Künstlerisches Wort/Literatur SWR2 E s s a y Redaktion: Stephan

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Künstlerisches Wort/Literatur
SWR2 E s s a y
Redaktion: Stephan Krass
Regie: Ulrich Lampen
Sendung: 14.02.2011, 22.05 – 23.00 Uhr
Charisma.
Zu Geschichte und Theorie sozialer Spiritualität
Von Christian Schärf
Sprecher 1: Norbert Beilharz
Sprecher 2: Bernt Hahn
Produktionsnummer: 1002003
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
© by the author
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Spr. 1
Zu den schillerndsten und anpassungsfähigsten Begriffen der Alltagssprache gehört
zweifellos Charisma. Seiner Verwendung scheinen keine Grenzen gesetzt. Charisma und
charismatisch überspringen mit Leichtigkeit die Barrieren zwischen den Fachsprachen und
mischen sich in die unterschiedlichen Stilebenen mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte
man dort gerade auf sie gewartet. Theologen benutzen das Wort, wenn sie über den
ersten Brief des Apostel Paulus an die Korinther diskutieren, und Fußballfreunde, wenn
sie sich die Frage stellen, ob ein bestimmter Trainer noch die Kraft besitzt, seine
Mannschaft zum Erfolg zu führen. Als gewählt klingende Vokabel kann Charisma gerne
auch ironisch-sarkastisch in Gebrauch genommen werden, etwa wenn man dezent
ausdrücken will, jemand habe so gar keine Ausstrahlung. In jüngster Zeit war viel von
charismatischen Lehrern die Rede, womit stets eine aus welchen Gründen auch immer
dem Schulalltag herausragende Persönlichkeit gemeint ist.
Spr. 2
In seiner Rollenvielfalt leistet Charisma auch und gerade in den Wissenschaften
exzellente Dienste. Welcher andere Terminus wüsste schon gleichzeitig und
gleichermaßen glanzvoll in der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, der Theologie,
der Wirtschaftswissenschaft und in der Erforschung der Popkultur zu reüssieren? Für
Charisma kein Problem. Überall wo rationale Deutungsmuster aussetzen, streckt uns
diese smarte Vokabel ihre hilfreiche Hand entgegen und bietet Hilfe an. Auch politische
Journalisten greifen da gerne zu und richten das kritische Fernrohr auf ihre
problematische Klientel, die Politiker. Meist jedoch bleibt die Linse leer, und die
Journalisten berichten von einem Himmel, an dem es keine Sterne mehr gibt, sondern nur
noch dunkel einander umkreisende Planeten.
Spr. 1
Nicht zuletzt aufgrund solcher Missstände ist ein gar nicht so kleiner Beratungsbedarf in
Sachen Charisma entstanden; er wird von einer stattlichen Anzahl von Ratgebern und
Broschüren gedeckt. Diese befassen sich einzig und allein mit der Frage, was Charisma
ist und wie man es für sich erlangen könnte. Da Autoren von Ratgebern Rat geben sollen,
müssen sie so schreiben, als wüssten sie tatsächlich, worüber sie schreiben. Diese
Methode erweist sich gerade im Falle des personellen Ausstrahlungsmarktes als sehr
erfolgreich. Hier wird ein beinahe als natürlich geltendes Bedürfnis nach einer sehr
seltenen, aber ungeheuer wirkungsvollen Eigenschaft genährt und gepflegt. Warum sollte
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man sie sich nicht aneignen können, weshalb sollte es nicht möglich sein, Charisma zu
lernen?
Spr. 2
Der allfällige Druck der Selbstrepräsentation, unter dem heute der ausstrahlungswillige
Zeitgenosse steht, findet im Persönlichkeits-Coaching ein Ventil. Schließlich erfolgt die
Evaluation des Individuums vor allem über seine Selbstdarstellungskompetenz in der
Warenwelt. Charisma - so es sich in den üblichen Taxierungsverfahren denn finden ließe
– wäre das ultimative Abschlussdesign an der Kulisse permanenter Ich-Rhetorik. Dass Ich
kein psychologisches, sondern ein rhetorisches Phänomen ist, wird den allseitig
Evaluierten der Gegenwart spätestens dann deutlich, wenn sie sich in ein soziales
Netzwerk einklinken. Im Kreis der virtuellen Freunde wird die eigene Außeralltäglichkeit
auch da zum permanenten Bedürfnis, wo es allein ums Alltägliche geht. Die bald
gewohnheitsmäßig vollzogene Angleichung des Ich-Designs an die Warenwelt muss aber
notwendigerweise gerade jenes besondere Etwas verfehlen, das man geschenkt
bekommen muss und das nicht erworben werden kann. So klebt das schnöde
Lebensgefühl des Here-comes-everybody hartnäckig ausgerechnet an denen, die davon
überzeugt sind, sich, auf welchem Wege auch immer, Charisma erarbeiten zu können.
Spr. 1
Angesichts dieser Verfallsgeschichte lohnt es sich, die historische Dramatik des
Phänomens näher zu beleuchten. Immerhin sieht es so aus, als liege im charismatischen
Geschehen jener irrationale Fond der Geschichte, der den auf Vernunft basierenden
Entwürfen menschlichen Zusammenlebens immer wieder in die Quere kommt. Der Einfall
des Unvorhersehbaren, des Wunderbaren und des Dämonischen ist mit dem Erscheinen
sogenannter Charismatiker in nahezu allen Epochen und Weltgegenden untrennbar
verknüpft. Ansprüche auf Herrschaft sind nicht selten dem Durchbruch eines
unbezwinglichen Einzelnen geschuldet, dessen Herkunft in dem Maße dunkel erscheint,
als seine Macht über die Menschen wächst. Der Ausdruck Charisma benennt dann die
einer bestimmten Person zugehörige persönliche Kraft, bestehende Ordnungen
hinwegzufegen und sich selbst und seine Herrschaftsvision an deren Stelle zu setzen.
Niemand aber kann von sich sagen, er verfüge über diese Kraft, solange sie ihm nicht von
einer größeren Gruppe von Menschen zugeschrieben worden ist. Das Verwirrende am
Erscheinungsbild von Charisma besteht demnach darin, das es gar keine
individualpsychologische Angelegenheit ist, sondern eine soziale. Charisma wird in einem
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sozialen Diskurs erzeugt und von einer sozialen Gruppe, die sich zu einer Masse
erweitern kann, auf eine herausgehobene Figur übertragen.
