Die Wissenschaft im gesellschaftlichen SDannunqsfeld

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Die Wissenschaft im gesellschaftlichen Spannungsfeld
Statement von Friedrich Fürstenberg
Wissenschaft ist der Versuch, die Welt in ihrem Wirkungszusammenhang zu erkennen. Ihr
Grundprinzip ist die kritische Reflexion: Fragestellungen leiten zu vorläufigen Erkenntnissen,
nicht jedoch zu letzter Gewißheit. Der handelnde Mensch will sich aber an gesicherten
Erkenntnissen orientieren. Diesen Dienst leistet die Verbindung von Wissenschaft und Technik
durch die Konstruktion einer nach dem wissenschaftlichen Modell konzipierten künstlichen
Wirklichkeit. In derartigen Systemen sind Wechselwirkungen kontrollierbar. Die Systeme selbst
bleiben aber Teil einer kontin henten Welt, die sich grundsätzlich nicht steuern läßz. Diese
Erkenntnis und die damit verbundene Einsicht in die oft problematischen Folgewirkungen
wissenschaftlicher Erkenntnis haben zu einer tiefen Skepsis gegenüber wissenschaftlichem
"Herrschaftswissen" (Max Scheler) geführt. An die Stelle naiver Herrschaftsansprüche sind
kritische Reflexionen der Rolle von Wissenschaft überhaupt getreten, verbunden mit ethischen
Überlegungen.
Ethische Probleme im Zusammenhang mit Erkenntnis werden bereits in der Bibel thematisiert.
Eine völlig neue Dimension entstand aber durch den zunehmenden Einsatz von Wissenschaft als
Prokuktivkraft, und zwar durch ihre Verbindung mit Technik. Dadurch erhalten
wissenschaftliche Grundwerte wie die Autonomie der Forschung, Objektivität der Erkenntnis
und Humanität der Anwendung völlig neue Stellenwerte. Drei Grundfragen beschäftigen uns in
diesem Zusammenhang:
Darf der Wissenschaftler seine Erkenntnis autonom und unbegrenzt auf Anwendungsbereiche
ausdehnen ?
Darf der Wissenschaftler seine Erkenntnis unbegrenzt und unter Verzicht auf Kontrolle der
Folgewirkungen mitteilen ?
Darf der Wissenschaftler seine Erkenntnis unbegrenzt nutzen oder beliebig zur Nutzung
bereitstellen ?
Diese Fragestellungen verweisen darauf, daß der Forschungsprozeß keineswegs zweckfrei und
losgelöst von außerwissenschaftlichen Überlegungen abläuft. Neben den Erkenntnisinteressen
greifen Vermittlungsinteressen und Verwertungsinteressen modifizierend ein. Diese drei
Zusammenhänge werden zunehmend Gegenstand kontroverser Diskussion, wobei nur die Frage
nach den Erkenntnisinteressen im engeren Sinne die Wissenschaft selbst betrifft. Die beiden
anderen beziehen sich auf ihren gesellschaftlichen Kontext, d. h. den Umgang mit
wissenschaftlicher Erkenntnis.
Die Autonomie der wissenschaftlichen Forschung und der mit ihrer Hilfe erzielten Ergebnisse
wird zum Problem, wo Forschung in Lebenszusammenhänge eingreift, z. B. durch Experimente.
Erkenntnisinteressen des Forschers und der Eigenwert des betreffenden Lebens sind
gegeneinander abzuwägen.
Die Universalität der wissenschaftlichen Kommunikation im Sinne einer Verbreitung von
Forschungsergebnissen wird zum Problem, wenn sachadäquater Umgang mit wissenschaftlicher
Erkenntnis nicht gewährleistet werden kann.
Die Verwertung von Forschungsergebnissen im Sinne einer humanen Anwendung ist
grundlegendes Problem in einer Gesellschaft, in der Forschungsergebnisse als Mittel für
freibleibende Zwecke eingesetzt werden können. Die Verbindung von Erkenntnis und
Machbarkeit erschien zunächst ganz problemlos. Goethe notierte während seines zweiten
römischen Aufenthalts auf der italienischen Reise im September 1787: "Lebhaft vordringernde
Geister begnügen sich nicht mit dem Genusse, sie verlangen Kenntnis. Diese treibt sie zur
Selbständigkeit, und wie es ihr nun auch gelingen möge, so fühlt man zuletzt, daß man nichts
richtig beurteilt, als was man selbst hervorbringen kann." Folgerichtig beginnt faust als
Philosoph, endet jedoch als Ingenieur. Die Verwendung von Forschungsergebnissen als Mittel
zum Zweck führt aber letztlich zu einer Funktionalisierung von Wissenschaft. Hierbei wird die
jeweilige Bestimmung und Einschätzung der Funktion vom Verwertungszusammenhang
bestimmt.
