Für eine Entmilitarisierung des Denkens - Rhein

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Lasst Hypothesen sterben
statt Menschen
(nach Karl Popper)
AFGHANISTAN
Für eine Entmilitarisierung des Denkens
Für eine Gesamtstrategie, die vom Menschen ausgeht
Armin Kolb
Schulstraße 14
56412 Hübingen
Tel.: 06439 / 7871
mobil: 0171-9002917
e-mail über: elke [email protected]
Hübingen im März 2010
Gliederung
1
1.1
1.2
Vorwort
Hintergrund, Ziele und Vorgehen
Die Ausgangssituation im Jahr 2009
Ziele und Vorgehen
Seite 3
4
4
6
2
2.1
2.2
2.2.1
2.2.2
Zentrale Bausteine einer Gesamtstrategie
Das Leid der Zivilbevölkerung
Die Situation der Soldaten
Hintergrund
Das Dilemma der Soldaten
6
6
7
7
8
3
3.1
Erkenntnis – Wissenschaft – Strategie
Die Grundgedanken von Karl Popper (1902-1884)
10
11
Auf dem Weg zu einer Gesamtstrategie
Afghanistan: Geschichte, Strukturen, Probleme
- eine Skizze
4.2
Theoretische Forderungen an eine Gesamtstrategie
4.2.1 Reichweite
4.2.2 Die Ebenen
4.2.3 Definitionen – Faktoren – Dimensionen
13
4
4.1
13
16
16
17
18
5
Gesamtstrategie – ein Fazit der bisherigen Überlegungen
20
6
6.1
6.2
Die Strategie der USA – eine Skizze
Die US-Strategie: Bewertung des theoretischen Ansatzes
Die US-Strategie: Einwände – Probleme – Fragen
21
23
24
7
Die Afghanistanpolitik Deutschlands
25
7.1
7.2
7.3
7.4
Die Situation vor der Afghanistan-Konferenz (London, 28.01.2010)
Strategische Konzepte – keine Gesamtstrategie
Ziele der Afghanistan-Mission: Illusion und Realität
Die Ziele nach der Afghanistan-Konferenz
(London, 28. Januar 2010)
7.4.1 Probleme und Fragen
7.4.2 Die Afghanistan-Konferenz: Eine Bewertung
7.5
Die Bundeswehr in Afghanistan
7.5.1 Der rechtliche Hintergrund
7.5.1.1 Einwände und Fragen
7.5.2 Aufgaben von OEF und ISAF
7.5.3 Ziele der US-Strategie – Folgerungen für die Bundeswehr.
Eine kritische Bilanz
26
27
30
8
Vorschläge und Folgerungen
49
9
Anmerkungen
Angaben zur Person
32
33
37
39
39
40
42
43
AFGHANISTAN
Für eine Entmilitarisierung des Denkens.
Für eine Gesamtstrategie, die vom Menschen ausgeht.
Vorwort
Fragen eines lesenden Arbeiters
Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern
stehen die Namen von Königen.
Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Und das mehrmals zerstörte Babylon?
Wer baute es so viele Male auf? (…)
Wohin gingen an dem Abend, wo die Chinesische Mauer
fertig war die Maurer? (…)
Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein?
Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens
einen Koch bei sich?
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen
war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
siegte außer ihm?
Jede Seite ein Sieg. Wer kochte den Siegesschmaus?
Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen?
So viele Berichte.
So viele Fragen.
Bertolt Brecht
In Zeiten der Ratlosigkeit und des Nachdenkens darüber, wie es denn in Afghanistan
weitergehen soll, werden Strategiediskussionen in aller Regel mit der Frage eingeleitet, wie
viele Soldaten die westliche Allianz zusätzlich entsenden müsse, um den Krieg am
Hindukusch siegreich zu beenden. Je mehr Truppen, so die gängige Argumentation, desto
besser. Die Erhöhung der Truppenzahl als Allheilmittel. Doch das Nachdenken über
Strategien muss mehr sein als das Jonglieren mit abstrakten Zahlen. Denn jede Zahl steht
für ein Menschenleben. Menschen, deren Namen, so Brecht, keinen Eingang in die
Geschichtsbücher finden, nach denen keine Schlacht, kein Sieg benannt wird. Aber ohne
deren Engagement weder Präsident noch Oberbefehlshaber ihre strategischen Planungen
verwirklichen könnten.
Am Anfang der nachfolgenden Überlegungen soll der gefährliche Einsatz der Frauen und
Männer gewürdigt werden, die in Afghanistan als Aufbauhelferinnen und -helfer und als
Soldatinnen und Soldaten tätig waren oder noch immer sind. Es soll derer gedacht werden,
die in diesem Krieg ihr Leben ließen und derer, die den Verlust eines ihnen nahestehenden
Menschen betrauern. Ihr Tod muss uns Mahnung und Aufgabe sein, alles dafür zu tun, um
den Krieg in Afghanistan so schnell und so unblutig wie möglich zu beenden und künftige
-4-
Kriege zu verhindern.
Denn „je eingehender das Studium des modernen Krieges betrieben wird, desto
stärker wächst die Überzeugung seiner Sinnlosigkeit.“ Derjenige, der das bereits 1946
gesagt hat, war alles andere als ein notorischer Pazifist, sondern der bedeutendste
Militärhistoriker seines Jahrhunderts – nämlich Sir Basil Henry Liddell Hart. (1)
1 Hintergrund, Ziele und Vorgehen
1.1 Die Ausgangssituation im Jahr 2009
Die Washington Post veröffentlicht am 20.09.2009 eine Einschätzung der Situation in
Afghanistan. Das der Zeitung zugespielte Material stammt, so wird vermutet, aus einer
Vorlage, die der amerikanische Präsident in Auftrag gegeben hat. Verfasser der Vorlage ist
US-General McChrystal, Kommandeur der ISAF-Schutztruppe. Der General befürchtet,
dass der Einsatz gegen die Taliban möglicherweise in einer Niederlage enden könnte. Falls
innerhalb von zwölf Monaten keine Trendwende erreicht werde, seien die Aufständischen
nicht mehr zu besiegen. Von unterschiedlichen Szenarien ausgehend, fordert der
Kommandeur zwischen 44.000 und (im Extremfall) 80.000 zusätzliche US-Soldaten.
Am 01. Dezember 2009 verkündet der amerikanische Präsident in seiner Rede an der
Militärakademie West Point seine Entscheidung. Er beabsichtigt, weitere 30.000 USSoldaten nach Afghanistan zu schicken. Damit soll das Land stabilisiert werden. Im Jahre
2011 sollen die ersten US-Verbände aus Afghanistan abziehen. Die Kosten für die
zusätzlichen Truppen belaufen sich auf 30 Milliarden Dollar im ersten Jahr.
Den anwesenden Kadetten und Offizieren verspricht Barack Obama, dass Afghanistan kein
zweites Vietnam werde. (2)
Wenige Tage vorher hatte der Präsident seine Erwartungen an die Verbündeten deutlich
gemacht. „Unduldsamer als noch vor wenigen Wochen pocht Obama darauf, dass die NatoVerbündeten ebenfalls aufrüsten am Hindukusch (…). 3000, 5000, oder gar 7000 (zusätliliche Soldaten, A.K.) wären ein solches Zeichen.“ (3)
Viele Länder sehen inzwischen den Einsatz ihrer Soldaten in Afghanistan kritisch. Daher
wird eine Erfüllung dieser Forderungen nicht selbstverständlich sein. So ist zum Beispiel
Frankreich bisher nicht bereit, seine Truppen aufzustocken. Die Niederlande haben einen
Abzug ihrer 2160 Soldaten von 2010 an beschlossen. (4) Und auch die kanadische Position
ist eindeutig: „When Anders Fogh Rasmussen, the secretary general of NATO, suggested in
August that Canada should stay on after 2011, he received a frosty response.” (5)
Die Bundesregierung stellt sich darauf ein, dass die USA auch Deutschland um eine
Erhöhung der Anstrengungen nachfragen werden: eine Aufstockung der Truppenstärke, ein
größeres Engagement bei der Ausbildung der afghanischen Polizei oder die Bereitstellung
weiterer finanzieller Mittel. Eine Entscheidung darüber soll, so Bundeskanzlerin Angela
Merkel, jedoch erst nach der internationalen Afghanistan-Konferenz in London (28. Januar
2010) gefällt werden. „In der Bundesregierung heißt es, (so die Süddeutsche Zeitung, A.K.)
mit der Konferenz werde die letzte Chance vorbereitet. Entweder müsse der Einsatz danach
zu einem Erfolg werden, oder man werde scheitern.“ (6)
In Deutschland nimmt die Zustimmung zum Einsatz von Soldaten der Bundeswehr in
Afghanistan immer mehr ab. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold
Robbe, fordert mehr gesellschaftliche Anerkennung für die Soldaten der Bundeswehr und
-5stellt fest: “Vom Rekruten bis zum General – bei jedem Truppenbesuch klagen die Soldaten
über freundliches Desinteresse und fehlende Anteilnahme.“ (7)
In der Nacht zum 04. September 2009 fordert ein deutscher Oberst nahe Kundus USLuftunterstützung an. Zwei amerikanische F-15-Kampfflugzeuge bombardieren die beiden
von den Taliban entführten Tanklastwagen der Bundeswehr, die auf einer Insel im Fluss
Kundus steckengeblieben waren. Bei dem Angriff kommen bis zu 142 Menschen ums
Leben. Kämpfer der Taliban, aber auch Zivilisten.
Der Angriff führt zu heftiger Kritik am Vorgehen der Deutschen bei den Verbündeten in
NATO und Europäischer Union. Er markiert eine Zäsur in der Wahrnehmung des Auftrages
der Bundeswehr und führt zum ersten Mal seit Entsendung der Bundeswehr nach
Afghanistan zu einer heftigen und kontroversen gesellschaftlichen Diskussion.
Wie bewerten wissenschaftliche Institutionen das westliche Engagement in Afghanistan?
Das „Friedensgutachten 2009“ der fünf großen deutschen Friedensforschungsinstitute stellt
bei der Beurteilung des westlichen Engagements in Afghanistan eine „Überbewertung des
militärischen Instruments“, kombiniert mit „politischer Flickschusterei“ fest. (8)
Der ehemalige US-Außenminister Shultz hält eine Welt ohne Nuklearwaffen für möglich.
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung plädiert er dafür, das Denken so weit wie
möglich zu entmilitarisieren und folgert: „Wenn es einen Konflikt gibt, gibt es einen Weg,
ihn zu lösen.“ (9)
Die Forderungen nach massiver Erhöhung der Truppenstärken des ISAF Oberkommandierenden McChrystal und die Entscheidung des US Präsidenten, einen Teil der Forderungen zu
erfüllen und weitere 30.000 Soldaten nach Afghanistan zu entsenden, machen deutlich,
welcher Stellenwert „dem militärischen Instrument“ beigemessen wird. Die militärstrategische
Ausrichtung der Vereinigten Staaten zielt nach den Worten von Barack Obama darauf, alQaida sowohl in Afghanistan als auch an ihren Zufluchtstätten in Pakistan zu zerschlagen und
militärisch zu besiegen.
Doch ist diese Zielsetzung ein erfolgversprechender Weg, um das geschundene Land
Afghanistan und die gesamte Region zu befrieden? Das Friedensgutachten 2009
widerspricht einer solchen Annahme und stellt fest: „Frieden lässt sich nicht durch
noch mehr Waffen herbeiführen.“ Muss es deshalb nicht vielmehr darum gehen,
militärisches Denken in den Bereich zurückzudrängen, der ihm im Rahmen einer
politischen „Gesamtstrategie“ zukommt? Unter Gesamtstrategie soll als eine erste
Beschreibung an dieser Stelle in Anlehnung an Helmut Schmidt ein einheitliches,
konsistentes Konzept verstanden werden, das vor allem die Felder der Außen-, Wirtschaftsund Sicherheitspolitik umfasst. (10)
Kriege verursachen Tod und unsägliches Leid bei der Zivilbevölkerung. Soldaten müssen
Kriege führen, wenn politische Konzepte versagen. Sie müssen todbringende Waffen
einsetzen. Sie riskieren ihr Leben, werden getötet, leiden oftmals bis zu ihrem Lebensende
unter körperlichen und seelischen Verwundungen. Doch alles das ist nicht zwangsläufig so.
Denn Strategien werden von Menschen gemacht – und Menschen können Strategien
ändern.
-6-
1.2 Ziele und Vorgehen
Es werden Probleme angesprochen, die mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan
verbunden sind. Damit soll in bescheidenem Umfang ein Beitrag zu folgenden Themen
geleistet werden:
(a) Strategiediskussion: Forderungen an eine Gesamtstrategie.
(b) Die neue US-Strategie: Bewertung und Folgerungen für die Bundeswehr.
(c) Die Ergebnisse der Afghanistan-Konferenz (London, 28. Januar 2010) eine kritische Bewertung.
(d) Die Situation der Bundeswehr in Afghanistan.
(e) Zur Afghanistanpolitik Deutschlands. Vorschläge und Folgerungen.
2
Zentrale Bausteine einer Gesamtstrategie
Eine Gesamtstrategie, die sich an den ethischen Prinzipien eines friedlichen
Zusammenlebens der Völker orientiert, muss alles daran setzen, Konflikte zwischen zwei
oder mehreren Kontrahenten politisch, und das heißt ohne militärische Gewalt, zu lösen.
Gerade im Krieg muss dieses Ziel besonders intensiv weiter verfolgt werden, um die
militärische Gewaltanwendung einzudämmen und zu beenden.
Im Krieg sind zwei große Gruppierungen (wenn auch, wie noch zu zeigen sein wird, auf
unterschiedliche Weise) von dem Geschehen besonders betroffen: die Zivilbevölkerung auf
der einen und die Soldaten auf der anderen Seite.
Die zivile Bevölkerung im Kampfgebiet leidet unter dem Einsatz militärischer Gewalt am
meisten. Sie ist von dieser Situation im Sinne von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“
am wenigsten begünstigt. Es ist deshalb ein Gebot der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit, ihre Situation in den Mittelpunkt der Betrachtungen zu stellen.
Tod und Leid der Zivilbevölkerung zu verhindern, ihren Lebensraum zu erhalten, muss
daher ein zentrales Ziel jeder Gesamtstrategie im Krieg sein.
2.1 Das Leid der Zivilbevölkerung
Wer kennt sie nicht, die Bilder des Zweiten Weltkrieges, die ein breites Spektrum des
Grauens offenbaren: Coventry, Stalingrad, Hamburg, Berlin, Dresden, um nur einige Städte
zu nennen, die den Angriffen eines mit konventionellen Waffen geführten Krieges
ausgesetzt waren.
Dörfer, deren Namen traurige Berühmtheit erlangt haben. My Lai (1968): Amerikanische
Soldaten töten während des Vietnamkrieges 300 Einwohner. (Die Verantwortlichen des
Massakers stehen zwei Jahre später vor einem Militärgericht). Die Namen anderer Dörfer
drohen in Vergessenheit zu geraten: Deutsche Truppen verbrennen 1941 bei ihrem
Vormarsch in Weißrussland 627 Dörfer und die darin lebenden Menschen.
Die Detonationen der Atombomben über den japanischen Städten Hiroshima und Nagasaki
im August 1945 offenbaren ein Maß der Zerstörung, das alles bis dahin Erfahrene übertrifft.
-7-
Auch heute konfrontieren uns Fernsehen und Internet an jedem Tag mit Bildern aus der
Welt des Krieges, die uns von unserem Platz auf der Couch aus eine virtuelle Teilhabe am
kriegerischen Geschehen in allen Teilen der Welt ermöglichen: Wir verfolgen
abgeschossene Raketen, die mit einem Joystick gelenkt werden oder sich selbst steuernd ins
Ziel gelangen und nehmen die täglichen Anschläge von Selbstmördern, die sich und
andere mittels Sprengstoff in die Luft jagen, zur Kenntnis. Bilder von Toten, Verwundeten,
blutüberströmt, schreiende Erwachsene und Kinder, die Gesichter von Schrecken und Angst
entstellt.
Für das Leid der zivilen Bevölkerung in Afghanistan können freilich nicht einseitig die
ISAF-Truppen verantwortlich gemacht werden. Es sind Taliban und Angehörige von alQaida oder von denen Gedungene, die diese verheerenden Anschläge ausführen.
Doch es wäre unaufrichtig, die Truppen der Allianz nur in passiver, defensiver Rolle
wahrzunehmen.
Der Begriff Verantwortung meint, auf Fragen nach den Gründen des eigenen Handelns
Antworten geben zu können. Und so erscheint es nicht nur als eine zulässige, sondern
unabdingbare Frage, inwieweit die ISAF-Truppen durch Erhöhen des militärischen
Engagements, das einen Sieg über al-Qaida und Taliban zum Ziel hat, zur Eskalation des
Krieges beitragen und somit, wenn auch ohne Absicht, das Leid der Zivilbevölkerung
vergrößern.
Das geschieht vor allem dann, wenn zum Beispiel durch falsche Zielkoordinaten der
Artillerie, durch unklare Einsätze von Kampfjets oder durch Drohnen nicht der Gegner,
sondern die Zivilbevölkerung getroffen wird. Die ISAF-Truppen wissen aus leidvoller
Erfahrung, wie stark durch solche fehlgeleiteten Einsätze das Vertrauen der Afghanischen
Bevölkerung in die Truppen der westlichen Allianz erschüttert, wenn nicht zerstört wird.
Die Taliban haben dann leichtes Spiel, Angehörige von denen, die dabei ums Leben
gekommen sind, für ihre Ziele zu gewinnen.
2.2 Die Situation der Soldaten
2.2.1 Hintergrund
Krieg ist immer auch ein Zeichen dafür, dass politische Konzepte zur Beilegung von
Konflikten versagt haben. In ihm soll mit militärischen Mitteln erreicht werden, was
auf friedlichem Wege nicht möglich war. Eine Annahme, die sich in der Vergangenheit als
falsch oder zumindest als äußerst bedenklich erwiesen hat. Man denke nur an die Kriege in
Vietnam, im Irak und an den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan. Durch den Einsatz
hochentwickelter militärischer Technologie können zwar Truppenverbände und
Infrastruktur eines Gegners vernichtet und zerstört werden. Doch militärisch zu „siegen“ ist
die eine Seite – ein Land zu befrieden die andere. Ein Beispiel aus dem Irak Krieg:
„Mission accomplished“ rief der damalige amerikanische Präsident G.W.Bush in die
Mikrofone der wartenden Journalisten, nachdem er als Passagier in einem Kampfjet auf
einem US-Flugzeugträger gelandet war. Der Irak war militärisch besiegt. Doch die größere
Aufgabe steht bis heute noch bevor: eine Befriedung des Landes.
Die Anwendung der Gewalt fällt den Streitkräften zu. Jeder Krieg macht das Dilemma
deutlich, in das jeder Soldat gestoßen wird. Kampfhandlungen führen zur Zerstörung von
Siedlungsraum, Kulturgütern und Ressourcen und sie beinhalten auch das Töten von
Menschen. Das ist die eine Seite. Soldaten sind aber auch Opfer des Krieges. Das ist die
andere Seite. Beide Aspekte sollen im Folgenden näher erläutert werden.
-8-
2.2.2 Das Dilemma der Soldaten
Der amerikanische Präsident Barack Obama hat in seiner Rede am 01. Dezember 2009 an
der Militärakademie in West Point die neue US-Strategie für Afghanistan vorgestellt. Sie
sieht unter anderem ein „gezieltes Bekämpfen der Aufständischen“ vor. Die neue Strategie
hat somit eindeutig eine offensive Ausrichtung. Für die Soldaten der Bundeswehr bedeutet
das, wie für alle anderen an der ISAF-Mission (International Security Assistance Force)
beteiligten Soldaten, eine dramatische Zuspitzung: die Ausweitung des Krieges.
Die nun eskalierende Kriegssituation führt auch zu einem Wandel in der Wahrnehmung der
Aufgaben der Bundeswehr in Afghanistan: Der Soldat ist nun nicht mehr derjenige, der
Brücken baut, Brunnen bohrt und sich vorwiegend am Wiederaufbau des Landes beteiligt.
Gefordert ist nun der Soldat als „Kämpfer“.
Doch was bedeutet das? Nur wenn wir versuchen, auf diese Frage Antworten zu finden,
können wir erahnen, was vom Soldaten im Krieg verlangt, aber auch was ihm zugemutet
wird.
Krieg in einem fremden Land, in einer Welt, die er nicht kennt. Eine Sprache, die er nicht
versteht, Verhaltensweisen, die er nicht deuten kann. Krieg – was heißt das für den
Soldaten? Mit welchen Situationen wird er konfrontiert, welche Erwartungen soll er
erfüllen, in welche körperlichen und psychischen Notlagen gerät er? Was verlangen
verantwortliche Politiker und Regierungen eigentlich vom Soldaten, wenn sie ihn in den
Krieg schicken? Kennen sie das Grauen des Krieges aus eigenem Erleben? Ist es ihnen
möglich, sich Situationen des Krieges vorzustellen? Szenarien, die sich kein noch so
erfinderischer Drehbuchschreiber ausdenken kann.
Wenn im Guerilla-Krieg wie in Afghanistan nicht mehr zwischen Feind und Freund
unterschieden werden kann. Wenn jeder Bauer auf dem Feld plötzlich eine Handgranate,
eine Panzerfaust zünden kann. Oder wenn ein Passant mittels Sprenggürtel sich selbst und
Umstehende in die Luft sprengt, ein Pkw zur rollenden Bombe wird. Wenn es nur
Bruchteile von Sekunden sind, in denen entschieden werden muss, will man selbst am
Leben bleiben. Entscheidungen, die möglicherweise später am „ grünen Tisch“ ganz anders
be- oder verurteilt werden. Doch soldatisches Handeln muss sich gerade im Krieg an den
geltenden rechtlichen und gesetzlichen Vorgaben, an bestehenden Befehlen und
Weisungen orientieren.
Der Soldat muss den Gegner nicht nur an der Ausübung von Gewalt hindern, sondern er
muss selbst Gewalt anwenden, muss den gegnerischen Angriff abwehren, den Gegner
zurückdrängen, muss auch bereit sein, ihn zu töten. Und alles, was dem Gegner in einem
Kampf geschehen mag, kann auch ihm selbst zustoßen: Verwundung und Tod,
Verstümmelung, körperliche und seelische Leiden bis an das Ende seines Lebens.
Die Waffen des Krieges bedrohen und töten nicht nur die Kämpfenden, sondern auch
immer wieder unbeteiligte Menschen der zivilen Bevölkerung, hinterlassen neue Spuren der
Zerstörung in einem ohnehin schon geschundenen Land.
Und immer wieder tauchen dieselben Fragen auf. Wie wird der Krieg enden? Werde ich
überleben? Wie mag es den Angehörigen in der Heimat gehen? Welchen Sinn hat das alles,
was ich als Soldat hier mache? Was ist von der Regierung zu halten, die wir als Soldaten
unterstützen sollen? DIE ZEIT gibt hierauf folgende Antwort: „…in Kabul sitzt derweil
das korrupteste Regime der Gegenwart. Westlichen Politikern, die Präsident Karsai
ermahnten, die Bestechlichkeit seiner Beamten und der eigenen Familie einzuschränken,
antwortete er mit einem Wahlbetrug.“ (11)
-9Auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Kanada, sieht man das Problem: “People are
saying to me that this election was stolen; why should we be burying young Canadian
soldiers for this government?“ (12)
Auch die Angehörigen zuhause sind von der Situation des Krieges in einem fernen Land
betroffen. Wie ertragen sie die permanente Angst, an jedem Tag könnte eine Nachricht
eintreffen, die schlagartig das Leben total verändert? Wo finden Eltern Trost, wenn die
Tochter oder der Sohn aus diesem Krieg nicht mehr zurückkehren werden? Was sagt die
Mutter einem fragenden Kind, wenn der Vater gefallen ist? Wie gehen von der Front
zurückkehrende Soldaten damit um, wenn sie die Traumata des Krieges nicht überwinden
können und an das daheim zurückgelassene Leben keinen Anschluss mehr finden? Und wie
ergeht es Verwandten und Freunden, wenn sie den Zurückgekehrten nicht mehr wiedererkennen, weil er im Krieg ein anderer geworden ist?
Für viele Soldaten will der Krieg mit ihrer Rückkehr in die Heimat nicht enden. Sie leiden
unter Symptomen, die unter dem Kürzel PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung)
zusammengefasst werden. Dazu zählen unter anderem Schlafstörungen, erhöhte
Wachsamkeit, aber auch Schreckhaftigkeit oder Wutausbrüche. Bei den von dem PTBSSyndrom Betroffenen können zwei unterschiedliche Muster auftreten: Entweder sie
erinnern sich immer wieder an das traumatisierende Geschehen oder sie haben das
Geschehen aus ihrem Gedächtnis verdrängt, was freilich auch wiederum mit physischen
und/oder psychischen Problemen einhergehen kann.
Der Begriff „Posttraumatische Belastungsstörung“ verleitet allerdings dazu, den unter den
Symptomen Leidenden als Kranken anzusehen, der die Belastungen nicht ausgehalten hat,
daran erkrankt ist. Es droht somit eine unzulässige Umkehr von Ursache und Wirkung.