Spr. 2
Das heißt keineswegs, das dabei gar keine Psychologie im Spiel wäre. Es handelt sich
vielmehr um eine stets prekäre und krisenhafte psychische Bedürfnislage der
Gesellschaft, die ins Phantasma von den herausragenden, geradezu übermenschlichen
Fähigkeiten eines Einzelnen mündet. Die Frage, wie viel dieser Einzelne selbst aufgrund
von Veranlagung dazu beiträgt, muss offen bleiben, behält aber gerade deshalb ihre
Brisanz. Der psychologische Untergrund, aus dem heraus der Charismatiker seine
Ausstrahlung schöpft, bleibt auf der Oberfläche unerklärbar. Festzustellen ist allein, dass
er erst als Charismatiker auftritt, wenn ihm die Gesellschaft die dazu notwendigen
Eigenschaften zuschreibt. Es scheint, als suchten Gesellschaften von Zeit zu Zeit nach
einer Gestalt, die ihre eigene als krisenhaft empfundene Mittelmäßigkeit übersteigt. Die
besondere Fähigkeit dieser Gestalt besteht jedoch nicht in erster Linie in ihrem Nimbus
als Macher, Reformer oder Revanchist. Was die Suche nach ihr antreibt, liegt vielmehr in
der Vision einer besonderen geistigen Kraft begründet, die zunächst von Seiten der
Gruppe aus nicht mehr als eine Vermutung oder Hoffnung sein kann. Spiegelt dann diese
Figur die Hoffnungen der Gruppe zurück, entsteht so etwas wie charismatische Realität.
Charisma erscheint damit als Konstruktion und Mystifikation sozialer Spiritualität. Es
handelt sich mithin um eine intersubjektive Projektion, die an der Basis primärer oder
archaischer Herrschaftsverhältnisse gestanden haben kann. Dennoch sprechen wir
keineswegs von einem musealen Diskurs aus den Zeiten früher Sozialsysteme. Denn bis
heute hat sich eine Aktualität des Charismatischen erhalten, ja sie setzt sich noch in den
neuesten Medienkomplexen fort oder wird in ihnen gerade wieder in einer noch
unbekannten Variante geboren.
Spr. 1
Charisma als spirituelles Bedürfnis von Gruppen ist dann angesagt, wenn in Krisenzeiten
die soziale Struktur des Geheimnisses greift. Denn der sozialpsychologische
Existenzgrund von Charisma ist zunächst nichts weiter als ein auf eine Person projiziertes
Geheimnis. Das Wesen des Geheimnisses liegt darin, dass es als Geheimnis zumindest
zwei Subjekten bekannt sein muss. Ein Geheimnis, das so geheim ist, dass niemand es
kennt, ist keins. Sind aber zwei in die Existenz eines Geheimnisses eingeweiht, spricht es
sich bald herum. Die Zahl der Mitwissenden wird rasch wachsen, solange das Geheimnis
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nicht gelüftet wird. Tatsächlich geht es vor allem darum, das Geheimnis um eine Person
nicht zu lüften, und so die soziale Diskursivität des Geheimnisses möglichst lange aufrecht
zu erhalten. Das ist dann besonders einfach, wenn es gar keinen Inhalt für das Geheimnis
gibt und dieser Inhalt von seinem Diskurs immer nur vorgegeben wird. Dabei entsteht die
Erwartungshaltung der Verheißung, die für den Charisma-Glauben von
ausschlaggebender Bedeutung ist. Für jede Verheißung ist die Erfüllung des Verheißenen
das Ende. Der Charismatiker aber lebt im Blick seiner Anhänger vor allem als Garant von
Verheißungen. Das ist die Grundhaltung, die massenhafte Unterwerfung möglich werden
lässt. In ihr liegt auch schon die andere Seite der Medaille, das Verhängnis, beschlossen.
Es tritt dann ein, wenn sich das beschworene Geheimnis als inhaltlich leer erweist und
seine Struktur zerfällt. Soziale Spiritualität entsteht im Spannungsfeld von Verheißung und
Verhängnis. Eine herausgehobene Figur, die oft von den Rändern der Gesellschaft kommt
und in ihr scheinbar wie aus dem Nichts auftaucht, wird zu ihrem Instrument. So kann es
geschehen, dass der von der Menge ausgewählte Charismatiker in kurzer Zeit zuerst als
Engel und dann als Teufel in Erscheinung tritt.
Spr. 2
Was wir Weltgeschichte nennen, ist vornehmlich von den Legenden solcher Gestalten
bevölkert. Geschichte besteht zu einem überwiegenden Teil aus der Hingabe der Massen
an Verheißungen und ihre Repräsentanten. Der täglich zu hörende Vorwurf, die Politik
mache leere Versprechungen, erscheint unter diesem Blickwinkel mehr als ungerecht,
besteht doch Politik in ihrem Anspruch auf Macht und Herrschaft von Grund auf aus nichts
anderem als der fortgesetzten Versprechung. Ja, man könnte die Struktur der leeren
Versprechung als den ursächlichen Antrieb des Politischen überhaupt begreifen, indem
man sie als das unzerreißbare psychische Band zwischen Herrschenden und
Beherrschten erkennt. Die leere Versprechung ist nur die banalisierte Hülle jener
Verheißungen, auf denen soziale Spiritualität aufbaut. In diesem Sinne ist Charisma ein
Zentralbegriff der Zivilisationstheorie, der aus guten Gründen auf den unterschiedlichsten
Feldern der ausdifferenzierten Wissenschaft zum Einsatz kommt. Doch erst der Soziologe
Max Weber erkannte in seinem 1922 posthum erschienenen Hauptwerk „Wirtschaft und
Gesellschaft“, welche Bedeutung das Phänomen für die Herausbildung und Entwicklung
von Herrschaftsstrukturen in einem anthropologischen Maßstab aufweist. Weber
beschreibt Charisma nicht als göttliche Gnadengabe, wie es im Korintherbrief des Apostel
Paulus geschieht, sondern als sozialpsychologische Grundlage einer idealtypischen
Herrschaftsform, die auf Effekten intersubjektiver Verblendung beruht. Die politische
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Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte diese These nachhaltig bestätigen. Die
Charismata Mussolinis und Hitlers unterlagen aufwändigen medialen und rhetorischen
Inszenierungen. Verblendung im großen Stil wurde darin zum Königsweg massenhaft
angenommener Verheißung. Dabei förderten die faschistischen Diktatoren nicht anders
als auch der Gewaltherrscher Stalin einen Aspekt an die Oberfläche, der den
sozialpsychologischen Gehalt von Charisma erst zu vervollständigen schien: das
Dämonische. Moderne Diktatoren arbeiten mit dämonischem Charisma, das von großen
Propagandaapparaten erzeugt wird.
Spr. 1
Bezeichnenderweise ist es Napoleon, dem zuerst das Phänomen des Dämonischen
zuerkannt worden ist. Kein Geringerer als Goethe hat in Napoleon – bei aller zeitweiligen
Verehrung für den Franzosen – das Auftreten einer dämonischen Kraft des
geschichtlichen Verhängnisses gesehen. In Goethes Sicht lag die Wirkung des Korsen
zwischen dem Versprechen einer neuen Ordnung, die er über die Welt bringen wollte,
und dem Verhängnis ununterbrochener Kriegsführung mit einer Unzahl von Toten.
