Künstlerisches Wort/Literatur SWR2 E s s a y Redaktion: Stephan Krass Regie: Ulrich Lampen Sendung: 14.02.2011, 22.05 – 23.00 Uhr Charisma. Zu Geschichte und Theorie sozialer Spiritualität Von Christian Schärf Sprecher 1: Norbert Beilharz Sprecher 2: Bernt Hahn Produktionsnummer: 1002003 Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. © by the author Einen Mitschnitt dieser Sendung können Sie unter der Telefonnummer 07221/929-6030 bestellen. 1 Spr. 1 Zu den schillerndsten und anpassungsfähigsten Begriffen der Alltagssprache gehört zweifellos Charisma. Seiner Verwendung scheinen keine Grenzen gesetzt. Charisma und charismatisch überspringen mit Leichtigkeit die Barrieren zwischen den Fachsprachen und mischen sich in die unterschiedlichen Stilebenen mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte man dort gerade auf sie gewartet. Theologen benutzen das Wort, wenn sie über den ersten Brief des Apostel Paulus an die Korinther diskutieren, und Fußballfreunde, wenn sie sich die Frage stellen, ob ein bestimmter Trainer noch die Kraft besitzt, seine Mannschaft zum Erfolg zu führen. Als gewählt klingende Vokabel kann Charisma gerne auch ironisch-sarkastisch in Gebrauch genommen werden, etwa wenn man dezent ausdrücken will, jemand habe so gar keine Ausstrahlung. In jüngster Zeit war viel von charismatischen Lehrern die Rede, womit stets eine aus welchen Gründen auch immer dem Schulalltag herausragende Persönlichkeit gemeint ist. Spr. 2 In seiner Rollenvielfalt leistet Charisma auch und gerade in den Wissenschaften exzellente Dienste. Welcher andere Terminus wüsste schon gleichzeitig und gleichermaßen glanzvoll in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Theologie, der Wirtschaftswissenschaft und in der Erforschung der Popkultur zu reüssieren? Für Charisma kein Problem. Überall wo rationale Deutungsmuster aussetzen, streckt uns diese smarte Vokabel ihre hilfreiche Hand entgegen und bietet Hilfe an. Auch politische Journalisten greifen da gerne zu und richten das kritische Fernrohr auf ihre problematische Klientel, die Politiker. Meist jedoch bleibt die Linse leer, und die Journalisten berichten von einem Himmel, an dem es keine Sterne mehr gibt, sondern nur noch dunkel einander umkreisende Planeten. Spr. 1 Nicht zuletzt aufgrund solcher Missstände ist ein gar nicht so kleiner Beratungsbedarf in Sachen Charisma entstanden; er wird von einer stattlichen Anzahl von Ratgebern und Broschüren gedeckt. Diese befassen sich einzig und allein mit der Frage, was Charisma ist und wie man es für sich erlangen könnte. Da Autoren von Ratgebern Rat geben sollen, müssen sie so schreiben, als wüssten sie tatsächlich, worüber sie schreiben. Diese Methode erweist sich gerade im Falle des personellen Ausstrahlungsmarktes als sehr erfolgreich. Hier wird ein beinahe als natürlich geltendes Bedürfnis nach einer sehr seltenen, aber ungeheuer wirkungsvollen Eigenschaft genährt und gepflegt. Warum sollte 2 man sie sich nicht aneignen können, weshalb sollte es nicht möglich sein, Charisma zu lernen? Spr. 2 Der allfällige Druck der Selbstrepräsentation, unter dem heute der ausstrahlungswillige Zeitgenosse steht, findet im Persönlichkeits-Coaching ein Ventil. Schließlich erfolgt die Evaluation des Individuums vor allem über seine Selbstdarstellungskompetenz in der Warenwelt. Charisma - so es sich in den üblichen Taxierungsverfahren denn finden ließe – wäre das ultimative Abschlussdesign an der Kulisse permanenter Ich-Rhetorik. Dass Ich kein psychologisches, sondern ein rhetorisches Phänomen ist, wird den allseitig Evaluierten der Gegenwart spätestens dann deutlich, wenn sie sich in ein soziales Netzwerk einklinken. Im Kreis der virtuellen Freunde wird die eigene Außeralltäglichkeit auch da zum permanenten Bedürfnis, wo es allein ums Alltägliche geht. Die bald gewohnheitsmäßig vollzogene Angleichung des Ich-Designs an die Warenwelt muss aber notwendigerweise gerade jenes besondere Etwas verfehlen, das man geschenkt bekommen muss und das nicht erworben werden kann. So klebt das schnöde Lebensgefühl des Here-comes-everybody hartnäckig ausgerechnet an denen, die davon überzeugt sind, sich, auf welchem Wege auch immer, Charisma erarbeiten zu können. Spr. 1 Angesichts dieser Verfallsgeschichte lohnt es sich, die historische Dramatik des Phänomens näher zu beleuchten. Immerhin sieht es so aus, als liege im charismatischen Geschehen jener irrationale Fond der Geschichte, der den auf Vernunft basierenden Entwürfen menschlichen Zusammenlebens immer wieder in die Quere kommt. Der Einfall des Unvorhersehbaren, des Wunderbaren und des Dämonischen ist mit dem Erscheinen sogenannter Charismatiker in nahezu allen Epochen und Weltgegenden untrennbar verknüpft. Ansprüche auf Herrschaft sind nicht selten dem Durchbruch eines unbezwinglichen Einzelnen geschuldet, dessen Herkunft in dem Maße dunkel erscheint, als seine Macht über die Menschen wächst. Der Ausdruck Charisma benennt dann die einer bestimmten Person zugehörige persönliche Kraft, bestehende Ordnungen hinwegzufegen und sich selbst und seine Herrschaftsvision an deren Stelle zu setzen. Niemand aber kann von sich sagen, er verfüge über diese Kraft, solange sie ihm nicht von einer größeren Gruppe von Menschen zugeschrieben worden ist. Das Verwirrende am Erscheinungsbild von Charisma besteht demnach darin, das es gar keine individualpsychologische Angelegenheit ist, sondern eine soziale. Charisma wird in einem 3 sozialen Diskurs erzeugt und von einer sozialen Gruppe, die sich zu einer Masse erweitern kann, auf eine herausgehobene Figur übertragen. Spr. 2 Das heißt keineswegs, das dabei gar keine Psychologie im Spiel wäre. Es handelt sich vielmehr um eine stets prekäre und krisenhafte psychische Bedürfnislage der Gesellschaft, die ins Phantasma von den herausragenden, geradezu übermenschlichen Fähigkeiten eines Einzelnen mündet. Die Frage, wie viel dieser Einzelne selbst aufgrund von Veranlagung dazu beiträgt, muss offen bleiben, behält aber