Nicht der von der Politik zu verantwortende Krieg ist die Ursache für das Leiden des
Soldaten, sondern eine „Belastungsstörung“ wird zu einer von vielen möglichen Störungen
und letztlich zu einer Schwäche des einzelnen Soldaten, den Belastungen nicht gewachsen
gewesen zu sein.
Im vergangenen Jahr sollen bei 245 Soldaten der Bundeswehr Posttraumatische
Belastungsstörungen diagnostiziert worden sein. Fachleute sind den vom Verteidigungsministerium veröffentlichten Zahlen gegenüber skeptisch. Sie vermuten, dass die tatsächlichen Zahlen wegen der Unschärfe des Begriffes höher liegen dürften. (13)
Jürgen Todenhöfer, als CDU-Abgeordneter von 1972 bis 1990 Mitglied des Deutschen
Bundestages und heute nach vielen Aufenthalten in den Kriegsregionen ein entschiedener
Kritiker der US-amerikanischen Feldzüge gegen Afghanistan 2001 und gegen den Irak
2003, fordert, dass jeder Parlamentarier, der für den Einsatz der Bundeswehr am
Hindukusch votiere, „für vier Wochen an die Front“ solle. (14)
Zum Abschluss: Ein Ausschnitt aus einem Interview. ZEIT-Chefredakteur Giovanni di
Lorenzo befragt den ehemaligen Bundeskanzler und ZEIT-Mitherausgeber Helmut
Schmidt.
Frage: „Helmut Kohl, Ihr Nachfolger als Bundeskanzler, hat einmal zu mir
gesagt: Wenn man selbst den Krieg erlebt hat, so wie er und Sie,
dann schickt man keine Soldaten mehr in den Krieg.“
Antwort: „Jedenfalls hat man ganz große Bedenken, wenn man weiß, was für eine
schreckliche Scheiße ein Krieg ist. Da gebe ich Helmut Kohl recht.“ (15)
- 10 -
3 Erkenntnis - Wissenschaft - Strategie
Lasst Hypothesen sterben
statt Menschen
(nach Karl Popper)
In den Kapiteln 2.1 und 2.2 wurden unter den Überschriften „Das Leid der Zivilbevölkerung“ und „Die Situation der Soldaten“ zwei zentrale Bausteine dargestellt, von
denen eine Gesamtstrategie im Krieg auszugehen hat.
Im Folgenden soll nun der Zusammenhang betrachtet werden, der zwischen den Feldern
„Erkenntnis – Wissenschaft – und Strategie“ besteht. Dieser Schritt ist deshalb so
bedeutsam, weil hierbei deutlich wird, dass es kein Denken gibt, das voraussetzungslos ist.
Es existiert kein „neutraler Nullpunkt“, von dem das Denken seinen Ausgang nehmen
könnte. Diese Feststellung ist auch hinsichtlich des Entwerfens von Strategien (für Frieden
oder Krieg) von großer Bedeutung. Denn auch in diesen Prozess fließen bewusst oder
unbewusst Annahmen ein, die unterschiedlichen Positionen der Bereiche Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie zuzuordnen sind.
So macht es beispielsweise einen gravierenden Unterschied, ob man im Fall A davon
ausgeht, dass unsere Strategie, die in diesen Denkprozessen entwickelt werden soll, auf
eindeutigen „wissenschaftlich bewiesenen“ Fakten und Erkenntnissen beruht. Oder ob man
im Fall B die erkenntnistheoretische Position einnimmt, dass unser Wissen auf unsicherem
Fundament steht, von Fehleinschätzungen geprägt sein kann, wir niemals mit Sicherheit
wissen können, ob eine gewählte Strategie wirklich zur Lösung der Probleme führen wird.
In dem hier vorgelegten Papier wird eine Position vertreten (und noch begründet), wie sie in
Fall B skizziert wurde: die Unsicherheit unserer Erkenntnis und die daraus sich ergebenden
Konsequenzen für die Entwicklung einer Strategie. Genau diesen Sachverhalt thematisiert
die dem Kapitel vorangestellte Aussage Karl Poppers, die er an verschiedenen Stellen
seines Werkes formuliert: „In früheren Zeiten wurde der Träger der Theorie
ausgeschieden. Jetzt können wir unsere Theorien (somit auch unsere Strategien, A.K.)
an unserer Statt für uns sterben lassen.“ (16)
* * *
Ein erstes Ergebnis nach dem bisher Gesagten lautet: Bei dem Erarbeiten von Strategien
müssen intelligente politische Lösungsversuche angestrebt werden, die von der zentralen
Annahme ausgehen, dass unser Denken Fehldeutungen enthalten kann. Wir müssen unsere
Strategien mit der Wirklichkeit konfrontieren, Alternativen entwerfen und überprüfen, ob
die Strategien für die Lösung eines Problems geeignet erscheinen. Und wir müssen bereit
sein, sie zu ändern, statt in Kriegen Menschenleben durch fragwürdige Strategien zu
gefährden.
Beispiel Vietnamkrieg
Die Süddeutsche Zeitung stellt in einem Rückblick auf den Vietnamkrieg fest: “All
die martialischen Ansätze, die search and destroy missions und free fire zones
führten ins Nichts. All die Computerrechnungen, mit denen die Strategen im
Saigoner US-Hauptquartier den Kampf längst gewonnen wähnten, erwiesen sich
- 11 als falsch. Was aber, wenn die Stimmen des Protestes gehört worden wären?
Wieviel Leid und Zerstörung wären vermieden worden, wenn sich der Widerstand
gegen den Krieg durchgesetzt hätte?“ (17)
Mehrere Jahrzehnte später bekennt der damalige US-Verteidigungsminister Robert
McNamara in seinen 1995 erschienen Memoiren: „Wir haben uns geirrt, furchtbar
geirrt. (…) Die Vereinigten Staaten hätten sich (schon 1963) aus Südvietnam
zurückziehen können und sollen.“ (Vgl.17)
In diesem Krieg verlor der Süden mindestens 400.000 Zivilisten und 180.000
Soldaten. Über die Zahl der Toten nach der Eroberung des Südens durch den Norden
gibt es keine Zahlen.
Der Norden verlor fast eine Million Soldaten und Guerillas. Auch hier existieren
keine Zahlen über die Toten in der Zivilbevölkerung.
Die Zahl der gefallenen US-Soldaten beträgt 58.000.
(Vgl.17)
Weitere Beispiele (wie der Krieg gegen den Irak) werden noch genannt.
3.1 Die Grundgedanken von Karl Popper (1902 – 1994)
Eine in diesem Papier vertretene, zentrale These lautet: Wir sollten beim Nachdenken
über Strategien mehr Anleihen beim Denken von Karl Popper machen, einem der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.
Die von Popper entwickelte Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie des „Kritischen
Rationalismus“ hat nicht nur unser heutiges Verständnis von Wissenschaft maßgeblich
geprägt. Sein Denken verweist auf Erkenntnisse und Methoden, die uns helfen,
verantwortliches politisches Handeln zu gestalten. So hat zum Beispiel der ehemalige
Bundeskanzler Helmut Schmidt an mehreren Stellen seiner Veröffentlichungen den
theoretischen Ansatz Poppers gewürdigt und bekannt, dass das Denken dieses Philosophen
großen Einfluss auf sein eigenes Denken und Gestalten von Politik hatte.
An dieser Stelle kann freilich das Denken Karl Poppers nicht hinreichend skizziert werden.
Nur einige seiner grundlegenden Annahmen seien genannt. Das geschieht in Anlehnung an
sein Werk „Logik der Forschung“, das seit langem als Standardwerk der Wissenschaftstheorie gilt. Und das seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1935, immer wieder verbessert
und ergänzt, in seiner 11. Auflage seit 2005 vorliegt. (18)
Zentrale erkenntnistheoretische Aussagen Poppers sind:
(1)
Es gibt keine Gewissheit. Unsere Erkenntnisse sind bruchstückhaft und können mit
Irrtümern und Fehlern behaftet sein.
(2)
Es gibt kein wissenschaftlich endgültig gesichertes, eindeutiges Wissen.
(3)
Auch wenn sich eine Annahme (Hypothese) in der Praxis mehrfach
als „richtig“ oder „zutreffend“ erwiesen hat, können wir nicht daraus schließen, dass
dies auch in Zukunft so sein wird. Es kann durchaus sein, dass sich eine solche
- 12 Hypothese in Zukunft als „falsch“ erweisen kann. (Das heißt: Hypothesen können
niemals „verifiziert“, sondern nur „falsifiziert“ werden).
(4)
Wir müssen deshalb bereit sein, aufgrund von Erfahrungen unsere
Theorien und Hypothesen zu verändern und, wenn nötig, zu verwerfen.
(5)
Wir sollten deshalb Situationen schaffen, die reversibel, also umkehrbar sind und
alles tun, um Situationen zu vermeiden, in denen Menschen wegen unserer
fehlerhaften oder unzulänglichen Theorien (d.h. auch Strategien) sterben müssen.
(6)
Lasst Hypothesen sterben statt Menschen!
Das komplexe Gedankengebäude Poppers geht freilich weit über das hinaus, was oben als
„erkenntnistheoretische Annahmen“ skizziert wurde. Die von ihm entwickelten Grundlagen
sowie die Diskussion, die in den vergangenen Jahrzehnten darüber geführt wurde und noch
immer geführt wird, verweisen auf die Standards, die heute an wissenschaftliche Theorien
anzulegen sind. Forderungen, an denen sich auch eine Strategie zu orientieren hat, soll sie
als „Gesamtstrategie“ gelten, die das „Ganze“ und nicht nur Teilbereiche im Auge hat.
Auf einige dieser Standards soll im Folgenden noch hingewiesen werden.
* * *
Ein Blick zurück:
Wie bedeutsam und weitreichend Poppers Annahmen sind, wurde bereits oben auf
bedrückende Weise deutlich, als auf eine Aussage McNamaras in seinen Memoiren von
1995 verwiesen wurde, in der er zugab, dass die USA im Vietnamkrieg falsch lagen.
Und auch im Irak-Krieg stellte sich bald heraus, dass die von der Bush-Administration
genannten Begründungen allesamt nicht der Wahrheit entsprachen.
Es bleiben die Fragen danach, welches Leid durch die Fehleinschätzungen im Vietnam- und
im Irakkrieg über Menschen hereingebrochen ist. Wie viele Menschen in diesen Kriegen
ums Leben kamen, wie viele zu Krüppeln wurden oder bis an ihr Lebensende an den
seelischen Verletzungen gelitten haben oder noch immer leiden.
Wie soll man eine Aussage des ehemaligen Präsidenten G.W. Bush bewerten, in der er
gegen Ende seiner Amtszeit 2008 rückblickend die unzutreffenden Begründungen für den
Irak-Krieg den Geheimdiensten zuschiebt? „ Am meisten ist während meiner
Präsidentschaft das Scheitern der Geheimdienste im Irak zu bedauern.“ (19)
Und was soll man von der Aussage des früheren britischen Premierministers Tony Blair aus
dem Jahr 2009 halten? Auf die Frage, ob er sich auch für den Irakkrieg entschieden hätte,
wenn er gewusst hätte, dass Saddam Hussein nicht über chemische oder biologische Waffen
verfügte, erwiderte Blair: „Ich hätte immer noch gedacht, dass es das Richtige ist, Saddam
Hussein zu beseitigen.“ (20)
Können sich die Angehörigen derer, die in diesen Kriegen ihr Leben gelassen haben oder
zum Krüppel geworden sind, mit solchen Antworten zufrieden geben? Können sie mit
diesen Erklärungen getröstet werden?
- 13 -
Es ist auch zu fragen, ob der Westen nach Niederschlagung der Herrschaft der Taliban die
Situation in Afghanistan falsch eingeschätzt hat. Denn wegen des 2003 beginnenden
Irak-Krieges wurden viele (Elite-) Einheiten aus Afghanistan abgezogen. Dadurch wurde es
den Taliban erst ermöglicht, sich wieder neu und stärker zu formieren.
Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder bewertet 2009 im SPIEGEL die damalige
Situation wie folgt:
„ Das Wiedererstarken der Taliban ist eine Folge der Politik der Bush-Administration,
die die Entwicklung in Afghanistan stark vernachlässigte. Bereits beim Nato-Gipfel 2002
hatte ich davor gewarnt, ein Irak-Einsatz würde dazu führen, dass die internationale
Anti-Terror-Koalition geschwächt wird und wir von der eigentlichen Auseinandersetzung
mit dem Terrorismus in Afghanistan abgelenkt werden. Eine Folge dieses falschen
Kurses ist die schwierige Sicherheitslage in Afghanistan.“ (21)
4 Auf dem Weg zu einer Gesamtstrategie
Bisher wurden auf dem Weg zu einer Gesamtstrategie für Afghanistan drei zentrale
Bausteine angesprochen:
(a) das fortgesetzte Bemühen um eine politische – und das heißt über das militärische
Bemühen hinausgehende - Lösung;
(b) das Leid der Zivilbevölkerung einerseits sowie
(c) die Situation der Soldaten andererseits.
Danach wurden in Kapitel 3 in Anlehnung an das Denken Karl Poppers erkenntnistheoretische Annahmen formuliert, von denen eine Gesamtstrategie auszugehen hat. Die
Annahmen besagen: Da unser Wissen niemals als gesichert angesehen werden kann, lautet
die daraus abzuleitende Konsequenz: Lasst Hypothesen sterben statt Menschen.
Im Folgenden sollen Afghanistan, seine Menschen, seine Geschichte, die sozialen
Strukturen und die vorhandenen Probleme betrachtet werden. Nur eine grundlegende
Analyse, so eine weitere These dieser Ausarbeitung, kann die Basis schaffen für eine
fundierte Bewertung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation in
Afghanistan. Eine solche Analyse ist für die Entwicklung einer Gesamtstrategie somit
unumgänglich.
(An dieser Stelle können wegen der Komplexität des Themas nur einige wenige Hinweise
erfolgen).
4.1 Afghanistan: Geschichte, Strukturen, Probleme – eine Skizze
Einschätzungen von Afghanistan klingen ähnlich: ein Land voller Widersprüche, Unfrieden
und Instabilität, wie die beiden folgenden Beschreibungen verdeutlichen:
„Afghanistan ist eines der widersprüchlichsten und abenteuerlichsten Länder überhaupt.
In den Städten glitzern heute, gut sieben Jahre nach der Vertreibung der Taliban, bunte
Shopping Center, und über Mobiltelefone und Internet sind die Afghanen mit der
modernen Welt verbunden. Hinter den Lehmmauern der Wohngehöfte auf dem Land
herrschen jedoch archaische Verhältnisse. Die Frauen gehen tief verschleiert. In den
- 14 -
Bergregionen der Stammesgebiete trägt fast jeder Mann eine Waffe und scheut sich
nicht, sie auch zu gebrauchen.“ (22)
Oder: (…) „ kaum ein anderer Flecken auf der Erde trägt so sehr die Saat des
Unfriedens und der Instabilität in sich wie eben Afghanistan.“ So Stefan Kornelius in
seinem Artikel „Der ewige Krieg. Geschichte, Geografie, ethnische Vielfalt.“ Der von dem
Autor gewählte Untertitel stimmt nachdenklich: „Wer Afghanistan studiert, bekommt
Zweifel, ob das Land jemals befriedet werden kann“. (23)
Afghanistan ist mit seinen 652 090 Quadratkilometern nahezu doppelt so groß wie
Deutschland (357 027 Quadratkilometer). Die Zahl der Einwohner beträgt 30 Millionen.
Schaut man sich an, wo diese Menschen leben, dann erfährt man ein erstes wichtiges
Detail, das für die Beurteilung des Ganzen von Bedeutung ist: Denn 80 Prozent der
Bevölkerung wohnen „verstreut in kaum erreichbaren Dörfern und Gehöften, geplagt von
Kriegen, Bürgerkriegen und Gewaltherrschern.“ (Vgl. 23)
Von den acht Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche sind derzeit noch drei
Millionen wegen Kriegseinwirkungen und Verminung nicht nutzbar.
Afghanistan ist trotz eines Verbotes des Anbaus von Schlafmohn (dem Ausgangsprodukt
für Rohopium) nach wie vor der weltweit größte Opiumproduzent. Auf etwa 90 000 Hektar
wurden in den vergangen Jahren jährlich rund 4000 Tonnen Schlafmohn geerntet. Die
Industrie im Lande ist wenig entwickelt. Von den Bodenschätzen werden unter anderem
Steinkohle und Erdgas ausgebeutet. Weitere Bodenschätze, wie vor allem Erdöl, Eisen und
Kupfer, sind bisher noch wenig erschlossen. (Die hier gemachten Angaben beziehen sich
auf das Jahr 2005). (24)
Die Geschichte des Landes war und ist geprägt von Kriegen: Die britischen
Kolonialtruppen verlieren im 19. Jahrhundert in Afghanistan zwei Kriege: Den ersten
anglo-afghanischen Krieg (1839 bis 1842) und den zweiten (1878 bis 1880).
Nach dem dritten afghanischen Krieg (1919) erreichte Afghanistan unter Aman Ullah
(1919-1929, seit 1926 König) die Unabhängigkeit.
Im Dezember 1979 marschieren sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Sie sollen das an
der Politik der damaligen UdSSR orientierte Regime Nadschibullahs stützen. Doch das
gelingt nicht. Auf Befehl von Michail Gorbatschow ziehen die Sowjets im Februar 1989
ihre Truppen aus Afghanistan vollständig zurück.
Gorbatschow, Jahre danach auf den schmählichen Abzug der sowjetischen Truppen
angesprochen, antwortet: „Es ging gar nicht anders, wir mussten dort raus. Eine Million
Sowjetsoldaten sind durch Afghanistan gegangen und für ihr Leben gezeichnet worden.“
(25)
Das Töten geht nach dem Abzug der Sowjets weiter. Nadschibullahs Herrschaft kann sich
noch drei Jahre an der Macht halten. 1992 wird er von den Glaubenskriegern massakriert.
„ Beim Streit um die Kriegsbeute in den Jahren zuvor waren die jahrhundertealten
Spannungen zwischen dem Mehrheitsvolk der Paschtunen und den anderen
Volksgruppen des Vielvölkerstaates – Tadschiken, Usbeken, Belutschen, Hazra und
Turkmenen – wieder ausgebrochen. Kabul durchlebte ein Martyrium, als rivalisierende
Warlords ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legten.“ (26)
- 15 -
Die verheerenden Folgen der Auseinandersetzungen zwischen der Regierung Nadschibullah
und Aufständischen, der Krieg mit der Sowjetunion sowie die Kämpfe zwischen den
rivalisierenden Gruppen nach Abzug der Sowjets: In Afghanistan sind ein bis eineinhalb
Millionen Tote zu beklagen, fünf bis sechs Millionen sind aus dem Land geflohen. Die
Sowjetunion verliert 15000 Soldaten.
Und immer wieder, so zeigt die Geschichte Afghanistans, gerät das Land in den Strudel der
Interessen anderer Mächte.
Nicht nur die Sowjetunion versuchte, in Afghanistan ihre Ziele zu verfolgen. Auch
Amerika ist in das Geschehen in Afghanistan verstrickt. Die USA verfolgen dabei das in
Zeiten der Ost-West-Konfrontation übliche Motto: Die Feinde meines Feindes sind meine
Freunde. Bereits im Sommer 1979 hatten die Vereinigten Staaten über die CIA damit
begonnen, den afghanischen Widerstand gegen das Kabuler pro-kommunistische Regime
Nadschibullah mit Geld, Medikamenten, Funkausrüstungen zu versorgen. Und später, nach
dem Einmarsch der Sowjet-Truppen im Dezember, belieferten die Amerikaner die
Glaubenskrieger mit Waffen, wie z.B. den wirkungsvollen Stinger-Raketen.
Die Vereinigten Staaten, so die Bewertung von unterschiedlichen Autoren, haben am
Hindukusch noch weitere Fehlentscheidungen getroffen. Die CIA unterstützte auch
Fundamentalisten „wie einen Saudi-Araber Osama Bin Laden. Dann sah Washington
zu, wie der Pakistanische Militärgeheimdienst Interservices Intelligence (ISI) mit den
sunnitischen Koranschülern, den Taliban, eine neue Kampftruppe aufpäppelte, die einen
islamischen Extremismus nach Afghanistan trug, den dieses Land bis dahin nicht
kannte.“ (27)
Auch der amerikanische Präsident Bill Clinton war den Gotteskriegern zunächst noch
gewogen. Mit Hilfe einer Talibanregierung wollten die USA den revolutionären Iran
umgehen und von Turkmenistan quer durch den Westen Afghanistans eine Pipeline zur
Arabischen See bauen, die auch Pakistan versorgen könnte. Es ging „um den Zugriff auf
die immensen Öl- und Erdgasvorkommen der Kaspischen Region.“ (28)
Die Unterstützung der Taliban endete abrupt, als „die Amerikaner begriffen, dass die
Taliban mit Osama bin Laden, der mittlerweile Anschläge gegen die USA verüben ließ, in
einem Boot saßen.“ (29)
* * *
Afghanistan, nicht nur ein Land im Strudel der Interessen anderer Mächte, sondern auch ein
Land im Spannungsfeld unterschiedlicher Kulturen.
„In Afghanistan stoßen die großen kulturellen Strömungen der Welt aufeinander: die
persische, die indische, die chinesische und die euro-kaukasische. Die kulturelle Vielfalt
prägt die Menschen und erklärt eine ethnische und religiöse Zersplitterung, die allein die
Entstehung eines Gemeinwesens verhindern kann.“ (30)
Da die beiden folgenden Bewertungen viel zum Verständnis der heutigen Situation in
Afghanistan beitragen, werden sie als Zitate übernommen. Damit soll der kurze Rückblick
auf die Geschichte, die Strukturen und die Probleme Afghanistans abgeschlossen werden.
- 16 (1) „Das Gemeinwesen Afghanistan, der afghanische Nationalstaat, war zunächst
auch eine künstliche Schöpfung. Briten und Russen bezeichneten den
staatenlosen Puffer zwischen ihren Einflusszonen als Afghanistan. Später zogen
sie dem Staat seine künstlichen Grenzen – der wohl schlimmste Fehler während
einer allemal schwierigen Geburt. Dann füllten sie Afghanistan notdürftig mit
Institutionen, die dem Land aber keine Stabilität gaben. Die ethnischen und
tribalistischen Strukturen (Tribalismus d.h. das Zugehörigkeitsgefühl zu einem
Stamm, A.K.) waren stärker und beherrschen bis heute alles Denken um Macht
und Einfluss in dem Land.“ (31)
(2) „Afghanistan steht 2010 für den Freiheitswillen und das Selbstbestimmungsrecht auf der einen, für Terror und Unterdrückung auf der anderen Seite. Es
steht für Staatszerfall und Staatsaufbau, für religiösen Zwist und ethnische
Unvereinbarkeiten, für Modernisierungsstürmer und die große Schar der
Überforderten und Zurückgelassenen auf dem Weg in die vernetzte Welt.“ (32)
4.2 Wissenschaftstheoretische Forderungen an eine Gesamtstrategie
Wenn politisches Gestalten mehr sein soll als Flickschusterei, die im „Friedensgutachten
2009“ kritisiert wird, und mehr als nicht weiter befragte Schlagworte (wie „Stabilisierungseinsatz“, „asymmetrische Situation“ oder das „Konzept der vernetzten Sicherheit“), dann
müssen wir uns einen Weg durch den Dschungel der Komplexität bahnen, um zu einer
Gesamtstrategie zu gelangen.
4.2.1 Reichweite
Gerade die oben angeführten Zitate verweisen auf folgende Zusammenhänge: Das Leben
und das Verhalten des einzelnen Menschen in Afghanistan werden stark von seiner
Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppierung und von seiner Stammeszugehörigkeit
geprägt. Hierbei wird der Spannungsbogen erkennbar, der in eine Gesamtstrategie
einzubeziehen ist. Eine Gesamtstrategie muss vom einzelnen Individuum ausgehen, seine
Lebenswelt erfassen und in die Analyse einbeziehen. Gelingt das nicht, dann steht alles
Bemühen, das wir mit den Konzepten „Aufbau von Militär und Polizei“ oder einer
„Kooperation mit ausstiegsbereiten Taliban-Kämpfern“, ja letztlich mit allen politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen usw. verbinden, auf unsicherem Boden.
Wir dürfen aber nicht beim Einzelnen stehen bleiben. Denn er ist Mitglied einer ethnischen
Gruppierung und einer Stammesgemeinschaft. Auch diese Strukturen müssen wir in die
Überlegungen einbeziehen. Allerdings reicht auch das noch nicht aus. Denn die einzelnen
Ethnien und Stämme bilden insgesamt das, was man als übergeordnete Einheit (mit allen
Einschränkungen als „Staat“) umschreiben könnte. Da aber die Lebenswirklichkeit der
Menschen in Afghanistan durch den Krieg und das heißt von der Anwesenheit und den
Aktionen einer internationalen Streitmacht geprägt wird, müssen wir auch diese
internationale Ebene in die Betrachtung miteinbeziehen.
