Ist die Schweiz noch souverän

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Ist die Schweiz noch souverän?
Vortrag am 28. Juni 2011 in Ziehlschlacht anlässlich eines VIP-Abends der
Heliosklinik
Der souveräne Nationalstaat ist noch nicht sehr alt, er entstand in der Folge des
30-jährigen Krieges. Auch die Eidgenossenschaft hat sich damals fast völlig aus
dem Reichsverband gelöst. Doch erst der Bundesstaat von 1848 schuf die
Voraussetzungen, damit sich die Schweiz auf dem internationalen Parkett als
Staat bewegen konnte. Neuerdings stellen das immer dichtere Völkerrecht und die
europäische Integration die Souveränität erneut in Frage. Für die Schweiz mit
ihrer Volkssouveränität ergeben sich daraus besonders heikle Probleme.
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Dieter Freiburghaus
Ist die Schweiz noch souverän?
Vortrag am 28. Juni 2011 in der Heliosklinik in Ziehlschlacht
Ist die Schweiz noch souverän?
Selbst wenn ich wollte – und eingedenk des Rates „In der Kürze liegt die
Würze“ – wäre ich nicht in der Lage, diese Frage mit einem klaren und
souveränen „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten. Anders als bei der Schwangerschaft
gibt es bei der Souveränität durchaus ein „mehr“ oder „weniger“. Zeugin dafür ist
unsere Bundespräsidentin, welche nach ihrem letzten Besuch in Brüssel und im
Hinblick auf künftige Verhandlungen gesagt hat: „Wir wollen mehr Souveränität,
und nicht weniger“. Französisch und etwas kleinlaut hat sie dann allerdings
beigefügt, dies sei eine „mission quasi impossible“. Doch die Landesregierung
betont immer wieder, eine „Preisgabe der Souveränität“ komme auf keinen Fall in
Frage. Was meint sie damit genau? Hat Deutschland seine Souveränität
preisgegeben? Grossbritannien? Norwegen? Oder ist die Schweiz hier wieder
einmal ein Sonderfall?
Das Konzept der Souveränität hat so seine Tücken. Wir werden uns ihm
deshalb von verschiedenen Seiten nähern. Woher kommt überhaupt der Begriff?
Seit wann gibt es souveräne Staaten und wie kam die Schweiz zu ihrer
Souveränität? Wie verhalten sich Souveränität und Völkerrecht zueinander? Sind
Mitglieder der Europäischen Union überhaupt noch souverän? Und dann zurück
zu Schweiz: Hängt ihre besondere Empfindlichkeit möglicherweise damit
zusammen, dass hier das Volk „der Souverän“ heisst?
Was bedeutet Souveränität überhaupt?
Eine etymologische und historische Annäherung
Woher stammt das Wort? Die Wurzel ist das Lateinische superanus, oder
superior, was „darüber befindlich“ oder „überlegen“ bedeutet. Wenn wir also
sagen: „Roger Federer hat wieder einmal souverän gesiegt“, dann ist dies
etymologisch richtig, sachlich aber nicht auf jeden Fall. Ein Synonymwörterbuch
nennt dreizehn Bedeutungen und führt 200 Synonyme für „souverän“ auf. Da ist
etwa der „Sovereign“, eine englische Goldmünze, welche Heinrich VII 1489
prägen liess. „Der Souverän“ meint oft den Fürsten, den Herrscher, insbesondere
zur Zeit des Absolutismus. Souverän wird aber auch gleichgesetzt mit „autonom“,
auto-nomos, sich selbst die Gesetze gebend. Oder etwas schlichter mit
„Unabhängigkeit“, so etwa bei der AUNS, der Aktion für eine unabhängige und
neutrale Schweiz. Und hier, in der Schweiz, bedeutet „der Souverän“, wie schon
gesagt, das Volk, wenn es seine direktdemokratischen Rechte wahrnimmt. Alle
diese Verwendungen weisen zwar in eine Richtung, aber einen klaren
gemeinsamen Nenner haben sie offensichtlich nicht.
Was uns hier natürlich in erster Linie interessiert, sind nicht Roger Federer
und englische Münzen, sondern der sogenannte souveräne Staat. Seit wann gibt
es ihn? Oder seit wann bezeichnen sich Staaten als souverän? Wenn sie den
Historiker oder den Staatswissenschaftler fragen, werden sie wahrscheinlich die
Antwort erhalten: So etwa seit 1648, seit dem Westfälischen Frieden, welcher
dem dreissigjährigen Kriege ein Ende setzte. Das kann man gelten lassen, denn
damals traten sich die europäischen Staaten – Frankreich, Schweden, das
Kaiserreich, Spanien und die Niederlande – zum ersten Mal als unabhängige und
gleichberechtigte gegenüber und schufen eine neue politische Ordnung, die in
ihren Grundzügen bis zu den napoleonischen Kriegen Bestand hatte. Man spricht
gelegentlich vom „Westfälischen System“.
Und was war vorher? Bis ins 16. Jahrhundert hinein hatte „das Reich“ noch
eine umfassende, die Staaten überwölbende Bedeutung. Welches Reich?
Letztlich das römische, das Karl der Grosse im Jahre 800 hat wiederentstehen
lassen. Kaiser und Papst als universelle Mächte. Später das „Heilige römische
Reich deutscher Nation“. 1806 wurde es von Naopleon aufgelöst. 1804 hatte er
sich zum Kaiser krönen lassen. Eine neue Krone wurde für ihn gefertigt. Man
nannte sie „La Couronne de Charlemagne. Tausend Jahre blickten auf sie herab,
doch sie hielt nur elf Jahre. Späteren tausendjährigen Reichen ging es nicht viel
besser.