Napoleons Kriege waren die Schauplätze seiner fortgesetzten Charisma-Bewährung, für
die jedes Opfer in Kauf genommen wurde. Nach der Schlacht von Marengo soll er gesagt
haben, die sexuellen Aktivitäten einer einzigen Pariser Nacht würden die hier zu
verzeichnenden Verluste buchstäblich spielend wieder wettmachen. Zynismus ist nicht
das geringste Kennzeichen des Dämonischen, aber auch nicht das einzige. Vom
Feldherrnhügel herunter genoss der französische Kaiser mit Vorliebe per Fernrohr das
Schlachten und das gleichzeitige Anwachsen seiner herrscherlichen Größe. Goethe
erkannte bei seinem Zusammentreffen mit Napoleon 1808 in Erfurt, dass er es hier mit
einer beunruhigenden und zunächst für ihn unnennbaren Dimension des Menschlichen zu
tun hatte. Das Dämonische wurde gerade in der Auseinandersetzung mit der Person
Napoleons für den deutschen Dichter zu einem Urphänomen, zu einer jener
Erscheinungen, die für die Erkenntnis in letzter Instanz unverfügbar bleiben und hinter die
man nicht zurückgehen kann.
Spr. 2
Bekanntlich sah Goethe überall solche Urphänomene, bei den Pflanzen, bei den Tieren,
in den Steinen, den Wolken und bei den Menschen. Im Menschenwesen wird ihm das
Dämonische zum metaphysischen Urgrund aller psychosozialen Verhältnisse. Das betrifft
Formen der politischen Herrschaft und des allgemeinen sozialen Umgangs ebenso wie
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bestimmte Erfahrungen erotischer Intimität. Goethe sollte dem Dämonischen mit den
Wahlverwandtschaften einen Roman widmen, in dem es um die eigentliche Keimzelle der
Dialektik von Verheißung und Verhängnis geht – um die leidenschaftliche Liebe. Dieser
Roman, der in einer weitläufigen Parklandschaft mit Schlösschen zwei Frauen und zwei
Männer aufeinander treffen lässt, die sich in den Abgründen der Leidenschaft verlieren,
liest sich wie ein Laborversuch über das Dämonische. Er ist dem Autor in einem Maße
gelungen, dass er im Laufe der Wirkungsgeschichte selber zu einer sphinxhaften Figur
werden konnte, welche sich hinter den metaphysischen Rätseln verbirgt, die sie in schwer
deutbaren Bildern vorträgt. Goethe wird nicht zuletzt aufgrund der Wahlverwandtschaften
für das 19. Jahrhundert zum charismatischen Autor, indem er das Geheimnis des
Unaussprechbaren zur höchsten Form literarischer Imagination stilisiert. Wie anders
sollten sich seine Leser verhalten, als dieses aus dem Text entspringende Geheimnis auf
seinen Urheber zurück zu biegen? So kam es, dass sich auch hinter dem
Menschheitsrätsel des Dämonischen eine Gemeinde von Verehrern versammelte und aus
dem Weimarer Geheimrat einen über den Epochen schwebenden Charismatiker machte.
Spr. 1
Von Goethe aus sollte sich diese Struktur eines nur ästhetisch anzudeutenden
metaphysischen Geheimnisses in die Moderne vermitteln. Stefan George wurde der
Dichter, der nach 1890 die Verheißung des geheimen Bundes zur Quelle seiner eigenen
Mystifikationen erklärte. Mit George betrat der Charismaträger schlechthin die Bühne der
Moderne. Selbst wenn man ihn nur von Fotografien kennt, erscheint George auch heute
geradezu als Modellcharismatiker, der in ästhetischer Reinform zu demonstrieren
versucht, was die Wirklichkeit immer nur in Mischverhältnissen bereithält. In dieser Rolle
sollte er zum Anschauungsbeispiel und Studienobjekt von Max Weber werden.
Spr. 2
Die drei Grazien
Einen gänzlich undämonischen Umgang mit dem Charisma pflegten die alten Griechen.
Ihnen lagen die Chariten sehr am Herzen, die Göttinnen der Anmut, von denen sich das
Substantiv höchstwahrscheinlich ableitet. Johann Heinrich Voß, der legendäre Übersetzer
der Homerischen Epen, prägte im 18. Jahrhundert die Übersetzung von Chariten als
Grazien; Homer lässt diese in Illias und Odyssee immer wieder auftreten und beschwört
unermüdlich ihre Anmut und Schönheit. Hesiod benennt die drei Grazien mit den Namen
Euphrosyne, Aglaia und Thalia, die zum festen Bestand des mythologischen Personals
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zählten. Sie werden als Begleiterinnen der Musen geführt und sind bei der
Vervollkommnung von Kunstwerken beteiligt. Eine der bezauberndsten Frauengestalten
der Weltliteratur, Nausikaa, „einer Unsterblichen gleich an Wuchs und an Bildung“, wie
Homer in der Übersetzung von Voß festhält, hat zwei Dienerinnen zur Seite, die ihre
Schönheit von den Grazien erhalten haben sollen. Man kann Odysseus verstehen, dass
er sich dafür entschied, an dieser Küste etwas zu verweilen.
Spr. 1
Auch die Liebesgöttin Aphrodite ist bei ihren zahlreichen Abenteuern mit Göttern und
Halbgöttern mit den Grazien im Bunde. Sie erscheinen im griechischen Polytheismus als
Regieassistentinnen göttlicher Vollkommenheit und strahlen dabei selbst über die Maßen.
In ihnen hatte sich das mythologische Ingenium Gestalten geschaffen, an denen kein
negativer Aspekt zu bemängeln war. Als weithin verbreitete Stadtgöttinnen sollten die
Chariten die Polis dauerhaft in das warme Licht ihrer Anmut tauchen und bekamen
deshalb in Athen einen Platz auf der Agora zugewiesen, wo sonst nur die Hauptgötter
verehrt wurden. Wie Pindar überliefert, gab es in der Stadt Orchomenos in Boötien eine
den Grazien geweihte Stätte mit drei unbearbeiteten Steinen, die vom Himmel gefallen
sein sollen. Das Bild spricht für sich. Die Anmut ist ein Geschenk des Himmels, aber
Vorsicht, - im griechischen Himmel sitzen keine Götter. Die sind nämlich auf dem Olymp
zu Hause und haben meist genug mit sich selbst zu tun. Mit ihren zwiespältigen
Charakteren und ihren internen Auseinandersetzungen konnten sie kaum für ein so
entzückendes Geschenk wie das der freundlichen Anmut verantwortlich gemacht werden.
Der Ursprung der Anmut und ihrer Repräsentantinnen wird von den Griechen bewusst
offen gelassen, und darum umso mehr gefeiert. Denn das Tun der Menschen und auch
das der Götter wird erst durch die Einwirkung der drei Grazien wirklich vollendet und
sinnvoll.