Hierbei ist allerdings zwischen den Staaten zu unterscheiden, die unmittelbar am Krieg in
Afghanistan beteiligt sind, und denen, die nicht beteiligt sind, deren Mithilfe jedoch am
Zustandekommen einer friedlichen Lösung zur Beendigung des Krieges wünschenswert
und von großer Bedeutung wäre.
- 17 -
Die Situation in Afghanistan kann, so lautet eine weitere These in diesem Papier, nur
adäquat dargestellt und bei der Erarbeitung einer Gesamtstrategie bewertet werden,
wenn bei der Betrachtung von einem so genannten „Mehr-Ebenen-Modell“
ausgegangen wird, in das mehrere Faktoren und Dimensionen Eingang finden. (Ein
solches Modell kann hier freilich nur ansatzweise skizziert werden).
Dabei ist zu beachten: Die jeweiligen Ebenen sind nur analytisch voneinander zu trennen.
Zwischen ihnen bestehen Wechselwirkungen. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel
verdeutlichen: Die Wahrnehmung der Ereignisse prägt die Vorstellungen, die sich
Menschen in den unterschiedlichen Staaten, die Truppen entsenden, von der Situation in
Afghanistan machen.
Je nachdem, wie diese Bewertung ausfällt, stimmen die Menschen dem weiteren Einsatz zu
oder lehnen ihn ab. Diese Bewertungsmuster spiegeln sich dann in Umfragen wider, finden
bei Wahlen ihren Niederschlag und wirken auf diese Weise auf die übergreifenden
politischen Ziele der gesamten Operation in Afghanistan zurück.
4.2.2 Die Ebenen
Internationale Ebene (I) Einbeziehen von Staaten, die nicht unmittelbar am
Krieg in Afghanistan beteiligt sind, deren Mithilfe aber für
eine Befriedung der Region notwendig und hilfreich
erscheint – sowie ein Einbeziehen der weltweiten
Konflikte, die auf das Geschehen in Afghanistan Einfluss haben.
Internationale Ebene (II) Die Staaten, die in Afghanistan Truppen stellen und /
oder Aufbauhilfe leisten. Gemeinsame Ziele, Konsens
und Unterschiede in der Bewertung, grundlegende
strategische Überlegungen.
Nationale Ebene
Nationale Zielsetzungen und Besonderheiten der Staaten,
die Truppen stellen und / oder Aufbauhilfe leisten sowie
die besondere „nationale“ Situation in Afghanistan (soweit
in einer „Stammesgesellschaft“ überhaupt von einer
als einheitlich empfundenen Situation gesprochen
werden kann).
Handlungsebene
Möglichkeiten und Schwierigkeiten der konkreten Kooperation
aufgrund unterschiedlicher Herkunft, Zielvorstellungen,
Erziehung und Ausbildung etc. sowohl der Handelnden
im Lager der sog. Truppensteller und Aufbauhelfer als
auch bei den handelnden Afghanen (Soldaten, Polizisten
und anderen Mitarbeitern).
Individualebene
Die Betrachtung des Einzelnen als Bürger Afghanistans, als
Angehöriger einer ethnischen Gruppierung / eines Stammes
- oder als Soldat in einem multinationalen Verbund und als
Bürger eines an ISAF beteiligten Landes.
- 18 -
Die Wechselwirkungen zwischen den Ebenen werden anhand des folgenden Beispiels
besonders deutlich:
Das Bombardement in der Nähe von Kundus in der Nacht zum 04. September 2009 hat das
im Bundestagswahlkampf 2009 weitgehend ausgesparte Thema Afghanistan schlagartig in
die politische Diskussion zurückgeholt. Und die negative Bewertung des AfghanistanEngagements, die nach Kundus in Umfragen ermittelt wurde, machte den im Bundestag
vertretenen Parteien deutlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung eine weitere Teilnahme
der Bundeswehr an der ISAF-Mission ablehnt. Das Thema „Abzugs-Strategie“ prägte von
nun an die politische Diskussion in Deutschland, was sich wiederum auf konkrete Ziele in
Afghanistan auswirkte (z.B. den zügigen Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte).
4.2.3 Definitionen – Faktoren - Dimensionen
Zum Begriff „Gesamtstrategie“:
(Umschreibung 1) strategy: „The science and art of using all the forces of a nation
to execute approved plans as effectively as possible
during peace or war.” (33)
(Umschreibung 2) Allgemein: „Der Entwurf und die Durchführung
eines Gesamtkonzeptes.“ (34)
(Umschreibung 3) „Heute spricht man meist von der Strategie eines Staates oder
Bündnisses als Verhalten im Frieden, bei einer Krise oder
im Kriegsfall, wobei das militärische Potenzial oder die
Militärstrategie neben der Diplomatie, der Außen- und
Wirtschaftspolitik u.a. nur einen der Faktoren darstellt.“ (Vgl. 34)
(Umschreibung 4)
„Der Widerstreit der Faktoren, die berücksichtigt werden müssen, um
der Strategie Aussicht auf Erfolg zu geben, nimmt noch erheblich zu,
sobald es sich um den Entwurf politischer oder nach Líddell Hart
‚höherer Strategie’ handelt, in deren Rahmen die militärische Strategie
nur einen unter vielen Aspekten darstellt. Hier sei nur auf einige
hingewiesen: Diplomatie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wirtschaft
und Finanz, Wissenschaft und Technologie, die psychologische
Situation, Demographie und Geographie.
(…) Geht es gar um Bündnisstrategie, treten noch die verschiedenen
nationalstaatlichen Interessen komplizierend hinzu.“ (35)
Die angeführten Umschreibungen machen deutlich:
(a) Bei einer Gesamtstrategie geht es immer um die Wahrnehmung und Betrachtung des
Ganzen und nicht um einen singulären Teilbereich. Eine Gesamtstrategie ist eine
politische Strategie.
Der wirkliche Krieg, so stellt Clausewitz fest, ist ein „Halbding, ein Widerspruch in sich,
dass er als solcher nicht seinen eigenen Gesetzen folgen kann, sondern als Teil eines
andern Ganzen betrachtet werden muss – und dieses Ganze ist die Politik.“ (36)
(b) Eine militärische Strategie stellt somit nur einen von mehreren Teilaspekten dar.
(c) Das Erarbeiten einer Bündnisstrategie ist ein äußerst kompliziertes Unternehmen,
weil hierbei noch die nationalen Interessen der Partner zu berücksichtigen sind
und in die Strategie einbezogen werden müssen.
- 19 -
(d) Für die in diesem Papier zu bearbeitende Frage nach Kriterien für eine Bewertung
von Strategien wird die oben angeführte Beschreibung 4 zugrunde gelegt.
(e) Statt des Begriffes „Definition“ wurde bei der Darstellung der jeweiligen Positionen der
Begriff „Umschreibung“ gewählt, weil es keine allgemein gültigen und anerkannten
Definitionen geben kann. Die Definition eines Begriffes ist immer abhängig von der
Theorie, aus der er abgeleitet ist.
(f) Auch der Unterscheidung zwischen Faktoren und Aspekten wird hier aus demselben
Grunde nicht gefolgt. Bei der konkreten Erarbeitung einer Gesamtstrategie wird es
freilich darum gehen müssen, die Begriffe „Gesamtstrategie“, „Faktoren“ etc.
innerhalb des Rahmens der angewendeten Theorie(n) zu entwickeln und zu
präzisieren.
* * *
Im Folgenden werden am Beispiel des Faktors „Zielsetzungen“ verschiedene mögliche
Dimensionen genannt. Dabei wird erkennbar, welchen Umfang die zu leistenden Arbeiten
einnehmen.
Dimensionen:
- die verfassungsrechtliche Dimension (bei der Bundeswehr das Grundgesetz);
- die völkerrechtliche Dimension (z.B. UN-Resolutionen);
- die ethische Dimension (Wie sind Ziele und Folgen des militärischen Einsatzes ethisch zu
rechtfertigen?);
- Fragen nach der Zustimmung der eigenen Bevölkerung ( d.h. Legitimation);
- die technologische Dimension (u.a. Fragen nach den technischen Möglichkeiten und
Mitteln);
- die wirtschaftliche Dimension (Finanzielle Möglichkeiten und Mittel);
- die außenpolitische Dimension (Kooperation mit anderen Staaten, dem Bündnis);
- die unterschiedlichen Dimensionen, die für ein Verstehen der Menschen, der
Strukturen und der Probleme eines fremden Landes (wie Afghanistan) notwendig
sind (wie zum Beispiel psychologische, soziologische, ethnologische Fragen).
Bei dem hier betrachteten Faktor „Zielsetzungen“ sind jedoch die einzelnen Ziele in aller
Regel nicht gleichwertig. Deshalb müssen sie zudem in eine Rangordnung gebracht werden.
Anhand welcher Fragen eine solche Hierarchisierung vorgenommen werden könnte, soll
abschließend dargestellt werden.
- Welche übergeordneten Ziele sollen mit der gesamten Operation in Afghanistan erreicht
werden?
- Auf welche Weise ist ein Konsens über die Ziele innerhalb der an der Operation
beteiligten Staaten einerseits sowie der afghanischen Regierung und der unterschiedlichen Strömungen und Interessengruppen in Afghanistan andererseits herstellbar?
- Auf welche Weise kann es gelingen, die Defizite der Regierung Karsai zu
beseitigen bzw. zu überwinden und das Vertrauen der Bevölkerung Afghanistans in ihre
Regierung zu stärken?
- Welche erklärten, aber auch welche nicht genannten Ziele verbinden die an der
- 20 -
Operation in Afghanistan beteiligten Staaten? (Strategische Ziele, wirtschaftliche
Interessen an Rohstoffen oder Transitwegen, wie zum Beispiel der Bau einer
Pipeline durch Afghanistan).
- Welche Kooperationen mit anderen, nicht an der Operation beteiligten Staaten sind
notwendig, möglich und wünschenswert? Und welche Interessenlagen liegen bei diesen
Staaten zugrunde?
- In welchem Ausmaß können Teile der „Aufständischen“ für den Aufbau Afghanistans
gewonnen werden?
- Was bedeuten die übergeordneten Ziele für die Gestaltung der Prozesse auf den jeweiligen
Ebenen?
- Welche militärischen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen, Ausbildungs-, Bildungsund Verwaltungsziele sind aus den übergeordneten Zielen abzuleiten? – und so weiter.
* * *
5
Gesamtstrategie – ein Fazit der bisherigen Überlegungen
Bei den bisherigen Ausführungen ging es darum, Bausteine für eine Strategie zu skizzieren,
die man mit guten Gründen als Gesamtstrategie bezeichnen könnte. Dabei wurde zweierlei
deutlich:
(a)
Die Erarbeitung einer Gesamtstrategie ist ein äußerst komplexes Unternehmen.
Allerdings ein unumgängliches, will man zu relativ fundierten Analysen gelangen.
Analysen, auf deren Basis Planungen erstellt und Vorhaben ausgeführt werden sollen.
Eine Gesamtstrategie mit dem Ziel, den Krieg in Afghanistan so schnell und so
unblutig wie möglich zu beenden und einen Beitrag zu leisten, um die Chancen der
Menschen auf ein friedliches, selbstbestimmtes Leben in diesem Land zu erhöhen.
Gefordert sind vor allem intelligente, auf Stabilität gerichtete, politische Ansätze, die
dem Denken Karl Poppers gerecht zu werden versuchen: Lasst Hypothesen sterben
statt Menschen.
Es muss darum gehen, die militärischen Missionen der ISAF-Truppen schrittweise
zu reduzieren, die afghanischen Streitkräfte und die Polizei in die Lage zu versetzen,
die Sicherheit im Land zu gewährleisten und den Wiederaufbau des Landes zu unterstützen.
(b)
Die skizzierten Kriterien, die an eine Gesamtstrategie anzulegen sind, erlauben es,
vorhandene Strategien und Konzepte zu bewerten.
Eine solche Bewertung soll nun erfolgen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Betrachtung
der deutschen Positionen. Da diese jedoch nur im Zusammenhang mit der neuen USStrategie eingeordnet werden können, ist es zunächst erforderlich, die strategischen Überlegungen der Vereinigten Staaten von Amerika darzustellen und zu bewerten.
- 21 -
6
Die Strategie der USA – eine Skizze
Bei seiner Rede an der Militärakademie in West Point am 01. Dezember 2009 stellt der
amerikanische Präsident die neue US-Strategie vor. (37)
In einem einleitenden Rückblick nennt er die Gründe für den militärischen Einsatz in
Afghanistan. Er versichert, dass er sich die Entscheidung, weitere 30.000 Soldaten nach
Afghanistan zu senden, nicht leicht gemacht habe. Er bekennt, dass er gegen den Krieg im
Irak war, weil er der Meinung sei, mit der Anwendung militärischer Gewalt müsse man
Zurückhaltung üben.
Und er spricht auch von den schwierigen Aufgaben, die er als Präsident wahrnimmt: die
Krankenbesuche bei aus dem Krieg zurückgekehrten amerikanischen Soldaten, die
Kondolenzschreiben an die Familien der Gefallenen, seine Fahrt nach Dover, wo er 18 in
flaggenbedeckten Särgen zu ihrer Ruhestatt nach Hause kommenden Amerikanern die letzte
Ehre bezeugt.
Er verweist auf die immensen Kosten des Krieges und stellt abschließend fest:
„Wenn ich nicht der Meinung wäre, dass es in Afghanistan um die Sicherheit der
Vereinigten Staaten und die Sicherheit der amerikanischen Bevölkerung geht, würde ich
liebend gerne jeden einzelnen unserer Soldaten schon morgen nach Hause zurückbeordern.“ (Vgl. 37)
Danach erläuterte er die Ziele, die mit der neuen Strategie künftig in Afghanistan und
Pakistan erreicht werden sollen.
Das oberste Ziel der Mission bleibt auch bei der neuen Strategie dasselbe:
Al-Qaida in Afghanistan und Pakistan zu stören, zu zerschlagen und zu vernichten.
Es muss verhindert werden, dass al-Qaida in Zukunft Amerika oder die mit den USA
Verbündeten bedrohen kann.
Die aus dem obersten Ziel für Afghanistan abgeleiteten Ziele sind:
(1) Al-Qaida einen sicheren Zufluchtsort zu verweigern.
(2) Die Schlagkraft der Taliban zu reduzieren. Es muss ihnen die Fähigkeit
genommen werden, die Regierung Afghanistans zu stürzen.
(3) Die Kapazitäten der afghanischen Sicherheitskräfte und der Regierung
zu stärken, um sie in die Lage zu versetzen, die Verantwortung für die
Zukunft Afghanistans zu übernehmen.
Diese Ziele sollen auf folgende Art und Weise erreicht werden:
(1) Die Schlagkraft der Taliban soll gebrochen werden.
Das bedeutet:
- ein gezieltes Bekämpfen der Aufständischen und ein Absichern der
wichtigsten Bevölkerungszentren;
- ein Erhöhen der Fähigkeiten der afghanischen Sicherheitskräfte mit dem Ziel,
dass künftig mehr Afghanen am Kampfgeschehen teilnehmen können;
(2) Die USA werden mit den Verbündeten, den Vereinten Nationen und der
afghanischen Bevölkerung daran arbeiten, eine effektivere Strategie im
zivilen Bereich zu verfolgen.
- 22 -
Das bedeutet:
- ein Unterstützen der afghanischen Ministerien, der Gouverneure und
örtlichen Führer, die die Korruption bekämpfen;
- ein Konzentrieren der Hilfsmaßnahmen auf die Bereiche, die im Leben der
afghanischen Bevölkerung sofort Wirkung zeigen (wie die Landwirtschaft);
- ein Unterstützen der afghanischen Bemühungen, denjenigen Mitgliedern der
Taliban die Tür zu öffnen, die der Gewalt entsagen und die künftig die
Menschenrechte ihrer Mitbürger respektieren wollen;
- eine auf Respekt basierende Partnerschaft und eine dauerhafte Freundschaft zwischen beiden Ländern aufzubauen.
(3) Der Erfolg in Afghanistan ist untrennbar mit der Partnerschaft zwischen den
USA und Pakistan verbunden. Diese Partnerschaft beruht auf gemeinsamen
Interessen, gegenseitigem Respekt und gegenseitigem Vertrauen.
Das bedeutet:
- Pakistans Kapazitäten zu verstärken, um eine gezielte Bekämpfung der
Gruppen zu ermöglichen, die Pakistan und die USA bedrohen;
- die USA können keinen Zufluchtsort für Terroristen dulden;
- Amerika stellt umfangreiche Mittel zur Verfügung, um die Demokratie
und die Entwicklung in Pakistan zu fördern.
* * *
Insgesamt, so Barack Obama, geht es darum, die Stabilität und die Kapazitäten der beiden
Partner Afghanistan und Pakistan zu erhöhen. Beides ist dringend notwendig, denn:
„Die Bevölkerungen und Regierungen von Afghanistan und Pakistan sind in Gefahr.
Und in einem mit Nuklearwaffen ausgerüsteten Pakistan steht noch mehr auf dem Spiel,
weil wir wissen, dass al-Qaida und andere Extremisten Atomwaffen haben möchten. Und
wir haben jeden Grund für die Annahme, dass sie diese auch einsetzen würden.“ (Vgl.37)
Der Krieg in Afghanistan, so betont der amerikanische Präsident, ist nicht Amerikas Krieg.
„Da es sich dabei um ein internationales Unterfangen handelt, habe ich darum ersucht,
dass sich unsere Verbündeten durch eigene Beiträge unserem Engagement anschließen.
(…) Und nun müssen wir uns zusammenfinden, um diesen Krieg erfolgreich zu beenden.
Denn es steht nicht nur die Glaubwürdigkeit der NATO auf dem Spiel – es geht um die
Sicherheit unserer Verbündeten und die gemeinsame Sicherheit der Welt.“ (Vgl. 37)
Die afghanischen Kräfte müssen in einer gemeinsamen Anstrengung dazu befähigt werden,
möglichst bald die Verantwortung für ihr Land zu übernehmen. Bereits im Juli 2011, so die
erklärte Absicht, soll mit dem Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan begonnen werden.
* * *
- 23 -
6.1 Die US-Strategie - Bewertung des theoretischen Ansatzes
Legt man bei einer Bewertung der neuen US-Strategie das gesamte Spektrum der Inhalte
zugrunde, die der amerikanische Präsident bei seiner Rede in West Point angesprochen hat,
dann kommt man zu folgendem Ergebnis: Die neue Strategie Amerikas weist eine ganze
Reihe der Elemente auf, die als notwendige Kriterien bei der Erarbeitung einer Gesamtstrategie zu berücksichtigen sind.
Barack Obama verweist auf die Gründe für das militärische Vorgehen der USA in
Afghanistan, nennt die für diesen Einsatz aus dem Völkerrecht und der Nato-Doktrin
hergeleiteten Grundlagen, formuliert die obersten Ziele, die mit dem Einsatz erreicht
werden sollen, leitet aus diesen untergeordnete Ziele ab und stellt schließlich die Methoden
dar, auf welche Art und Weise die Ziele realisiert werden sollen. Der Strategie orientiert
sich an einer Mehr-Ebenen-Betrachtung, wie sie in Kapitel 4 beschrieben wurde.
In die Bewertung der neuen US-Strategie sollte darüber hinaus noch die „Übersicht des
Weißen Hauses (Fact Sheet)“ (38) einbezogen werden. Dabei wird der Aufwand erkennbar,
der beim Erarbeiten betrieben wurde. So beispielsweise bei dem als „Überprüfungsprozess“
bezeichneten Vorgang: „Bei der Überprüfung handelte es sich um einen bewussten und klar
geregelten dreistufigen Prozess, im Rahmen dessen die Ausrichtung der Ziele, die zur
Erreichung dieser Ziele verwendeten Methoden und schließlich die erforderlichen
Ressourcen analysiert wurden. Über einen Zeitraum von zehn Wochen hatte der Präsident
den Vorsitz über neun Treffen mit seinem nationalen Sicherheitsteam und beriet sich mit
wichtigen Verbündeten und Partnern, darunter die afghanische und pakistanische
Regierung. Der Präsident konzentrierte sich auf die schwierigen Fragestellungen und nahm
sich die Zeit, alle Optionen mit Bedacht gegeneinander abzuwägen; er führte eine Reihe
unterschiedlicher Meinungen innerhalb seines Kabinetts zusammen, bevor er sich bereit
erklärte, weitere Amerikaner in den Krieg zu schicken.“ (Vgl.38)
Allerdings bleiben wichtige Gesichtspunkte ausgespart. Die drei wichtigsten Bereiche seien
genannt:
(a) Das Einbeziehen anderer Länder (Russland, Indien, China, Iran, die Nachbarstaaten
Afghanistans etc.), um auch während des Krieges noch eine friedliche Lösung
anzustreben.
(b) Eine Betrachtung der besonderen Situation Afghanistans (geschichtliche Hintergründe,
geographische Besonderheiten, ethnische und tribalistische Faktoren, politische
Machtstrukturen etc. wie sie in Kapitel 4.1 skizziert wurden) bleibt weitgehend
ausgeblendet. Gerade wenn es darum geht, dass die afghanischen Kräfte möglichst
schnell die Verantwortung für ihr Land übernehmen sollen, muss der Frage
nachgegangen werden, ob diejenigen, von denen man das erwartet, auch dazu in der
Lage sind. Denn Sollen impliziert Können.
(c) Die grundlegende Frage, ob dieser Krieg mit herkömmlichen militärischen Mitteln
überhaupt zu gewinnen ist, wird nicht gestellt. Doch gerade daran gibt es berechtigte
Zweifel: „Wir sind (…) Zeitzeugen einer weitreichenden Entstaatlichung des Krieges.
Anders gesagt: einer Privatisierung des Krieges. Die Gestalten, in denen sich dieser
neue, privatisierte Krieg verdichtet, sind die Söldner, der Kindersoldat, der Warlord
und der international vernetzte Terrorist.“ (39)
- 24 -
Die Neue Zürcher Zeitung kommt in einer Bewertung des Kampfes gegen den
islamistischen Terrorismus zu folgendem Urteil:
„Mehr als acht Jahre Kampf gegen den islamistischen Terrorismus haben gezeigt,
dass ein militärischer Sieg unmöglich ist, in Afghanistan ebenso wie in den
pakistanischen Stammesgebieten oder im Jemen. Dasselbe gilt für Somalia oder im
südlichen Maghreb, wo sich al-Qaida und ihren lose verbundenen Gefolgsleuten
neue Basen anbieten. Aber auch die zivile Variante der Intervention als Nation
Building ist leider nutzlos. Was also bleibt? Eine gehörige Portion Realismus. Der
pragmatische Ansatz, mit einer Mischung aus Diplomatie, verdeckten Operationen,
Drohnen, Spitzeln, Geheimdienstarbeit und regionalen Verbündeten die
terroristischen Brandherde einzudämmen.“ (40)
6.2 Die US-Strategie: Einwände, Probleme, Fragen
Die wesentlichen Einwände gegen die neue Strategie richten sich in Amerika gegen die
geplante Aufstockung einerseits und gegen den beabsichtigten Abzugstermin der USTruppen andererseits. Dabei gerät der Präsident in die Kritik von beiden politischen Lagern.
(1) Die Kritik der Demokraten
Sprecher des linken Flügels der Demokraten sehen in der Aufstockung der USTruppen um 30.000 Soldaten eine „Kriegseskalation“. Sie lehnen deshalb die neue
Strategie ab und lassen sich auch mit dem in Aussicht gestellten Abzugstermin für die
ersten Truppenteile im Juli 2011 nicht besänftigen.
Selbst Demokraten, die zum sicherheitspolitischen Establishment gezählt werden,
gehen auf Distanz zu dem Vorhaben des Präsidenten. „Wenn wir über diese Strategie
abstimmen würden, würde ich mit Nein votieren“, soll Jane Harman, Demokratin aus
Kalifornien, geschimpft haben (41)
Auch von Amerikas Vizepräsidenten, Joseph Biden, weiß man, dass er große
Vorbehalte gegen eine Aufstockung der Truppen hatte. Einem Bericht der New York
Times zufolge soll Biden bei einer Krisensitzung am 13. September 2009 sogar einen
Strategiewechsel empfohlen haben: „Statt Aufstandsbekämpfung mit vielen USBodentruppen und hohen eigenen Verlusten, plädierte der Demokrat für eine andere
Kampfweise: Aus Afghanistan könne sich Amerika teilweise zurückziehen, stattdessen sollten US-Spezialeinheiten am Boden und unbemannte Predator-Flugzeuge
aus der Luft die Verstecke von Al-Qaida Kämpfern aufspüren und zerstören.“ (42)
Letztlich hat sich die Argumentation von General McChrystal durchgesetzt, dessen
Forderung mit der Sorge verbunden ist, dass ohne eine Truppenerhöhung der Krieg
in Afghanistan verloren gehen könnte. McChrystals Position wurde zudem von zwei
weiteren hochrangigen US-Generälen unterstützt: von Generalstabschef Mike Mullen,
dem obersten militärischen Präsidentenberater, und von General David Petraeus, dem
Chef des US-Zentralkommandos Centcom.
Der amerikanische Präsident wird, so die Entscheidung, zusätzlich 30.000 (statt der
von McChrystal geforderten 40.000) US-Soldaten nach Afghanistan entsenden.