gerade deshalb ihre Brisanz. Der psychologische Untergrund, aus dem heraus der Charismatiker seine Ausstrahlung schöpft, bleibt auf der Oberfläche unerklärbar. Festzustellen ist allein, dass er erst als Charismatiker auftritt, wenn ihm die Gesellschaft die dazu notwendigen Eigenschaften zuschreibt. Es scheint, als suchten Gesellschaften von Zeit zu Zeit nach einer Gestalt, die ihre eigene als krisenhaft empfundene Mittelmäßigkeit übersteigt. Die besondere Fähigkeit dieser Gestalt besteht jedoch nicht in erster Linie in ihrem Nimbus als Macher, Reformer oder Revanchist. Was die Suche nach ihr antreibt, liegt vielmehr in der Vision einer besonderen geistigen Kraft begründet, die zunächst von Seiten der Gruppe aus nicht mehr als eine Vermutung oder Hoffnung sein kann. Spiegelt dann diese Figur die Hoffnungen der Gruppe zurück, entsteht so etwas wie charismatische Realität. Charisma erscheint damit als Konstruktion und Mystifikation sozialer Spiritualität. Es handelt sich mithin um eine intersubjektive Projektion, die an der Basis primärer oder archaischer Herrschaftsverhältnisse gestanden haben kann. Dennoch sprechen wir keineswegs von einem musealen Diskurs aus den Zeiten früher Sozialsysteme. Denn bis heute hat sich eine Aktualität des Charismatischen erhalten, ja sie setzt sich noch in den neuesten Medienkomplexen fort oder wird in ihnen gerade wieder in einer noch unbekannten Variante geboren. Spr. 1 Charisma als spirituelles Bedürfnis von Gruppen ist dann angesagt, wenn in Krisenzeiten die soziale Struktur des Geheimnisses greift. Denn der sozialpsychologische Existenzgrund von Charisma ist zunächst nichts weiter als ein auf eine Person projiziertes Geheimnis. Das Wesen des Geheimnisses liegt darin, dass es als Geheimnis zumindest zwei Subjekten bekannt sein muss. Ein Geheimnis, das so geheim ist, dass niemand es kennt, ist keins. Sind aber zwei in die Existenz eines Geheimnisses eingeweiht, spricht es sich bald herum. Die Zahl der Mitwissenden wird rasch wachsen, solange das Geheimnis 4 nicht gelüftet wird. Tatsächlich geht es vor allem darum, das Geheimnis um eine Person nicht zu lüften, und so die soziale Diskursivität des Geheimnisses möglichst lange aufrecht zu erhalten. Das ist dann besonders einfach, wenn es gar keinen Inhalt für das Geheimnis gibt und dieser Inhalt von seinem Diskurs immer nur vorgegeben wird. Dabei entsteht die Erwartungshaltung der Verheißung, die für den Charisma-Glauben von ausschlaggebender Bedeutung ist. Für jede Verheißung ist die Erfüllung des Verheißenen das Ende. Der Charismatiker aber lebt im Blick seiner Anhänger vor allem als Garant von Verheißungen. Das ist die Grundhaltung, die massenhafte Unterwerfung möglich werden lässt. In ihr liegt auch schon die andere Seite der Medaille, das Verhängnis, beschlossen. Es tritt dann ein, wenn sich das beschworene Geheimnis als inhaltlich leer erweist und seine Struktur zerfällt. Soziale Spiritualität entsteht im Spannungsfeld von Verheißung und Verhängnis. Eine herausgehobene Figur, die oft von den Rändern der Gesellschaft kommt und in ihr scheinbar wie aus dem Nichts auftaucht, wird zu ihrem Instrument. So kann es geschehen, dass der von der Menge ausgewählte Charismatiker in kurzer Zeit zuerst als Engel und dann als Teufel in Erscheinung tritt. Spr. 2 Was wir Weltgeschichte nennen, ist vornehmlich von den Legenden solcher Gestalten bevölkert. Geschichte besteht zu einem überwiegenden Teil aus der Hingabe der Massen an Verheißungen und ihre Repräsentanten. Der täglich zu hörende Vorwurf, die Politik mache leere Versprechungen, erscheint unter diesem Blickwinkel mehr als ungerecht, besteht doch Politik in ihrem Anspruch auf Macht und Herrschaft von Grund auf aus nichts anderem als der fortgesetzten Versprechung. Ja, man könnte die Struktur der leeren Versprechung als den ursächlichen Antrieb des Politischen überhaupt begreifen, indem man sie als das unzerreißbare psychische Band zwischen Herrschenden und Beherrschten erkennt. Die leere Versprechung ist nur die banalisierte Hülle jener Verheißungen, auf denen soziale Spiritualität aufbaut. In diesem Sinne ist Charisma ein Zentralbegriff der Zivilisationstheorie, der aus guten Gründen auf den unterschiedlichsten Feldern der ausdifferenzierten Wissenschaft zum Einsatz kommt. Doch erst der Soziologe Max Weber erkannte in seinem 1922 posthum erschienenen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“, welche Bedeutung das Phänomen für die Herausbildung und Entwicklung von Herrschaftsstrukturen in einem anthropologischen Maßstab aufweist. Weber beschreibt Charisma nicht als göttliche Gnadengabe, wie es im Korintherbrief des Apostel Paulus geschieht, sondern als sozialpsychologische Grundlage einer idealtypischen Herrschaftsform, die auf Effekten intersubjektiver Verblendung beruht. Die politische 5 Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte diese These nachhaltig bestätigen. Die Charismata Mussolinis und Hitlers unterlagen aufwändigen medialen und rhetorischen Inszenierungen. Verblendung im großen Stil wurde darin zum Königsweg massenhaft angenommener Verheißung. Dabei förderten die faschistischen Diktatoren nicht anders als auch der Gewaltherrscher Stalin einen Aspekt an die Oberfläche, der den sozialpsychologischen Gehalt von Charisma erst zu vervollständigen schien: das Dämonische. Moderne Diktatoren arbeiten mit dämonischem Charisma, das von großen Propagandaapparaten erzeugt wird. Spr. 1 Bezeichnenderweise ist es Napoleon, dem zuerst das Phänomen des Dämonischen zuerkannt worden ist. Kein Geringerer als Goethe hat in Napoleon – bei aller zeitweiligen Verehrung für den Franzosen – das Auftreten einer dämonischen Kraft des geschichtlichen Verhängnisses gesehen. In Goethes Sicht lag die Wirkung des Korsen zwischen dem Versprechen einer neuen Ordnung, die er über die Welt bringen wollte, und dem Verhängnis ununterbrochener Kriegsführung mit einer Unzahl von Toten. Napoleons Kriege waren die Schauplätze seiner fortgesetzten