Spr. 2
Man könnte auf den Gedanken verfallen, der heutige Schönheitskult um Fimdiven und
Supermodels sei ein aufpolierter Abklatsch dieser beglückenden Vorstellungen der alten
Griechen und die Grazien hätten auch uns noch nicht ganz verlassen. Doch das ist gewiss
eine Illusion, denn es fehlt dieser neuen Welt der Anmut und der Grazie vielleicht nicht die
mythologische Rückbindung, auf jeden Fall aber die philosophische Tiefenschärfe. Was
die Chariten darstellten, war ja nichts weniger als die Vereinigung des Wahren, Schönen
und Guten in drei Gestalten; damit wurden sie zu Verkörperungen der höchsten
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platonischen Idee, noch bevor Platon seine Dialoge niederschreiben konnte.
Spr. 1
Charismata bei Paulus
Einen von jeder mythologischen Personifizierung abgelösten Gebrauch erfährt Charisma
bei Paulus im Ersten Brief an die Korinther. Paulus spricht vom Gnadengeschenk des
Geistes, vom charisma pneumatikon, das jedes einzelne Mitglied der Gemeinde
gleichermaßen auszeichnet und jeden zum Träger seines eigenen spezifischen
Charismas macht. Aufgrund der Gnadengabe hat niemand in der Gemeinde etwas dem
anderen voraus; die Charismata bilden vielmehr das Band, das den eigentlichen
Zusammenhalt der Gruppe stiftet. Paulus schreibt: „Es sind verschiedene Gaben; aber es
ist ein Geist. Und es sind verschiedene Ämter, aber es ist ein Herr. Und es sind
verschiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt in allen. In jedem offenbart sich der
Geist zum Nutzen aller.“
Spr. 2
Zu den Charismata gehören etwa die Fähigkeit zur Weisheitsrede und die zur
Erkenntnisrede, also zu Philosophie und Wissenschaft. Andere haben die Gabe der
Heilung erhalten und wieder andere die der Machtausübung. Einer vermag in
verschiedenen Zungen zu reden, der andere die Zungenreden auszulegen. Wenn Paulus
sagt, die Gabe der Rede sei ein Geschenk des Heiligen Geistes, so widerspricht er damit
der in der antiken Welt herrschenden Auffassung, wonach die Rhetorik als techné
(sprich: technä – Betonung auf letzter Silbe), als Kunst, anzusehen sei, die man erlernen
konnte und deren Lehrer teuer bezahlt werden mussten. Kein Grieche der Achsenzeit
wäre auf die Idee gekommen, rhetorisches Können sei ein Geschenk des Heiligen
Geistes. Darin aber liegt gerade das auszeichnende Moment der christlichen Gemeinde,
die Paulus in Korinth gegründet hat. Die Charismata erhöhen den Christen gegenüber
dem Ungläubigen, der das Orakel fragen muss, wie die Götter über ihn befinden und doch
keine vernünftige Antwort erhält. Zu sagen, Gott sei gut und er schenke dem Menschen
alles, was er als Glied einer Gemeinde benötigt, erscheint als radikaler Bruch mit dem
Unzuverlässigkeitsdogma der olympischen Götterversammlung. Charisma ist auch bei
Paulus etwas Außeralltägliches, jedoch nicht im Sinne besonderer Schönheit, Anmut oder
Freude bei den Göttern, sondern aufgrund des Privilegs der Gabe Gottes an den
Menschen. Damit verleiht Paulus dem Charisma-Verständnis den Charakter des
unverfügbaren Geschenks, das ihm heute noch anhaftet. Der Ausdruck Begabung
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bewahrt im Wortstamm diese Vorstellung und die Rede von der Begnadetheit eines
talentierten Menschen transportiert noch immer das Staunen vor dem Geschenk, das da
einem Einzelnen verliehen worden ist.
Spr. 1
Während die drei Grazien die mythische Personifikation der Anmut repräsentieren,
profiliert Paulus das Element der Auszeichnung im Vorstellungsrahmen von Charisma.
Am Ende der antiken Welt ist beides keineswegs zu einer Einheit verschmolzen. Die
auszeichnende Gabe und die Gnade der Anmut bilden jedoch die beiden wesentlichen
Komponenten, aus denen sich auch der moderne Begriff von Charisma zusammensetzen
wird. In der Neuzeit bezieht sich diese Kontamination weder auf die Götter noch auf die
Gemeinde, sondern auf das herausgehobene Individuum. Es wird zum geschichtlichen
Träger von Charisma, der sich von den mythologischen und christlichen Bestimmungen
abhebt. Indem Max Weber den Begriff auf die politische Geschichte hin ausrichtet,
erscheint der Typus des Charismatikers rückblickend in allen Jahrhunderten und allen
Gesellschaftsformen als das Herrschaftssubjekt par excellence.
Spr. 2
Charisma als Herrschaftstyp
Max Weber spricht von drei grundlegenden Typen der Herrschaft und bezeichnet diese
als die legale oder rationale, die traditionale und die charismatische Herrschaft. Während
die rationale auf der vernunftgemäß anerkannten Legalität des Machthabers beruht und
die traditionale auf den Glauben an die ewige Gültigkeit von alters her bestehender
Normen und Werte aufbaut, erscheint die charismatische Herrschaft als der irrationale
Effekt eines Ausnahmezustands. Sie beruht, so Weber, darauf, dass ein bestimmter
Mensch außeralltägliche Eigenschaften zugesprochen bekommt und aufgrund dessen als
Führer anerkannt wird. Webers Definition lautet: „'Charisma' soll eine als außeralltäglich
geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als mit übernatürlichen
oder übermenschlichen oder zumindest außeralltäglichen, nicht jedem zugänglichen
Kräften oder Eigenschaften oder als gottgesendet oder als vorbildlich und deshalb als
Führer gewertet wird.“
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Spr. 1
Eine wie auch immer objektive oder auch nur unabhängige Bewertung der
charismatischen Qualitäten spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Daher wird
Charisma nicht wie ein Amt verliehen, es muss vielmehr durch die fortgesetzte Bewährung
seines Trägers ständig neu erarbeitet werden. In der Geschichte sind es meist Kriege, die
zu Schauplätzen solcher Bewährungsproben werden. Die ständige Kriegsbereitschaft bei
herausragenden geschichtlichen Gestalten bestätigt das auf den ersten Blick. Indem das
Charisma des Herrschenden das Volk zum Krieg begeistert, liefert der Krieg wiederum die
Grundlage, die charismatische Wirkung zu festigen, was unfehlbar zu weiteren
Kriegshandlungen führen wird. Vielleicht liegt in dieser Spirale eine Erklärung für den bis
heute in seiner Motivation unerklärlichen Siegeszug Alexanders des Großen, der ja
zugleich als das Urbild aller charismatischen Kriegsherren gilt.