Sie werden nun zu Recht sagen, dieses Reich sei mehrmals aufgeteilt und
neu zusammengesetzt worden und habe seit dem Spätmittelalter immer nur Teile
Europas umfasst. Länder wie Frankreich, England, Portugal, Schweden und Polen
seien vom Deutschen Kaiser faktisch unabhängig gewesen, und auch auf dem
Reichsgebiet sei sein Einfluss im Laufe der Zeit immer schwächer geworden. Das
ist richtig, aber herrschaftstheoretisch und weltbildmässig bestand das universale
Reich weiter. Gerade weil es keine starke zentrale Gewalt mehr gab, weil sich
überall die Ansprüche verschiedener Fürsten, Könige, Herzöge, Fürstäbte,
Bischöfe und Städte überlagerten und durchkreuzten, blieb das Reich der
gedankliche Rahmen, in den sich das Abendland stellte. Das feudale Denken,
nach welchem alle Rechte und Freiheiten in letzter Instanz vom Kaiser gewährt
werden, blieb eine wichtige Leitvorstellung bis ins 16. Jahrhundert.
Allmählich änderte sich aber die Szenerie, denn im Westen Europas setzten
sich mächtige Fürstenhäuser durch und beanspruchten immer deutlicher eine
absolute, uneingeschränkte Gewalt auf ihren wachsenden und immer mehr
zusammenhängenden Territorien. Der restliche Adel und die Kirche wurden unter
die Krone gezwungen. Heinrich VIII heiratete Anne Boleyn gegen den Willen des
Papstes und des Kaisers und gründete die anglikanische Kirche. Die
protestantischen Nordländer anerkannten weder Kaiser noch Papst. Der
französische König machte seine Adligen zu Hofeunuchen und leitete seine Macht
direkt aus der Gnade Gottes ab. Der souveräne Fürst war geboren, der moderne
Staat entstand, das Reich war nur noch ein Schatten seiner selbst. Das geschah
zwischen dem 15. und dem 17. Jahrhundert, und deswegen konnten sich in
Münster und Osnabrück zum ersten Mal unabhängige, gleichberechtigte und also
„souveräne“ Staaten gegenüber treten.
Die
theoretische
Grundlage
dazu
stammte
vom
französischen
Staatsphilosophen Jean Bodin. Er entwickelte im 16. Jahrhundert eine auf den
französischen König zugeschnittene Lehre vom souveränen Staat. Der König
sollte über das ganze Land uneingeschränkt herrschen und niemandem unterstellt
sein als Gott. Er, der König, beansprucht das Monopol der legitimen
Gewaltausübung und er ist der letztinstanzliche Gesetzgeber. Er verfügt über die
militärischen Mittel, um die Interessen seines Staates gegen andere Mächte
durchzusetzen.
Die Souveränität hat also eine Innen- und eine Aussenseite, die sich gegenseitig
bedingen: Dass der Fürst im Innern des Landes tatsächlich und ausschliesslich
gebietet, ist die Voraussetzung dafür, dass die andern, seinegleichen, ihn als
legitimen Vertreter seines Staates respektieren. Und dass er die Interessen seines
Landes nach aussen wirkungsvoll vertritt, ist die Voraussetzung dafür, dass die
Legitimität seiner Herrschaft im Innern anerkannt wird. Diese Lehre wurde von
andern Denkern aufgenommen und weiterentwickelt und setzte sich allmählich in
immer mehr Staaten durch: Der Absolutismus trat seinen Siegeszug an und schuf
die Grundlagen des modernen Nationalstaats.
Und dies hiess nun zweierlei für das Verhältnis dieser Staaten untereinander:
Auf der einen Seite waren sie in der Lage, Verträge und Abkommen
abzuschliessen und sich damit zu binden. Oder anders gesagt: Zur Souveränität
gehört auch, diese durch Verträge aus eigenem Willen zu beschränken. Damit
entstand eine neue Kategorie von Recht, nämlich das Völkerrecht. Allerdings war
es um seine Durchsetzung nicht zum Besten bestellt, denn es fehlte eine die
Staaten übergreifende Instanz, welche ihm hätte Nachachtung verschaffen
können. Doch einem Recht, welches nicht sanktionsbewehrt ist, fehlt ein
entscheidendes Attribut.
Das hiess nun, dass der Fürst, wenn andere seine Rechte verletzten, mit
eigenen militärischen Mitteln gegen sie vorgehen musste, und, schlimmer noch,
dass der sich an das Völkerrecht nur solange hielt, wie es im nützte. Das führte ab
dem 17. Jahrhundert zu einer ununterbrochenen Reihe von immer grösseren und
verheerenderen Kriegen. Ein Ringen um die Vorherrschaft in Europa und in der
Welt begann, dem kein Kaiser mehr Einhalt gebieten konnte. Die Türkenkriege,
der Spanischen Erbfolgekrieg, die Kriege Friedrichs des Grossen gegen den Rest
der Welt, die napoleonischen Eroberungen, das Ringen um die Herrschaft in
Oberitalien, der deutsch-französische Krieg, die Kolonialkriege, der Erste und der
Zweite Weltkrieg. Immer wieder wurde zwar versucht, durch Abmachungen,
Bündnisse und Koalitionen Frieden zu schaffen, und immer wieder wurde er
gebrochen. Während also die zentralisierten Nationalstaaten im Innern ihrer
Länder zu einer unvergleichlichen Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft
führten, verschleuderten sie den Reichtum weitgehend in mörderischen Kriegen.
Seit wann ist die Schweiz souverän?
Nun, es wird Sie nicht erstaunen, dass sich die schweizerische Souveränität
ungefähr im Gleichschritt mit der eben geschilderten Entwicklung ausgebildet hat;
und auch für sie war der Westfälische Friede wichtig. Es sind allerdings, wie
immer, wenn es um unser Land geht, einige Besonderheiten zu beachten.