Charisma-Bewährung, für die jedes Opfer in Kauf genommen wurde. Nach der Schlacht von Marengo soll er gesagt haben, die sexuellen Aktivitäten einer einzigen Pariser Nacht würden die hier zu verzeichnenden Verluste buchstäblich spielend wieder wettmachen. Zynismus ist nicht das geringste Kennzeichen des Dämonischen, aber auch nicht das einzige. Vom Feldherrnhügel herunter genoss der französische Kaiser mit Vorliebe per Fernrohr das Schlachten und das gleichzeitige Anwachsen seiner herrscherlichen Größe. Goethe erkannte bei seinem Zusammentreffen mit Napoleon 1808 in Erfurt, dass er es hier mit einer beunruhigenden und zunächst für ihn unnennbaren Dimension des Menschlichen zu tun hatte. Das Dämonische wurde gerade in der Auseinandersetzung mit der Person Napoleons für den deutschen Dichter zu einem Urphänomen, zu einer jener Erscheinungen, die für die Erkenntnis in letzter Instanz unverfügbar bleiben und hinter die man nicht zurückgehen kann. Spr. 2 Bekanntlich sah Goethe überall solche Urphänomene, bei den Pflanzen, bei den Tieren, in den Steinen, den Wolken und bei den Menschen. Im Menschenwesen wird ihm das Dämonische zum metaphysischen Urgrund aller psychosozialen Verhältnisse. Das betrifft Formen der politischen Herrschaft und des allgemeinen sozialen Umgangs ebenso wie 6 bestimmte Erfahrungen erotischer Intimität. Goethe sollte dem Dämonischen mit den Wahlverwandtschaften einen Roman widmen, in dem es um die eigentliche Keimzelle der Dialektik von Verheißung und Verhängnis geht – um die leidenschaftliche Liebe. Dieser Roman, der in einer weitläufigen Parklandschaft mit Schlösschen zwei Frauen und zwei Männer aufeinander treffen lässt, die sich in den Abgründen der Leidenschaft verlieren, liest sich wie ein Laborversuch über das Dämonische. Er ist dem Autor in einem Maße gelungen, dass er im Laufe der Wirkungsgeschichte selber zu einer sphinxhaften Figur werden konnte, welche sich hinter den metaphysischen Rätseln verbirgt, die sie in schwer deutbaren Bildern vorträgt. Goethe wird nicht zuletzt aufgrund der Wahlverwandtschaften für das 19. Jahrhundert zum charismatischen Autor, indem er das Geheimnis des Unaussprechbaren zur höchsten Form literarischer Imagination stilisiert. Wie anders sollten sich seine Leser verhalten, als dieses aus dem Text entspringende Geheimnis auf seinen Urheber zurück zu biegen? So kam es, dass sich auch hinter dem Menschheitsrätsel des Dämonischen eine Gemeinde von Verehrern versammelte und aus dem Weimarer Geheimrat einen über den Epochen schwebenden Charismatiker machte. Spr. 1 Von Goethe aus sollte sich diese Struktur eines nur ästhetisch anzudeutenden metaphysischen Geheimnisses in die Moderne vermitteln. Stefan George wurde der Dichter, der nach 1890 die Verheißung des geheimen Bundes zur Quelle seiner eigenen Mystifikationen erklärte. Mit George betrat der Charismaträger schlechthin die Bühne der Moderne. Selbst wenn man ihn nur von Fotografien kennt, erscheint George auch heute geradezu als Modellcharismatiker, der in ästhetischer Reinform zu demonstrieren versucht, was die Wirklichkeit immer nur in Mischverhältnissen bereithält. In dieser Rolle sollte er zum Anschauungsbeispiel und Studienobjekt von Max Weber werden. Spr. 2 Die drei Grazien Einen gänzlich undämonischen Umgang mit dem Charisma pflegten die alten Griechen. Ihnen lagen die Chariten sehr am Herzen, die Göttinnen der Anmut, von denen sich das Substantiv höchstwahrscheinlich ableitet. Johann Heinrich Voß, der legendäre Übersetzer der Homerischen Epen, prägte im 18. Jahrhundert die Übersetzung von Chariten als Grazien; Homer lässt diese in Illias und Odyssee immer wieder auftreten und beschwört unermüdlich ihre Anmut und Schönheit. Hesiod benennt die drei Grazien mit den Namen Euphrosyne, Aglaia und Thalia, die zum festen Bestand des mythologischen Personals 7 zählten. Sie werden als Begleiterinnen der Musen geführt und sind bei der Vervollkommnung von Kunstwerken beteiligt. Eine der bezauberndsten Frauengestalten der Weltliteratur, Nausikaa, „einer Unsterblichen gleich an Wuchs und an Bildung“, wie Homer in der Übersetzung von Voß festhält, hat zwei Dienerinnen zur Seite, die ihre Schönheit von den Grazien erhalten haben sollen. Man kann Odysseus verstehen, dass er sich dafür entschied, an dieser Küste etwas zu verweilen. Spr. 1 Auch die Liebesgöttin Aphrodite ist bei ihren zahlreichen Abenteuern mit Göttern und Halbgöttern mit den Grazien im Bunde. Sie erscheinen im griechischen Polytheismus als Regieassistentinnen göttlicher Vollkommenheit und strahlen dabei selbst über die Maßen. In ihnen hatte sich das mythologische Ingenium Gestalten geschaffen, an denen kein negativer Aspekt zu bemängeln war. Als weithin verbreitete Stadtgöttinnen sollten die Chariten die Polis dauerhaft in das warme Licht ihrer Anmut tauchen und bekamen deshalb in Athen einen Platz auf der Agora zugewiesen, wo sonst nur die Hauptgötter verehrt wurden. Wie Pindar überliefert, gab es in der Stadt Orchomenos in Boötien eine den Grazien geweihte Stätte mit drei unbearbeiteten Steinen, die vom Himmel gefallen sein sollen. Das Bild spricht für sich. Die Anmut ist ein Geschenk des Himmels, aber Vorsicht, - im griechischen Himmel sitzen keine Götter. Die sind nämlich auf dem Olymp zu Hause und haben meist genug mit sich selbst zu tun. Mit ihren zwiespältigen Charakteren und ihren internen Auseinandersetzungen konnten sie kaum für ein so entzückendes Geschenk wie das der freundlichen Anmut verantwortlich gemacht werden. Der Ursprung der Anmut und ihrer Repräsentantinnen wird von den Griechen bewusst offen gelassen, und darum umso mehr gefeiert. Denn das Tun der Menschen und auch das der Götter wird erst durch die Einwirkung der drei Grazien wirklich vollendet und sinnvoll. Spr. 2 Man könnte auf den Gedanken verfallen, der heutige Schönheitskult um Fimdiven und Supermodels sei ein aufpolierter Abklatsch dieser beglückenden Vorstellungen der alten Griechen und die Grazien hätten auch uns noch nicht