Als Hauptthese lä Bt sich formulieren, daß die sozialethische Herausforderung an Produzenten
und Nutzer von Forschungsergebnissen vorwiegend durch diesen Verwertungszusammenhang
ensteh. Sie ist damit nicht nur Problem individueller Grundhaltungen, sondern zugleich auch
Problem einer Gesellschaft, in der Macht- und Herrschaftsstrukturen normierend und
kontrollierend Verwertungsmuster nicht nur bereitstellen, sondern geradezu auferlegen. Man
denke in diesem Zusammenhang an die Leistungskonkur enz in Marktprozessen.
Dementsprechend muß man sich der sozialethischen Problematik sowohl von einem
Individualansatz als auch von einem institutionellen Ansatz her nähern.
Der Individualansatz geht von der Frage aus, welche MaBstäbe für das verantwortliche Handeln
von Personen gelten können. In diesem Zusammenhang sei an Kants humanitäre Fassung des
kategorischen Imparativs erinnert: "Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person
als in der Person eines jeden anderen, zu jeder Zeit zulgleich als Zweck, niemals blo B als Mittel
brauchst." Angesichts dieser zunächst überzeugenden, jedoch inhaltlich leer bleibenden Formel
entsteht sofort das Problem, wie man den Zweck, nämlich den "Menschen" verbindlich
bestimmen kann Angesichts unserer kontingenten Welterfahrung ist uns dies nicht mehr möglich.
Traditionen und Konventionen haben nur begrenzte Gültigkeit, Konsensus ist nur in
Teilbereichen Hund zeitlich beschränkt möglich. Veranwortliches Handeln kann also nichts
anderes als ein ständiger Suchprozeß sein, in dem aus der allmählich erlangten Einsicht in
Handlungsfolgen Rückschlüsse auf gebotenes Handeln erfolgen. Das bedeutet die Fähigkeit, sich
den sozialen Realitäten des Forschungsprozesses, seiner Beeinflußungsfaktoren und seiner
Auswirkungen kritisch zu stellen. Nur eine derartige kritische Haltung vermag funktionalisierte
Forschung und ihre Anwendung zu humanisieren. Sie begnügt sich nicht mit dem
wohlgeordneten betriebsmäßgen Ablauf von bedarfsorientierten Untersuchungen. Sie beachtet
den größeren sozialen Zusammenhang und beurteilt dle Wirkungen der Ergebnisse nach ihren
Konsequenzen fur die beteiligten und betroffenen Menschen. Dies geht selbstverständlich nicht
ohne ein wenigstens vorläufigès Bild vom Menschen, ein Bild von der Gesellschaft und ihrer
wünschbaren Weiterentwicklung. Als Eigenleistung des Handelnden bleibt es zunächst subjektiv
und für den engeren Wirkungskreis verbindlich.
Diese Begrenzung führt zu einem institutionellen Ansazt für die Begründung ethischer
Verhaltensmaßstäbe. Hierbei geht es nicht um die individualethische Fixierung des
Verhaltensspielraums, sondern um die sozialethische Bestimmung des Funktionsspielraums, also
die Festsetzung der relativen Handlungsautonomie bei der Anwendung von
Forschungergebnissen. Hierzu bedarf es gesellschaftlicher Regelsysteme. Aber auch hier entsteht
die Frage nach der inhaltlichen Bestimmung.
Wir treffen hier auf ein grundlegendes Problem, das mit der Wertstruktur der modernen
Gesellschaft zusammenhängt. In einer auf religiöse Werte hin orientierten Gesellschaft kann der
Verhaltensspielraum individualethisch durch konkrete Gesetze fixiert werden, die sich im
Verlauf des Sozialisationsprozeßes verinnerlichen lassen. Der Funktionsspielraum hingegen wird
sozialethisch durch Erwartungshorizonte und wechselseitige Verpflichtungen bestimmt.