- 25 -
(2) Die Kritik der Republikaner
Senator John McCain teilte am Morgen nach der Rede Barack Obamas mit, dass er die
Entscheidung des Präsidenten, die US-Truppen in Afghanistan aufzustocken, unterstütze. Zumal diese Maßnahme einem Beispiel zu folgen scheint, wie es der
Vorgänger George W. Bush im Januar 2007 im Irak vorgemacht hatte: Er entsandte
eine Welle („surge“) von mehr als 20.000 zusätzlichen Soldaten, um den blutigen
Bürgerkrieg einzudämmen. (Vgl. 41)
McCain kritisierte allerdings, dass der Präsident mit der neuen Strategie gleichzeitig
den Rückzug ankündigte, denn eine solche Ankündigung „stärkt unsere Feinde und es
schwächt unsere Verbündeten, wenn wir Abzugs-Daten verbreiten.“ (Vgl. 41)
Generalstabschef Mike Mullen konterte: Das für 2011 anvisierte Datum eines
beginnenden Rückzuges heiße nicht, dass die Truppen dann auch tatsächlich
abgezogen würden. Eine Position, wie sie auch Richard Holbrooke, der Sonderbeauftragte von US-Präsident Barack Obama für Afghanistan und Pakistan,
bei der Münchner Sicherheitskonferenz in einem Interview mit der Süddeutschen
Zeitung vertritt: „Erinnern wir uns, was der Präsident gesagt hat: Er will mit der
Übergabe der Verantwortung für Sicherheit an die afghanischen Sicherheitskräfte im
Juli 2011 beginnen. Dann würde er auch mit dem Rückzug einiger US-Truppen
beginnen. Er hat außer dem Starttermin kein weiteres Datum genannt.“ (43)
Damit, so Holbrooke weiter, ist über den Zeitrahmen, innerhalb dessen ein vollständiger Rückzug stattfinden könne, nichts ausgesagt.
In der Rede Barack Obamas in West Point wird allerdings auch deutlich, dass der
Präsident mit der Nennung des Abzugstermins ganz konkrete Absichten verfolgte.
Er wollte dem afghanischen Präsidenten ein deutliches Signal geben, dass auch von
ihm und seiner Regierung besondere Anstrengungen zur Übernahme der
Verantwortung erwartet werden, und dass die Zeit, in der„Blankoschecks“ ausgestellt
wurden, vorbei ist.
(3) Weitere Probleme und Fragen
Der Oberkommandierende der ISAF-Truppen in Afghanistan, General Stanley
McChristal, vertritt eine Strategie der „Counter-Insurgency“, also eine Strategie der
Aufstandsbekämpfung.
Dieser strategische Ansatz findet Eingang in die neue US-Strategie, wenn dort von
einem gezielten Bekämpfen der Aufständischen und einem Absichern der wichtigsten
Bevölkerungszentren die Rede ist.
* * *
Welche Konsequenzen sich aus der neuen US-Strategie für Deutschland (und besonders
für die Bundeswehr) ergeben, wird später noch zu erörtern sein. (Vgl. Kapitel 7)
Zunächst soll danach gefragt werden, welche (Gesamt-) Strategie und welche Ziele dem
Engagement Deutschlands in Afghanistan zugrunde liegen.
* * *
- 26 -
7
Die Afghanistanpolitik Deutschlands
Wissenschaft hat eine dienende Funktion. Ihre
Aufgabe ist es, Probleme zu lösen.
Die Menschheit befindet sich, so könnte man sagen,
auf einem Schiff inmitten des weiten Ozeans. An
diesem Schiff sind Probleme aufgetreten. Das
Anlaufen eines Hafens ist aufgrund der Schäden an
Bord und der großen Entfernung zum nächsten Hafen
nicht möglich. Somit muss zweierlei gleichzeitig
geleistet werden: Das Schiff schwimmfähig halten
und die Probleme lösen.
(nach Karl Popper)
7.1 Die Situation vor der Afghanistan-Konferenz (London, 28.01.2010)
Das Bild von Karl Popper verdeutlicht die Situation, wie wir sie Anfang 2010 in
Afghanistan vorfinden, und von der wir bei den weiteren Überlegungen auszugehen haben:
Es herrscht Krieg. Die Erforschung der Ursachen, die zu dieser Situation führten, ist eine
notwendige Aufgabe. Allerdings hat die Abklärung einer Reihe anderer Fragen im Moment
eine höhere Priorität: Was ist zu tun, um den Krieg in Afghanistan so schnell und so
unblutig wie möglich zu beenden? Was würde mit dem „Schiff Afghanistan“ geschehen,
wenn alle ISAF-Truppen sofort aus dem Land abgezogen würden? Was würde es bedeuten,
wenn Deutschland die Bundeswehr sofort abziehen würde?
Die überwiegende Mehrheit derjenigen, die seit Jahren das Geschehen in Afghanistan
verfolgen, raten von einem sofortigen Abzug der westlichen Truppen ab. Afghanistan
würde, so ihre Befürchtung, danach mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut in einem blutigen
Bürgerkrieg versinken. Ein solcher Schritt würde alle Hoffnungen bei denen zerstören, die
auf Hilfe angewiesen sind, und wahrscheinlich einen großen Teil der inzwischen geleisteten
Aufbauarbeit zunichte machen. Ein sofortiger Abzug der Bundeswehr wäre unsolidarisch
und würde Deutschland in Europa isolieren.
In Afghanistan sind somit folgende Aufgaben gleichzeitig zu leisten:
Zum einen muss das Bemühen um politische Lösungen intensiviert werden, um den Krieg
zu beenden. Die militärischen Operationen können nur als Zwischenschritt auf
dem Weg zu diesem Ziel verstanden und gerechtfertigt werden. Es braucht
mehr als eine simple militärische Lösung hat James Jones, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, immer wieder betont.
Zum andern muss alles unternommen werden, um den Weg Afghanistans in eine selbstbestimmte, friedlichere Zukunft zu unterstützen.
In Deutschland wird, wie in anderen europäischen Ländern, die Afghanistan-Mission immer
mehr als Belastung empfunden. Forderungen nach Abzugs-Strategien und nach konkreten
Terminen zur Rückholung der Bundeswehr werden deutlicher ausgesprochen. Die
Süddeutsche Zeitung stellt vor der Londoner Afghanistan-Konferenz fest: „In der Bundesregierung heißt es, mit der Konferenz werde die letzte Chance vorbereitet. Entweder müsse
der Einsatz danach zu einem Erfolg werden, oder man werde scheitern.“ (44)
- 27 Der Vorsitzende der SPD Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, gesteht ein, dass
man in Afghanistan zwar viel Zeit verloren habe. „Aber es ist noch nicht zu spät, das
Engagement zu einem guten Ende zu führen. Dazu muss die Staatengemeinschaft sich jetzt
zu einer kollektiven Kraftanstrengung verpflichten, einem neuen „Pakt für Afghanistan“.
(45)
Die Zustimmung der Bevölkerung zu einem weiteren Engagement am Hindukusch
schwindet rapide. 76% der Deutschen haben Zweifel am Erfolg des internationalen
Militäreinsatzes in Afghanistan. Und 65 % sind dagegen, dass die Zahl der deutschen
Soldaten dort erhöht wird. (46)
7.2 Strategische Konzepte - keine Gesamtstrategie
Die Überschrift markiert die Situation, in der sich die deutsche Politik seit Beginn des
Engagements in Afghanistan befindet: Eine Strategie, vor die man mit guten Gründen die
Bezeichnung „Gesamt-“ setzen könnte, war und ist nicht in Sicht. Diese negative
Bewertung wurde von den politischen Parteien vor und nach der Afghanistan-Konferenz in
London erneut bestätigt. Die nachfolgenden Zitate belegen das.
Über Jahre hinweg wurde das, was Deutschland in Afghanistan zu leisten sich anschickte,
nur mit Schlagworten umschrieben. Da war die Rede von dem „Stabilisierungsauftrag“, von
einer „asymmetrischen Situation“ und von der Sicherheit Deutschlands, die es am
Hindukusch zu verteidigen galt. Doch was sich hinter diesen Wortgebilden verbarg, blieb
unklar. Sie wurden in die Diskussion geworfen, nicht präzisiert und in aller Regel nicht oder
nur unzureichend erläutert. So blieben Ziele und Probleme, die mit den jeweiligen
Konzepten verbunden waren, im Dunkeln. Kaum ein Begriff dürfte in den zurückliegenden
Jahren in der politischen Diskussion um Afghanistan auf so inflationäre Weise benutzt
worden sein wie der Begriff „Strategie“.
Die Idee, den Auftrag der Bundeswehr und die Aufgaben der zivilen Helfer unter dem
Konzept der „Vernetzten Sicherheit“ zusammenzufassen, wurde als originäre Erfindung
und bedeutsames strategisches Denken ausgegeben. „Vernetzte Sicherheit“ als Aufgabe,
sowohl militärische Sicherheit zu gewährleisten als auch gleichzeitig in Afghanistan
Aufbauarbeit zu leisten. Offen blieben dabei allerdings zentrale Fragen wie zum Beispiel:
Was geschieht eigentlich, wenn die militärischen Gefechte in dem von der Bundeswehr zu
schützenden Raum zunehmen werden?
Über die inzwischen veränderte Situation informierten die deutschen Soldaten den
Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, anlässlich seines Besuches
im Jahre 2009 in Afghanistan. „Wir bauen hier im Moment keine Brücken und bohren
keine Brunnen. Herr Wehrbeauftragter, wir befinden uns hier im Krieg.“ (47)
„Vernetzte Sicherheit“, allenfalls ein Konzept, zudem mit vielen Problemen behaftet.
Keine Strategie. Und schon gar keine Gesamtstrategie.
Ein erstes Fazit lautet: Es gibt auch im achten Jahr des Einsatzes in Afghanistan keine
deutsche Strategie, die den Kriterien entspräche, die an eine Gesamtstrategie zu richten
sind, wie sie in den Kapiteln 4 und 5 dieser Ausarbeitung entwickelt wurden.
Sowohl die Aussagen und Erklärungen der Regierungskoalition als auch der SPDOpposition vor der Afghanistan-Konferenz belegen dieses Strategie-Defizit. So erklärt
Außenminister Guido Westerwelle in einem Interview, das er mit der flapsigen Bemerkung
einleitete, wenn die Londoner Konferenz nur eine „Truppenstellerkonferenz“ würde,
bräuchte man nicht hinzufahren. (Diese Äußerung Westerwelles wurde „vor allem in den
USA, mit großer Irritation aufgenommen.“) (48)
- 28 -
Danach nennt der Außenminister seine Erwartungen, die er mit der bevorstehenden
Konferenz verbindet: „Es geht vielmehr um einen breiten politischen Ansatz, um
realistische Ziele und die richtige Strategie.“ (49) Eine solche Forderung, im achten Jahr
des Einsatzes ausgesprochen, belegt auf bedrückende Weise die vorhandenen Defizite.
Der Bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer unterläuft die
„abwartende Strategie der Bundesregierung, die sich mit diesem Thema erst nach der
internationalen Afghanistan-Konferenz befassen will.“ Und erklärt weiter. „Wir haben
immer gesagt, dass eine Strategie entwickelt werden muss, die auch eine realistische
Perspektive für den Abzug beinhaltet.“ (50)
An dieser Stelle verweist die Süddeutsche Zeitung allerdings darauf, dass die Aussage
Seehofers kurz nach der Veröffentlichung neuer Umfragen erfolgte, in denen „die
Zustimmungswerte für das deutsche Engagement in Afghanistan massiv gesunken sind.“
(51)
Der neue SPD-Chef Sigmar Gabriel hält in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung
seiner Partei zu Gute, dass „es neben der evangelischen Kirche die SPD (ist), die den
Afghanistan-Einsatz offen diskutiert“ und stellt mit einem Blick auf die Bemühungen der
schwarz-gelben Bundesregierung mit Verwunderung fest: „Ich kann gar nicht erkennen,
dass die Bundesregierung eine Afghanistan-Strategie hat.“ (52)
Die Süddeutsche Zeitung lokalisiert floskelhafte, inhaltsleere Sprach-Rituale auch bei
internationalen Konferenzen: „Das Bläh-Vokabular der internationalen Diplomatie kennt
genügend Worthülsen, in die man den Konferenzzirkus kleiden kann. (…) In London wird
keine neue Strategie beschlossen – überhaupt werden gerade für Afghanistan inflationär
viele Strategien erfunden, weshalb man besser von taktischen Zuckungen sprechen sollte.“
(53)
* * *
Abschließend soll der Frage nachgegangen werden, ob die festgestellten Strategie-Defizite
Deutschlands auch als Ausdruck einer unzureichenden Kommunikation mit den USA
interpretiert werden können.
In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 09. Februar 2009 umreißt der USSicherheitsberater und ehemalige Vier-Sterne-General James Jones die strategischen
Planungen. Er verweist darauf, dass Präsident Obama sich bereits bei seinem Amtsantritt im
Januar dafür ausgesprochen habe, innerhalb von 60 Tagen die Lage zu analysieren,
gemeinsam mit US-Kommandeuren, Nato-Verbündeten und anderen, die in Afghanistan
einen Beitrag leisten, eine neue Strategie zu entwerfen, deren Ziele vernünftig und
erreichbar sind. Das Militär wird, so Jones, bei den strategischen Überlegungen eine
bedeutsame Rolle spielen, doch „es braucht mehr als eine simple militärische Lösung“. (54)
Leider bin ich bei meinen Recherchen nicht auf offizielle Verlautbarungen, Presseerklärungen oder Agenturberichte gestoßen, die Hinweise darüber hätten geben können, ob
es eine solche Kooperation zwischen den USA und Deutschland beim Erarbeiten einer
neuen Strategie überhaupt gegeben hat.
- 29 -
Was allerdings belegbar ist, stimmt nachdenklich:
In den USA setzt eine heftige Diskussion ein, als in der Washington Post vom 20.
September 2009 die Forderungen von General Stanley McChristal veröffentlicht werden, in
denen er eine Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan um mindestens weitere 44.000
Soldaten anmahnt.
Wie reagiert, so ist zu fragen, Europa auf diese Diskussion in Amerika?
Beim Treffen der europäischen Verteidigungsminister in Göteborg Ende September 2009
signalisieren Vertreter aus mehreren EU-Staaten, vor einer europäischen Stellungnahme erst
einmal die Berichte über den Wahlverlauf in Afghanistan sowie die Entscheidung des
amerikanischen Präsidenten in Sachen Strategie abzuwarten.
Abwarten! In einer Zeit, in der die Zustimmung zur Mission Afghanistan rapide schwindet.
Und das nicht nur in Deutschland, sondern in anderen europäischen Ländern und in
Amerika.
Abwarten! Die Festlegung des US-Präsidenten auf eine neue Strategie gerät wegen der
unterschiedlichen Ansätze bei Präsident, Vizepräsident und dem Kommandeur der ISAFTruppen ins Stocken. Der Krieg in Afghanistan geht derweil weiter. Das Kämpfen, die
Anschläge und das Sterben.
Die europäischen Verteidigungsminister sehen gebannt nach Amerika und warten ab.
Franz Josef Jung, damals deutscher Verteidigungsminister, stellt fest: „Ich denke, das ist
eine Diskussion, die jetzt erst einmal in Amerika geführt wird, und dann werden wir in
der Nato darüber reden. (…) Unser Ziel muss sein, in einer vernünftigen Zeit zu einer
selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan zu kommen.“ (55)
Dieses Abwarten enttäuscht, ist unverständlich. Denn die Eckpunkte der Strategie, wie sie
der amerikanische Präsident formuliert hat, werden sich voraussichtlich bei gleichbleibenden oder steigenden Truppenzahlen nicht gravierend verändern. Und die Vorschläge
des Vizepräsidenten, den Schwerpunkt der Operation auf Pakistan zu legen, die
Truppenstärke nicht zu erhöhen und die Verstecke von al-Qaida mit Spezialeinheiten und
Drohnen aus der Luft anzugreifen und zu zerstören, sind problematisch. Denn sie geben
keine Antwort auf die zunehmenden Kämpfe gegen die Taliban in Afghanistan. Außerdem
führt der geplante extensive Einsatz von Drohnen genau zu den Problemen, die man wegen
der bisherigen Erfahrungen vermeiden wollte: nämlich zu einem möglichen Ansteigen der
Opfer in der Zivilbevölkerung und somit zu weiter anschwellendem Hass auf die
„Besatzer“.
Amerika beansprucht als das Land, das die weitaus größte Zahl der Truppen stellt, eine
Führungsrolle. Das ist verständlich. Doch der amerikanische Präsident hat die an der ISAFMission beteiligten Länder immer wieder dazu aufgefordert, ihre Sichtweisen und
Vorschläge einzubringen. Wer das Angebot nicht annimmt und nur abwartet, muss sich den
Aufgaben zuwenden, die andere für ihn ausgedacht haben. Wie jedes an der AfghanistanMission beteiligte Land hätte auch Deutschland ein vitales Interesse daran haben müssen,
sich an der Entwicklung einer neuen Strategie zu beteiligen, um die eigenen legitimen
Interessen in diese Überlegungen einzubringen.
Ein abschließendes Fazit:
Das „Friedensgutachten 2009“ der fünf großen deutschen Friedensforschungsinstitute
bewertet, wie eingangs dargestellt, das westliche Engagement in Afghanistan als
- 30 „politische Flickschusterei“. Die Süddeutsche Zeitung kommt bei der Bewertung der
Situation Anfang Dezember 2009 zu einem ähnlichen Ergebnis:
„Seit Monaten brütet die US-Administration über der Frage, wie man den Trend in
Afghanistan brechen und das Land doch noch stabilisieren und damit verlassen könnte.
(…) Obama fordert die Verbündeten auf, mehr Truppen zu schicken. Deutschland vertagt
sich erst mal auf Ende Januar. (…) Stückwerk fügt sich an Stückwerk.“ (56)
Die in diesem Kapitel erörterten Fragen machen deutlich, dass für die deutsche
Afghanistan-Mission bisher noch kein theoretischer Bezugsrahmen entwickelt wurde, den
man mit guten Gründen als „Gesamtstrategie“ bezeichnen könnte. Die deutschen
„strategischen Konzepte“ bleiben auch weit hinter dem zurück was in Amerika unter dem
neuen Präsidenten Barack Obama an strategischen Analysen geleistet wurde.
7.3 Ziele der Afghanistan-Mission: Illusion und Realität
„Es gibt keine größere menschliche Eitelkeit als
die Überzeugung, die eigenen Wertvorstellungen
seien allgemein gültig, und keine größere Torheit
als den Versuch, eine bestimmte Gesellschaftsform
(…) einer widerstrebenden Welt aufzuzwingen. (57)
James William Fulbright
(1905 – 1995)
In der Phase der Vorwahlen in den USA hatte Helmut Schmidt in der ZEIT einen offenen
Brief geschrieben, dessen Überschrift lautete: „Liebe Amerikaner, was kann die Welt von
euch erwarten? Zwölf Fragen an die Kandidaten.“ Frage zwei in diesem Brief lautete:
„Was ist ihr Ziel in Afghanistan? Ist es die Ausschaltung nur von al-Qaida oder auch der
Taliban? Oder ist es die Errichtung einer Demokratie?“ (58)
Der 44. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gab bei der Vorstellung der neuen
gemeinsamen Strategie für Afghanistan und Pakistan Ende März 2009 darauf eine
eindeutige Antwort: Al-Qaida und Taliban sollen in beiden Ländern besiegt, gespalten,
aufgelöst und vernichtet sowie ihre Rückkehr in Zukunft verhindert werden.
Die gesellschaftspolitischen Zielsetzungen für Afghanistan haben sich allerdings verändert,
sind bescheidener geworden. Anders als sein Vorgänger George W. Bush nannte Barack
Obama nicht mehr den Aufbau von Demokratie und Zivilgesellschaft als Kriegsziel und
erhob nicht mehr die Forderung, dass in Zukunft auch Mädchen in Afghanistan Schulen
besuchen dürfen. (59)
Und Kanzlerin Angela Merkel betonte bei ihrem Besuch von Bundeswehr-Soldaten in
Masar-i-Scharif, es sei das Ziel des Einsatzes der ISAF-Truppen, alles zu tun, damit sich
Afghanistan in Zukunft selbst verteidigen könne. Von den ehemals hochgesteckten Zielen
bleibt in der Rede der Kanzlerin vor den Soldaten nichts mehr übrig: „Natürlich wollen wir,
dass Männer und Frauen die gleichen Rechte haben und Mädchen zur Schule gehen
können.“ (…) Allerdings dürfe man nicht dem Irrtum verfallen, dass „deutsche
Idealvorstellungen“ übertragen werden können. „Wir sind nicht gekommen, um deutsche
- 31 Maßstäbe einzuführen.“ (60)
Auch der SPD Fraktionschef, Frank-Walter-Steinmeier, bestätigt rückblickend, dass bei
Beginn der Mission zu hohe Erwartungen geweckt worden seien. „Eine WestminsterDemokratie für Afghanistan wird eine Illusion bleiben.“ Und er listet weitere
Fehleinschätzungen des Westens auf. So sei die Aufgabe unterschätzt worden, das nahezu
zerstörte Land nach 30 Jahren Bürgerkrieg wieder aufzubauen und zu befrieden. Zudem
hätten sich die USA nach der Vertreibung von al-Qaida und dem Sieg über die Taliban von
Afghanistan abgewendet und auf den Irak konzentriert.
Es sei viel Zeit verloren worden in Afghanistan. Der afghanische Außenminister Spanta, so
Steinmeier weiter, habe bei einer Afghanistan-Konferenz der Sozialdemokraten erklärt,
„dass die internationale Gemeinschaft erst seit zwei Jahren ihre Prioritäten richtig setzt.“
(61)
Und auch Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen beklagt Fehleinschätzungen in der
Vergangenheit. So habe die Allianz jahrelang die bedeutende Aufgabe der Ausbildung in
Afghanistan unterschätzt. Er werde, so der Generalsekretär weiter, binnen zwei Wochen
verlässliche Zahlen von den Mitgliedstaaten einfordern, aus denen ersichtlich wird, wie
viele Ausbilder die einzelnen Staaten künftig nach Afghanistan entsenden werden. (62)
Es ist Ernüchterung eingekehrt. Die erhabenen Ziele, mit denen die Mission begann, sind an
der rauen Wirklichkeit gescheitert. Die Verhältnisse, sie waren nicht so, wie man es sich
vorgestellt hatte. Die folgende Bewertung wirkt wie eine Zusammenfassung aller
Fehleinschätzungen: „Wir haben Afghanistan mit Hoffnungen und Illusionen überfrachtet“,
heißt es selbstkritisch, so die Süddeutsche Zeitung, aus dem Kreis der AfghanistanExperten in der Bundesregierung. (63)
Eine Frage drängt sich auf: Wie konnte es zu diesen gravierenden Fehleinschätzungen
kommen? Alleine die USA sollen über 16 unterschiedliche „Dienste“, eine kaum
überschaubare Anzahl von „Denkfabriken“, „Planungsstäben“ „Beratergremien“ usw.
verfügen. Auch in Deutschland gibt es ein breites Spektrum von ganz unterschiedlichen
Institutionen und Instituten, deren Aufgabe die Beratung der Politik ist.
Schon ein einzelner Mitarbeiter eines dieser Institute hätte ausgereicht, um die Geschichte
Afghanistans in einem Standard-Lexikon nachzulesen und warnend die Stimme zu heben,
dass alle die erhabenen Ziele in diesem von Kriegen und Armut geschundenen Land nie und
nimmer zu verwirklichen sein werden.
Sicherlich böte die von Jürgen Habermas entwickelte Theorie von „Erkenntnis und
Interesse“ zur oben genannten Frage aufschlussreiche, nachdenkenswerte Erklärungsmuster. Und sicherlich wird in diesen Fehleinschätzungen auch ein Stück westlicher
Überheblichkeit deutlich, wie sie in dem oben angeführten Zitat von William James
Fulbright zum Ausdruck kommt.
Abschließend sei auf die bereits erwähnte erkenntnistheoretische Position Poppers
hingewiesen: Alle unsere Erkenntnis steht auf unsicherem Boden. Wir müssen unseren
Annahmen misstrauen, können niemals ihrer sicher sein. Daraus folgt: Wir müssen damit
rechnen, uns auch künftig in unseren Bewertungen und Urteilen zu täuschen. Deshalb muss
politisches Handeln dem Grundsatz folgen: Lasst Hypothesen (Strategien, strategische
Konzepte etc.) sterben statt Menschen!
* * *
- 32 -
7.4 Die Ziele nach der Afghanistan-Konferenz (London, 28. Januar 2010)
Das Konzept der Bundesregierung für Afghanistan nennt folgende Schwerpunkte: (64)
(1)
Erhöhung der Anzahl der Soldaten der Bundeswehr
Das Bundeswehrkontingent soll um weitere 850 Soldaten von derzeit
4500 auf 5300 Soldaten aufgestockt werden. 500 der 850 zusätzlichen Soldaten
sollen
(a) zum Schutz der Bevölkerung und
(b) für eine verstärkte Ausbildung der afghanischen Streitkräfte
eingesetzt werden.