ganz verlassen. Doch das ist gewiss eine Illusion, denn es fehlt dieser neuen Welt der Anmut und der Grazie vielleicht nicht die mythologische Rückbindung, auf jeden Fall aber die philosophische Tiefenschärfe. Was die Chariten darstellten, war ja nichts weniger als die Vereinigung des Wahren, Schönen und Guten in drei Gestalten; damit wurden sie zu Verkörperungen der höchsten 8 platonischen Idee, noch bevor Platon seine Dialoge niederschreiben konnte. Spr. 1 Charismata bei Paulus Einen von jeder mythologischen Personifizierung abgelösten Gebrauch erfährt Charisma bei Paulus im Ersten Brief an die Korinther. Paulus spricht vom Gnadengeschenk des Geistes, vom charisma pneumatikon, das jedes einzelne Mitglied der Gemeinde gleichermaßen auszeichnet und jeden zum Träger seines eigenen spezifischen Charismas macht. Aufgrund der Gnadengabe hat niemand in der Gemeinde etwas dem anderen voraus; die Charismata bilden vielmehr das Band, das den eigentlichen Zusammenhalt der Gruppe stiftet. Paulus schreibt: „Es sind verschiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Und es sind verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt in allen. In jedem offenbart sich der Geist zum Nutzen aller.“ Spr. 2 Zu den Charismata gehören etwa die Fähigkeit zur Weisheitsrede und die zur Erkenntnisrede, also zu Philosophie und Wissenschaft. Andere haben die Gabe der Heilung erhalten und wieder andere die der Machtausübung. Einer vermag in verschiedenen Zungen zu reden, der andere die Zungenreden auszulegen. Wenn Paulus sagt, die Gabe der Rede sei ein Geschenk des Heiligen Geistes, so widerspricht er damit der in der antiken Welt herrschenden Auffassung, wonach die Rhetorik als techné (sprich: technä – Betonung auf letzter Silbe), als Kunst, anzusehen sei, die man erlernen konnte und deren Lehrer teuer bezahlt werden mussten. Kein Grieche der Achsenzeit wäre auf die Idee gekommen, rhetorisches Können sei ein Geschenk des Heiligen Geistes. Darin aber liegt gerade das auszeichnende Moment der christlichen Gemeinde, die Paulus in Korinth gegründet hat. Die Charismata erhöhen den Christen gegenüber dem Ungläubigen, der das Orakel fragen muss, wie die Götter über ihn befinden und doch keine vernünftige Antwort erhält. Zu sagen, Gott sei gut und er schenke dem Menschen alles, was er als Glied einer Gemeinde benötigt, erscheint als radikaler Bruch mit dem Unzuverlässigkeitsdogma der olympischen Götterversammlung. Charisma ist auch bei Paulus etwas Außeralltägliches, jedoch nicht im Sinne besonderer Schönheit, Anmut oder Freude bei den Göttern, sondern aufgrund des Privilegs der Gabe Gottes an den Menschen. Damit verleiht Paulus dem Charisma-Verständnis den Charakter des unverfügbaren Geschenks, das ihm heute noch anhaftet. Der Ausdruck Begabung 9 bewahrt im Wortstamm diese Vorstellung und die Rede von der Begnadetheit eines talentierten Menschen transportiert noch immer das Staunen vor dem Geschenk, das da einem Einzelnen verliehen worden ist. Spr. 1 Während die drei Grazien die mythische Personifikation der Anmut repräsentieren, profiliert Paulus das Element der Auszeichnung im Vorstellungsrahmen von Charisma. Am Ende der antiken Welt ist beides keineswegs zu einer Einheit verschmolzen. Die auszeichnende Gabe und die Gnade der Anmut bilden jedoch die beiden wesentlichen Komponenten, aus denen sich auch der moderne Begriff von Charisma zusammensetzen wird. In der Neuzeit bezieht sich diese Kontamination weder auf die Götter noch auf die Gemeinde, sondern auf das herausgehobene Individuum. Es wird zum geschichtlichen Träger von Charisma, der sich von den mythologischen und christlichen Bestimmungen abhebt. Indem Max Weber den Begriff auf die politische Geschichte hin ausrichtet, erscheint der Typus des Charismatikers rückblickend in allen Jahrhunderten und allen Gesellschaftsformen als das Herrschaftssubjekt par excellence. Spr. 2 Charisma als Herrschaftstyp Max Weber spricht von drei grundlegenden Typen der Herrschaft und bezeichnet diese als die legale oder rationale, die traditionale und die charismatische Herrschaft. Während die rationale auf der vernunftgemäß anerkannten Legalität des Machthabers beruht und die traditionale auf den Glauben an die ewige Gültigkeit von alters her bestehender Normen und Werte aufbaut, erscheint die charismatische Herrschaft als der irrationale Effekt eines Ausnahmezustands. Sie beruht, so Weber, darauf, dass ein bestimmter Mensch außeralltägliche Eigenschaften zugesprochen bekommt und aufgrund dessen als Führer anerkannt wird. Webers Definition lautet: „'Charisma' soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder zumindest außeralltäglichen, nicht jedem zugänglichen Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als Führer gewertet wird.“ 10 Spr. 1 Eine wie auch immer objektive oder auch nur unabhängige Bewertung der charismatischen Qualitäten spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Daher wird Charisma nicht wie ein Amt verliehen, es muss vielmehr durch die fortgesetzte Bewährung seines Trägers ständig neu erarbeitet werden. In der Geschichte sind es meist Kriege, die zu Schauplätzen solcher Bewährungsproben werden. Die ständige Kriegsbereitschaft bei herausragenden geschichtlichen Gestalten bestätigt das auf den ersten Blick. Indem das Charisma des Herrschenden das Volk zum Krieg begeistert, liefert der Krieg wiederum die Grundlage, die charismatische Wirkung zu festigen, was unfehlbar zu weiteren Kriegshandlungen führen wird. Vielleicht liegt in dieser Spirale eine Erklärung für den bis heute in seiner Motivation unerklärlichen Siegeszug Alexanders des Großen, der ja zugleich als das Urbild aller charismatischen Kriegsherren gilt. Spr. 2 Aufgrund der Flüchtigkeit von Charisma als Herrschaftsgrundlage befasst sich Max Weber eingehend mit der Frage nach dessen Verstetigung, also damit, wie die charismatische Herrschaft in eine Ordnung zu überführen wäre, die nachhaltig Bestand hätte. Der Organisationstyp der charismatischen Herrschaft steht in scharfem Kontrast zu allen Formen traditionaler Verwaltung und moderner Bürokratie. Es existieren weder Laufbahnen noch Hierarchien. An deren Stelle treten Berufungen nach den Eingebungen der Führerfigur, die sich wiederum an der charismatischen Kraft des zu Berufenden ausrichtet. Nach Weber gibt es in solchen Strukturen auch kein Gehalt, keine Entlohnung sonstiger Art oder gar abschöpfbare Pfründe. Die Jünger des Charismatikers leben mit diesem in einem „Liebes und Kameradschaftskommunismus“ und beschaffen die notwendigen Finanzen aus mäzenatischen Quellen. Auch im Rechtswesen gelten keine fixierten Maßstäbe oder gar Gesetze. Urteile werden von Fall zu Fall gesprochen, und zwar nach dem typischen Grundsatz der charismatischen Herrschaft, welcher lautet: „Es steht geschrieben, ich aber sage euch.