Eine in ihrem Werthorizont "offene" Gesellschaft vermag demgegenüber nicht Verhaltens- und
Funktionsspielräume durch Bezug auf eine verinnerlichte Ethik zu regulieren. Statt dessen erfolgt
die Bindung durch rechtliche Normen, aufgrund von Verträgen oder in direkter Kooperation, z.B.
als Interessenausgleich. Verhaltensspielräume werden dementsprechend durch anerkannte
Spielregeln begrenzt und Funktionsspielräume entstehen durch die Definition sozialer
Mechanismen und entsprechende Gebrauchsvorschriften. Je stärker also der religiöse Faktorin
einer Gesellschaft unmittelbar gesellschaftspolitisch wirksam wird, desto stärker erfolgt
Institutionalilierung unter Bezug auf ethische Argumente. Je weniger dies der Fall ist, desto
stärker treten Verfahrensregeln in rationalisierter und bürokratisierter Form in Erscheinung. An
die Stelle der Sinnadäquanz tritt die Ziel-bzw. Zweckadäquanz, wobei allerdings die
Sinndimension keineswegs verloren geht. Sie wird aber eher in den Bereich individueller
Stellungsnahme verschoben. Ein Teil der Institutionalisierungsproblematik der Anwendung
wissenschaftlicher Ergebnisse wird also in den Freiraum persönlicher Entscheidung verlagert, wo
die betreffenden Individuen offensichtlich überfordert sind. Der Rest spiegelt sich dann in
sozialpädagogischen und Planungsaktivitäten wider, die auch ihren Ausdruck in der
Gesetzgebung finden.
Der Forscher als eigenverantwortlich handelndes Individuum muß sich nun an der Schnittstelle
unzureichender Orientierungssysteme entscheiden. Einmal ist es Objekt einer durch
übergeordnete Interessen und Planungsaktivitäten eingeleiteten Verhaltensbindung. Zum anderen
wird es zu personaler Haltung und Eigenleistung aufgefordert. Der herkömmliche Typ des
universitären Wissenschaftlers ist nur begrenz auf diese Aufgabe vorbereitet. Für ihn besteht kein
Zweifel darüber, da B höchstes Ziel die Erkenntnis sein mu B, sei es auf induktivem und
experimentellem Wege, sei es durch deduktive Verfahren. Diese Erkenntnis soll auch guten
Zwecken dienen. Man erwartet geradezu von ihr die Überwindung bestehender Mängel und
entsprechend dem Zuwachs an Rationalität auch den ideellen Fortschritt der Beteiligten. Dieses
credo des Wissenschaftlers etabliert seine Rolle in der Gesellschaft. Für ihn gilt das "dubito, ergo
sum" in seiner ganzen Tragweite, als Pflicht zum produktiven Zweifel. Gewi B ist nur, was
logisch beweisbar ist, und das auch nur bis auf Widerruf der Prämissen oder die Entdeckung
neuer Evidenz. Die Forschung wahrt also die Kontinuitat durch ständig erneutes Fragen nach
Problemlösungen. Soziologisch gesehen ist diese "Kontinuitat" eine Kette von Veränderungen äu
Berst dynamischen Charakters, die letztlich die Koordinaten unserer Handlungsfelder erfassen.
Fernziel dieser permanenten Revolution ist die Rationalisierung sämtlicher erfa Bbarer
Lebensbereiche. Da menschliches Dasein und seine Beziehung zur Natur grundlegend
problematisch ist, kann und muß es auch in seinem ganzen Umfang dem Einfluß
wissenschaftlicher Methoden zugänglich gemacht werden: "Il faut cultiver notre jardin". Das ist
die innere Logik der abendländischen Entwicklung, und darin liegt ihre Tragik zugleich. Denn
die angestrebte Erkenntnis produzierte zugleich auch "strategisches" Wissen, das zur
Durchsetzung beliebiger Interessen manipulativ einsetzbar ist. Beispiele sind die
Fremdbestimmung des Konsumenten, die psychophysische Konditionierung des arbeitenden
Menschen und die Gefährdung der Lebenswelt durch exploitative Nutzung der natürlichen
Ressourcen.
Ganze Forschergenerationen haben sich mit der Auffindung neuer Erkenntnisse beschäftigt und
alles diesem Ziel untergeordnet, ohne nach den Maßstäben zu fragen, mit denen auch die
wissenschaftliche Erkenntnis zu messen ist. Nicht die immanente Forderung nach exakten
Beweismitteln und auch nicht die Kosten-Nutzen orientierten Maßstäbe von universitären
Evaluierungskommissionen sind hier gemeint. Es geht vielmehr um die Gewinnung eines
übergeordneten, sozialkulturell verträglichen Richtma Bes auch für den Beruf des Forschers und
für seine institutionelle Einbindung in das universitäre Handlungsfeld.