Spr. 2
Aufgrund der Flüchtigkeit von Charisma als Herrschaftsgrundlage befasst sich Max Weber
eingehend mit der Frage nach dessen Verstetigung, also damit, wie die charismatische
Herrschaft in eine Ordnung zu überführen wäre, die nachhaltig Bestand hätte. Der
Organisationstyp der charismatischen Herrschaft steht in scharfem Kontrast zu allen
Formen traditionaler Verwaltung und moderner Bürokratie. Es existieren weder
Laufbahnen noch Hierarchien. An deren Stelle treten Berufungen nach den Eingebungen
der Führerfigur, die sich wiederum an der charismatischen Kraft des zu Berufenden
ausrichtet. Nach Weber gibt es in solchen Strukturen auch kein Gehalt, keine Entlohnung
sonstiger Art oder gar abschöpfbare Pfründe. Die Jünger des Charismatikers leben mit
diesem in einem „Liebes und Kameradschaftskommunismus“ und beschaffen die
notwendigen Finanzen aus mäzenatischen Quellen. Auch im Rechtswesen gelten keine
fixierten Maßstäbe oder gar Gesetze. Urteile werden von Fall zu Fall gesprochen, und
zwar nach dem typischen Grundsatz der charismatischen Herrschaft, welcher lautet: „Es
steht geschrieben, ich aber sage euch.“ Die Gesetzeskraft des Charismatiker speist sich
aus Offenbarungen, Orakeln, Eingebungen und individuellen Überzeugungen des Führers
selbst.
Spr. 1
Das Hauptproblem von Webers Theorie besteht darin, dass Charisma in der Form, wie er
es beschrieben hat, nicht anzutreffen ist. Stets tritt es in Mischvarianten mit den beiden
anderen Typen der Herrschaft auf, der taditionalen und der legalen. Dennoch wird
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Webers Theorem bis heute in der Soziologie und in den Geschichtswissenschaften
intensiv diskutiert, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Betrachtet man die Erscheinungsweisen vermeintlich charismatischer Herrschaftstypen in
Faschismus und Kommunismus, so wird schnell ihr aufwändiger Inszenierungscharakter
erkennbar. Es war Hitlers um 1920 bei rhetorischen Übungskursen der Reichswehr
entdecktes Redetalent, das den Ausgangspunkt dazu bildete, ihn nach und nach in den
Rang eines „deutschen Messias“ zu erheben. Sukzessive bezog die Hitler-Propaganda
immer weitere Medien in die Stilisierung eines seltsamen Nobody zum „Führer“ ein, bis
der Dokumentarfilm diese Zurüstungen auf ihren absoluten Höhepunkt führte. Leni
Riefenstahls Verfilmung des Nürnberger Reichsparteitags von 1934 „Triumph des Willens“
erzeugt den Bildermythos vom übermenschlichen Giganten des Willens und der Macht,
der unendlich hoch über sein Volk erhaben ist und dem dieses Volk willenlos zu Füßen
liegt. Der Film ist ein einziger Bilderrausch des Personenkults und darin ein
unvergleichbares Dokument für die Erforschung von Charisma als modernes Phänomen.
Es zeigt sich daran, dass in modernen Gesellschaften hoch ausdifferenzierte
Medientechniken eine Manipulation der Massen mit einer ins Astronomische potenzierten
Wirkung ermöglichen. Ideologische Verblendung wird filmästhetisch rücksichtslos und
hoch kalkuliert überformt; doch angesichts der Verfahren, die er dazu anwendet, ist der
Riefenstahl-Film eben auch als Kunstwerk zu betrachten. In seinen Bilderfolgen wird der
Rausch der Massen bei der Projektion ihrer Verzückungen auf eine strahlende Gestalt
ebenso festgehalten wie die Techniken zur Manipulation der Rauschbereiten darin zur
Perfektion gebracht worden sind. Beide Tendenzen sind zugleich in einen Rahmen der
Überhöhung gerückt, die das Ganze als gigantisches Gesamtkunstwerk in Erscheinung
treten lassen.
Spr. 2
In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich zu erfahren, dass Hitler selbst der
bannenden Ausstrahlung eines anderen erlegen war, lange bevor er zum „deutschen
Messias“ stilisiert werden konnte. Hitler selbst glaubte schon zuvor inbrünstig an die
Realität einer Übermenschlichkeit, welche er und seine Partei ins Werk zu setzen
gedachten. Der ihm diesen Glauben eingab, war ohne Zweifel Richard Wagner. Wagners
Musik erschütterte und begeisterte den nach München zurückgekehrten Kriegsveteran
zutiefst, und wann immer er konnte, besuchte er die Münchner Aufführungen von
Wagners Opern. Hitler erkannte in dem großen deutschen Komponisten den eigentlichen
Genius, in dessen Werk sich Traum und Rausch zu einer höheren Stufe der Kultur
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verdichteten. Diese Inspirationen selbst wiederum ästhetisch umzusetzen, blieb für den
gescheiterten Kunstmaler Hitler eine Illusion. Auch vollzog sich der Aufbau des
böhmischen Gefreiten zum NS-Führer zunächst nach anderen Vorgaben als solchen der
Bühnenkunst Wagners. Doch wurde der Glaube an die begnadete Sendung der großen
Persönlichkeit bei Hitler vor allem durch das ästhetische Erlebnis der Wagnerschen Musik
geweckt. Die Ästhetisierung der nationalsozialistischen Propaganda erreichte mit der Idee
des Reichsparteitags als eines sich über mehrere Tage erstreckenden Gesamtkunstwerks
seinen Höhepunkt. Dass dies eine Pervertierung Wagners bedeutete, steht außer Frage.
Doch steht ebenso außer Frage, dass gerade die Musik und die Ausstrahlung Richard
Wagners den Deutschen einen Eindruck davon vermittelten, was das Charismatische sein
und was ein charismatischer Mensch bewirken kann. Hieran zeigt sich, dass Charisma in
modernen Gesellschaften - und wohl nicht nur in diesen - eine ästhetische Brücke
benötigt, die zwischen den Massen und dem herausgehobenen Einzelnen vermittelt. Die
Künste, insbesondere Musik, Theater und Literatur sind Basislager spiritueller
Grundenergien, die nicht zuletzt im Sinne des Aufbaus charismatischer Phantasmen
aktiviert werden können.
Spr. 1
Der George-Kreis als Keimzelle modernen Charismas
Max Weber war der Ansicht, der Grad der Entzauberung moderner Gesellschaften steige
im Zuge der Neuzeit immer weiter an. Neben der Umbildung archaischer Personenkulte in
stetige Herrschaftsverfahren sah er vor allem in der fortschreitenden Säkularisierung und
in den Disziplinierungsprozessen des Subjekts einschneidende Veränderungen für die
Bedingungen charismatischer Herrschaft. Doch kommt ganz offenbar in der modernen
Politik charismatischen Phänomenen besondere Bedeutung zu. Neben den vielfältigen
medialen Manipulationsmöglichkeiten war es nicht zuletzt die fortschreitende
Disziplinierung der Subjekte, die den Inszenierungen modernen Charismas zum
Durchbruch verhalf. Die sich über Jahrhunderte erstreckende funktionale Gleichschaltung
der Einzelnen wurde zur Voraussetzung arbeitsteiliger Produktion, aber auch zum
Nährboden massenhafter Hingabe an irrationale Projektionen. Schon Napoleon konnte
davon profitieren, bei ihm wie bei den Diktatoren des 20. Jahrhunderts handelte es sich
um ein bewusst fabriziertes Charisma und keineswegs mehr um das von Max Weber
umrissene ursprüngliche Phänomen. Von den Lebensweisen in einem „Liebes- und
Kameradschaftskommunismus“ konnte schon in der Machtpolitik des frühen 19.