“ Die Gesetzeskraft des Charismatiker speist sich aus Offenbarungen, Orakeln, Eingebungen und individuellen Überzeugungen des Führers selbst. Spr. 1 Das Hauptproblem von Webers Theorie besteht darin, dass Charisma in der Form, wie er es beschrieben hat, nicht anzutreffen ist. Stets tritt es in Mischvarianten mit den beiden anderen Typen der Herrschaft auf, der taditionalen und der legalen. Dennoch wird 11 Webers Theorem bis heute in der Soziologie und in den Geschichtswissenschaften intensiv diskutiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Betrachtet man die Erscheinungsweisen vermeintlich charismatischer Herrschaftstypen in Faschismus und Kommunismus, so wird schnell ihr aufwändiger Inszenierungscharakter erkennbar. Es war Hitlers um 1920 bei rhetorischen Übungskursen der Reichswehr entdecktes Redetalent, das den Ausgangspunkt dazu bildete, ihn nach und nach in den Rang eines „deutschen Messias“ zu erheben. Sukzessive bezog die Hitler-Propaganda immer weitere Medien in die Stilisierung eines seltsamen Nobody zum „Führer“ ein, bis der Dokumentarfilm diese Zurüstungen auf ihren absoluten Höhepunkt führte. Leni Riefenstahls Verfilmung des Nürnberger Reichsparteitags von 1934 „Triumph des Willens“ erzeugt den Bildermythos vom übermenschlichen Giganten des Willens und der Macht, der unendlich hoch über sein Volk erhaben ist und dem dieses Volk willenlos zu Füßen liegt. Der Film ist ein einziger Bilderrausch des Personenkults und darin ein unvergleichbares Dokument für die Erforschung von Charisma als modernes Phänomen. Es zeigt sich daran, dass in modernen Gesellschaften hoch ausdifferenzierte Medientechniken eine Manipulation der Massen mit einer ins Astronomische potenzierten Wirkung ermöglichen. Ideologische Verblendung wird filmästhetisch rücksichtslos und hoch kalkuliert überformt; doch angesichts der Verfahren, die er dazu anwendet, ist der Riefenstahl-Film eben auch als Kunstwerk zu betrachten. In seinen Bilderfolgen wird der Rausch der Massen bei der Projektion ihrer Verzückungen auf eine strahlende Gestalt ebenso festgehalten wie die Techniken zur Manipulation der Rauschbereiten darin zur Perfektion gebracht worden sind. Beide Tendenzen sind zugleich in einen Rahmen der Überhöhung gerückt, die das Ganze als gigantisches Gesamtkunstwerk in Erscheinung treten lassen. Spr. 2 In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich zu erfahren, dass Hitler selbst der bannenden Ausstrahlung eines anderen erlegen war, lange bevor er zum „deutschen Messias“ stilisiert werden konnte. Hitler selbst glaubte schon zuvor inbrünstig an die Realität einer Übermenschlichkeit, welche er und seine Partei ins Werk zu setzen gedachten. Der ihm diesen Glauben eingab, war ohne Zweifel Richard Wagner. Wagners Musik erschütterte und begeisterte den nach München zurückgekehrten Kriegsveteran zutiefst, und wann immer er konnte, besuchte er die Münchner Aufführungen von Wagners Opern. Hitler erkannte in dem großen deutschen Komponisten den eigentlichen Genius, in dessen Werk sich Traum und Rausch zu einer höheren Stufe der Kultur 12 verdichteten. Diese Inspirationen selbst wiederum ästhetisch umzusetzen, blieb für den gescheiterten Kunstmaler Hitler eine Illusion. Auch vollzog sich der Aufbau des böhmischen Gefreiten zum NS-Führer zunächst nach anderen Vorgaben als solchen der Bühnenkunst Wagners. Doch wurde der Glaube an die begnadete Sendung der großen Persönlichkeit bei Hitler vor allem durch das ästhetische Erlebnis der Wagnerschen Musik geweckt. Die Ästhetisierung der nationalsozialistischen Propaganda erreichte mit der Idee des Reichsparteitags als eines sich über mehrere Tage erstreckenden Gesamtkunstwerks seinen Höhepunkt. Dass dies eine Pervertierung Wagners bedeutete, steht außer Frage. Doch steht ebenso außer Frage, dass gerade die Musik und die Ausstrahlung Richard Wagners den Deutschen einen Eindruck davon vermittelten, was das Charismatische sein und was ein charismatischer Mensch bewirken kann. Hieran zeigt sich, dass Charisma in modernen Gesellschaften - und wohl nicht nur in diesen - eine ästhetische Brücke benötigt, die zwischen den Massen und dem herausgehobenen Einzelnen vermittelt. Die Künste, insbesondere Musik, Theater und Literatur sind Basislager spiritueller Grundenergien, die nicht zuletzt im Sinne des Aufbaus charismatischer Phantasmen aktiviert werden können. Spr. 1 Der George-Kreis als Keimzelle modernen Charismas Max Weber war der Ansicht, der Grad der Entzauberung moderner Gesellschaften steige im Zuge der Neuzeit immer weiter an. Neben der Umbildung archaischer Personenkulte in stetige Herrschaftsverfahren sah er vor allem in der fortschreitenden Säkularisierung und in den Disziplinierungsprozessen des Subjekts einschneidende Veränderungen für die Bedingungen charismatischer Herrschaft. Doch kommt ganz offenbar in der modernen Politik charismatischen Phänomenen besondere Bedeutung zu. Neben den vielfältigen medialen Manipulationsmöglichkeiten war es nicht zuletzt die fortschreitende Disziplinierung der Subjekte, die den Inszenierungen modernen Charismas zum Durchbruch verhalf. Die sich über Jahrhunderte erstreckende funktionale