350 Soldaten sollen als Reserve für besondere Aufgaben bereit stehen. Gedacht
ist hierbei zum Beispiel an die Absicherung der im Herbst in Afghanistan vorgesehen Parlamentswahlen. Einsätze dieser Reserve sind, so die Auflage, mit
dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages abzustimmen.
Auf die Konsequenzen, die sich aus dem Ziel „Schutz der Bevölkerung“
für die Bundeswehr ergeben, soll in einem nachfolgenden Kapitel
gesondert eingegangen werden.
(2)
Ausbildung und Aufbau der afghanischen Nationalarmee (ANA)
Durch Umstrukturierung und Neuverteilung von Aufgaben soll die Bundeswehr 1400 Soldaten (statt wie bisher 280) für die Ausbildung der afghanischen
Streitkräfte bereitstellen. Derzeit verfügt Afghanistan über 180 000 Soldaten.
Bis Oktober 2011, so das ehrgeizige Ziel, sollen die Sicherheitskräfte (also
Militär plus Polizei) auf bis zu 305 000 Mann ansteigen.
(3)
Verstärkung der Ausbildung der Polizei (ANP)
Deutschland stellt seither 123 Ausbilder für die Polizei Afghanistans. Diese
Anzahl soll auf 200 erhöht werden. Die deutschen Ausbilder sollen je zur
Hälfte vom Bund und von den Ländern gestellt werden. Ziel ist es, jährlich
etwa 5000 afghanische Polizisten zu schulen. Das heißt, die deutschen
Ausbilder sollen in Lehrgängen von acht bis zehn Wochen Dauer den
künftigen afghanischen Polizisten eine Art Grundausbildung vermitteln.
Im Oktober 2011 soll die Stärke der „Afghan National Police“ (ANP)
auf 134 000 einheimische Polizisten angestiegen sein.
Die Bundesregierung will außerdem das deutsche Kontingent für die Polizeimission der EU (Eupol) von zurzeit 45 auf 60 Beamte erhöhen und darauf
drängen, dass auch Eupol mehr für die Ausbildung tun wird. (65)
(4)
Aufstockung der zivilen Hilfsmittel
Die Bundesregierung will die zivilen Hilfsmittel für Afghanistan massiv
aufstocken. So soll der Entwicklungsetat bis zum Jahr 2013 jährlich jeweils
430 Millionen Euro betragen. Das sind 210 Millionen Euro mehr als
ursprünglich veranschlagt.
„Mit dem Geld soll laut einem Arbeitspapier der Koalition eine
‚Entwicklungsoffensive’ für Nordafghanistan gestartet werden. Ziel ist es,
schnell mehr Menschen mit Projekten zu erreichen und die Infrastruktur
aufzubauen.“ (66)
- 33 (5)
Fonds zur Reintegration von Taliban-Kräften
Dieses Reintegrationsprogramm soll von der Regierung Afghanistans durchgeführt werden. Es soll den Talibankämpfern eine Chance zum Ausstieg
geben. Das Programm wird Jobs und finanzielle Hilfen anbieten sowie
Angebote für Ausbildungen schaffen. Voraussetzungen dafür sind
allerdings, dass diejenigen, die bereit zum Ausstieg sind, der Gewalt und
dem Terror abschwören, alle alten Verbindungen zu al-Qaida abbrechen und
versprechen, künftig die Verfassung Afghanistans anzuerkennen.
Für dieses Projekt wird die westliche Staatengemeinschaft einen gemeinsam
verwalteten Fonds einrichten, dessen angestrebte Höhe 500 Millionen Dollar
in fünf Jahren betragen soll. Deutschland beabsichtigt, jährlich 10 Millionen
Euro in diesen Fonds einzuzahlen, also insgesamt 50 Millionen Euro. (67)
(6)
Forderungen an die afghanische Regierung
Der in London besprochene Fahrplan sieht unter anderem vor, dass in
einzelnen Provinzen noch in diesem Jahr die Verantwortung für die Sicherheit
an die afghanische Seite übertragen werden kann. Ab 2011 soll mit dem Abzug
der internationalen Truppen begonnen werden. Die Teilnehmer der Londoner
Afghanistan-Konferenz gehen in ihrer Einschätzung außerdem davon aus, dass
bis 2014 die Verantwortung über das gesamte Land an die Regierung in Kabul
abgegeben werden könne.
Die Bundesregierung verknüpft mit den Afghanistan zugesagten Hilfen auch
die Bedingung, „dass sich die afghanische Regierung stärker beim Kampf
gegen die Korruption engagiert. In London gelobte Hamid Karsai, die Arbeit
einer unabhängigen Anti-Korruptions-Kommission zu unterstützen“. (68)
7.4.1 Probleme und Fragen
(a)
Aufbau der Sicherheitskräfte
Wenn die „Abzugsperspektive“ für die Truppen der westlichen Allianz ab Juli
2011 eine realistische Option sein soll, muss das für Afghanistan vorgesehene
Konzept der „selbsttragenden Sicherheit“ bis dahin zumindest ansatzweise
verwirklicht sein. Es gibt allerdings erhebliche Zweifel, ob und wann die
afghanischen Streitkräfte und die Polizei dazu in der Lage sein werden.
Eine Studie der angesehenen Stiftung Wissenschaft und Politik über die
afghanische Nationalarmee, die Ende 2009 vorgestellt wurde, kommt zu dem
Ergebnis, dass die Sicherheitskräfte am Hindukusch noch weit davon entfernt
seien, „Ruhe und Ordnung“ zu gewährleisten.
Seit 2007 sei zwar die Zahl der ausgebildeten Soldaten verdreifacht worden
und inzwischen auf 94000 Mann angewachsen. Und auch die Rate der
unerlaubten Entfernungen von der Truppe hätte sich von 33 % im Jahr 2006
auf 9 % im Jahr 2009 verringert. „Gleichwohl sei der Staat noch weit davon
entfernt, das Gewaltmonopol beanspruchen zu können. Persönliche Loyalitäten
und Stammestraditionen zählten deutlich mehr als nationale Einrichtungen.“
(69)
Ein wichtiges Ziel der Ausbildung müsse es in Zukunft sein, mehr
Verantwortungsgefühl zu wecken. So würden Ausrüstung und Waffen zum
Teil mutwillig beschädigt oder landeten auf dem Schwarzmarkt. „Stammes-
- 34 -
krieger, die einem archaischen Ehrenkodex folgten, könnten nicht kurzerhand
zu Staatsbürgern in Uniform werden – zumal wenn die Uniformen fehlten.“
(70)
Eine Bewertung, die durch weitere Erfahrungen bestätigt wird: „Besonders
die hohe Analphabetenrate und die geringe Verlässlichkeit der afghanischen
Uniformierten macht den Ausbildern bei der Suche nach geeigneten
Kandidaten zu schaffen.“ (71)
Auch hinsichtlich der Ausbildung der afghanischen Polizei gibt es gravierende
Probleme, nachdem die Bundesregierung die Situation in Afghanistan „als
nicht internationalen bewaffneten Konflikt“ (d.h. als „Bürgerkrieg“) eingestuft
hat. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) hat aufgrund dieser Neubewertung
Bedenken gegen die Fortsetzung der Mission angemeldet. „In einem Kriegsgebiet hat die Polizei nichts zu suchen“, so der GdP-Chef Konrad Freiberg
gegenüber der Süddeutschen Zeitung. (72)
Die Frage, wer Armee und Polizei in Afghanistan ausbilden soll, wird auch
künftig eine große Sorge von James Jones, dem Nationalen Sicherheitsberater
von US-Präsident Obama bleiben: „Diese Frage bereitet uns große Sorgen. Der
Aufbau einer funktionstüchtigen Polizei wird Jahre in Anspruch nehmen. Wir
brauchen mindestens 1700 zusätzliche Ausbilder, vor allem für die Polizei.
Denn die Polizei muss überall präsent sein, vor allem in den Dörfern. Nur so
können die Menschen ein Gefühl von Sicherheit entwickeln.“ (73)
(b)
Aufstockung der Hilfsmittel
Der britische Premierminister Gordon Brown betonte bei der Konferenz in
London, dass es neben der Aufstockung des Militärs eine Aufstockung der
zivilen Mittel geben werde. „Stabilisierungsteams“ sollen in den von TalibanKämpfern befreiten Gebieten mit ihren Hilfsprojekten beginnen. (74)
Die deutsche Entwicklungshilfe werde sich künftig, so Minister Dirk Niebel,
„sehr konzentriert dort engagieren, wo wir auch militärisch Verantwortung
tragen.“ Also im Norden des Landes. Auch sollen die finanziellen Zusagen für
die Hilfsverbände an die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Bundeswehr
gekoppelt sein. Die Hilfsorganisationen, die „eine besondere Bundeswehrferne
pflegen wollen, müssen sich andere Geldgeber suchen.“ (75)
Die Vorstellungen der Bundesregierung stoßen bei den unabhängigen Hilfsorganisationen auf massive Kritik. Denn gerade die Unabhängigkeit der
humanitären Hilfe sei, so betont zum Beispiel Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international, die zentrale Voraussetzung für ihren Erfolg.
Für die Bevölkerung müsse der Unterschied zwischen Soldaten und
Aufbauhelfern erkennbar bleiben. Außerdem gerieten die Hilfsorganisationen
durch die Nähe zu den Kampftruppen selbst mehr in Gefahr. Und letztlich
bedeute ein Einsatz der Hilfsorganisationen nur in dem Bereich, in dem die
Bundeswehr im Einsatz ist, „eine regionale Ungleichverteilung der Unterstützung für die afghanische Bevölkerung.“ (76)
Verteilung und Kontrolle der Finanzhilfen sind zudem mit großen Problemen
- 35 -
verbunden. Heinrich Langerbein, von 1965 bis 1997 im Bundesministerium für
Wirtschaftliche Zusammenarbeit tätig und zuletzt für Südostasien zuständig,
stellt in seiner Bewertung fest: (77)
Viele Hilfsmittel konnten wegen der Unsicherheit in bestimmten Regionen, in
denen die Not am größten ist, bisher überhaupt nicht eingesetzt werden. Zudem
fehle es an Experten, die bereit sind, im Land zu arbeiten. Dadurch sei
eine qualifizierte Planung und Umsetzung der Projekte weitgehend unmöglich.
Mit dem Land Afghanistan werde immer das Wort Korruption in Verbindung
gebracht. Dabei sei allerdings zu bedenken: „Das besonders Bedrohliche an der
afghanischen Korruption aber liegt in dem Umstand, dass die Entwicklungshilfe am Staat vorbei geleistet wird. Die Gelder fließen damit weitgehend in
die den Staat bedrohenden Gruppen: Taliban, Milizen, Warlords, OpiumBarone und Banditen.“ (Vgl. 77)
Hamid Karsai verwies bei der Londoner Konferenz darauf, dass 80 Prozent der
Gelder für Entwicklungshilfe an der Regierung vorbei ausgegeben werden und
schlug vor: „Statt sich auf die internationale Hilfsbürokratie zu verlassen,
sollten die Anstrengungen der Afghanen unterstützt werden.“ (78)
Die Konferenzteilnehmer stellten dem Präsidenten in Aussicht, dass künftig 50
Prozent der Mittel für Entwicklung über den afghanischen Haushalt
ausgegeben werden sollen. Bei dieser Zusage, so ist zu vermuten, mögen die
Konferenzteilnehmer an ihre Forderungen zur Eindämmung der Korruption
auch auf Regierungsebene gedacht haben.
(c)
Zum Projekt „Wiedereingliederung und Versöhnung“
Beide Begriffe sind nicht klar voneinander abzugrenzen. Wiedereingliederung kennzeichnet einen mehr individuellen Prozess: die Abkehr von
Gewalt und die Bereitschaft zu einem Neuanfang im Rahmen der bestehenden
politischen Verhältnisse.
Versöhnung zielt dagegen mehr darauf, unterschiedliche Gruppierungen an
einem Prozess zur Gestaltung des Friedens in Afghanistan zu beteiligen.
Dass Gespräche mit denjenigen geführt werden sollen, die bereit sind, der
Gewalt abzuschwören, ist eine Erkenntnis, die heute von allen politisch
Verantwortlichen geteilt wird.
In einer Erklärung des Auswärtigen Amtes zur Londoner AfghanistanKonferenz nennt Außenminister Guido Westerwelle als ein Ziel der
Bemühungen: „Wir wollen, dass junge Männer, die nicht Ideologen und
fundamentalistische Terroristen sind, eine Chance bekommen, in die
afghanische Gesellschaft zurückzukehren.“ (79)
(Wobei der Begriff „Gesellschaft“ nur mit großem Vorbehalt auf die Sozialstruktur Afghanistans angewendet werden kann.)
Es ist sicherlich auch vernünftig, nicht von den Taliban auszugehen. Denn sie
bilden keine homogene Gruppierung. Man wird zu unterscheiden haben
zwischen denen, die ideologische Ziele verfolgen und Afghanistan zum
Rückzugsort für Terrorgruppen machen wollen (wie zum Beispiel al-Qaida)
und denen, die man als „moderate Taliban“ bezeichnen könnte. Denn „viele
der derzeitigen Taliban-Kämpfer sind junge Männer unter 25 Jahren, die
- 36 -
einfach keinen Job haben. Denen bieten die Taliban Geld, Arbeit und
Ernährung, das macht sie so attraktiv. Diese Männer könnte man als ‚moderate
Taliban’ bezeichnen, sie haben keine ideologische Agenda. Diese könnten
durchaus für Angebote der afghanischen Regierung und des Westens
aufgeschlossen sein.“ (80)
Die „moderaten Taliban“ wären somit auf der einen Seite eines weiten
Spektrums als ein möglicher Gesprächpartner anzusiedeln.
Schwieriger wird es, wenn man den Prozess der Versöhnung betrachtet und
fragt, welche Gruppierungen auf der anderen Seite des Spektrums als mögliche
Verhandlungspartner angesehen werden könnten. Bei dieser Frage gehen die
Meinungen weit auseinander. Bernd Mützelburg, der deutsche AfghanistanBeauftragte, bekam „kürzlich im Auswärtigen Ausschuss ordentlich Schelte,
als er vorschlug, man müsse auch das Undenkbare denken und mit den
ungeliebten und brutalen Warlords vergangener Tage verhandeln.“ (81)
Der Engländer Mark Sedwill, neuer Nato-Sondergesandter in Afghanistan,
vertrat bei der Londoner Konferenz die Auffassung, man müsse letztlich auch
mit „ziemlich widerlichen Gestalten“ reden. Allerdings markierte der
afghanische Außenminister Spanta bei der abschließenden Pressekonferenz
eine klare Grenze, als er feststellte, dass es nicht darum gehen werde, mit den
Taliban die Macht zu teilen. (82)
Präsident Hamid Karsai plant eine traditionelle afghanische Versammlung
(Dschirga), um über eine mögliche Gestaltung des Friedensprozesses zu reden.
Außerdem haben Pakistan und Saudi Arabien signalisiert, als mögliche
Vermittler bereitzustehen.
Die neue Offenheit gegenüber den Taliban, so urteilt DER SPIEGEL, „ist
der Einsicht geschuldet, dass ein militärischer Erfolg der Isaf-Soldaten nicht
möglich ist. Es ist ein Sieg der Realpolitiker über die Idealisten. Der USSondergesandte Richard Holbrooke sprach von einem längst überfälligen
Schritt.“ (83)
(d)
Zu den Erwartungen an die Regierung Karsai
Der afghanische Präsident Hamid Karsai beteuerte, die an ihn gerichteten
Erwartungen und Forderungen erfüllen zu wollen: das Spektrum reicht von
einer „guten Regierungsführung“ über den Aufbau der Sicherheitskräfte,
die Bereitschaft zur Übernahme der Verantwortung bis hin zur Bekämpfung
der Korruption.
Die afghanische Regierung habe sich noch nie so konkret festgelegt, soll es
in der deutschen Delegation nach der Afghanistan-Konferenz geheißen haben.
(Vgl. 83)
Bleibt zu hoffen, dass die Erfolge Omar Zakhilwals, seit Februar 2009
neuer afghanischer Finanzminister, anhalten. Er verkündete, „dass die
Einnahmen seines Ministeriums 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 60
Prozent gestiegen seien, nachdem er Steuerhinterziehung und Zollbetrug
eingeschränkt hatte.“ (84)
Und es bleibt zu wünschen, dass dieses Beispiel dazu beitragen möge, ein
afghanisches Vorurteil aufzubrechen, dass nämlich Korruption in
Afghanistan eine stärkere Bedrohung sei als der Terrorismus.
- 37 -
7.4.2 Die Afghanistan-Konferenz: eine Bewertung
Die Bewertung der Konferenz fällt, wie könnte es anders sein, sehr unterschiedlich aus.
Bei allen Bewertungen wird darüber hinaus deutlich, dass mit denselben Begriffen von den
jeweiligen Benutzern ganz unterschiedliche Inhalte gemeint sein können. Es ist in der
politischen Diskussion ganz offensichtlich nicht gelungen, die verwendeten Begriffe zu
präzisieren, um mit ihnen einen von allen Beteiligten geteilten Sinn zu verbinden.
So stiften die Begriffe Konzept, Konzeption, Ansatz, Strategie oder strategischer
Neuanfang ein heilloses Durcheinander.
Bewertungen:
- Außenminister Guido Westerwelle bezeichnet das von der Bundesregierung
beschlossene Konzept als „ein Konzept des Neuanfangs und der neuen politischen
Strategie“. (85)
- DER SPIEGEL kommt zu einer anderen Bewertung: „Briten-Premier Brown feiert die
Ergebnisse der Londoner Afghanistan-Konferenz als ‚Moment der Entscheidung’. Doch
die Erfolgsaussichten sind vage, wichtiger als die Beschlüsse war der psychologische
Effekt für die kriegsmüden Nato-Staaten.“ (86)
- Und DIE LINKE sieht in den Ergebnissen der Konferenz eine Weichenstellung in die
falsche Richtung: „Statt sich immer neue Kriegsstrategien und die zugehörigen
Verschleierungstechniken auszudenken, sollte die Bundesregierung auf eine
diplomatische und zivile Lösung des Afghanistankonflikts hinarbeiten. Höchste Priorität
haben dabei der Abzug der ausländischen Truppen und die Unterstützung innerafghanischer Verhandlungen über einen Friedens- und Versöhnungsprozess.“ (87)
Eine distanzierte Betrachtung jenseits von Euphorie und völliger Ablehnung führt aus
meiner Sicht zu folgender Bewertung der Ergebnisse:
(1) Die Konferenz hat keine wirklich neuen Ziele oder Schwerpunkte genannt.
Alle Ziele, wie sie in London formuliert wurden, sind bereits Bestandteile der neuen
US-Strategie. Das wird besonders deutlich, wenn man neben der Dokumentation der
Rede des amerikanischen Präsidenten die zusätzlichen Erläuterungen des Weißen
Hauses mit einbezieht. (88) Darin wird neben der militärischen die „zivile USStrategie“ dargestellt und erläutert. Diese zivile Strategie benennt zum Beispiel
folgende Schwerpunkte: den Wiederaufbau der Landwirtschaft und damit das Schaffen
von Arbeitsplätzen, die finanzielle Förderung von Bauern und die Wiedereingliederung
von Extremisten. Ziele, die nicht erst bei der Konferenz in London entwickelt wurden.
Die taz kommt bei der Betrachtung der Londoner Ergebnisse zu folgendem Urteil, das
auch aus meiner Sicht zutreffend ist: „De facto verpflichten sich die knapp 60
teilnehmenden Staaten mit der Konferenz zur Unterstützung der Afghanistanpolitik der
US Regierung von Barack Obama und seines Generals McChrystal.“ (89)
(2) Die Konferenz nennt keine politischen Initiativen, um das militärische Engagement
einzudämmen und die Probleme Afghanistans auf friedliche Weise zu lösen. Die Frage,
auf welche Weise andere Staaten (so unter anderem Russland, Indien, Pakistan, China
sowie die Nachbarstaaten Afghanistans) intensiver bei der Lösung der Konflikte
einbezogen werden können, wird – jedenfalls öffentlich - nicht gestellt.
- 38 -
(3) Ebenso bleiben weitere zentrale Fragen ausgeklammert: Woher und auf welchen
Wegen erhalten die Aufständischen in Afghanistan Waffen und anderes Kriegsmaterial?
Wie können diese Nachschubwege beeinträchtigt werden? Welche Länder und welche
international tätigen Firmen und Konzerne verdienen an diesem Krieg?
(4) Bei aller Bereitschaft anderer Staaten, sich nach dem Prinzip des „burden-sharing“
an den Lasten der Afghanistan-Mission zu beteiligen, bleibt festzuhalten: Die USA
tragen die Hauptlast des Krieges in Afghanistan. Sie entsenden die meisten Truppen,
tragen die größten finanziellen Belastungen.
Amerika hat darüber hinaus noch eine weitere, überaus große Last alleine zu tragen: das
Problem „Pakistan“. Dieses Thema stand nicht auf der Tagessordnung der Londoner
Afghanistan-Konferenz. Die ISAF-Mission ist an Afghanistan gekoppelt. Das kann
jedoch nicht bedeuten, vor den Problemen, die mit Pakistan verbunden sind, die Augen
zu verschließen.
Der amerikanische Präsident hat immer von einer Regionalstrategie gesprochen und
dabei Afghanistan und Pakistan einbezogen. Auch die neue US-Strategie betrachtet
beide Länder. Die Begründung hierfür ist einleuchtend. Zum einen ist die Grenzregion
zwischen Afghanistan und Pakistan das Rückzugs- und Operationsgebiet von al-Qaida
und Taliban. Hier erfolgen die Planungen und von hier aus wird ein Großteil der
Angriffe in Afghanistan eingeleitet und ausgeführt.
Zum anderen ist Pakistan eine Atommacht, die über etwa 100 Atomsprengköpfe
verfügen soll. Terroristen und Atomwaffen, ein Albtraum. Doch eine solche Gefahr
sehen viele Menschen, die nicht im Verdacht stehen, Panik auslösen zu wollen. So
warnte beispielsweise Mitte 2009 der damalige Chef der Internationalen
Atomenergiebehörde und Friedensnobelpreisträger Mohammed el-Baradei eindringlich
vor dieser „derzeit größten Bedrohung“. Eine derartige Bombe in der Hand von
Terroristen könnte Hunderttausende in einer Großstadt in den Tod reißen. (90)
Und der Harvard-Professor Graham Allison, Autor des Buches über Nuklearterrorismus
stellt fest: „Verfolgt man Massenvernichtungswaffen und Terrorismus, kreuzen sich alle
Wege in Pakistan. (Vgl. 90)
Zwar wiegeln Experten ab und bezweifeln, dass den Terroristen Atombomben in die
Hände fallen könnten. Es sei allerdings nicht auszuschließen, dass extremistische
Gruppen in der Armee versuchen könnten, einige Waffen in ihre Kontrolle zu bringen.
(5) Zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan gibt es Widersprüche. In der neuen
US-Strategie ist der Auftrag der Streitkräfte eindeutig festgelegt. Dort wird von einem
gezielten Bekämpfen der Aufständischen und einem Absichern der wichtigsten
Bevölkerungszentren gesprochen. Dagegen betont der deutsche Verteidigungsminister
Karl-Theodor zu Guttenberg den defensiven Charakter der neuen Strategie, wenn er
feststellt: „Wir reden nicht von offensiven Maßnahmen“ (91)
Auf diese Widersprüche soll im folgenden Kapitel eingegangen werden, wenn es um die
Betrachtung des Auftrages der Bundeswehr in Afghanistan und die damit verbundenen
Probleme geht.
* * *
- 39 -
7.5 Die Bundeswehr in Afghanistan
7.5.1 Der rechtliche Hintergrund
Bei den Militäroperationen in Afghanistan sind zwei Missionen zu unterscheiden:
(1) OEF (Operation Enduring Freedom) und
(2) ISAF (International Security Assistance Force).
(1) OEF
Die Mission OEF gilt als unmittelbare Reaktion auf die Terroranschläge vom 11.
September 2001 auf das World-Trade-Center in New York und das Pentagon in
Washington.
1.1 Allgemeine Rechtsgrundlagen: (92)
- Das Recht auf Selbstverteidigung durch die USA nach Art. 51 der UN-Charta.
- Der NATO-Rat beschließt am 12.09.2001, dass die Terroranschläge als Angriff
auf die USA zu werten sind und bekräftigt am 04.10.2001 die Beistandspflicht
der Bündnispartner gem. Nordatlantikvertrag, Art. 5.
- die OEF stützt sich zudem im Kampf gegen den Terrorismus besonders auf die
beiden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates 1368 und 1378.
1.2 Rechtsgrundlagen der Bundeswehr:
- Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 24, Absatz 2 (Einordnung in
ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit).
- Verfassungsgerichtsurteile:
(a) Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 12.07.1994 (Notwendige konstitutive
Zustimmung des Bundestages für einen auswärtigen bewaffneten Einsatz der
Bundeswehr; („AWACS I“).
(b) Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 25.03.2003 (Bundestagszustimmung zur
Entsendung von AWACS- Flugzeugen der NATO in die Türkei („AWACS II“).
(c) Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParlBG). (Damit wird die Form und das Ausmaß der
Parlamentsbeteiligung an Auslandseinsätzen der Bundeswehr gesetzlich näher
ausgestaltet).