Jahrhunderts längst keine Rede mehr sein. Offensichtlich ist Max Webers Theorie an
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ganz ursprünglichen sozialen Gruppen orientiert, die ein überschaubares Terrain
bevölkerten, eine stabile soziale Schichtung aufwiesen und aus deren Kreis der
charismatische Herrscher gleichsam urwüchsig hervorging.
Spr. 2
Woher auch immer Weber die historischen Anschauungsobjekte für seine Theorie nahm,
ein lebendes Beispiel dafür fand er um 1910 direkt vor seiner Haustür in Heidelberg. In
Webers unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Heidelberger Schlossberg installierte sich
ein solcher Kameradschaftskommunismus um einen als Urbild des Charismatikers
auftretenden Dichter. In den Jahren um 1919 hielt sich Stefan George mit einigen seiner
Jünger häufig in Heidelberg auf. Der Lyriker George, der berufs- und wohnungslos war,
hatte einige feste Stützpunkte in Deutschland für sich und seinen Kreis, zu denen
Heidelberg zählte. Nicht zuletzt weil der George-Vertraute Friedrich Gundolf dort eine
Professur ausübte, hielt er sich häufig dort auf. George war der Prototyp des
wirtschaftsfremden Anführers, der von der Gunst reicher Gönner und Mäzenaten getragen
wurde und der mit seinen Ideen von reiner Kunst eine ästhetische Parallelwelt schuf, die
viele junge Männer anzog. Die homoerotische Grundierung des Kreises, die hinter der
ästhetischen Fassade zurücktrat, mag Max Weber den Ausdruck Liebeskommunismus
direkt in die Feder diktiert haben.
Spr. 1
Die Bekanntschaft zwischen Max Weber und Stefan George wurde von dem Berliner
Soziologen Georg Simmel vermittelt, in dessen Salon George vor 1910 verkehrte.
Zwischen September und Dezember 1910 trafen sich Weber und George mehrmals in
Heidelberg. Auch in den darauffolgenden Jahren fanden solche Begegnungen sporadisch
noch statt. Man kam in der Pension Neuer am Schlossberg zusammen, wo George
wohnte, oder in Webers Villa am gegenüberliegenden Neckarufer. Weber fand George
äußerst sympathisch und hob seine ernste Schlichtheit im persönlichen Umgang hervor.
Von George sind hingegen keine Äußerungen zu Weber überliefert. Das passt ins Bild,
denn schließlich war George das Phänomen und Weber sein Interpret. Aus Webers
Deutungen der Gestalt Georges ist denn auch mit aller Wahrscheinlichkeit das
Bewusstsein für die Tatsache und die Bedeutung charismatischer Herrschaft bei dem
Sozialwissenschaftler entstanden. In seinem vor 1910 geschaffenen Werk spielt der
Ausdruck Charisma nachweislich keine Rolle, ja er kommt nicht einmal vor. Erstmals
taucht der Begriff bei Weber in einem an die Studentin Dora Jellinek gerichteten Brief vom
14
Juni 1910 auf, in dem Weber bestimmte kulthafte Verehrungspraktiken des GeorgeKreises diskutiert. Man kann demnach davon ausgehen, dass auch für Max Weber
ursprünglich ein ästhetisches Phänomen Ausgangspunkt für seine Charisma-Reflexionen
gewesen ist. In Charisma als einem ästhetischen Phänomen existieren bestimmte auf
den ersten Blick vormoderne Modelle sozialer Ursprungsverhältnisse fort. Über
symbolische Formen und ihre Lebenswelten wird die soziale Wirkung charismatischer
Herrschaft für die Moderne anschaulich. Wo ausdifferenzierte Sozialsysteme ein
ansonsten abstraktes und kühles Verhältnis zwischen dem Individuum und der
Gesellschaft installieren, leisten ästhetische Subsysteme emotionale Kompensation. Der
charismatische Effekt tritt dann wie in Hitlers Führer-Inszenierungen zuerst als artistisches
Konstrukt in Erscheinung und hat darin wiederum Auswirkungen auf die Politik. In der
Moderne ist charismatische Herrschaft die Fortsetzung der künstlichen Paradiese ins
Leben hinein, die in der Kunst entworfen worden sind.
Spr. 2
Für Max Weber stand fest, dass Charisma allein aus dem Akt seiner Zuschreibung der
Jünger an ihren Meister hervorgehen kann. Die Frage, inwieweit solche Eigenschaften
ihre psychologischen Grundlagen bei George selbst haben könnten, lässt er unerörtert.
Sie spielt für eine soziologische Analyse keine Rolle. Dennoch gehört sicherlich auch die
psychologische Seite zu der Reflexion dessen hinzu, was man mit und nach Weber unter
Charisma diskutiert. So unterschiedliche Gestalten wie Richard Wagner, Stefan George
oder Adolf Hitler wurden ja keineswegs wider Willen zu Charismatikern erklärt, sondern
brachten bestimmte Voraussetzung dazu mit und wussten diese auch entsprechend
einzusetzen. Muss es also nicht auch in der Person der verehrten Führerfigur eine
psychische Disposition geben, die soziale Spiritualität nicht nur möglich macht, sondern
herausfordert? Hitlers Ausstrahlung hatte sicherlich von vornherein Züge des
Psychopathischen, die allerdings bei entsprechender Zurüstung ebenso eine bannende
Wirkung auf Menschen entfalten konnte wie Georges gemessene Strenge oder Wagners
genialische Maßlosigkeit. Die Frage nach dem psychologischen Hintergrund von
Charisma führt jedenfalls weg von Max Webers psychologischer Analyse und hin zu
einem spekulativen Horizont, dessen Triftigkeit ebenso wenig zu leugnen ist wie sich
seine Fragwürdigkeit immer wieder in Erinnerung ruft. Die Rede ist von der Dimension des
Dämonischen.