Wir haben die Entstehung der souveränen Staaten in einen engen
Zusammenhang mit der Schwächung und schliesslichen Auflösung des Reiches
gebracht. Nun, die Eidgenossenschaft war bekanntlich ein Pionier in der
Loslösung vom Reich. Diese erfolgte in vielen Schritten im Laufe mehrerer
Jahrhunderte. Mit Gessler und Tell hat dies fast gar nichts zu tun, denn damals
ging es um Freiheiten, die der Kaiser gewährt hatte, und die man gegen regionale
Herrscher verteidigte. Es waren also Freiheiten im Reich, nicht Freiheit vom Reich.
Auch der Schwabenkrieg von 1499 führte nicht zum Ausscheiden aus dem
Reichsverband, doch der Einfluss des Kaisers wurde geschwächt: Die
kaiserlichen
Prärogativen
betreffend
Heerfolge,
Reichspfennig
und
Reichskammergericht wurden in der Eidgenossenschaft nicht mehr durchgesetzt.
Doch noch im 17. Jahrhundert hat man die Kantonswappen überall und
regelmässig unter die Fittiche des Reichsadlers gestellt. Irgendwie gehörte man
eben doch noch dazu.
Und dann der Westfälische Friede. Die Schweiz war bekanntlich vom
dreissigjährigen Krieg verschont geblieben. Was also hatte sie in Münster und
Osnabrück zu suchen? Eigentlich nichts, und offiziell nahm sie vorerst auch nicht
teil. Doch auf eigene Initiative reiste der Basler Bürgermeister Johann Rudolf
Wettstein nach Münster. Inzwischen waren die Beziehungen der
Eidgenossenschaft zu Frankreich stärker geworden als diejenigen zum Reich, und
Frankreich hatte ein Interesse daran, dass die Schweiz sich vom Reich löste. Die
Franzosen flüsterten deshalb Wettstein ein, er solle für die Schweiz die
Souveränität fordern. Doch dieses Wort war noch neu und sein Gebrauch unklar.
Was die Schweiz nach zähem Verhandeln erhielt, war eine Exemtion, eine
Nichtmehrunterstellung unter das Reichskammergericht, welches faktisch aber
schon bisher keine Rolle mehr gespielt hatte. Es handelte sich also genau
genommen wiederum um ein vom Kaiser gewährtes Recht. Da aber Historiker
markante Daten mögen, sagt man oft, die Schweiz habe 1648 ihre
völkerrechtliche Unabhängigkeit erlangt.
Doch was bedeutete dies nun für die Eidgenossenschaft, inwieweit war sie
souverän? Wir haben gezeigt, dass die Herausbildung der staatlichen
Zentralgewalt im Absolutismus eine Voraussetzung dafür war, als souveräner
Staat international aufzutreten. An dieser Zentralgewalt aber fehlte es der
Eidgenossenschaft völlig, denn sie war ein loser Bund selbständiger Kantone, und
die Tagsatzung war nicht mehr als eine diplomatische Konferenz. Wenn schon,
dann hätten die Kantone als souveräne Subjekte bezeichnet werden können.
Insbesondere war die Eidgenossenschaft bekanntlich nicht in der Lage, eine
koordinierte Aussenpolitik zu betreiben, was ja der Grund für das Debakel in
Marignano gewesen war und dazu geführt hatte, dass sich die Schweiz nicht mehr
„in fremde Händel mischte“. Wer aber die Eidgenossenschaft nach aussen vertrat,
blieb weiterhin unklar, eine gemeinsame Armee gab es nicht, und öfter kam es zu
Unruhen und Bürgerkriegen. Es fehlte der Eidgenossenschaft also an den inneren
Voraussetzungen dafür, ein souveräner Staat zu sein. Und so konnte es nicht
ausbleiben, dass sie 1798 den napoleonischen Truppen kaum Widerstand
entgegensetzte.
Napoleon schuf mit der Helvetischen Republik zum ersten Mal einen
modernen schweizerischen Staat mit einer zentralen Gewalt. Doch dieser währte
nicht lange, und in der Restaurationszeit drohte das Land wieder zu einem
Staatenbund zu degenerieren. Dass diese eigenartige Ansammlung von
Republiken beim Wiener Kongress überhaupt bestehen blieb, hatte mit den
Interessen der europäischen Mächte zu tun, zwischen Frankreich und Österreich
einen Pufferstaat zu haben. Nach langen Wirren gelang es dann den
Eidgenossen, 1848 einen Bundesstaat zu gründen, der nun für die Aussenpolitik
und die Verteidigung zuständig war. Jetzt erst erfüllte dieses Land alle
Voraussetzungen dafür, als souveräner Staat ernst genommen zu werden.
Stellt das Völkerrecht die Souveränität in Frage?
Wir wenden uns nun wieder der gesamteuropäischen Entwicklung zu. Ab dem 17.
Jahrhundert können wir also von souveränen Staaten in Europa sprechen. Diese
Staaten waren, so haben wir gesagt, in der Lage, sich durch Verträge zu binden
und damit Völkerrecht zu schaffen. Doch da es diesem Recht an einer
Durchsetzungsinstanz gebrach, blieb es bis in die Gegenwart schwach und konnte
Kriege nicht verhindern.
Trotzdem gewann das Völkerrecht ab dem 18. Jahrhundert allmählich an
Bedeutung. Zuerst schütze es die Diplomanten, denn ohne sie wäre es ganz
unmöglich gewesen, zu einer Verständigung zwischen den Staaten zu kommen.