(2) ISAF
2.1 Allgemeine Rechtsgrundlagen:
Grundlage für das ISAF Mandat in Afghanistan ist Kapitel VII der UN-Charta.
Darauf stützen sich mehrere Resolutionen, von denen hier die wichtigste, die UNResolution 1386 (2001), genannt werden soll. (93)
2.2 Rechtsgrundlagen der Bundeswehr:
Wie oben bei OEF unter Punkt 1.2 aufgeführt.
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7.5.1.1 Einwände und Fragen
Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht, gilt als Experte für Verfassungs-,
Verwaltungs- und Völkerrecht. In einem Interview antwortete er auf die Frage, wie er die
rechtliche Grundlage des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan bewertet: „Ihre Frage zielt
zum einen auf das geltende Völkerrecht und zum anderen auf das innerstaatliche Recht,
also auf die deutsche Verfassung, das Grundgesetz. In beiderlei Hinsicht werfen die
militärischen Kampfeinsätze der Bundeswehr und der Verbündeten in Afghanistan
gravierende rechtliche Probleme auf. Analysiert man diese, so gelange ich zu der
Schlussfolgerung, dass weder eine hinreichende völkerrechtliche noch eine hinreichende
verfassungsrechtliche Grundlage für diese Einsätze vorhanden sind.“ (94)
Deiseroths Bedenken gelten zum einen den militärischen Aktionen im Rahmen der
„Operation Enduring Freedom“ (OEF). Er hält es für zweifelhaft, ob die völkerrechtlichen
Voraussetzungen damals nach 9/11 vorlagen. Und heute ist eine Berufung auf das
Selbstverteidigungsrecht des Art. 51 der UN-Charta nach seiner Ansicht nicht
gerechtfertigt. „Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das (militärische)
Selbstverteidigungsrecht, wie es in Artikel 51 der UN-Charta gewährleistet ist, überhaupt
nur in Anspruch genommen werden darf, wenn ein Staat militärisch angegriffen wird („if an
armed attack occurs“). Es muss sich also um einen gegenwärtigen militärischen Angriff
handeln, der gerade erfolgt ist oder unmittelbar gegenwärtig bevorsteht. Dieses
Selbstverteidigungsrecht darf sich außerdem nur gegen den Staat richten, der den Angriff
geführt hat oder dem er zumindest zurechenbar ist.“(95)
Nach der Darstellung der US-Regierung und dem offiziellen Bericht der von dem
damaligen Präsidenten George W. Bush eingesetzten Untersuchungskommission handelt es
sich bei 9/11 jedoch nicht um den Angriff eines Staates. Es war eine Verschwörung von
Attentätern. Sie kamen aus Saudi Arabien und anderen arabischen Staaten sowie aus
Hamburg, also aus verbündeten Staaten. Afghanen befanden sich offenbar nicht unter den
Tätern. Die mutmaßlichen rund 20 Attentäter in den vier von ihnen gekaperten Flugzeugen
haben die Anschläge nicht überlebt. Von diesen toten Tätern konnte somit kein weiterer
Anschlag oder Angriff auf die USA verübt werden, gegen den das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 der UN-Charta (noch) hätte ausgeübt werden können.
„Bei den Tätern von 9/11 und ihren Mit-Verschwörern – wer auch immer diese waren –
handelte es sich um kriminelle Straftäter. Es ging um organisierte terroristische
Kriminalität. Auch wenn es sehr mühsam und schwierig ist, terroristische, also kriminelle
Täter zu ermitteln, vor Gericht zu stellen und den Nachweis ihrer individuellen Schuld zu
führen, rechtfertigt dies nach geltendem Völkerrecht nicht, diese Schwierigkeiten dadurch
zu umgehen, dass man stattdessen das Militär einsetzt und sich auf das Selbstverteidigungsrecht beruft.“ (…) „Wenn man die Behauptung aufstellt, Bin Laden trage die
Verantwortung für den Terror von 9/11, dann ist man in der Beweispflicht, Man hätte sich
jedenfalls um seine Auslieferung ernsthaft bemühen und ihn dann vor ein unabhängiges
Gericht stellen müssen.“ (96)
Die amerikanische Regierung habe zwar über Saudi-Arabien ein Auslieferungsbegehren an
das Taliban-Regime übermittelt. Man ließ allerdings den Taliban nur wenige Tage Zeit,
dem zu entsprechen. Nach Bewertung seriöser Medien (wie z.B. des SPIEGEL) hatten die
Taliban im September/Oktober 2001 die Auslieferung Bin Ladens angeboten, falls Beweise
für seine Tatverantwortlichkeit vorgelegt würden. Er müsse dann allerdings vor einem
- 41 -
internationalen Gericht oder vor einem Gericht eines neutralen Staates angeklagt werden, so
die Forderung der Taliban. „Präsident Bush jun. und seine Regierung haben dieses Angebot
damals rundweg abgelehnt und stattdessen einen Krieg angefangen.“ (97)
Deiseroths Bedenken gelten zum andern der Teilnahme Deutschlands an den ISAFEinsätzen. Die im Dezember 2001 begonnene ISAF-Mission und die ihr zugrunde liegende
UN-Resolution (sowie alle Folgeresolutionen) sollten der Umsetzung des „PetersbergAbkommens“ vom 5.12.2001 dienen. „Dessen demokratische und völkerrechtliche
Legitimation ist jedoch in hohem Maße zweifelhaft.“ (98)
Die Teilnehmer an der Petersberg-Konferenz waren, so Deiseroth, „handverlesen“.
Soll heißen: von der amerikanischen Administration und der gastgebenden deutschen
Regierung ausgewählt. Andere blieben ausgeschlossen. Diese „Handverlesenen“ wurden
von den Organisatoren der Konferenz „als berechtigt ausgegeben, ein völkerrechtliches
Dokument („Petersberger-Abkommen“) zu unterschreiben, obwohl sie hierzu von der
afghanischen Bevölkerung zu keinem Zeitpunkt ermächtigt oder legitimiert waren.
Darin wurde eine Übergangsregierung mit einem Interimspräsidenten Karsai an der Spitze
installiert, einem afghanischen Feudalherrn, (…) der zuvor für das US-Ölimperium
Unilocal tätig war und über enge Kontakte zum US-amerikanischen Geheimdienst verfügte.
Unmittelbar darauf gelang es den interessierten Mächten unter Führung der USAdministration, hierfür im UN-Sicherheitsrat eine Billigung zu finden. Die afghanische
Bevölkerung hatte keinerlei Chancen, Alternativen zu entwickeln.“ (99)
Auch bei späteren politischen Prozessen wurde, so Deiseroth weiter, das Selbstbestimmungsrecht der afghanischen Bevölkerung missachtet. Die Etablierung des Karsai-Regimes
sei von massiven Einmischungen vor allem der Bush-Administration geprägt gewesen. Bei
der Verfassungsversammlung („Verfasungs-Loya-Dschirga“) soll es zu korruptiven
Geldzuwendungen und Einschüchterungen von Oppositionellen gekommen sein. Auch die
nachgewiesenen Wahlfälschungen bei der jüngsten Präsidentenwahl belegen das Ausmaß
der allseits konstatierten Korruption.
„Eine Politik, die ein solches Regime als Protektorat durch ausländische Interventionsmächte (USA und NATO- Staaten) mit Hilfe der ISAF-Verbände etabliert und seitdem
auch stützt, ist mit dem Selbstbestimmungsrecht der afghanischen Bevölkerung
schwerlich zu vereinbaren. Den Vorgaben des Friedensgebotes des Grundgesetzes und
dem auch in der UN-Charta verankerten Selbstbestimmungsrecht der Völker, nämlich
frei und ohne Einmischung durch andere Staaten über den eigenen politischen Status zu
entscheiden und die eigene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung frei zu
gestalten, entspricht sie nach meiner Auffassung nicht.“ (100)
Hinzuweisen ist noch auf einen Artikel Deiseroths mit der Überschrift: „Deutschlands
‚Kampfeinsatz’. Jenseits des Rechts.“ Der Artikel erschien in der Frankfurter Rundschau
(www.fr-online.de). Es handelt sich um einen Vorabdruck eines Artikels für die „Blätter für
deutsche und internationale Politik im Dezemberheft 2009).
Den Bewertungen Deiseroths steht die Position einer Reihe anderer Verfassungs- und
Völkerrechtler gegenüber, deren Argumentation die damalige Bundesregierung von der
Rechtmäßigkeit des Einsatzes in Afghanistan offensichtlich überzeugte.
Es bleibt allerdings zu fragen, weshalb die Kritik Deiseroths in der politischen Diskussion
in Deutschland um die rechtlichen Grundlagen des Bundeswehr-Einsatzes keine Rolle zu
spielen scheint.
- 42 -
7.5.2 Aufgaben von OEF und ISAF
Der Einsatz der Bundeswehr an den OEF-Aktionen ist vom deutschen Parlament auf
Verwendungen außerhalb Afghanistans beschränkt. Er besteht vor allem in dem Einsatz von
Marineeinheiten zur Seeraumüberwachung und zum Schutz der Verbindungslinien auf See
im Mittelmeer und am Horn von Afrika.
Das ehemals für die OEF-Mission vorgesehene KSK (Kommando Spezialkräfte) wird nach
Angaben des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Jung seit 2005 nicht mehr für
OEF-Aufgaben in Afghanistan eingesetzt, sondern nur noch im Rahmen der von der NATO
geführten ISAF. (101)
Allerdings macht das folgende Zitat von Franz Josef Jung deutlich, dass das Kommando
Spezialkräfte auch nach Eingliederung in die ISAF weiterhin Terroristen ins Visier nehmen
könne: „Das heißt aber nicht, dass die Elitesoldaten aus Afghanistan abgezogen werden,
weil sie auch zur Terrorbekämpfung im Rahmen des ISAF-Mandates einsetzbar sind.“
(102)
Nach Medienberichten sollen KSK-Männer an den von einem Bundeswehr-Oberst
angeforderten Bombenangriffen auf die beiden im Fluss Kundus steckengebliebenen
gekaperten Tanklastwagen der Bundeswehr in der Nacht zum 04. September 2009 beteiligt
gewesen sein.
Bei den Einsätzen in Afghanistan scheint es immer schwieriger zu sein, zwischen den
beiden Missionen OEF und ISAF zu unterscheiden. Die Formulierung, die OEF sei gegen
Terroristen, die ISAF gegen Aufständische gerichtet, war so eindeutig wohl noch nie eine
zutreffende Beschreibung der Realität. Seit Jahren unterstehen beide Missionen demselben
Kommando, an dessen Spitze heute der amerikanische General Stanley McChrystal steht.
Auf die Frage, weshalb der amerikanische Präsident mit den zusätzlichen 30 000 Soldaten
nur die Schutztruppe ISAF und nicht auch die Mission „Operation Enduring Freedom“
(OEF) verstärkt habe, soll der Afghanistan-Beauftragte des US-Präsidenten geantwortet
haben: „Das ist doch nur noch eine formale Frage, seit beide Truppen unter dem
Kommando eines Kommandeurs stehen.“ (103)
* * *
Für die Mission ISAF (International Security Assistance Force) ist die UN-Resolution
1386 von zentraler Bedeutung. Sie wurde auf der Grundlage des Art. VII der Charta der
Vereinten Nationen am 20. Dezember 2001 verabschiedet. (104)
Der Bundestag hat am 22. Dezember mit überwiegender Mehrheit die Entsendung
deutscher Soldaten nach Afghanistan gebilligt.
Die ISAF wird „autorisiert, zur Durchsetzung der Resolution 1386 alle erforderlichen
Maßnahmen einschließlich der Anwendung militärischer Gewalt zu ergreifen, um den
Auftrag durchzusetzen.“ (105)
- 43 -
7.5.3 Ziele der US-Strategie – Folgerungen für die Bundeswehr
(1) Ziele der US-Strategie
Die neue US-Strategie hat, wie in Kapitel 6 dargestellt, eine offensive Ausrichtung
(„Counter-Insurgency“). Das belegen die Ziele eindeutig, die der amerikanische Präsident
in seiner Rede an der Militärakademie in West Point am 01.Dezember 2009 formuliert hat.
Darin heißt es unter anderem:
- Die Schlagkraft der Taliban soll reduziert werden.
- Es muss ihnen die Fähigkeit genommen werden, die Regierung Afghanistans zu
stürzen.
- Die Aufständischen sollen gezielt bekämpft werden.
- Die wichtigsten Bevölkerungszentren sollen abgesichert werden (um ein erneutes
Einsickern der Taliban zu verhindern).
Es geht somit um zwei unterschiedliche militärische Missionen.
(a) Bekämpfung der Aufständischen
Bei diesen Einsätzen sollen die Aufständischen in den jeweiligen Regionen „bekämpft“
werden. Unschwer, sich vorzustellen, was damit gemeint ist: alle Maßnahmen, die im Krieg
erforderlich sind, um ein Gebiet von Feindeskräften zu „reinigen“ („clear“).
Die Kampfeinsätze sollen vorwiegend mit ISAF-Truppen und afghanischen Soldaten nach
dem Konzept des „partnerings“ gemeinsam durchgeführt werden. „Partnering“ steht für
eine Konzeption von Ausbildung und Training des afghanischen Militärs, die nicht mehr
nur in einem Camp stattfindet, sondern auch unter den Bedingungen von Kampfeinsätzen.
Das Modell des „partnerings“ soll künftig nach einer Entscheidung der Londoner
Afghanistan-Konferenz von allen NATO-Partnern angewendet werden. (106)
Mitte Februar 2010 begann in der im Süden Afghanistans gelegenen Region Helmand unter
dem Namen „Gemeinsam“ („Muschtarak“) die größte Offensive seit dem Sturz der Taliban
im Jahre 2001. Die afghanischen Soldaten stellten neben den amerikanischen und britischen
Truppen von den insgesamt 15 000 eingesetzten Soldaten das größte Kontingent.
Ein Sprecher des afghanischen Verteidigungsministeriums bewertete den bisherigen
Verlauf der Offensive folgendermaßen: Die Region Mardscha sei fast „gereinigt und
unsere Streitkräfte haben die Kontrolle inne.“ (107, Hervorhebung A.K.)
Bei dieser Offensive wurden durch eine fehlgeleitete Rakete zwölf Menschen getötet, neun
davon waren Zivilisten. Durch solche Vorfälle wird die Beziehung zu der Zivilbevölkerung
immer wieder empfindlich gestört. Außerdem wurde den auf ISAF-Seite teilnehmenden
Soldaten erneut deutlich, wie schwierig es ist, Aufständische von Zivilisten zu
unterscheiden.
(b) Absicherung der wichtigsten Bevölkerungszentren
Einsätze gegen Aufständische liefen in der Vergangenheit stets nach demselben Muster ab:
Die Aufständischen ziehen sich beim Erscheinen der ISAF-Truppen zurück und warten ab,
bis die westlichen Soldaten nach ein paar Tagen wieder abgezogen sind. Danach kehren sie
wieder zurück und drangsalieren die Dorfbewohner, die mit den westlichen Truppen
kooperiert haben.
Dieses Muster soll nun durchbrochen werden. Westliches Militär und afghanische Truppen
werden für längere Zeit in den „befreiten“ Gebieten bleiben, sie kontrollieren und eine
Rückkehr der Aufständischen verhindern („hold“).
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(2) Folgerungen für die Bundeswehr
Der Oberkommandierende der ISAF-Truppen in Afghanistan hatte bereits vor der Londoner
Afghanistan-Konferenz am 28. Januar 2010 seine Erwartungen an die Bundeswehr deutlich
formuliert. (108)
Der Norden Afghanistans sei, so General McChrystal, von strategischer Bedeutung und
entscheidend für die Stabilität im ganzen Land. Die Bundeswehr müsse, wie alle anderen
Truppen von ISAF, mit den höheren Risiken der neuen US-Strategie leben und dabei
helfen, die Taliban zu vertreiben. Dazu sei es vielleicht sogar erforderlich, die bisher von
den deutschen Truppen praktizierte Vorgehensweise zu ändern. Damit spielte der General
auf die Tatsache an, dass die Bundeswehrsoldaten in aller Regel nur mit schwer
gepanzerten Fahrzeugen auf Patrouille gehen.
Das Ziel der Aufständischen sei gerade darauf gerichtet, Situationen zu schaffen, die so
gefährlich erscheinen, dass die Sicherheitskräfte „in ihren Feldlagern bleiben, ihre
gepanzerten Fahrzeuge nicht mehr verlassen, kaum noch Kontakt zur Bevölkerung haben.
(…) Wenn die Aufständischen das schaffen, haben sie ihre Mission erfüllt.“ (109)
Die für den Norden Afghanistans eingeplanten US-Truppen (etwa 5000 Soldaten) seien
nicht dafür gedacht, die Deutschen zu ersetzen. Sie sollten vielmehr die Einheiten der
Bundeswehr ergänzen und unterstützen.
Was bedeuten die Ziele der neuen US-Strategie und die Erwartungen des Kommandeurs
der ISAF-Truppen für den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in
Afghanistan?
Deutschland hat sich, wie oben bereits erwähnt, ebenso wie alle anderen NATO-Partner bei
der Londoner Konferenz zur Anwendung des Konzeptes „partnering“ verpflichtet.
Die Bundeswehr wird also künftig zusammen mit afghanischen Soldaten in Einsätze gehen.
Dabei will sie sich auf acht Problem-Distrikte konzentrieren. Dazu zählt auch der Raum um
Kundus. (110)
Nach den Erläuterungen des neuen Generalinspekteurs Volker Wieker sollen „Afghanen
und Deutsche gemeinsam nach und nach die Problembezirke von Aufständischen befreien.
Dabei sollen die Afghanen auch lernen, die zurückgewonnenen Räume nachhaltig zu
sichern. Allerdings sollen die Bundeswehr-Soldaten, anders als etwa die Amerikaner, nicht
gemeinsam mit ihren afghanischen Kameraden untergebracht werden, sondern immer
wieder von frischen Kräften aus einem Feldlager abgelöst werden.“ (111)
Die Erläuterungen des Generalinspekteurs machen deutlich, dass sich das neue
Einsatzkonzept der Bundeswehr genau an den Zielen der neuen US-Strategie orientiert, wie
sie oben beschrieben worden sind: ein gezieltes Bekämpfen der Aufständischen, um
Regionen von den Taliban zu befreien („clear“) und ein Absichern der befreiten Regionen
(„hold“). Die Zusammenarbeit mit den afghanischen Truppen geschieht nach dem Konzept
des „partnering“.
So ergibt sich als einfache logische Folgerung:
(a) Da die neue US-Strategie eine eindeutig offensive Ausrichtung hat und
(b) die Bundeswehr mit ihrer neuen Einsatzplanung genau die Ziele der USStrategie anwendet, bedeutet dies:
(c) Die neue Einsatzplanung der Bundeswehr hat eine eindeutig offensive
Ausrichtung.
Damit verbunden ist aber auch ein größeres Risiko für die Soldaten der Bundeswehr.
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Die Aussagen von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und von
Generalinspekteur Volker Wieker bleiben bei dem Versuch einer Konkretisierung der neuen
Einsatzplanung verschwommen und widersprüchlich.
Minister und Generalinspekteur bekennen sich zu der Mission der Bundeswehr, zusammen
mit afghanischen Soldaten Einsätze (d.h. Kampfeinsätze!) durchzuführen. Und ebenso
dazu, das von Aufständischen befreite Gebiet nachhaltig zu sichern, was als „größere
Präsenz von Bundeswehr und afghanischem Militär in der Fläche“ bezeichnet wird.
Allerdings hat der deutsche Verteidigungsminister ein anderes Verständnis als die
amerikanische Führung, wenn es um die Nähe zu den afghanischen Soldaten bei den auf
Dauer angelegten Einsätzen geht: „Es ist nicht unser Ziel, mit den Afghanen Poncho und
Iso-Matte zu teilen“ (112). Genau das praktizieren die Amerikaner.
Die Bundeswehr-Soldaten sollen bei den Einsätzen allerdings nicht in provisorischen
Unterkünften auf freiem Feld oder in Dörfern untergebracht sein, sondern jeweils von
„frischen Kräften“ aus dem Feldlager abgelöst werden. Doch wie ein solcher Austausch der
deutschen Soldaten bei Kampfeinsätzen organisatorisch zu bewerkstelligen ist und welche
Gefahren damit verbunden sind, darüber gibt es keine Angaben.
Völlig unklar sind die Aussagen von Minister und Generalinspekteur auch bei der
Einschätzung des Risikos, das für die Soldaten der Bundeswehr mit der neuen US-Strategie
verbunden ist. Denn mit dem Bekämpfen der Aufständischen und einer größeren Präsenz in
der Fläche gehen, so würde ein jeder wohl annehmen, auch größere Gefährdungen einher.
Doch das neue Konzept bedeute „nicht zwingend weniger, aber auch nicht zwingend mehr
Gefahr“, so der Minister. „Aber er wolle der Öffentlichkeit auch klar sagen, dass
Afghanistan ein gefährlicher Einsatzort sei und dass es dort Verwundete und Gefallene
geben könne.“ (113)
Viele Aussagen bleiben widersprüchlich. Betont der Minister beispielsweise auf der einen
Seite den „defensiven Charakter der neuen Strategie“ (114), so gesteht er auf der anderen
Seite offen ein, dass die Soldaten der Bundeswehr die afghanischen Truppen bei Einsätzen
gegen die Aufständischen begleiten werden, was zweifellos den offensiven Charakter der
neuen US-Strategie offenbart.
So bleibt alles vage. „Doch wie genau nun die von Guttenberg angekündigte Nähe zur
Bevölkerung und größere Präsenz in der Fläche aussehen soll, darauf blieb der Minister
nach Auskunft mehrerer Abgeordneter auch in den zuständigen Ausschüssen des
Bundestags bislang die Antwort schuldig. An der Präzisierung des Konzepts werde noch
gearbeitet, heißt es im Verteidigungsministerium.“ (115)
Ebenso ungeklärt erscheint auch die Frage, ob die 5000 US-Soldaten, die der
Oberkommandierende der ISAF-Truppen für den Norden Afghanistans vorgesehen hat,
dem deutschen Regionalkommando unterstellt werden oder weiterhin unter amerikanischer
Befehlsgewalt verbleiben. “
Auch wenn der deutsche Außenminister Guido Westerwelle in einem Interview davon
ausgeht, dass die Unterstellungsverhältnisse eindeutig seien: „Der Generalinspekteur hat
ausdrücklich bestätigt, dass Deutschland die umfassende Führung für Isaf im Norden hat.“
(116)
Eine solche Einschätzung berücksichtigt nicht, dass General McChrystal Oberkommandierender für beide Missionen (ISF und OEF) ist. Eine Unterstellung der zusätzlichen USTruppen unter die Mission OEF wäre ebenso möglich und vorstellbar.
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(3) Kritische Stimmen zum neuen Einsatzkonzept der Bundeswehr
Knapp eine Woche vor der Londoner Afghanistan-Konferenz wird die ARD-Sendung
„Panorama“ am 21. Januar 2010 zum Forum der Ehemaligen. (117)
Zwei frühere Verteidigungsminister (Volker Rühe, CDU / Peter Struck, SPD) und zwei
hohe Generale a.D. (Klaus Naumann, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, und
Harald Kujat, Generalinspekteur) gehen mit der Afghanistan-Politik der Bundesregierung
hart ins Gericht. In ihre Kritik mischt sich die Sorge um die Soldatinnen und Soldaten der
Bundeswehr in Afghanistan.
Volker Rühe plädierte für eine deutlich höhere Aufstockung des Bundeswehrkontingents.
„Eine Größenordnung von 1000 Soldaten würde deutlich machen, dass Deutschland in der
Solidarität der NATO steht.“ Die Regierung habe viel zu lange so getan, so Rühe weiter, als
würden die deutschen Soldaten in Afghanistan bewaffnete Entwicklungshilfe leisten,
während die anderen Nato-Streitkräfte einen schmutzigen Krieg führten. „Mit dieser
Lebenslüge der deutschen Politik“ müsse nun Schluss sein. „Unsere Soldaten sind nicht in
Afghanistan, um für die Gleichberechtigung der Frau zu kämpfen.“ (118)
Peter Struck erinnerte an die Gründe für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Es
sei darum gegangen, so Struck, zu verhindern, dass die Taliban wieder die Macht ergreifen
und der Terrorismus von dort aus in die Welt exportiert wird. Der Satz „Deutschlands
Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt“, gelte nach wie vor. Und darauf müsse
sich die Bundesregierung besinnen. (119)
Klaus Neumann forderte in seinem Beitrag mehr Ehrlichkeit in der gegenwärtigen
politischen Debatte und mehr Rückhalt für die Soldaten der Bundeswehr. „Dass deutsche
Soldaten, wenn sie angegriffen werden, auch zurückschießen müssen, das will man bei uns
nicht wahrhaben. Denn man ist ja Gutmensch.“ Darüber hinaus beklagte der ehemalige
General das mangelnde deutsche Engagement beim Aufbau der afghanischen Polizei.