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Das Dämonische als psychologischer Grund von Charisma
Das Dämonische wird, angewandt auf Personen der Zeitgeschichte, wie gesagt zuerst
von Goethe ins Spiel gebracht. Im letzten Teil seiner Autobiografie „Dichtung und
Wahrheit“ berichtet Goethe über seine Orientierungsversuche in spirituellen Fragen, die er
als junger Man unternommen habe und kommt auf Phänomene zu sprechen, die weder
von den Religionen noch von einer empirisch verfahrenden Psychologie erfasst oder gar
erklärt werden können. Spricht Goethe zunächst noch von einem überpersönlichen
Wesen, so lässt er schnell durchblicken, dass dieses Wesen sich stets in Individuen
manifestiert. Bereits als junger Dichter der Sturm und Drang-Bewegung hatte er den
Versuch unternommen, mit Egmont eine genuin dämonische Figur auf die Bühne treten
zu lassen. Egmonts charismatische Wirkung, die er auf andere ausübte, führte Goethe auf
dessen dämonisches Wesen zurück. Goethe spricht in diesem Kontext von attrativa, von
anziehenden Kräften. Das Dämonische verleiht der Person, in die es einzieht, solche
Energien absoluter Anziehung; es ist aber zugleich für ihren Untergang verantwortlich. In
Egmont gestaltet Goethe die Dialektik von charismatischer Attraktion und dämonischem
Verhängnis. Doch konnte er mit dem Problem, das er damit erst aufgeworfen hatte,
niemals fertig werden.
Spr. 2
Gut dreißig Jahre später sollte er der Verkörperung dieser fatalen Kombination leibhaftig
gegenüber stehen. In Napoleon vermutete er das von ihm erkannte unheimliche
Weltgesetz in reinster Güte inkarniert, ja Napoleon befestigte in Goethe den fortan
unumstößlichen Glauben an die alles beherrschende Macht des Dämonischen. Wiederum
in „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt der Dichter noch in allgemeinen Begriffen die
Wirkung dämonischer Persönlichkeiten, die wie eine Charakteristik des Napoleonischen
Feldherren-Nimbus klingt: „Eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine
unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar die Elemente, und wer kann sagen,
wie weit sich eine solche Wirkung erstrecken wird? Alle vereinten sittlichen Kräfte
bewirken nichts gegen sie; vergebens, dass der hellere Teil der Menschen sie als
Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen
angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch
nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf
begonnen.“
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Spr. 1
In der Person Napoleons selbst sah Goethe die von Napoleon propagierte Formel
Wirklichkeit werden, nach der die Politik die Schicksalsmacht der modernen Welt sei.
Dass bedeutet, dass ein dem Dämonischen unterworfener Tyrann das politische
Schicksal der Welt nach seinen Interessen gestaltet und dabei selbstermächtigt über
Leben und Untergang ganzer Völker verfügt. Dieser urwüchsigen Gewalt liegt als
dynamisches Moment die durch nichts und niemanden aufzuhaltende Produktivität eines
Einzigen, vom dämonischen Geist gleichsam Auserwählten zugrunde. Mehrmals schon
hat man bemerkt, dass es sich bei dieser Konturierung der dämonischen Persönlichkeit
um die Fortschreibung des Genieglaubens aus Goethes Frühzeit handelt. Nun aber
erscheint das Genie als ein noch nicht einmal mehr von den Elementen zu bändigendes
Monstrum des Willens und der Kraft. Sie sei, in die Weltgeschichte eingreifend, noch
weitaus mehr als auf dem Gebiet der Kunst so durchschlagend, dass sie nur noch von
sich selbst aufgehalten werden kann.
Spr. 2
Goethe war sicherlich der ausführlichste Theoretiker des Dämonischen, auch wenn seine
„Theorie“ weitgehend die Beschwörung des Rätsels darstellt, das sie umkreist. Mit dem
Dämonischen verlegt er den Urgrund machtpolitischer Durchsetzungskraft in eine Mystik,
die jenseits der historischen Zeit angesiedelt ist, und von der er zugleich glaubt, dass sie
die Geschichte wie nichts anderes bestimme. Das Dämonische kann mithin als eine der
zentralen metaphysischen Ideen in Goethes später Weltanschauung beschrieben werden.
Zur psychologischen Erklärung dessen, was wir als Charisma bezeichnen, taugt sie
aufgrund ihrer vorwiegend mystischen und schicksalsbeschwörenden Einfärbung nur sehr
bedingt. Immerhin beharrt Goethe auf einem in der Person selbst zu suchenden Grund für
die große soziale Attraktivität einiger weniger Menschen in der Geschichte. Doch erklären
kann er die dabei wirkenden Kräfte nicht. Stattdessen stellt er mit großer Geste eben jene
Semantik des Geheimnisses in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die für das
Zustandekommen charismatischer Verhältnisse verantwortlich ist. Dass die Attraktion aus
der Bedeutungsstruktur des Geheimnisses selbst strömt und nicht in seinem wie auch
immer kodifizierten Inhalt niedergelegt ist, dieser Gedanke wäre Goethe sicherlich fremd
gewesen.
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Spr. 1
Wer meint, mit dem tief beeindruckten, aber letztlich ratlosen Goethe sei die Theorie des
Dämonischen zu einem Abschluss gekommen, irrt. Noch im 20. Jahrhundert sollte mit
Karl Jaspers ein einflussreicher Philosoph auf die Idee vom dämonischen Menschen
zurückkommen. In Jaspers 1919 erstmals erschienenen Buch „Psychologie der
Weltanschauungen“ taucht unter der Überschrift „Der Geist zwischen Chaos und Form“
das Dämonische aus seinen mystischen Katakomben wieder auf und versucht noch
einmal theoriefähig zu werden. Jaspers will dem dämonischen Menschen auf die Spur
kommen, den er für einen der wesentlichen Typen weltanschaulicher Produktivität hält.
Ohne Umschweife beschreibt er solche Menschen als psychologische Modellfälle des
Charismatikers: „Sie faszinieren ihre Umgebung, die sie zu Führern nimmt, oder die sie
fürchtet und vernichtet als feindliche Kraft. Sie sind nie auf eine Formel zu bringen; sie
sind nie festzulegen als nur für die konkrete Gegenwartsaufgabe, und sie sind doch von
höchster Verantwortung entgegen der Verantwortungslosigkeit des Chaotischen. Wohin
ihr Weg führt, können sie nie wissen. Sie sind repräsentativ für ganze Folgen von
Generationen – wenn sie nicht geradezu als Gleichnis des Menschen überhaupt gesehen
werden dürfen.“
Spr. 2
Merkwürdigerweise entwickelt Karl Jaspers seine Ideen zum dämonischen Menschen
exakt zur selben Zeit, da Max Weber zu seinem Charisma-Begriff vorstößt. Auch der Ort
dieser Genesen ist mit Heidelberg derselbe. Ob das Zufall ist, oder doch mit der damals in
Heidelberg vorherrschenden intellektuellen Stimmung zu tun hat, muss offen bleiben.