Am Wiener Kongress bewiesen sie ihre Nützlichkeit. In den Bereichen Handel,
Zölle und Personenfreizügigkeit schlossen die Staaten vor allem bilaterale
Verträge ab. Auch das Seerecht erfuhr erste Kodifizierungen. Die britische
wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft im 19. Jahrhundert führte zu einer
Pax britannica und zu einem europäischen Freihandelssystem. Die ersten
Versuche, Kriegsrecht zu kodifizieren, waren eine Folge der oberitalienischen
Kriege. Solferino 1859 führte zur Gründung des Roten Kreuzes und zur Genfer
Konvention. Gegen Ende des Jahrhunderts brachten technische Veränderungen
und die Intensivierung von Handel und Kommunikation erste internationale
Organisationen hervor – etwa den Weltpostverein oder die Fernmeldeunion. Die
Schweiz spielte dabei eine aktive Rolle und konnte den Sitz einiger dieser
Organisationen ins Land holen.
Die Katastrophe des Ersten Weltkriegs war der Anlass zum ersten Versuch,
eine umfassende internationale Organisation zu gründen, welche künftig den
Frieden gewährleisten sollte: Den Völkerbund. Doch angesichts der faschistischen
und nationalsozialistischen Aggression und wegen des Abseitsstehens der USA
konnte diese Organisation ihre Funktion nicht erfüllen, und die totalitären Mächte
zwangen Europa einen neuen Krieg auf. Jegliches Völkerrecht verlor seine
Wirkung.
Man sagt, der Krieg sei der Vater aller Dinge, und daran ist wohl ein Körnchen
Wahrheit. Der Hitlerkrieg führte zu einer gewaltigen Veränderung der
internationalen Beziehungen, und zwar nicht nur zu einer völligen
Mächteverschiebung – Abdanken Europas und Aufstieg der USA und der UdSSR
– sondern auch zum Entstehen einer internationalen Ordnung, welche bis heute in
den Grundzügen Bestand hat. Roosevelt entwarf eine Pax americana, in deren
Zentrum die UNO stand, und welche letztlich alle Bereiche der
zwischennationalen Beziehungen abdecken sollte. Mit dem Sicherheitsrat verfügte
sie über ein Organ, welches in Konflikte eingreifen konnte – allerdings erfüllte es
seine Aufgabe wegen des Kalten Krieges bis in die jüngste Zeit schlecht. Ebenso
wichtig waren aber das GATT und die Bretten Woods Institutionen, denn sie
schufen einen Rahmen für die Weltwirtschaft und damit für eine gewaltige
Ausdehnung des Welthandels.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das UNO-System etwas
handlungsfähiger, und die Globalisierung der Wirtschaft führte zu neuen Schüben
von Wachstum und Internationalisierung. Es wurde nun erforderlich, immer mehr
Bereiche international – also völkerrechtlich – zu regeln: Vom Zolltarifrecht bis
zum Geistigen Eigentum, vom Transportwesen zum Investitionsschutz, vom
Steuerrecht zum Umweltschutz. In den letzten Jahren erleben wir eine
Ausdehnung, Verdichtung und Vertiefung des Völkerrechts, welche bis vor kurzem
undenkbar gewesen wäre. Es gibt kaum mehr einen Bereich staatlicher Politik, in
den völkerrechtliche Normen nicht eingreifen.
Doch auch die Mittel der Durchsetzung werden ausgebaut: Man verhängt nicht
nur Wirtschaftssanktionen oder geht militärisch gegen Staaten vor, welche andere
überfallen, man kann auch militärisch in Bürgerkriegen intervenieren oder die
Zivilbevölkerung gegen die eigenen Herrscher schützen. Ausserdem hat man ein
Kriegsverbrechertribunal geschaffen, welches seine Funktion zunehmend besser
erfüllt. In einigen Bereichen gibt es Gerichte oder Streitschlichtungsmechanismen
– so den Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates oder das Dispute
Settlement System der WTO. Ein etwas fragewürdiges, doch wirksames Mittel der
Durchsetzung völkerrechtlicher Standards ist das „naming and shaming“, welches
die Schweiz wegen ihrer Steuerpraxen unlängst in Form der grauen Listen der
OECD erlebt hat.
Und wie verhält sich nun dieses Völkerrecht zur Souveränität? Grundsätzlich
anerkennen alle Rechtsstaaten den Vorrang des Völkerrechts vor dem nationalen
Recht. Am Völkerrecht findet also die Rechtsetzungstätigkeit und damit die
Souveränität der Staaten eine Schranke. Doch Verträge kann man kündigen oder
brechen, und aus internationalen Organisationen kann man austreten. Insofern ist
die Souveränität gewahrt. Zumindest theoretisch. Praktisch aber verlöre ein Staat,
der Verträge immer wieder kündigte oder nicht einhielte, seine Glaubwürdigkeit
oder er würde sanktioniert. Falls er, wie weiland Albanien unter Enver Hoxha
weitgehend autark ist, wird ihn dies nur wenig kümmern. Doch wenn sein
Wohlergehen von intensivem Austausch mit dem Rest der Welt abhängt, wird sein
Spielraum, das Völkerrecht nicht zu beachten, sehr gering.
Ist das nun ein Widerspruch: Dass eigentlich nur souveräne Staaten Verträge
abschliessen können, diese dann aber ihre Souveränität einschränken? Es ist ein
Widerspruch, wenn die Souveränität ein höchster Wert wäre, unteilbar, ein
summum bonum. Doch bei Lichte betrachtet ist sie das eben nicht, sondern sie ist
ein Mittel, um die nationalen Interessen zu wahren. Und diese können eben in der
modernen, globalisierten Welt nur gewahrt werden, wenn es in immer mehr
Bereichen ein internationales Recht gibt, welches die Beziehungen zwischen den
Staaten und den Bürgern verbindlich regelt und den Frieden garantiert.
Souveränität bedeutet deswegen heute vor allem, dieses Völkerrecht
mitzugestalten und mitzubestimmen.