„Da hat Deutschland schlicht und einfach versagt!“(120)
Und auch Harald Kujat erhob schwere Vorwürfe gegen die Afghanistanpolitik der
Regierung. „Um den Eindruck zu vermeiden, dass in Afghanistan Krieg ist, wurde darauf
verzichtet, die Soldaten mit Waffensystemen auszurüsten, mit denen sie die Taliban
wirksam bekämpfen können. (…) So können wir unseren Auftrag nicht erfüllen.“
Kujat kritisiert auch die Diskussion um den Rückzug der Truppen aus Afghanistan. „Wer
von Rückzug spricht, der spricht eigentlich von Flucht“ (121)
Volker Rühes Kritik ist nicht neu. Schon im Sommer 2009 warf er dem damaligen
Verteidigungsminister Franz Josef Jung vor, er handle ohne Strategie. Rühes Kritik richtete
sich darüber hinaus gegen alle Parteien: „Den Parteien fehle der Mut, sich präzise zu
Afghanistan zu äußern.“ Der ehemalige Minister forderte damals: „mehr Soldaten, (…)
bessere Bewaffnung, und den Einsatz im Süden des Landes.“ (122)
Der Sprecher des Bundeswehrverbandes, Wilfried Stolze, kritisierte das neue
Einsatzkonzept der Bundeswehr, weil damit ein höheres Risiko für die Soldaten verbunden
sei. In diese Richtung zielt auch die Kritik des ehemaligen Generalinspekteurs Harald
Kujat, der in der „Stuttgarter Zeitung“ seine Bedenken äußerte: D
ie Bundesregierung
setze die Soldaten aus innenpolitischen Gründen für mehrere Jahre einem erhöhten Risiko
aus – in der Hoffnung, die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte werde ab 2011
einen geordneten Rückzug erlauben. (123)
- 47 Die Kritik der „Ehemaligen“, die an exponierten Stellen in Politik und Militär
Verantwortung getragen haben, wiegt schwer und stimmt nachdenklich.
Fasst man die wesentlichen gemeinsamen Aspekte der Kritik zusammen, so ergibt sich
folgendes Urteil: Seit Beginn der Afghanistan-Mission fehlt den verschiedenen
Bundesregierungen und den im Bundestag vertretenen Parteien (wobei man DIE LINKE
hier ausnehmen muss) der Mut, der Bevölkerung offen und eindeutig mitzuteilen, dass in
Afghanistan Krieg herrscht, an dem die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr
teilnehmen. Das ist wohl gemeint, wenn Volker Rühe von der „Lebenslüge“ spricht.
Um die harsche Kritik der „Ehemaligen“ einordnen zu können, soll im folgenden Exkurs
die Informationspolitik der verschiedenen Bundesregierungen seit Beginn des AfghanistanEinsatzes untersucht werden.
Exkurs: Die Informationspolitik der Bundesregierungen:
Camouflage oder realistische öffentliche Beurteilung?
Die Information der Bürgerinnen und Bürger durch Regierung und die im Parlament
vertretenen Parteien, die den Afghanistan-Einsatz von Anfang an mitgetragen und in
Abständen immer wieder verlängert haben, war von Anfang an unzureichend.
Zudem wurden viele verhängnisvolle Fehler begangen.
Die Sicherheitstruppe für Afghanistan war nach der UN-Resolution 1386 autorisiert, bei der
Durchführung ihres Auftrages gegebenenfalls auch militärische Gewalt anzuwenden. Was
das bedeutet, konnte sich jeder vorstellen, der Bilder von verschiedenen Kriegsschauplätzen
dieser Welt im Fernsehen gesehen hat.
Das Wort „Krieg“ wurde vermieden. Stattdessen erfolgte immer wieder die Beteuerung,
dass es sich in Afghanistan um keinen Krieg, sondern nur um einen „Stabilisierungseinsatz“ handeln würde, und dass die Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch
verteidigt werden müsste. (Vgl. die Kritik hierzu im folgenden Kapitel).
Mehr als vom militärischen Auftrag wurde über die zu leistende Aufbauarbeit gesprochen:
Straßen bauen, Brunnen bohren, dafür zu sorgen, dass auch Mädchen in die Schule gehen
können. Um nicht missverstanden zu werden: Die Leistungen der deutschen Frauen und
Männer, zivilen Helfern, Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in Afghanistan die
unterschiedlichsten Projekte, oft unter Lebensgefahr, mit Mut, unermüdlichem Fleiß und
Ausdauer durchgeführt haben, verdienen in hohem Maße Anerkennung.
Doch in der öffentlichen politischen Diskussion wurde der Krieg ausgeblendet. Das ist die
verhängnisvolle Unterlassung. Hinzu kam, dass es im Einsatzgebiet der Bundeswehr, dem
Norden Afghanistans, in den ersten Jahren nur selten zu heftigen militärischen
Auseinandersetzungen mit den Taliban kam.
Die politische Führung vertrat mit einem gewissen Stolz das Konzept der „Vernetzten
Sicherheit“, worunter ein Nebeneinander von Aufbauarbeit und militärischer Sicherheit
verstanden wurde. Doch dieses Nebeneinander beider Aktivitäten war nur möglich, weil:
(1) Im Norden Afghanistans keine Kämpfe tobten.
(2) Die alliierten Truppen im Süden die Last der Auseinandersetzung mit den Taliban
zu tragen hatten und dabei hohe Verluste hinnehmen mussten.
(3) Die Bundeswehr zur Unterstützung der Truppen im Süden nur in Ausnahmefällen
hätte eingesetzt werden können.
So entstand in der deutschen Bevölkerung der Eindruck, dass der Einsatz in Afghanistan so
gefährlich nicht sein konnte. Eine fatale Einschätzung, wie sich später herausstellen sollte,
- 48 -
als sich die Kämpfe in den Norden verlagerten. Nun wurde für alle erkennbar, wie
gefährlich dieser Einsatz ist.
Vor allem das bereits oben erwähnte Bombardement der beiden gekaperten BundeswehrTankfahrzeuge in der Nähe von Kundus in der Nacht zum 04. September 2009 markiert
eine Zäsur in der Wahrnehmung des Auftrages der Bundeswehr durch die Bevölkerung.
Allerdings diente die Informationspolitik der Regierung nach dem Geschehen mehr der
Verschleierung als der Aufklärung des Geschehens.
Bleibt festzuhalten: Die in diesem Exkurs nachgezeichneten Defizite der Informationspolitik verweisen auf den „mangelnden Mut“ (Volker Rühe) aller Bundesregierungen und
der sie tragenden Parteien, die Situation in Afghanistan als das zu benennen, was sie seit
Beginn des Einsatzes nach dem Empfinden der deutschen Bevölkerung und der Soldaten
der Bundeswehr ist: als Krieg.
Helmut Schmidt stellt in einem Interview am 24. September 2009 im ZEITmagazin fest:
„Eine ganz andere Frage ist, ob es nicht schon lange vor dem Wahlkampf tiefgreifende,
wiederholte Debatten im Parlament hätte geben müssen. Viele militärische Fachleute haben
diese Operation von Anfang an mit großen Zweifeln begleitet. Meistens ganz leise, um
nicht als Heckenschütze dargestellt werden zu können, aber doch mit Substanz. So zum
Beispiel mein Freund Volker Rühe.“ (124)
Eine gründliche Analyse der Situation in Afghanistan vor dem Einsatz der Bundeswehr
wäre eine notwendige Bedingung gewesen. Sie hätte die Grundlage bilden müssen für eine
intensive, offene und transparente politische Diskussion in Parlament und Bevölkerung.
Erst am Ende eines solchen Prozesses hätten die Entscheidungen stehen dürfen, an welchen
Missionen und in welchem Umfang sich Deutschland in Afghanistan beteiligen würde.
Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages (Beistandspflicht der Bündnispartner) überlässt nach
meiner Kenntnis jedem Land die Entscheidung darüber, auf welche Weise und in welchem
Umfang diese Beistandspflicht wahrgenommen wird.
Doch eine solche Analyse gab es nicht. So nimmt nicht wunder, wenn die meisten
Bewertungen zu einem ähnlich kritischen Ergebnis kommen: „Vor acht Jahren sind
deutsche Soldaten ausgezogen, unsere Sicherheit am Hindukusch zu verteidigen. (…) Aber
in Afghanistan herrscht kein Frieden, sondern Krieg. Jahrelang hatten die deutsche
Öffentlichkeit das nicht wissen und die politisch Verantwortlichen das nicht beim Namen
nennen wollen. (…) Verschleiernde Rhetorik und Selbstbetrug hatten fatale Folgen für die
deutschen Soldaten und damit auch für die Menschen in Afghanistan. (…) Das Versagen
beim Wiederaufbau des Landes lässt sich nicht mehr leugnen, ebenso wenig die
Notwendigkeit, gegen Aufständische zu kämpfen. Doch statt endlich eine tragfähige
Strategie zu entwickeln, verstecken sich die Politiker schon wieder hinter
Abzugsphantasien.“ (125)
Und an der oben angeführten „Verschleiernden Rhetorik“ scheint sich bis heute wenig
geändert zu haben. Wie sollte man es sonst bezeichnen, wenn nicht nur Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (vgl. S.45), sondern auch die Kanzlerin Angela
Merkel versucht, das neue Einsatzkonzept der Bundeswehr in Afghanistan als „sehr viel
stärker defensiven Ansatz“ zu verkaufen. (126)
Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn das neue Konzept sieht für alle ISAF-Truppen - und
somit auch für die Soldaten der Bundeswehr - ein gezieltes Bekämpfen der Aufständischen,
eine Begleitung der afghanischen Truppen bei Einsätzen und eine Absicherung der Gebiete
vor, die von Aufständischen „befreit“ wurden.
- 49 Und wenn eine solche „verschleiernde Rhetorik“ noch das Lob eines kirchlichen
Würdenträgers einbringt, dann ist es umso besser: „Der Trierer Bischof Stephan Ackermann
(46) hat die Beschlüsse der Londoner Afghanistan-Konferenz begrüßt. Dass sich die
internationale Staatengemeinschaft verstärkt dem zivilen Aufbau und der Ausbildung
afghanischer Polizeikräfte zuwende, sei positiv, sagte Ackermann in seiner Funktion als
Vorsitzender der Deutschen Kommission von „Justitia et Pax“ im Trierer „Volksfreund“.
(127)
Doch das, so möchte man dem Herrn Bischof zurufen, ist nur die halbe Wahrheit.
Und da die Vernunft immer auf die Wahrnehmung des Ganzen gerichtet ist, sollte man vor
der anderen Hälfte nicht die Augen verschließen: Das ist der Krieg, das Bekämpfen und
Vertreiben der Aufständischen, um die Basis dafür zu schaffen, dass ein ziviler Aufbau und
die Ausbildung der Polizeikräfte überhaupt geleistet werden können.
8 Vorschläge und Folgerungen
Die abschließenden Vorschläge sollen die bisher gemachten Aussagen ergänzen und in
einigen Punkten weiter präzisieren. Da die Inhalte eng miteinander verbunden sind, lassen
sich Überschneidungen nicht vermeiden.
Vorschlag (1) : Gründung einer unabhängigen Arbeitsgruppe
Der Hintergrund: Das Engagement in Afghanistan wird die Bundesregierung, die Parteien
und die Bevölkerung in den nächsten Jahren zunehmend beschäftigen. Und je nachdem, wie
sich die Lage in Afghanistan entwickelt, werden kurzfristig einschneidende und schwierige
Entscheidungen zu treffen sein. Hierfür sind gründliche Analysen die notwendige
Voraussetzung. Nur auf diese Weise können alternative Handlungsmuster entwickelt und
die damit verbundenen Konsequenzen aufgezeigt werden. Wesentliche Kriterien eines
solchen Prozesses müssen sachliche Kompetenz und Unabhängigkeit derjenigen Personen
sein, die daran teilnehmen.
Partei- oder wahltaktische Überlegungen und Winkelzüge dürfen bei der Erarbeitung dieser
Analysen keinen Einfluss haben.
Gerade bei der neuen Einsatzplanung für die Bundeswehr in Afghanistan lassen sich
parteitaktische Überlegungen deutlich nachweisen: Die Bereitschaft der CDU/CSU zur
Aufstockung des Mandats, was Minister Theodor zu Guttenberg schon sehr frühzeitig
signalisiert hatte. Die ursprünglichen Vorbehalte der FDP und ihre spätere Zustimmung für
eine Erhöhung des Truppen-Kontingents um 850 Soldaten, von denen allerdings 350 in
Reserve bleiben sollen.
Die Bereitschaft der SPD, die sich einer Aufstockung nicht verweigern konnte. Hatte sie
doch den grundlegenden Kurs in Afghanistan an verantwortlicher Stelle über Jahre
mitgetragen. Allerdings forderte die SPD für ihre Unterstützung der Politik der
Regierungskoalition die Zusage, keine weiteren Kampftruppen zu schicken und einen
Termin für den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan zu benennen. Der angemahnte
Abzugstermin liegt in dem Zeitraum zwischen 2013 und 2015. Unschwer vorstellbar,
welche parteitaktischen Manöver vor der Bundestagswahl damit in Szene gesetzt werden
können.
- 50 -
Im Verteidigungsministerium landeten beim stellvertretenden Generalinspekteur der
Bundeswehr, Johann-Georg Dora, in der Phase des Nachdenkens über eine Aufstockung der
Bundeswehr „Papiere auf dem Schreibtisch, in denen von 3000 zusätzlichen Soldaten die
Rede war – Zündstoff erster Güte. Der Minister wurde dann indirekt mit einer ebenso
vierstelligen Wunschgröße zitiert (1500 Männer und Frauen), ehe der Bedarf auf die
politisch gewünschte, dreistellige Größe dahinschmolz.“ (127, Hervorhebung A.K.)
Man wollte, unterschiedlichen Berichten zufolge, bei der Erhöhung der Aufstockung unter
Tausend bleiben.
An diesem Beispiel werden die Defizite einer Entscheidung deutlich, die stark durch
vermeintliche oder tatsächliche „politische Sachzwänge“ mitgeprägt ist. Eine unabhängige,
an den Inhalten und Problemen orientierte Analyse hätte dagegen Antworten auf folgende
Fragen geben müssen:
- Welche Ziele sollen von der Bundeswehr im Rahmen der neuen US-Strategie erreicht
werden?
- Ist dabei eine Kooperation / Aufgabenteilung mit US-Einheiten vorgesehen?
- Welcher Auftrag ist aus den Zielen für die Bundeswehr ableitbar?
- Welche Probleme und Schwierigkeiten sind mit dem Auftrag verbunden?
- Welche Mittel sind zur Erfüllung dieses Auftrags zwingend erforderlich?
- In welchem Maße kann der Auftrag durchgeführt werden?
- Zu welchen Ergebnissen kommt die Analyse? (Bewertung der Ergebnisse, Aufzeigen
der Schwierigkeiten und der damit verbundenen Gefahren, Hinweise auf Alternativen
und notwendige Modifikationen der Ziele usw.).
Auf der Basis einer solchen unabhängigen Analyse hätten die Beratungen in Regierung und
Parlament sowie eine Information der Öffentlichkeit erfolgen sollen, um danach eine
politische Entscheidung zu treffen. Doch das wurde versäumt. Stattdessen wurden die
Ergebnisse der zu leistenden Analyse von den existierenden, parteitaktisch motivierten
Sachzwängen mitbestimmt. Ein schwerer Fehler.
Der Vorschlag:
Der zentrale Vorschlag am Ende dieser Ausarbeitung lautet: Eine Beschäftigung mit
den Fragen des politischen Engagements Deutschlands und dem Einsatz der Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr in Afghanistan ist von besonderem nationalem Interesse.
Die Komplexität dieses Themas erfordert eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung und
Unabhängigkeit besonders bei der Gestaltung der zu leistenden Analysen sowie bei deren
Bewertung. Aus diesem Grunde muss eine Bearbeitung der grundlegenden Probleme frei
sein von partei- und wahltaktischen Überlegungen.
Notwendig ist somit eine unabhängige Gruppe von Menschen, die sich fortwährend mit
den Problemen beschäftigt. Die Etablierung einer solchen Gruppe für das Gebiet der
Sicherheitspolitik müsste uns mindestens ebenso wichtig sein wie die Existenz bereits
vorhandener beratender Gruppierungen, zum Beispiel im Bereich der Wirtschaft.
Wichtig wäre es, für diese Aufgabe geeignete Personen zu gewinnen, die mit komplexen
Analysemodellen umgehen können und bereit sind, unterschiedliche Experten und Vertreter
gegensätzlicher Positionen in ihre Arbeit einzubeziehen.
Die so beschriebene Arbeitsgruppe sollte unter der Schirmherrschaft des Bundestagspräsidenten, Norbert Lammert, stehen. Denn das Parlament ist der Ort, an dem
politische Beratungen erfolgen, Entscheidungen vorbereitet und gefällt werden.
- 51 -
Als Mentoren dieser Arbeitsgruppe sollten erfahrene, kompetente und hoch geschätzte
Persönlichkeiten gewonnen werden. Dabei denke ich unter anderem an Helmut Schmidt,
Richard von Weizsäcker, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr.
Vorschlag (2): Offene und ehrliche Informationspolitik
Im Exkurs „Die Informationspolitik der Bundesregierung: Camouflage oder realistische
öffentliche Beurteilung“ (Papier, S. 47) wurden schwerwiegende Versäumnisse bei der
Information der Bevölkerung in den zurückliegenden Jahren angesprochen. Die Kritik soll
an dieser Stelle nicht wiederholt, sondern vielmehr durch zusätzliche Aspekte ergänzt
werden.
Die Situation in Afghanistan ist äußerst komplex und schwierig, der Einsatz der
Bundeswehr mit großen Gefahren verbunden. Daraus leitet sich die folgende Forderung ab:
Die Komplexität und die Gefahren müssen sich in den Äußerungen und Bewertungen
derjenigen widerspiegeln, die für die Mission in Afghanistan die politische und/oder
militärische Verantwortung tragen. Geschieht das nicht, dann werden schwierige
Sachverhalte bagatellisiert, Gefahren verharmlost oder gar verschleiert. Auf diese Weise
werden Regierung, Parlament und Parteien ihrer umfassenden, auf Wahrheit beruhenden
Informationspflicht der Bevölkerung und den Soldaten gegenüber nicht gerecht.
Bei der Einweihung des Bundeswehr-Ehrenmals in Berlin im September 2009 hielt KlausDieter Diebel, der Vater eines 2007 in Kundus ums Leben gekommenen BundeswehrSoldaten eine Rede. (128)
Darin schildert er unter anderem seinen Eindruck, dass die Politiker und die „Menschen da
draußen“ sich nicht immer verstehen. „Es wird zwar vieles angesprochen, aber viele Dinge
werden gerade nicht beim Namen genannt. (…) Wir Menschen da draußen und (…) wir
Angehörige von getöteten Bundeswehr-Soldaten vertragen aber sehr viel mehr Wahrheit
und Offenheit als Politiker uns anscheinend zutrauen. (…) Wir können es ertragen, wenn
man die realen Umstände beim Namen nennt.“ (129)
Kanzlerin und Verteidigungsminister bemühen sich, bei ihren Darstellungen der Ergebnisse
der Londoner Afghanistan-Konferenz (am 28. Januar 2010) die hier angesprochenen, seit
Jahren vorhandenen Informationsdefizite zu verringern. So will Minister Karl-Theodor zu
Guttenberg „klar sagen, dass Afghanistan ein gefährlicher Einsatzort sei und dass es dort
Verwundete und Gefallene geben könne.“ (130)
Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel redet in ihrer Regierungserklärung vom Tod in
Afghanistan: „Wir sind es der ganzen deutschen Öffentlichkeit schuldig, hier und heute
ehrlich Rechenschaft abzugeben. (…) Ja der Einsatz fordert Menschenleben.“ Sie nennt
Soldaten, Polizisten, zivile Helfer und Afghanen. Und sie erwähnt außerdem das
Bombardement von Kundus in der Nacht zum 04. September 2009, bei dem Afghanen
durch das Handeln Deutscher ihr Leben verloren haben. (131)
Die hier sich abzeichnende Offenheit ist begrüßenswert, bildet sie doch einen Kontrast zu
der oben erwähnten „verschleiernden Rhetorik“ von Kanzlerin und Verteidigungsminister,
eine im Ansatz offensive Strategie in Afghanistan als defensives Konzept ausgeben. (Vgl.
Seite 48 dieses Papiers).
- 52 -
Allerdings reicht ein einmaliges Erwähnen der mit dem Einsatz verbundenen Todesgefahr
nicht aus. Das Gedenken an diejenigen, die bei dem Einsatz ihr Leben verloren haben, muss
unser Handeln bei allen politischen und militärischen Planungen für Afghanistan mitbestimmen.
Außerdem sind auch die körperlichen und seelischen Verwundungen des Krieges zu
erwähnen, bei denen Menschen zu Krüppeln werden oder nach Rückkehr aus dem Einsatz
in der Heimat keinen Anschluss mehr an ihr früheres Leben finden: „Mit heiler Haut sind
sie davongekommen, aber ihre Seele ist schwer verwundet. Sie haben Menschen elendig
sterben sehen und sind selbst dem Tod nur mit knapper Not entronnen. (…)
Posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS, haben die Mediziner diese Krankheit
genannt. Griffiger ist allerdings die Bezeichnung ‚Rückkehrer-Trauma’. Depressionen,
Gereiztheit, Verschlossenheit und Suchtprobleme sind häufig auftretende Symptome bei
Soldaten, die sich in der Normalität der Heimat nicht mehr zurechtfinden. Der Geruch von
gegrilltem Fleisch oder das Splittern eines Glases rufen die Erinnerung an Raketenbeschuss
und Selbstmordattentate immer wieder wach.“ (132)
Vorschlag (3): Zu den Schwierigkeiten stehen statt glatte Lösungen
vorzugaukeln
Bei der Einweihung des Bundeswehr-Ehrenmals in Berlin im September 2009 hielt, wie
oben bereits erwähnt, Klaus-Dieter Diebel, Vater eines im Jahr 2007 in Kundus getöteten
Bundeswehr-Soldaten eine Rede. Er sagte unter anderem: „Mit dem Ehrenmal werden die
Namen derjenigen, die ihren Dienst in der Bundeswehr mit dem Leben bezahlt haben,
erneut in das Gedächtnis der Nation zurück gerufen. (…) Diese Gedenkstätte soll daran
erinnern, dass hinter jedem dieser Namen ein Mensch steht. (…) Und obwohl jeder von uns
Angehörigen im Kopf weiß, dass es keinen Sinn hat zu fragen, so fragen wir doch: Warum?
Überzeugend beantworten kann uns diese Frage niemand. Auch die nicht, die die jungen
Leute in den Einsatz geschickt haben.“ (133)
Die Bewertung des Vaters, der seinen Sohn verloren hat, ist verständlich. Es ist außerordentlich schwierig, auf die Frage nach dem Warum des Einsatzes der Bundeswehr in
Afghanistan eine einfache, ehrliche, zutreffende und zudem in sich schlüssige Antwort zu
formulieren. Dazu ist das Thema viel zu komplex. Doch wir sollten uns davor hüten, den
Fragenden eine simple Antwort vorzugaukeln. Denn sie gibt es nicht.
Und ein Teil der Antworten, die in der Vergangenheit als Begründung des Einsatzes in
Afghanistan herhalten mussten, hat sich längst als untauglich erwiesen. Heute spricht
niemand mehr davon, es sei das Ziel des Westens, den Afghanen die Segnungen einer
Demokratie westlichen Zuschnitts zu bringen. Diejenigen, die ein solches Ziel vorgaben,
haben sich getäuscht. Ein solches Ziel hätte bei Berücksichtigung von Geschichte und
Sozialstruktur Afghanistans nicht formuliert werden dürfen. (Vgl. hierzu die Seiten 13 f.
und 30 f. dieses Papiers).
Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hat während seiner Amtszeit den Satz
geprägt: “Deutschlands Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Diese
Formulierung hat er im Januar 2010 wiederholt.
Dieser Formulierung kann Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgericht und
Experte für Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht, nicht zustimmen. Seine
Begründung lautet: Die Behauptung des damaligen Verteidigungsministers Peter
- 53 Struck bei der Vorstellung der „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ am 05. Februar 2002
„Deutschland werde seit 2001 (auch) ‚am Hindukusch’ verteidigt, vermag weder den
‚Verteidigungsfall’ nach Art. 115a GG noch einen Fall der ‚Verteidigung’ im Sinne des
Art. 87a GG zu begründen.
Für Art. 115a GG ist dies evident und bedarf keiner näheren Begründung. Denn dass
‚das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff
unmittelbar bevorsteht’, war und ist ersichtlich weder am 11. September 2001 noch in der
Folgezeit der Fall gewesen.
Aber auch im Übrigen ist bisher nicht erwiesen, dass wegen 9/11 ein Fall der ‚Verteidigung’ vorlag. Im Hinblick auf Art. 87a GG müssten in jedem Falle die Voraussetzungen
des Art. 51 UN-Charta materiell erfüllt (gewesen) sein. An einem solchen überzeugenden
Nachweis fehlte es jedoch – und fehlt es bis heute.“ (134)
Das zentrale Kriterium in der Argumentation Deiseroths ist somit Art. 51 UN-Charta, das
Recht auf Selbstverteidigung der USA nach 9/11. Und dieses Recht ist, so Deiseroth,
zumindest anzuzweifeln. (Vgl. Kapitel 7.5.1.1, S. 40 f.).