Die Beurteilung der gesamten Lebensform einer Epoche von einem eng gefaßten
wissenschaftlichen Standpunkt aus ist ebenso einseitig wie dessen Unterwerfung unter politische
oder ökonomische Prämissen. Sie bedeutet letztlich Intoleranz gegenüber den übrigen
Komponenten einer Kultur und fördert soziale Isolierung und phantasielose Systemgläubigkeit.
Damit soll keiner Unwissenschaftlichkeit oder irrationalen Modeströmungen Vorschub geleistet
werden. Es geht aber darum, den Reichtum unserer europäischen Kultur zu erhalten und wirksam
werden zu lassen Er bedingt auch die Möglichkeiten zur Entfaltung der individuellen Eigenart.
Gelingt es nicht, auch in der Wissenschaft die Ehrfurcht vor diesen außerwissenschaftlichen
Prägekräften unseres Lebens einhergehend mit der Anerkennung entsprechender
Wertvorstellungen zu wecken, dann werden sämtliche Kulturäußerungen früher oder später nicht
auf das Prinzip der Vernunft, sondern der Rationalisierung im Sinne einer Optimierung von
Mitteln für freibleibende Ziele zurückgeführt. Dies sah Max Weber voraus, als er vom "ehernen
Gehäuse der Hörigkeit' sprach, das wir errichten: die totale Funktionalisierung des Wissens und
Handelns entweder in einem diktatorisch geleiteten Staatsmechanismus oder in einem
Marktautomatismus, der als Systemzwang an die Stelle von sozialkultureller Strukturierung den
Sozialdarwinismus vereinzelter Monaden setzt.
Das Erziehungsideal unserer Kultur, die eigenverantwortlich handeln de aber an mitmenschlicher
Solidarität orientierte Persönlichkeit, gedeiht nicht im Raum rationalistischer Kalküle und
Informationsnetze. Ihr Zerfall läßt, wie wir sehr gut an den neueren Kunstentwicklungen
beobachten können, den kulturzerstörenden Zwiespalt zwischen ungezügelten Trieben und
farblosen Lebenstechniken zuruck.
Gefordert wird also, daß der wissenschaftliche Forscher und mit ihm auch die ihn stützende
Institution der Universität sich weder in eine wertautonome Sphäre zurückzieht noch sich
distanzlos in die von Markt und Macht diktierten Verwertungsprozesse einordnet. Statt dessen ist
die Wirksamkeit im gesamtkulturellen Handlungsfeld zu reflektierem, das im Begriff ist
gesamteuropäische Dimensionen wiederzuerlangen. Neben die Erlernung rationaler Methoden
und Denktechniken wird dann auch die Kenntnis ihrer Auswirkungen auf die Lebenswelt treten.
Die Gefahr, da B sich das Wissen von seinen Grundlagen entfernt, verringert sich. Diese
Grundlagen sind aber nicht nur neurophysiologischer Art. Sie sind kulturelle Uberlieferungen,
die z.B. in der Form der Sprache erst zwischenmenschliche Kommunikation und solidarische
Hinwendung ermöglichen. Wer keinen Sinn in diesen gesellschaftlich vermittelten
Kulturgrundlagen der Wissenschaft sieht, wird auch keinen Sinnzusammenhang durch die
Anwendung wissenschaftlicher Methoden in sie hineinzaubern.
Die Entwicklung des Kreativitätspotentials der Wissenschaft - im Gegensatz zu einer bloB
systemadäquaten Wissenshäufung und -verwaltung - ist also nicht allein eine Frage der richtigen
Organisation, sondern vorrangig ein Bildungsproblem. Eine wichtige soziologische Erkenntnis
besagt, da B Sinnverlust zum Ritualismus führen kann, zum kritiklosen Vollzug von
sinnentleerten Abläufen. So bleibt die Schlußthese: Ohne Kulturbindung des Wissens, seiner
Herstellung, Pflege und Vermittlung gibt es auch keinen verantwortlichen Umgang mit Wissen.
In einer Zeit, in der "Unternehmenskultur" zu einem strategischen Managementkonzept
geworden ist, sollte man sich auch Gedanken über eine zeitgemä Be "Universitätskultur"
machen, die mehr ist als die ritualistische Fortschreibung von Konventionen.
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