Dies anerkannt, bleibt das Verhältnis von Souveränität und Völkerrecht
trotzdem prekär. Dieses Recht wird keineswegs überall und immer durchgesetzt,
und deswegen ist jeder Staat darauf bedacht, sich die Mittel zu erhalten, um
selbst zum Rechten zu sehen. Ausserdem verfügt das Völkerrecht über eine
schwächere Legitimation als das Landesrecht, denn ihm fehlt die volle
demokratische Unterfütterung: Internationale Abkommen werden von den
Exekutiven ausgehandelt, die Legislative kann am Schluss nur noch Ja oder Nein
sagen.
Exkurs: Der europäische Sonderfall
Europa hat das System konkurrierender souveräner Nationalstaaten
hervorgebracht. Dessen Vor- und Nachteile haben wir erwähnt. Die Kriege des
Zwanzigsten Jahrhunderts jedoch zerstörten die materielle und die moralische
Basis Europas. Es wurde Zeit, über die Bücher zu gehen. War nicht der
Nationalstaat die Wurzel des Übels, oder zumindest das Streben dieser Staaten
nach Vorherrschaft? Sollten diesen Staaten nicht die Zähne gezogen werden?
Doch wie? Durch die UNO? Sie war schwach. Durch einen europäischen Staat?
Davon wurde geträumt, doch die Politiker waren dazu nicht bereit. In der
Nachkriegszeit machten sich die geistigen und politischen Eliten europaweit
daran, ein neues System zu entwerfen: zwischen Bundesstaat und internationaler
Organisation. Sechs Länder begannen in den fünfziger Jahren mit der
wirtschaftlichen Integration und schritten dann in immer neue Felder aus. Weitere
Staaten schlossen sich der Gemeinschaft an. Sie heisst heute Europäische Union
und umfasst 27 Länder.
Es entstand ein neuartiges Rechtssystem, zwischen Völker- und Landesrecht,
verbindlich für alle Mitglieder, dem nationalen Recht übergeordnet, gerichtlich
überprüfbar und mittels Sanktionen durchsetzbar. Dieses Recht der Gemeinschaft
und später der Union bedeutete nun nicht mehr einfach eine gewisse
Einschränkung der nationale Souveränität, sondern recht eigentlich eine Teilung
der Souveränität: Für etwa die Hälfte der Rechtsetzung ist inzwischen die Union
zuständig, für die Durchführung und die andere Hälfte sind es die Mitgliedstaaten.
Diesen kommt ausserdem bei der gemeinsamen Rechtsetzung eine
ausschlaggebende Rolle zu. Das System hat immer mehr bundesstaatliche Züge,
doch zum Staat fehlen ihm wesentliche Attribute: Keine Armee, keine wirksame
gemeinsame Aussenpolitik, bescheidenste Finanzen, keine allgemeine
Rechtsetzugsbefugnis und so weiter. Es ist ein neues, eigenständiges,
supranationales politisch-rechtliches System entstanden, welches von niemandem
so recht geliebt und bisher nirgends auf der Welt nachgeahmt wurde.
Gegenwärtig ist es in arger Schieflage, doch es hat sich bisher trotz vieler Krisen
als haltbar erwiesen.
Die Schweiz und die Staatengemeinschaft
Und nun wieder zur Schweiz. Die Eidgenossenschaft wurde im Laufe der
Jahrhunderte zu einem selbständigen, vom Reich unabhängigen Staat. Doch bis
ins 19. Jahrhundert hinein fehlten ihr die inneren Voraussetzungen, um die
Souveränität gegen Aussen wirksam zu vertreten. Diese wurden 1848 geschaffen.
Nun war die Schweiz gleichberechtigtes und gleich verpflichtetes Mitglied der
europäischen Staatengemeinschaft.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die schweizerische Industrie rasch – vor
allem wegen des regen Handels mit andern Ländern. Uhren, Textilien und Farben
wurden nur zum kleinsten Teil für den Heimmarkt produziert. Auf der andern Seite
mussten die meisten Rohstoffe importiert werden. Die Schweiz schloss mit
verschiedenen Staaten Verträge über den Handelsverkehr ab. 1868 etwa mit
Italien einen Niederlassungs- und Konsularvertrag, der den Bürgern beider
Staaten die unbeschränkte Niederlassung und Gewerbeausübung erlaubte. Ab
den 1870er Jahren kamen Abkommen über den Eisenbahnverkehr dazu.
Das heisst, die politische Souveränität ging immer mehr einher mit
wirtschaftlicher Verflechtung und damit auch Abhängigkeit. In Friedenszeiten und
bei niedrigen Zöllen war dies problemlos, doch im Fall von Handelskriegen oder
bei Waffengängen zeigte sich die grosse Verletzlichkeit unseres Landes. Im Krieg
blieb das Land neutral, doch musste es öfter nach der Pfeife der gerade
tonangebenden Mächte tanzen. Unser Land war und ist deswegen ganz
besonders an einer friedlichen und rechtsförmigen Regelung der Beziehungen
zwischen den Staaten interessiert. Ihr Wohlergehen hängt stärker als das anderer
Länder von der Geltung des Völkerrechts ab.
Das war auch ein Grund, weshalb die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg
dem Völkerbund beitrat, obwohl sie dabei an der Neutralität Abstriche machen
musste. Doch dann kam die grosse Enttäuschung, denn diese Organisation
konnte einen weiteren Weltkrieg nicht verhindern. Bald war die Schweiz von
totalitären, kriegführenden Staaten umgeben, und es blieb ihr nichts anderes
übrig, als sich einzuigeln und abzuschotten. Mehr der Not gehorchend denn dem
eigenen Triebe entwickelte die „Geistige Landesverteidigung“ das Bild einer
starken, autonomen und souveränen Schweiz: „Steht wir den Felsen gleich, nie
vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott“ sang man
damals am 1. August. Diese Ideologie prägte auch die Nachkriegszeit: Weder bei
der UNO noch bei der NATO, weder beim GATT noch beim Europarat machte
unser Land mit. Da die Schweiz für das Völkermorden nicht verantwortlich war,
sah sie auch nicht ein, warum sie ihre Souveränität relativieren und der
Europäischen Gemeinschaft beitreten sollte.