Gleichschaltung der Einzelnen wurde zur Voraussetzung arbeitsteiliger Produktion, aber auch zum Nährboden massenhafter Hingabe an irrationale Projektionen. Schon Napoleon konnte davon profitieren, bei ihm wie bei den Diktatoren des 20. Jahrhunderts handelte es sich um ein bewusst fabriziertes Charisma und keineswegs mehr um das von Max Weber umrissene ursprüngliche Phänomen. Von den Lebensweisen in einem „Liebes- und Kameradschaftskommunismus“ konnte schon in der Machtpolitik des frühen 19. Jahrhunderts längst keine Rede mehr sein. Offensichtlich ist Max Webers Theorie an 13 ganz ursprünglichen sozialen Gruppen orientiert, die ein überschaubares Terrain bevölkerten, eine stabile soziale Schichtung aufwiesen und aus deren Kreis der charismatische Herrscher gleichsam urwüchsig hervorging. Spr. 2 Woher auch immer Weber die historischen Anschauungsobjekte für seine Theorie nahm, ein lebendes Beispiel dafür fand er um 1910 direkt vor seiner Haustür in Heidelberg. In Webers unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Heidelberger Schlossberg installierte sich ein solcher Kameradschaftskommunismus um einen als Urbild des Charismatikers auftretenden Dichter. In den Jahren um 1919 hielt sich Stefan George mit einigen seiner Jünger häufig in Heidelberg auf. Der Lyriker George, der berufs- und wohnungslos war, hatte einige feste Stützpunkte in Deutschland für sich und seinen Kreis, zu denen Heidelberg zählte. Nicht zuletzt weil der George-Vertraute Friedrich Gundolf dort eine Professur ausübte, hielt er sich häufig dort auf. George war der Prototyp des wirtschaftsfremden Anführers, der von der Gunst reicher Gönner und Mäzenaten getragen wurde und der mit seinen Ideen von reiner Kunst eine ästhetische Parallelwelt schuf, die viele junge Männer anzog. Die homoerotische Grundierung des Kreises, die hinter der ästhetischen Fassade zurücktrat, mag Max Weber den Ausdruck Liebeskommunismus direkt in die Feder diktiert haben. Spr. 1 Die Bekanntschaft zwischen Max Weber und Stefan George wurde von dem Berliner Soziologen Georg Simmel vermittelt, in dessen Salon George vor 1910 verkehrte. Zwischen September und Dezember 1910 trafen sich Weber und George mehrmals in Heidelberg. Auch in den darauffolgenden Jahren fanden solche Begegnungen sporadisch noch statt. Man kam in der Pension Neuer am Schlossberg zusammen, wo George wohnte, oder in Webers Villa am gegenüberliegenden Neckarufer. Weber fand George äußerst sympathisch und hob seine ernste Schlichtheit im persönlichen Umgang hervor. Von George sind hingegen keine Äußerungen zu Weber überliefert. Das passt ins Bild, denn schließlich war George das Phänomen und Weber sein Interpret. Aus Webers Deutungen der Gestalt Georges ist denn auch mit aller Wahrscheinlichkeit das Bewusstsein für die Tatsache und die Bedeutung charismatischer Herrschaft bei dem Sozialwissenschaftler entstanden. In seinem vor 1910 geschaffenen Werk spielt der Ausdruck Charisma nachweislich keine Rolle, ja er kommt nicht einmal vor. Erstmals taucht der Begriff bei Weber in einem an die Studentin Dora Jellinek gerichteten Brief vom 14 Juni 1910 auf, in dem Weber bestimmte kulthafte Verehrungspraktiken des GeorgeKreises diskutiert. Man kann demnach davon ausgehen, dass auch für Max Weber ursprünglich ein ästhetisches Phänomen Ausgangspunkt für seine Charisma-Reflexionen gewesen ist. In Charisma als einem ästhetischen Phänomen existieren bestimmte auf den ersten Blick vormoderne Modelle sozialer Ursprungsverhältnisse fort. Über symbolische Formen und ihre Lebenswelten wird die soziale Wirkung charismatischer Herrschaft für die Moderne anschaulich. Wo ausdifferenzierte Sozialsysteme ein ansonsten abstraktes und kühles Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft installieren, leisten ästhetische Subsysteme emotionale Kompensation. Der charismatische Effekt tritt dann wie in Hitlers Führer-Inszenierungen zuerst als artistisches Konstrukt in Erscheinung und hat darin wiederum Auswirkungen auf die Politik. In der Moderne ist charismatische Herrschaft die Fortsetzung der künstlichen Paradiese ins Leben hinein, die in der Kunst entworfen worden sind. Spr. 2 Für Max Weber stand fest, dass Charisma allein aus dem Akt seiner Zuschreibung der Jünger an ihren Meister hervorgehen kann. Die Frage, inwieweit solche Eigenschaften ihre psychologischen Grundlagen bei George selbst haben könnten, lässt er unerörtert. Sie spielt für eine soziologische Analyse keine Rolle. Dennoch gehört sicherlich auch die psychologische Seite zu der Reflexion dessen hinzu, was man mit und nach Weber unter Charisma diskutiert. So unterschiedliche Gestalten wie Richard Wagner, Stefan George oder Adolf Hitler wurden ja keineswegs wider Willen zu Charismatikern erklärt, sondern brachten bestimmte Voraussetzung dazu mit und wussten diese auch entsprechend einzusetzen. Muss es also nicht auch in der Person der verehrten Führerfigur eine psychische Disposition geben, die soziale Spiritualität nicht nur möglich macht, sondern herausfordert? Hitlers Ausstrahlung hatte sicherlich von vornherein Züge des Psychopathischen, die allerdings bei entsprechender Zurüstung ebenso eine bannende Wirkung auf Menschen entfalten konnte wie Georges gemessene Strenge oder Wagners genialische Maßlosigkeit. Die Frage nach dem psychologischen Hintergrund von Charisma führt jedenfalls weg von Max Webers psychologischer Analyse und hin zu einem spekulativen Horizont, dessen Triftigkeit ebenso wenig zu leugnen ist wie sich seine Fragwürdigkeit immer wieder in Erinnerung ruft. Die Rede ist von der Dimension des Dämonischen. 