutive zur Regierungsmehrheit – einigermaßen konzentriert auftritt. Dem entspricht, dass es in Deutschland relativ hierarchische Großorganisationen gibt, mit Mitglieder- und Volksparteien, mit Spitzenverbänden von Kapital und Arbeit, während die entsprechenden Organisationen in den USA dezentralisiert, aufgesplittert sind und Spitzenzusammenschlüsse der Gewerkschaften sowie der Unternehmen und Unternehmensverbände eigentlich nicht existieren. In Deutschland herrschen relativ übersichtliche, homogene Klassen- und Schichtenstrukturen vor, in der Gesellschaft der USA dagegen die ethnische, religiöse, kulturelle, nationale, regionale und lokale Segmentierung. Schließlich hat „der Staat“ in der deutschen und USamerikanischen Geschichte und Gegenwart eine je unterschiedliche Bedeutung. Während in Deutschland „der Staat“ aus der Gesellschaft kommend sich ihr gegenüber relativ verselbstständigt hat und die staatliche Bürokratie in der Geschichte der Industrialisierung der treibende Motor war, blieb in den Vereinigten Staaten „der Staat“ immer in die Gesellschaft rückgekoppelt, herrschte prinzipielles Misstrauen gegenüber allem Staatlichen. Und Träger der Industrialisierung waren die Unternehmen, nicht die staatliche Bürokratie. Kurz: Beim US-amerikanischen Präsidentialismus und deutschen Parlamentarismus haben wir es nicht nur mit zwei höchst unterschiedlichen Typen politischer Herrschaft zu tun, sondern diese wiederum wurzeln in völlig verschiedenen Gesellschaften, Traditionen und politischen Kulturen. Lösche, Peter: Merkmale einer Präsidialdemokratie, www.bpb.de/themen/SDJXLK,0,0,Merkmale_der_Pr%E4sidiald emokratie.html 3 H. 2 Material: Formen und Theorien der Demokratie 4 H. 2