Die Schweizer Wirtschaft war stark und an möglichst offenen Märkten
interessiert. Deshalb konnte sie es sich nicht lange leisten, bei wirtschaftlichen
und technischen Organisationen abseits zu stehen. Grundsätzlich bevorzugte sie
zwar bilaterale Handelsabkommen, trotzdem trat sie zuerst der OEEC (1948),
dann der EFTA (1960) und dem GATT (1966) bei. Und auch sonst gliederte sie
sich wieder in die internationalen System ein: Europarat (1963), OSZE (1975) und
schliesslich UNO (2002). Sie wurde, mit Verspätung allerdings, ein ganz normales
Mitglied der Völkerfamilie. Die Schweiz ist in der Regel auch sehr völkerrechtstreu,
die Verfassung sagt: „Bund und Kantone beachten das Völkerrecht“. Unser Land
folgt der monistischen Lehre, das heisst, das Völkerrecht gilt unmittelbar, es
bedarf
keiner
Übertragung
ins
Landesrecht.
Die
Europäische
Menschenrechtskonvention etwa ist direkt anwendbar, Bürgerinnen und Bürger
können gegen ihre Verletzung klagen.
Ist die Schweiz noch souverän?
Wir kommen auf unsere Ausgangsfrage zurück. Die Antwort ist zunächst einfach:
Die Schweiz ist genau so souverän wie die meisten andern Staaten auch, das
heisst, ihre Souveränität wird durch das Völkerrecht eingeschränkt. Aber sie
scheint sich damit besonders schwer zu tun, mehr als andere darunter zu leiden.
Diese besondere Empfindlichkeit wird gegenwärtig bei zwei Themen besonders
deutlich. Zum einen bei unseren Mühen mit der Europäischen Union, zum andern
bei Volksinitiativen, welche mit dem Völkerrecht kollidieren Es ist offensichtlich,
dass dies mit der direkten Demokratie zu tun hat, mit der Tatsache, dass
hierzulande das Volk „der Souverän“ ist oder doch so genannt wird.
Die Vorstellung der Volkssouveränität geht auf den Genfer Philosophen
Rousseau zurück. Sie bedeutet, dass die letzte Quelle der staatlichen Macht nicht
mehr der Fürst sondern das Volk sein soll. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke
aus“, wie es im deutschen Grundgesetzt heisst. Und die US-Verfassung beginnt
mit „We the people of the United States...“. Grundsätzlich basieren alle modernen
Staaten auf der Volkssouveränität. Doch in welcher Weise das Volk diese Macht
ausübt wie sein Wille in konkrete Politik transformiert wird, das ist von Staat zu
Staat verschieden. Die meisten kennen eine repräsentative Demokratie, das Volk
wählt das Parlament, welches dann, zusammen mit der Regierung, die Politik
macht. In einige Staaten kann sich das Volk zu Verfassungsänderungen
aussprechen, in andern gelegentlich zu sachpolitischen Fragen. Doch einen so
umfassenden und direkten Einfluss der Bevölkerung auf die Verfassungs- und
Gesetzgebung aller staatlichen Ebenen wie in der Schweiz gibt es nirgends. Die
„Volkssouveränität“ hat deswegen in unserem Land eine viel unmittelbarere und
schwerwiegendere Bedeutung. Insbesondere können nun eben Spannungen und
Widersprüche zwischen den Volksrechten und dem Völkerrecht entstehen.
Die
verschiedenen
direktdemokratischen
Instrumente
sind
daran
unterschiedlich beteiligt. Das seit 1874 bestehende Gesetzesreferendum ist relativ
harmlos, denn wird eine Vorlage abgelehnt, dann gilt erst einmal der Status quo
ante, und der Gesetzgeber ist eingeladen, eine neue Variante auszuarbeiten.
1891 wurde die Volksinitiative zur Partialrevision der Bundesverfassung
eingeführt. Diese hat uns in der letzten Zeit einige Probleme bereitet. Doch auch
das
1921
beschlossene
und
inzwischen
mehrmals
ausgebaute
Staatsvertragreferendum kann zu Schwierigkeiten führen.
Im Grossen und Ganzen hat sich die direkte Demokratie in diesem Land
bewährt. Die Volksabstimmungen liefern zwar nicht immer die Ergebnisse, welche
man sich persönlich gewünscht hätte, doch von wenigen Ausnahmen abgesehen
gab es kaum jemals wirkliche Fehlentscheide in dem Sinne, dass das Land unter
den Folgen zu leiden hatte. Das hat damit zu tun, dass „der Souverän“ gelernt hat,
die Folgen seiner Voten zu bedenken und dass er in der Regel durch einen
fortgesetzten intensiven politischen Diskurs recht gut darüber informiert ist, um
was es geht. Doch dies gilt vor allem für die Innenpolitik. Anders bei der
Aussenpolitik: Für sie interessiert sich die Bevölkerung in der Regel weniger, die
dürftige Berichterstattung in den Massenmedien zeugt davon. Die Leute wissen
kaum etwas darüber, wie internationale Verhandlungen ablaufen. Dass dies meist
hinter verschlossenen Türen geschieht, verbessert die Sache nicht. Die
Zusammenhänge zwischen den Konzessionen, welche die Schweiz machen
muss, und dem Nutzen für unser Land sind oft undurchsichtig. Und kommen dann
noch „fremde Richter“ ins Spiel, dann ist Schluss mit lustig!