15 Spr. 1 Das Dämonische als psychologischer Grund von Charisma Das Dämonische wird, angewandt auf Personen der Zeitgeschichte, wie gesagt zuerst von Goethe ins Spiel gebracht. Im letzten Teil seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“ berichtet Goethe über seine Orientierungsversuche in spirituellen Fragen, die er als junger Man unternommen habe und kommt auf Phänomene zu sprechen, die weder von den Religionen noch von einer empirisch verfahrenden Psychologie erfasst oder gar erklärt werden können. Spricht Goethe zunächst noch von einem überpersönlichen Wesen, so lässt er schnell durchblicken, dass dieses Wesen sich stets in Individuen manifestiert. Bereits als junger Dichter der Sturm und Drang-Bewegung hatte er den Versuch unternommen, mit Egmont eine genuin dämonische Figur auf die Bühne treten zu lassen. Egmonts charismatische Wirkung, die er auf andere ausübte, führte Goethe auf dessen dämonisches Wesen zurück. Goethe spricht in diesem Kontext von attrativa, von anziehenden Kräften. Das Dämonische verleiht der Person, in die es einzieht, solche Energien absoluter Anziehung; es ist aber zugleich für ihren Untergang verantwortlich. In Egmont gestaltet Goethe die Dialektik von charismatischer Attraktion und dämonischem Verhängnis. Doch konnte er mit dem Problem, das er damit erst aufgeworfen hatte, niemals fertig werden. Spr. 2 Gut dreißig Jahre später sollte er der Verkörperung dieser fatalen Kombination leibhaftig gegenüber stehen. In Napoleon vermutete er das von ihm erkannte unheimliche Weltgesetz in reinster Güte inkarniert, ja Napoleon befestigte in Goethe den fortan unumstößlichen Glauben an die alles beherrschende Macht des Dämonischen. Wiederum in „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt der Dichter noch in allgemeinen Begriffen die Wirkung dämonischer Persönlichkeiten, die wie eine Charakteristik des Napoleonischen Feldherren-Nimbus klingt: „Eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar die Elemente, und wer kann sagen, wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte bewirken nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen.“ 16 Spr. 1 In der Person Napoleons selbst sah Goethe die von Napoleon propagierte Formel Wirklichkeit werden, nach der die Politik die Schicksalsmacht der modernen Welt sei. Dass bedeutet, dass ein dem Dämonischen unterworfener Tyrann das politische Schicksal der Welt nach seinen Interessen gestaltet und dabei selbstermächtigt über Leben und Untergang ganzer Völker verfügt. Dieser urwüchsigen Gewalt liegt als dynamisches Moment die durch nichts und niemanden aufzuhaltende Produktivität eines Einzigen, vom dämonischen Geist gleichsam Auserwählten zugrunde. Mehrmals schon hat man bemerkt, dass es sich bei dieser Konturierung der dämonischen Persönlichkeit um die Fortschreibung des Genieglaubens aus Goethes Frühzeit handelt. Nun aber erscheint das Genie als ein noch nicht einmal mehr von den Elementen zu bändigendes Monstrum des Willens und der Kraft. Sie sei, in die Weltgeschichte eingreifend, noch weitaus mehr als auf dem Gebiet der Kunst so durchschlagend, dass sie nur noch von sich selbst aufgehalten werden kann. Spr. 2 Goethe war sicherlich der ausführlichste Theoretiker des Dämonischen, auch wenn seine „Theorie“ weitgehend die Beschwörung des Rätsels darstellt, das sie umkreist. Mit dem Dämonischen verlegt er den Urgrund machtpolitischer Durchsetzungskraft in eine Mystik, die jenseits der historischen Zeit angesiedelt ist, und von der er zugleich glaubt, dass sie die Geschichte wie nichts anderes bestimme. Das Dämonische kann mithin als eine der zentralen metaphysischen Ideen in Goethes später Weltanschauung beschrieben werden. Zur psychologischen Erklärung dessen, was wir als Charisma bezeichnen, taugt sie aufgrund ihrer vorwiegend mystischen und schicksalsbeschwörenden Einfärbung nur sehr bedingt. Immerhin beharrt Goethe auf einem in der Person selbst zu suchenden Grund für die große soziale Attraktivität einiger weniger Menschen in der Geschichte. Doch erklären kann er die dabei wirkenden Kräfte nicht. Stattdessen stellt er mit großer Geste eben jene Semantik des Geheimnisses in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die für das Zustandekommen charismatischer Verhältnisse verantwortlich ist. Dass die Attraktion aus der Bedeutungsstruktur des Geheimnisses selbst strömt und nicht in seinem wie auch immer kodifizierten Inhalt niedergelegt ist, dieser Gedanke wäre Goethe sicherlich fremd gewesen. 17 Spr. 1 Wer meint, mit dem tief beeindruckten, aber letztlich ratlosen Goethe sei die Theorie des Dämonischen zu einem Abschluss gekommen, irrt. Noch im 20. Jahrhundert sollte mit Karl Jaspers ein einflussreicher Philosoph auf die Idee vom dämonischen Menschen zurückkommen. In Jaspers 1919 erstmals erschienenen Buch „Psychologie der Weltanschauungen“ taucht unter der Überschrift „Der Geist zwischen Chaos und Form“ das Dämonische aus seinen mystischen Katakomben wieder auf und versucht noch einmal theoriefähig zu werden. Jaspers will dem dämonischen Menschen auf die Spur kommen, den er für einen der wesentlichen Typen weltanschaulicher Produktivität hält. Ohne Umschweife beschreibt er solche Menschen als psychologische Modellfälle des Charismatikers: „Sie faszinieren ihre Umgebung, die sie zu Führern nimmt, oder die sie fürchtet und vernichtet als feindliche Kraft. Sie sind nie auf eine Formel zu bringen; sie sind nie festzulegen als nur für die konkrete Gegenwartsaufgabe, und sie sind doch von höchster Verantwortung entgegen der Verantwortungslosigkeit des Chaotischen. Wohin ihr Weg führt, können sie nie wissen. Sie sind repräsentativ für ganze Folgen von Generationen – wenn sie nicht geradezu als Gleichnis des Menschen überhaupt gesehen werden dürfen.