Was Jaspers zur geschichtlichen Größe des dämonischen Menschen sagt, entspricht
ziemlich genau dem Muster, das man an den berühmten Charismatikern der Geschichte
ablesen kann. Ihre Gestalt wächst ins Grandiose, ihre Wirkung bleibt demgegenüber
begrenzt. Genauere Untersuchungen zu den charismatischen Menschen aus Antike und
Mittelalter bestätigen dies; die Betrachtung politischen Charismas von Napoleon bis Hitler
macht es noch weitaus deutlicher. Charismatiker wirken auf ihre Zeitgenossenschaft im
Sinne sozialer Spiritualität und hinterlassen weniger politisch nachhaltige Reformen als die
Fama ihrer eigenen Größe.
Spr. 1
Postmodernes Charisma
Zweifellos war nach Hitler der alte Glaube an politisches Charisma zerstört. Zugleich
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bediente sich die Propagandamaschine des Nationalsozialismus erstmals in vollem
Ausmaß jener Mittel und Techniken, die auch nach 1950 für den Herstellungsprozess
postmodernen Charismas unabdingbar wurden. Es sind dies die neuen technischen
Medien der die Räume und Zeiten überwindenden Stimme und des bewegten Bildes, also
Radio, Kino und Fernsehen. Politische Charismatiker der Postmoderne – man denke an
John F. Kennedy, Che Guevara oder Willy Brandt – unterscheiden sich insofern von ihren
geschichtlichen Vorläufern, als neue Medien neue Bedingungen geschaffen haben. Die
Präsentations- und Selektionsmechanismen von Bildern und Nachrichten sowie die
Geschwindigkeit und die Dichte ihrer Verbreitung erzeugen reine Medienfiguren, die aus
den dazu ausgewählten Menschen gleichsam technoimaginär herausmodelliert werden.
Spr. 2
Postmoderne Charismatiker sind Kompaktprodukte der Medienindustrie, die sich immer
zuerst als Unterhaltungsindustrie versteht. Der postmoderne Charismatiker ist auch dort,
wo er als genuin politischer Typus stilisiert wird, zuerst und vor allem ein Star, - und damit
Komsumprodukt. Als solches weckt er ein völlig anderes Rezeptionsbedürfnis als es die
traditionellen Charismatiker der Geschichte taten. Die Unterwerfung der Masse angesichts
des Stars ist ein Kotau vor dem Gesetz der Kosumption. Postmodernes Charisma ist in
diesem Sinne keineswegs wirtschaftsfremd, sondern in jeder Hinsicht profitorientiert. Was
den Star umgibt und sein Charisma schafft, ist nicht mehr das unauflösbare Geheimnis,
sondern die undurchdringliche Oberfläche seiner Stilisierung. Das betrifft alle
charismatischen Starfiguren, auch die tragischen, wie etwa Franz Kafka, der als
posthumer Kultautor, vor allem durch ein spätes Foto aus dem Jahre 1924, das ihn als
schwer Lungenkranken und schon todgeweihten Menschen zeigt, zu einer Pop-Ikone mit
charismatischer Ausstrahlung geworden ist. Keine noch so scharfsinnige Interpretation
seiner Werke vermag dieses Phänomen zu erklären, weil es allein dem Oberflächenstatus
des Fotos und seiner Verbreitungs- und Vermarktungsstrategien entsprungen ist. Doch im
Fall Franz Kafkas kollidieren auch die metaphysischen Geheimnisgründe seiner Texte mit
der Faktur seines Bildes. Kafka genießt deshalb ein doppeltes Charisma: das moderne,
um die Struktur eines dichterischen Geheimnisses gelagerte und das postmoderne, das
die Ikone der popkulturellen Oberfläche vermarktet. Dass das zweite aus dem ersten
hervorgegangen ist, steht außer Frage; im kulturellen Diskurs dominiert jedoch das
millionenfach reproduzierte Bild, hinter dem die Mehrzahl der Konsumenten den dunklen
einsamen Abgrund eines in der eigenen Einschätzung gescheiterten Schriftstellers
vermuten. Postmodernes Charisma kann demnach auch aus der Fama des Scheiterns
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seine Kräfte beziehen
Spr. 1
Zu den Widersprüchen politischen Charismas der Postmoderne gehört, dass das medial
kalkulierte Produkt der besonderen Persönlichkeit immer noch in realen Krisenszenarien
seinen Auftritt hat. Che Guevara erscheint im Zenit der Kubanischen Revolution, ebenso
wie Kennedy auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges zum Hoffnungsträger geworden ist,
und Willy Brandt seine charismatische Zeit im Zuge der Studentenproteste der späten
sechziger Jahre erlebte. Auch der vorläufig letzte politische Charismatiker, Barak Obama,
trat zu einem Zeitpunkt auf den Plan, als die USA nach acht Jahren der Regierung Bush,
noch traumatisiert vom 11. September und mit zwei in fernen Weltgegenden geführten
Kriegen beladen, einen Retter suchte, der für einen neuen Aufbruch stehen konnte. Wie
unmittelbar Obamas Charisma aus der Popkultur abzuleiten ist, zeigt sich an seinem
weltweit zum Bonmot gewordenen Slogan Yes, wie can; er ist einer Trickserie für
Dreijährige entnommen, die in Deutschland unter dem Titel Bob, der Baumeister
ausgestrahlt wird. Hier scheint es so, als wäre das Geheimnis von vornherein durch die
stilisierte Oberfläche eines Bildes ersetzt, das mit dem denkbar einfachsten Text
unterfüttert worden ist. In Yes, we can überlebt die alte Verheißung an die historische
Mission eines Volkes als unablässig wiederholte Behauptung der Leistungskraft von
Handwerkern. Darin liegt jener Realismus beschlossen, der die Amerikaner an ihre
urtümlichen produktiven Fähigkeiten erinnert und keine Spur mehr von dem fatalen
Verhängnis aufzuweisen scheint, das einst das charismatische Geschehen dämonisch
begleitet hat.
Spr. 2
Obama erweitert schließlich den Kreis der für die Fabrikation von Charisma eingesetzten
Medien um das Internet. Zweifellos ist er der erste Netz-Charismatiker der Geschichte.
Das heißt, sein Bild unterliegt nicht mehr den Verbreitungsverfahren technischer
Reproduzierbarkeit, sondern ist als virtuelles Phänomen in einem statischen Jetzt ständig
präsent. Es ist als Netzphänomen immer da, verläßt uns nie und gibt uns den Glauben an
die eigene Kraft zum Wandel so lange ein, bis wir mit ihr identisch sind. Wie schwierig es
aber auch für einen Neu-Charismatiker wie Obama ist, die im Jahre 2008 aufgebaute
Ausstrahlung in die reale Politik mitzunehmen, erlebt die Weltöffentlichkeit seitdem fast
wöchentlich. Charisma ist flüchtig und muss immer wieder erneuert werden. Es in ein Amt
zu überführen, ist, wie Max Weber wusste, ein äußerst schwieriges Unterfangen, das
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selten gelingt. Wenn der Glanz der Verheißungen verschwunden ist, mag es scheinen, als
sei man aus einem Traum erwacht, in dem Gut und Böse sehr schwer zu unterscheiden
waren.
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