Nun, auch repräsentative Demokratien haben mit der Aussenpolitik
gelegentlich Mühe. Doch es ist eben einfacher, internationale Zusammenhänge
und Zwänge professionellen Politikern zu vermitteln als dem Mann und der Frau
von der Strasse. Und solange eine Regierung sich auf eine parlamentarische
Mehrheit stützen kann, wird sie ihre Aussenpolitik durchsetzen können.
Doch auch in der Schweiz gewinnt der Bundesrat einen grossen Teil der
aussenpolitischen Vorlagen. Dies insbesondere dann, wenn es um wichtige
wirtschaftliche Interessen geht. So wurde gegen die WTO nicht einmal das
Referendum ergriffen, die Bevölkerung hat die Bilateralen I mit einer
Zweidrittelsmehrheit abgesegnet und auch zu Schengen/Dublin Ja gesagt. Dies
nicht nur deshalb, weil Frau und Herr Schweizer wirtschaftliche Vorteile zu
schätzen wissen, sondern auch, weil die entsprechenden Verbände über die
Finanzmittel verfügen, diese Vorteile der Bevölkerung deutlich vor Augen zu
führen. Doch wenn es um Vorlagen geht, welche Ausländer betreffen, fremde
Religionen, die Bekämpfung von Kriminalität und so weiter – Themen, welche
zudem populistisch ausgeschlachtet werden können, dann folgt der Souverän oft
nicht den Ratschlägen der Regierung und der gemässigten Parteien. Und dann
kann es eben zu Kollisionen mit dem Völkerrecht kommen.
Zur Illustration zwei Beispiele: Da gab es unlängst das unschöne UBSSteuerabkommen mit den USA, welches einer Erpressung nahe kam. Die SVP
hat dagegen gewettert, und wäre es zur Volksabstimmung gekommen, hätte es
wohl ein Nein gegeben. Nachdem man aber in einer langen Nacht den
Parlamentariern die Konsequenzen einer Ablehnung deutlich gemacht hatte,
schwenkten selbst die meisten SVP-Abgeordneten um und sagten Ja. Anders bei
der Minarettinitiative: Die Wirtschaft war an der Abstimmung nicht interessiert, der
Geldhahn blieb zu, die politischen Parteien ausser der SVP waren zwar dagegen,
doch ihr Engagement blieb schwach. Und peinlicherweise steht nun in unserer
Verfassung, der Bau von Minaretten sei verboten – als ob die Minarette das
Problem wären! Das widerspricht nach mehrheitlicher Auffassung der
Schriftgelehrten der Religionsfreiheit, vor allem dann, wenn es nur eine
Glaubensrichtung betrifft.
Ein weiteres kommt dazu: Die internationale Politik wird, wir haben es gesagt,
weitgehend von den Exekutiven gemacht, und das kann auch kaum anders sein.
Doch nicht nur in der Phase der Verhandlungen stehen Regierung und
Verwaltung im Zentrum, sondern auch beim späteren „Betrieb“ der Abkommen:
Diplomaten und Verwaltungsspezialisten spielen hier die erste Geige, und sie sind
in der Schweiz nicht besonders beliebt.
Durch internationale Bindungen wird der Handlungsspielraum eines Landes
also eingeengt, doch die verschiedenen Gewalten sind davon unterschiedlich
betroffen: Die Regierung gewinnt neue Einflussmöglichkeiten auf der
internationalen Ebene. Für das Parlament ist die Sache ambivalent, doch wird
sein Souveränitätsverlust zum Teil durch seinen Einfluss auf die Regierungspolitik
kompensiert. Wie ist es aber für das Volk, für den Souverän? Die Einschränkung
seiner Rechte wird politisch-rechtlich durch nichts ausgeglichen, er ist der
Verlierer in diesem Spiel. Dass die Bevölkerung möglicherweise wirtschaftlich von
Abkommen profitiert, mag zwar sein, kompensiert aber die politische
Schlechterstellung eben oft nicht. Selbst der Schweizer und die Schweizerin leben
nicht vom Brot allein!
Die Skepsis des Volkes ist also zu verstehen, und sie ist alt. 1909 schloss der
Bundesrat mit Deutschland und Frankreich den Gotthardvertrag ab. Die beiden
Staaten hatten diese Transportachse mitfinanziert und sich Mitspracherechte
gesichert. Nun kam es zum Rückkauf durch die Eidgenossenschaft, doch die
beiden Nachbarn verlangten Kompensationen. Dem Volk gefiel dies nicht uns es
verlangte Mitspracherechte in der Aussenpolitik. Der Krieg kam dazwischen, aber
1921 schrieben Volk und Stände das Staatsvertragsreferendum in die
Verfassung. Deswegen stimmen wir über den UNO-Beitritt, den EWR, die
Bilateralen I und viele weitere Staatsverträge ab.