“ Spr. 2 Merkwürdigerweise entwickelt Karl Jaspers seine Ideen zum dämonischen Menschen exakt zur selben Zeit, da Max Weber zu seinem Charisma-Begriff vorstößt. Auch der Ort dieser Genesen ist mit Heidelberg derselbe. Ob das Zufall ist, oder doch mit der damals in Heidelberg vorherrschenden intellektuellen Stimmung zu tun hat, muss offen bleiben. Was Jaspers zur geschichtlichen Größe des dämonischen Menschen sagt, entspricht ziemlich genau dem Muster, das man an den berühmten Charismatikern der Geschichte ablesen kann. Ihre Gestalt wächst ins Grandiose, ihre Wirkung bleibt demgegenüber begrenzt. Genauere Untersuchungen zu den charismatischen Menschen aus Antike und Mittelalter bestätigen dies; die Betrachtung politischen Charismas von Napoleon bis Hitler macht es noch weitaus deutlicher. Charismatiker wirken auf ihre Zeitgenossenschaft im Sinne sozialer Spiritualität und hinterlassen weniger politisch nachhaltige Reformen als die Fama ihrer eigenen Größe. Spr. 1 Postmodernes Charisma Zweifellos war nach Hitler der alte Glaube an politisches Charisma zerstört. Zugleich 18 bediente sich die Propagandamaschine des Nationalsozialismus erstmals in vollem Ausmaß jener Mittel und Techniken, die auch nach 1950 für den Herstellungsprozess postmodernen Charismas unabdingbar wurden. Es sind dies die neuen technischen Medien der die Räume und Zeiten überwindenden Stimme und des bewegten Bildes, also Radio, Kino und Fernsehen. Politische Charismatiker der Postmoderne – man denke an John F. Kennedy, Che Guevara oder Willy Brandt – unterscheiden sich insofern von ihren geschichtlichen Vorläufern, als neue Medien neue Bedingungen geschaffen haben. Die Präsentations- und Selektionsmechanismen von Bildern und Nachrichten sowie die Geschwindigkeit und die Dichte ihrer Verbreitung erzeugen reine Medienfiguren, die aus den dazu ausgewählten Menschen gleichsam technoimaginär herausmodelliert werden. Spr. 2 Postmoderne Charismatiker sind Kompaktprodukte der Medienindustrie, die sich immer zuerst als Unterhaltungsindustrie versteht. Der postmoderne Charismatiker ist auch dort, wo er als genuin politischer Typus stilisiert wird, zuerst und vor allem ein Star, - und damit Komsumprodukt. Als solches weckt er ein völlig anderes Rezeptionsbedürfnis als es die traditionellen Charismatiker der Geschichte taten. Die Unterwerfung der Masse angesichts des Stars ist ein Kotau vor dem Gesetz der Kosumption. Postmodernes Charisma ist in diesem Sinne keineswegs wirtschaftsfremd, sondern in jeder Hinsicht profitorientiert. Was den Star umgibt und sein Charisma schafft, ist nicht mehr das unauflösbare Geheimnis, sondern die undurchdringliche Oberfläche seiner Stilisierung. Das betrifft alle charismatischen Starfiguren, auch die tragischen, wie etwa Franz Kafka, der als posthumer Kultautor, vor allem durch ein spätes Foto aus dem Jahre 1924, das ihn als schwer Lungenkranken und schon todgeweihten Menschen zeigt, zu einer Pop-Ikone mit charismatischer Ausstrahlung geworden ist. Keine noch so scharfsinnige Interpretation seiner Werke vermag dieses Phänomen zu erklären, weil es allein dem Oberflächenstatus des Fotos und seiner Verbreitungs- und Vermarktungsstrategien entsprungen ist. Doch im Fall Franz Kafkas kollidieren auch die metaphysischen Geheimnisgründe seiner Texte mit der Faktur seines Bildes. Kafka genießt deshalb ein doppeltes Charisma: das moderne, um die Struktur eines dichterischen Geheimnisses gelagerte und das postmoderne, das die Ikone der popkulturellen Oberfläche vermarktet. Dass das zweite aus dem ersten hervorgegangen ist, steht außer Frage; im kulturellen Diskurs dominiert jedoch das millionenfach reproduzierte Bild, hinter dem die Mehrzahl der Konsumenten den dunklen einsamen Abgrund eines in der eigenen Einschätzung gescheiterten Schriftstellers vermuten. Postmodernes Charisma kann demnach auch aus der Fama des Scheiterns 19 seine Kräfte beziehen Spr. 1 Zu den Widersprüchen politischen Charismas der Postmoderne gehört, dass das medial kalkulierte Produkt der besonderen Persönlichkeit immer noch in realen Krisenszenarien seinen Auftritt hat. Che Guevara erscheint im Zenit der Kubanischen Revolution, ebenso wie Kennedy auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zum Hoffnungsträger geworden ist, und Willy Brandt seine charismatische Zeit im Zuge der Studentenproteste der späten sechziger Jahre erlebte. Auch der vorläufig letzte politische Charismatiker, Barak Obama, trat zu einem Zeitpunkt auf den Plan, als die USA nach acht Jahren der Regierung Bush, noch traumatisiert vom 11. September und mit zwei in fernen Weltgegenden geführten Kriegen beladen, einen Retter suchte, der für einen neuen Aufbruch stehen konnte. Wie unmittelbar Obamas Charisma aus der Popkultur abzuleiten ist, zeigt sich an seinem weltweit zum Bonmot gewordenen Slogan Yes, wie can; er ist einer Trickserie für Dreijährige entnommen, die in Deutschland unter dem Titel Bob, der Baumeister ausgestrahlt wird. Hier scheint es so, als wäre das Geheimnis von vornherein durch die stilisierte Oberfläche eines Bildes ersetzt, das mit dem denkbar einfachsten Text unterfüttert worden ist. In Yes, we can überlebt die alte Verheißung an die historische Mission eines Volkes als unablässig wiederholte Behauptung der Leistungskraft von Handwerkern. Darin liegt jener Realismus beschlossen, der die Amerikaner an ihre urtümlichen produktiven Fähigkeiten erinnert und keine Spur mehr von dem fatalen Verhängnis aufzuweisen scheint, das einst das charismatische Geschehen dämonisch begleitet hat. Spr. 2 Obama erweitert schließlich den Kreis der für die Fabrikation von Charisma eingesetzten Medien um das Internet. Zweifellos ist er der erste Netz-Charismatiker der Geschichte. Das heißt, sein Bild unterliegt nicht mehr den Verbreitungsverfahren technischer Reproduzierbarkeit, sondern ist als virtuelles Phänomen in einem statischen Jetzt ständig präsent. Es ist als Netzphänomen immer da, verläßt uns nie und gibt uns den Glauben an die eigene Kraft zum Wandel so lange ein, bis wir mit ihr identisch sind. Wie schwierig es aber auch für einen Neu-Charismatiker wie Obama ist, die im Jahre 2008 aufgebaute Ausstrahlung in die reale Politik mitzunehmen, erlebt die Weltöffentlichkeit seitdem fast wöchentlich. Charisma ist flüchtig und muss immer wieder erneuert werden. Es in ein Amt zu überführen, ist, wie Max Weber wusste, ein äußerst schwieriges Unterfangen, das 20 selten gelingt. Wenn der Glanz der Verheißungen verschwunden ist, mag es scheinen, als sei man aus einem Traum erwacht, in dem Gut und Böse sehr schwer zu unterscheiden waren. 21