Kommen wir nun auf die beiden Fälle zurück, die uns hier zur Illustration
dienen. Zuerst zur Nichtmitgliedschaft in der EU. Die Schweizerinnen und
Schweizer haben 1991 den EWR abgelehnt und danach der Regierung deutlich
zu verstehen gegeben, dass sie keinen Beitritt zur Union wünschen. Und
mindestens solange die EU „brutta figura“ macht, wird sich daran auch nichts
ändern. Ausserdem würde ein Beitritt die Volkrechte deutlich beschneiden,
während sich der Regierung und den Volksvertretern Mitwirkungsmöglichkeiten im
Rat und im europäischen Parlament eröffneten. Nun steht ja nirgends
geschrieben, man müsse der EU beitreten, und solange unserer Wirtschaft Dank
der bilateralen Verträge kaum Nachteile aus dem Abseitsstehen erwachsen, gibt
es auch keinen Druck, diese Politik zu verändern. Aber im Hintergrund lauern vier
Probleme: Erstens sind die Souveränitätsverluste durch den Bilateralismus weit
grösser, als es den meisten Zeitgenossen bewusst ist. Zweitens nimmt die
Rechtsunsicherheit zu, denn das EU-Recht und das schweizerische Recht laufen
auseinander. Drittens kann eine nächste Volksabstimmung – etwa nach dem
Beitritt Kroatiens zur EU – schief gehen und das ganze Gebäude zum Einsturz
bringen. Und viertens will die EU ein Rahmenabkommen, welches alle
institutionellen Fragen verbindlich löst. Und das behagt der Schweiz nun ganz und
gar nicht. Der Bilateralismus war von Anfang an ein Provisorium und ist es im
Kern geblieben. „C’est le provisoire qui dure », sagen die Franzosen, doch Madame Mère fügte hinzu : « Pourvu que ça dure ! ». Madame Mère war die Mutter
Napoleons I, sie hat das Unheil früh geahnt.
Von aktuellerer Bedeutung sind sodann Volksinitiativen, welche nicht
völkerrechtskonform sind – wie etwa das Verbot zum Bau von Minaretten, die
dauernde Verwahrung von Straftätern und die Ausschaffung krimineller
Ausländer. Ob und wieweit sie nicht völkerrechtskonform sind, darüber lässt sich
trefflich streiten. Denn erstens ist das Völkerrecht keine einheitliche, geschlossene
und widerspruchsfreie Materie. Zweitens hat der Gesetzgeber einigen Spielraum,
wenn er Verfassungssätze in Gesetzen konkretisiert. Und drittens kann man die
Verletzung von Völkerrecht in Kauf nehmen, denn die Sanktionen sind meist nicht
sehr drastisch – es sei denn, es geht um Steuern!
Doch dies alles ist nicht sehr komfortabel, rechtsstaatlich oft bedenklich und
kann dem Ruf der Schweiz schaden. Welche Möglichkeiten gäbe es, solche
Kollisionen zu vermeiden? Die beste und der direkten Demokratie angemessenste
ist, das Volk hinreichend aufzuklären und es allenfalls für einen Gegenvorschlag
zu gewinnen. Wir haben gesagt, dass dies dann relativ einfach ist, wenn die
Wirtschaft sich ins Zeug legt. In andern Fällen käme es darauf an, dass die
Parteien „links von der SVP“ zusammenstünden und kämpften. Doch etwa bei der
Ausschaffungsinitiative sagte die SP und ihr nahe stehende Gruppierungen auch
zum Gegenvorschlag Nein, und so wurde der schärfere Initiativtext angenommen.
Eine zweite Möglichkeit: Die Schweiz lässt schon jetzt Verfassungsinitiativen
nicht zu, welche gegen „zwingendes Völkerrecht“, das sogenannte Jus cogens
verstossen. 1999 wurde dies sogar in die Verfassung geschrieben. Dazu gibt es
bisher nur einen Anwendungsfall: Das Parlament hatte 1996 die Initiative „für eine
vernünftige Asylpolitik“ nicht zur Abstimmung zugelassen, denn Flüchtlinge ohne
jegliche Prüfung zurückzuschicken verstosse gegen elementare Normen des
Völkerrechts. Das Problem ist nun aber, dass der Begriff „zwingendes Völkerrecht“
alles andere als genau definiert ist: Dass Aggressionskriege, Völkermord und
Folter untersagt sind, ist klar, doch welche andern Menschenrechte es aber
schützt, weit weniger. Es erstaunt deshalb nicht, dass jetzt um die Definition
politisch gerungen wird: Während die einen Kollisionen zwischen Volksinitiativen
und Völkerrecht durch eine Erweiterung des Begriffs „Jus cogens“ vermeiden
wollen, kämpfen die andern darum, es möglichst eng einzuschränken. Andere
Streitpunkte sind, wann eine solche Ungültigkeitserklärung erfolgen soll – schon
zur Zeit der Vorprüfung oder erst nach Einreichung der Unterschriften – und
welche Institution dafür zuständig wäre. Für das Parlament spricht seine direkte
Legitimation durch das Volk, für das Bundesgericht seine Fähigkeit, komplexe
juristische Sachverhalte ohne politischen Opportunismus zu prüfen.
Diese Auseinandersetzung ist in vollem Gange, ihr Ausgang ungewiss. Auf
jeden Fall wird es sehr schwierig sein, Volk und Stände davon zu überzeugen,
ihre Rechte stärker als bisher einzuschränken – denn sie – Volk und Stände –
müssten ihrer „Entmachtung“ ja zustimmen. Man kann auf den Fortgang dieser
Auseinandersetzung gespannt sein.
Die Schweiz ist zu Recht stolz auf ihre Volkrechte. Es gibt nun aber eine fatale
Tendenz, sie zu verabsolutieren, das Volk als unfehlbar anzusehen. Und davor
sollten wir uns hüten. Der moderne Staat hat mehr Macht als je einer seiner
Vorgänger. Deshalb wurden viele Mittel ersonne, sie einzuschränken und zu
kontrollieren. Das wichtigste Instrument ist immer noch die Gewaltenteilung:
Exekutive, Legislative, Judikative, Medien, öffentliche Meinung. Jede dieser
Institutionen kontrolliert die andere, jede legt den andern Schranken an, keine
steht über den andern. Die Angelsachsen sprechen von „checks and balances“,
von subtilen Gleich- und Gegengewichten. Wir täten gut daran, auch in den
Volkrechten nicht mehr zu sehen als ein Kontrollmechanismus unter anderen.
Wenn die „vox populi“ zur „vox dei“ wird, dann leben wir nicht mehr in einer
rechtsstaatlichen Demokratie, sondern in einem Gottesstaat!
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