Was heißt das für eine rechtliche Bewertung des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan?
Die Kampfeinsätze der Bundeswehr und der Verbündeten in Afghanistan werfen, folgt man
der Argumentation Deiseroths, gravierende rechtliche Probleme auf. „Analysiert man
diese, so gelange ich zu der Schlussfolgerung, dass weder eine hinreichende völkerrechtliche noch eine hinreichende verfassungsrechtliche Grundlage für diese Einsätze
vorhanden sind.“ (135)
Die seit Dezember 2001 begonnenen ISAF-Einsätze, die auf den entsprechenden UNResolutionen beruhen, sollen der Umsetzung des nach dem Tagungsort bei Bonn
benannten „Petersberg-Abkommens“ vom 05. Dezember 2001 dienen. Doch dessen
„demokratische und völkerrechtliche Legitimation ist jedoch in hohem Maße
zweifelhaft.“ (136)
Die Schlussfolgerung Deiseroths lautet: „Fest steht jedoch eines: Um eine ‚Verteidigung’
der Bundesrepublik Deutschland am Hindukusch geht es dabei, allen anderslautenden
Behauptungen zum Trotz, jedenfalls nicht. Eine grundlegende politische Neubewertung
der andauernden ausländischen Militärintervention(en) in Afghanistan ist überfällig.“
(137)
Was folgt aus alledem für eine Beantwortung der Frage nach dem Warum des Einsatzes der
Bundeswehr in Afghanistan? Aufgrund der hier beschriebenen rechtlichen Schwierigkeiten
sollte man künftig auf floskelhaften Begründungen verzichten. („Deutschland wird auch
am Hindukusch verteidigt“ oder „unsere Werte werden in Afghanistan verteidigt“).
Aber auch die folgende, übliche Argumentation sieht sich durch den Rückgriff auf Art. 51
UN-Charta mit denselben, oben genannten Schwierigkeiten konfrontiert.
Die Argumentation: Die USA wurden am 11. September 2001 (durch Anschläge auf das
World-Trade-Center und das Pentagon) angegriffen. Amerika hatte aufgrund Art. 51 der
UN-Charta das Recht zur Selbstverteidigung. Der Nato-Rat beschloss, dass die Terroranschläge als Angriff auf die USA zu werten sind und bekräftigte am 04.10.2001 die
Beistandspflicht der Bündnispartner gem. Nordatlantikvertrag, Art. 5. Mit dem Einsatz in
Afghanistan erfüllt Deutschland diese Beistandspflicht.
Der Sicherheitsrat beschloss am 20. Dezember 2001mit UNO-Resolution 1386 (und
- 54 -
Folgeresolutionen) die International Securitiy Force for Afghanistan - ISAF, um die
afghanische Übergangsregierung beim Erhalt der Sicherheit in Kabul und den benachbarten
Regionen zu unterstützen.
Die in diesem Abschnitt nachgezeichnete Kritik des Richters am Bundesverwaltungsgericht
und Experten für Verfassungs-, Verwaltungs- und Völkerrecht, Dieter Deiseroth, hat
deutlich gemacht, dass die insgesamt zur Begründung herangezogenen völker- und
verfassungsrechtlichen Grundlagen nicht als Begründungen herangezogen werden können.
Die Einsätze der ISAF in Afghanistan, die auf den entsprechenden UN-Resolutionen
beruhen, sollen der Umsetzung des sog. „Petersberg-Abkommens“ dienen. Doch dessen
demokratische und völkerrechtliche Legitimation ist, so Deiseroth, in hohem Maße
zweifelhaft.
Seit 2002 ist die Bundeswehr in Afghanistan. Und die Politik hat in all den Jahren den
Soldatinnen und Soldaten sowie darüber hinaus der gesamten Bevölkerung Begründungen
für den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan angeboten, die entweder floskelhaft waren
oder einer kritischen Nachprüfung nicht standhalten.
Eine intensive Auseinandersetzung mit kritischen Positionen, wie zum Beispiel der hier
angeführten Position Deiseroths, fand offensichtlich nicht statt. Ein ernüchterndes Fazit.
Angesichts der hier dargestellten rechtlichen Schwierigkeiten sollte man künftig auf nichtssagende Begründungen (Deutschland bzw. unsere Werte werden auch am Hindukusch
verteidigt) verzichten und stattdessen offen bekennen, dass eine Begründung der
Kampfeinsätze in Afghanistan, die durch einen Rückgriff auf Art. 51 UN-Charta erfolgen,
nicht von allen Verfassungsrechtlern gleichermaßen mitgetragen wird.
Die Auseinandersetzung mit den komplizierten völkerrechtlichen und grundgesetzlichen
Fragen ist äußerst schwierig. So nimmt es nicht wunder, wenn es dabei zu gravierenden
Missverständnissen kommt, wie beispielsweise in einem Grundsatzpapier der CSULandesgruppe im Deutschen Bundestag mit der Überschrift: Zehn-Punkte-Strategie für
Afghanistan 2007: Beschluss Klausurtagung in Kloster Banz.
Dort wird unter anderem festgestellt:
-
-
„In Reaktion auf den 11. September 2001 hat Deutschland gemeinsam mit den USA
und den andern NATO-Staaten von seinem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung
gemäß Art. 51 des Satzung der Vereinten Nationen Gebrauch gemacht, hat den
Bündnisfall gemäß Art. 5 des Nordatlantischen Vertrages ausgerufen und beteiligt
sich an der von den USA geführten Operation Enduring Freedom (OEF)….“ (138)
„Die International Security Assistance Force (ISAF) hat das Ziel, die demokratisch
legitimierte Regierung Afghanistans dabei zu unterstützen, ein sicheres Umfeld für
den Wiederaufbau des Landes zu schaffen.“ (139)
Hierzu abschließend zwei Fragen:
(1) Was soll man von einer solchen Argumentation, bei der nahezu alles falsch ist, halten?
(2) Hätte nicht sogar Herr Karsai damit Schwierigkeiten, die von ihm geführte Regierung
als „demokratisch legitimiert“ zu bezeichnen?
- 55 -
Vorschlag (4): Flexibilität statt starre Schemata
Beispiel (a): Die Diskussion um „Abzugs-Strategien“
In der Diskussion um „Abzugs-Strategien“ geht es darum, wann, zu welchem festen Termin
oder innerhalb welchen Zeitraums der Abzug einzelner Truppenteile oder aller Truppen aus
Afghanistan erfolgen soll. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat,
kritisiert die Diskussion um den Rückzug: „Wer von Rückzug spricht, der spricht eigentlich
von Flucht.“ (Vgl. Fn. 121)
Das Entwerfen von Abzugs-Strategien hat Konjunktur. Und es scheint einer inneren Logik
zu folgen. Je schwieriger und aussichtsloser die Situation in Afghanistan bewertet wird,
desto häufiger und intensiver erfolgt der Ruf nach Abzugs-Strategien. Abzugs-Termine sind
allerdings leere, nichtsagende Versprechungen. Denn jeder weiß, dass es nicht möglich ist,
von einer heutigen Situation in Form eines logischen Schlusses mit Sicherheit auf eine
zukünftige Situation zu schließen. Somit sagen die Forderungen nach Abzugs-Strategien
weniger über einen konkreten, in Aussicht gestellten Abzug, als vielmehr über die
Befindlichkeit in einem Land aus, das Truppen nach Afghanistan entsendet hat und diese
möglichst bald zurückholen will.
Der Aussage Helmut Schmidts ist zuzustimmen, wenn er feststellt: „In Wirklichkeit weiß
von den europäischen Regierungen eigentlich keine, wie das (in Afghanistan, Anm. A.K.)
zu Ende gehen soll.“ (140)
Und auch die Einschätzung von US-General David Petraeus, Oberbefehlshaber der USStreitkräfte für die Region, sollte man ernst nehmen. Er geht davon aus, dass es ein
schnelles Ende des Einsatzes in Afghanistan nicht geben werde. „Afghanistan wird der
längste Einsatz im Langen Krieg. (…) Wir müssen zu Hause nicht irgendwann Erfolge
vorweisen, sondern schnell, bevor wir den Rückhalt der eigenen Bevölkerung verlieren.“
(141)
Da niemand die Dauer und unterschiedliche Entwicklungen des Krieges in Afghanistan
vorhersehen kann, sollten Bundesregierung und Opposition keine Abzugs-Termine als
Fixpunkte markieren, zumal der von der SPD als Abzug in Aussicht gestellte Zeitraum in
die Zeit der Bundestagswahl (2013) fällt.
Überlegungen nach einem möglichen Abzug von Truppenteilen oder allen Truppen müssen
an das Erreichen von Zielen gekoppelt sein. Und erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in der
Zukunft wird eine nüchterne Beurteilung darüber Auskunft geben können, ob bestimmte
Ziele tatsächlich erreicht worden sind oder nicht.
Das Nennen eines Abzugs-Termin bedeutet keine feste Bindung, sondern allenfalls eine
mögliche, zukünftige Planung. Eine solche Aussage dient somit eher zur Beruhigung der
eigenen Bevölkerung, weil sie ein Ende des Krieges in Aussicht stellt. Oder sie erfolgt in
der Absicht, Präsident Karsai klar zu machen, welche Erwartungen künftig an ihn und seine
Regierung gerichtet sein werden.
Die Unverbindlichkeit von Abzugs-Terminen wurde auch in der Diskussion in Amerika
nach der Rede des US-Präsidenten am 01. Dezember 2009 deutlich. Der Republikaner
McCain kritisierte den Präsidenten wegen der Ankündigung des Rückzugs ab 2011.
Generalstabschef Mike Mullen konterte: Das für 2011 anvisierte Datum eines beginnenden
Rückzuges heiße nicht, dass die Truppen dann auch tatsächlich abgezogen würden.
Beispiel (b) : Die Gleichzeitigkeit von militärischem Engagement und Aufbauarbeit
Nach der neuen US-Strategie und den Konzepten der Londoner Afghanistan-Konferenz
(28. Januar 2010) sollen in Afghanistan zwei Prozesse gleichzeitig nebeneinander
- 56 -
ablaufen. Militärische Operationen, um ein Mindestmaß an Sicherheit zu gewährleisten auf
der einen Seite sowie zivile Aufbauarbeit auf der anderen Seite.
Betrachtet man die aktuelle Diskussion, so scheinen sich allerdings die beiden Prozesse
gegenseitig auszuschließen. Auf der einen Seite fühlen sich manche zivile Aufbauteams
durch eine zu große Nähe zum Militär in ihrem Handlungsspielraum eingeengt und
befürchten, von der Bevölkerung nicht mehr als eigenständige und vom Militär
unabhängige Organisationen wahrgenommen zu werden.
Auf der anderen Seite halten Militärs die Position, die meint, ohne militärischen Schutz
auszukommen, für naiv und wirklichkeitsfremd. Beharren beide auf ihrem Standpunkt, wird
es keine Annäherung geben.
Eine Lösung des Konfliktes ist nur möglich, wenn beide Parteien ihre starren Wahrnehmungs- und Bewertungs-Schemata aufgeben und die wenig hilfreiche „Entweder- Oder
–Position“ verlassen. Notwendig dazu ist ein dialektisches Denken, das die Gegensätze
nicht als unüberwindbar ansieht. Wie so etwas aussehen könnte, soll die Skizze verdeutlichen.
Bedrohung
groß
II
Ziel
militärische
Sicherheit
I
Ziel
__________________________________ zivile
Aufbauarbeit
III
IV
Bedrohung
gering
Die Positionen „militärische Sicherheit“ und „zivile Aufbauarbeit“ bilden die Eckpunkte
eines Spektrums. In der Senkrechten wird zwischen einer großen und einer geringen
Bedrohung unterschieden.
Nun gilt es, in der Praxis die verschiedenen Situationen zu beurteilen, um festzustellen,
wann dem Ziel „militärische Sicherheit“ eine größere Bedeutung zukommt als dem Ziel
„zivile Aufbauarbeit“ (und umgekehrt). In Quadrant I wird beispielsweise zivile
Aufbauarbeit ohne militärischen Schutz nicht möglich sein. Ebenso in Quadrant II. Die
Chance, zivile Aufbauarbeit ohne großen militärischen Schutz durchzuführen, steigt in
Quadrant III und ist am größten in Quadrant IV. Zudem müssen solche Situationsanalysen
für verschiedene Regionen und für unterschiedliche Zeiten erstellt werden, um kurz- oder
langfristige Projekte zu planen und zu koordinieren.
- 57 -
Nachwort
Bei den Erörterungen wurde von folgenden Postulaten ausgegangen:
(a) Priorität haben die Bemühungen um politische (d.h. nicht-militärische) Lösungen.
„Lasst Hypothesen sterben statt Menschen“ (nach Karl Popper)
(b) Eine Gesamtstrategie ist eine politische Strategie. Militärische Überlegungen sind dabei
nur Teilaspekte.
(c) Eine Gesamtstrategie für den Krieg in Afghanistan muss ihren Ausgang nehmen bei
der „Zivilbevölkerung“ und den „Soldaten“. Beide sind, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen, im Sinne von John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit“ von dieser
Situation am wenigsten begünstigt.
Die Überlegungen sollen mit den Antworten auf zwei Fragen und einem Exkurs
abgeschlossen werden.
(1) Worauf können Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in diesem Krieg
vertrauen?
Sie müssen darauf vertrauen können, dass das Bestreben der Bundesregierung darin besteht,
in Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn und den Nato-Partnern, den Krieg in
Afghanistan durch politische Lösungen einzudämmen und ihn zu beenden.
Und sie dürfen sicher sein, so der frühere Kanzler Helmut Schmidt in seiner Rede beim
Gelöbnis von Rekruten am 20. Juli 2008 in Berlin, „wenn wir heutzutage an militärischen
Eingriffen in Afghanistan uns beteiligen, dann geschieht es in Übereinstimmung mit
unserem Grundgesetz, in Übereinstimmung mit dem Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen – und gemeinsam mit unseren Verbündeten. Man kann über solche Einsätze
streiten. Jedoch jeder Soldat und jeder Rekrut darf sich darauf verlassen: Auch künftig
werden Bundestag und Bundesregierung unsere Streitkräfte nur im Gehorsam gegen das
Grundgesetz und nur im Gehorsam gegen das Völkerrecht einsetzen. (…) Ihr müsst
wissen: Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren umfassen. Aber ihr könnt Euch
darauf verlassen: Dieser Staat wird Euch nicht missbrauchen. Denn die Würde und das
Recht des einzelnen Menschen sind das oberste Gebot – nicht nur für die Regierenden,
sondern für uns alle.“ (142)
Der Staat hat den Soldaten gegenüber auch eine Verpflichtung zur Fürsorge. Aus ihr
erwächst unter anderem die Aufgabe, das Leben der ihm anvertrauten Soldaten zu schützen.
Aus diesem Grund ist es erforderlich, in fortwährenden, umfassenden Lagebeurteilungen
Situationen und Entwicklungen in Afghanistan zu erfassen. Danach ist zu entscheiden, ob
ein militärischer Auftrag auch weiterhin mit dem vorhandenen Personal und den zur
Verfügung stehenden Mitteln durchgeführt werden kann. Sollte sich das als nicht möglich
erweisen, dann müssen sowohl zusätzliche Truppen zur Erhöhung der Sicherheit der
Soldaten vor Ort als auch zusätzliche materielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Damit erfolgt ein erneutes Plädoyer dafür, dass eine Festlegung der Truppenstärke auf der
Grundlage einer umfassenden, realistischen Analyse der Lage erfolgen muss. Diese
Festlegung darf nicht von parteitaktischen Manövern geprägt sein. (Vgl. S. 49)
Wenn es darum geht, die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten zu erhöhen, dann dürfen
Überlegungen über eine Aufstockung der Bundeswehr in Afghanistan zu diesem Zweck
kein Tabu sein. Auch darauf sollten Soldaten aus meiner Sicht vertrauen können.
- 58 -
(2) Welche Anerkennung können Soldaten erwarten?
Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, hat mehr
gesellschaftliche Anerkennung für die Soldaten gefordert: „Vom Rekruten bis zum General
– bei jedem Truppenbesuch klagen die Soldaten über freundliches Desinteresse und
fehlende Anteilnahme.“ (143)
Der Bundeswehrverband forderte von Bundeskanzlerin Angela Merkel den Anstoß zu
einem „gesellschaftlichen Schulterschluss“ mit den Soldaten. Der Vorsitzende des
Verbandes, Ulrich Kirsch, sagte in einem Interview mit der „Leipziger Volkszeitung“:
„Wir brauchen einen Schulterschluss für und mit der Bundeswehr angesichts der
gefährlichen Einsatzlage in Afghanistan.“ (144)
Nach Kirschs Ansicht könnten Medien, die katholische Bischofskonferenz, die Synode der
Evangelischen Kirche sowie Spitzenvertreter aus Wirtschaft und Gewerkschaften dazu
einen Beitrag leisten.
Ein schwieriges – ein weites Feld, zu dem es hier nur Andeutungen geben kann.
Zunächst wäre zu fragen, was denn konkret mit einem solchen „Schulterschluss“ gemeint
ist. Es kann damit sicherlich nicht gemeint sein, dass ein so brisantes Thema wie der
Einsatz der Bundeswehr im Krieg in Afghanistan in der Gesellschaft auf vorbehaltlose
Zustimmung stößt.
Wenn in der Bevölkerung ein freundliches Desinteresse, eine fehlende Anteilnahme
festzustellen sind oder, wie Kirsch meint, die verbreitete Meinung herrsche, dass man das
mit Afghanistan gar nicht so genau wissen wolle, so ist dazu festzustellen: Vorhandene
empirische Erhebungen spiegeln in aller Regel nur die Meinungen der Befragten wider. Sie
sagen nichts aus über die Gründe für eine solche Äußerung. Insofern ist jede weitergehende
Zuschreibung von Gründen spekulativ.
Es existieren mehr oder weniger plausible Vermutungen für das in der Bevölkerung
vorhandene Desinteresse am Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Hierzu einige
Beispiele:
- Das Vorhandensein eines „kollektiven Verdrängungsprozesses“. Das Thema Krieg
ist psychisch so „besetzt“, dass man eine intensive Beschäftigung damit vermeidet.
- In offiziellen politischen Stellungnahmen und Erläuterungen wurde der Einsatz in
Afghanistan verharmlost. Das Wort „Krieg“ wurde vermieden, die Soldaten als eine
Art „Sozialarbeiter in Uniform“ dargestellt.
- Der Einsatz in Afghanistan und die mit ihm verbundenen Gefahren für die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr wurde im Parlament nicht hinreichend
diskutiert.
- Hätte sich kurz vor der Bundestagswahl 2009 nicht das Bombardement in der Nähe
von Kundus ereignet (in der Nacht zum 04. September 2009), wäre der Einsatz der
Bundeswehr in Afghanistan im Wahlkampf vermutlich von den Parteien, die den
Einsatz mittragen, nicht angesprochen worden. (Vgl. hierzu: S.47)
- Viele Bürgerinnen und Bürgern haben vermutlich deshalb eine Beschäftigung mit
dem Krieg in Afghanistan aus ihrer Lebenssituation „ausgeklammert“, weil sie in
der Phase der Wirtschaftskrise vor allem mit ihrer persönlichen Existenzsicherung
beschäftigt waren.
Die Gründe für ein „freundliches Desinteresse und eine fehlende Anteilnahme“ der
Bevölkerung am Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan sind vielschichtig. Eine aktuelle
wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema gibt es nach meiner Kenntnis nicht.
- 59 -
Es ist allerdings vorstellbar, dass Entwicklungen in Afghanistan dazu führen können, die
gesellschaftliche Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr von heute auf morgen
sprunghaft ansteigen zu lassen. Auch das hat das „Bombardement von Kundus“ gezeigt.
Wenn alleine die Aussage „Nichts ist gut in Afghanistan“ in der Neujahrspredigt der
damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann, eine so
heftige Kontroverse auslösen konnte, dann wird deutlich, wie viel Diskussionsbedarf zu
dem Thema „Krieg in Afghanistan“ unterschwellig vorhanden ist.
Zu diesem Ergebnis kommt auch Heribert Prantl, der in einem Beitrag in der Süddeutschen
Zeitung dazu feststellt: „Auf dem Afghanistan-Einsatz ruht kein Segen. Und die
Aufregung, die diese Feststellung der evangelischen Bischöfin und Ratspräsidentin
Margot Käßmann erregt hat, zeigt, wie lange die Debatte über diesen Einsatz in
Deutschland tabuisiert war. Die Diskussion, die sie mit ihrer Predigt ausgelöst hat, hätte
schon im Bundestagswahlkampf geführt werden müssen.“ (145)
Zu dieser Diskussion können hier nur wenige Andeutungen gemacht werden.
Die Sorgen, die man aus dem Brief des ehemaligen Generals Klaus Naumann an Bischöfin
Margot Käßmann herauslesen kann, erscheinen verständlich; „Ich schreibe Ihnen als
evangelischer Christ, der trotz vieler Enttäuschungen eigentlich doch noch an seiner Kirche
festhalten will und der sich aus anhaltender Verbundenheit mit dem Beruf des Soldaten den
Rückhalt und den Trost seiner Kirche für die im Einsatz stehenden Soldatinnen und
Soldaten der Bundeswehr wünscht.“ (146)
Schwieriger ist es, eine zentrale Kritik Naumanns nachzuvollziehen, wenn er schreibt:
„ (…) als Sie ohne jede Sachkenntnis von der Kanzel herab Ihr hochmütiges, aber in jeder
Hinsicht falsches Pauschalurteil abgaben: ‚Nichts ist gut in Afghanistan.’ (147)
Es mag sein, dass diese Formulierung von manchen als überpointiert und einseitig
empfunden werden konnte. Allerdings ließen sich hier eine ganze Reihe von Aussagen
anführen, die von anerkannten Fachleuten stammen. Aussagen, die weniger pointiert,
jedoch in ihrer Bewertung der Situation in Afghanistan eindeutig sind. An dieser Stelle
seien nur zwei Einschätzungen genannt. Zum einen räumte Nato-Generalsekretärs Jaap de
Hoop Scheffer ein, dass „viele Dinge nicht gut laufen.“ (148)
Zum anderen stellten US-Botschafter Karl Eikenberry und General Stanley McChrystal,
Befehlshaber der ISAF-Streitkräfte, nach ihrer Ankunft in Afghanistan fest, „dass die
Situation nach acht Jahren (…) schlimmer war als erwartet.“ (149)
Ich vermag nicht zu erkennen, dass mit den Aussagen von Margot Käßmann die Türen der
Kirche den Soldaten verschlossen bleiben, die Soldatinnen und Soldaten mit ihrem Einsatz
alleine gelassen und sie von der Gnade Gottes und der Hoffnung auf Vergebung
ausgeschlossen werden. Ich sehe eine Verbindungslinie zwischen der Forderung von Frau
Käßmann, mehr Fantasie für den Frieden aufzuwenden, und dem, was General a.D.
Naumann mit Verweis auf seine Erinnerungen als Kind an die Bombennächte in München
beschreibt: „Krieg ist ein Versagen der Menschlichkeit“.
Die evangelische Kirche hat sich mit ihrer Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für
gerechten Frieden“ aus dem Jahr 2007 von den Vorstellungen eines gerechten Krieges
verabschiedet. (Einen solchen Schritt machte die katholische Kirche mit dem Hirtenbrief
„Gerechter Friede“ im Jahr 2000).
- 60 An die Stelle des „gerechten Friedens“ tritt nun in der evangelischen Kirche „die These,
dass ‚in Grenzsituationen’ eine ‚rechtserhaltende Gewalt’ ethisch tragbar ist, wenn sie klare
Grenzen und ethisch vertretbare Ziele hat sowie international abgestimmt ist.“ (150)
Allerdings ist eine Debatte, ob diese Formulierung auch auf den Afghanistan-Einsatz
zutrifft, seither nicht geführt worden.
Wir alle, gleichgültig ob Staatsbürger mit oder ohne Uniform, werden damit leben müssen,
dass es auf die zentralen Fragen nach den ethischen Begründungen eines Handelns im Krieg
viele quälende Fragen, aber kaum Antworten gibt, mit denen wir uns zufrieden geben
könnten.
Exkurs: Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden
In dem so überschriebenen Artikel zeichnet Matthias Dobrinski in der Süddeutschen
Zeitung die Veränderungen in den Positionen von evangelischer und katholischer Kirche
zum Krieg nach. (151) Allerdings fehlt eine weitergehende Darstellung der Inhalte, was
unter einem „gerechten Frieden“ zu verstehen sei. Das soll hier abschließend in Anlehnung
an Erläuterungen von Nikolaus Schneider erfolgen. Er ist Präses der rheinischen
Landeskirche und stellvertretender Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD). (152)
Der Begriff vom „gerechten Krieg“ ist, so Schneider, überholt. „Wir sprechen nicht mehr
vom gerechten Krieg, sondern nur noch vom gerechten Frieden. Damit wollen wir
ausdrücken, dass Krieg nicht zu rechtfertigen ist. Krieg ist ein Ausdruck von Scheitern
und ein Ausdruck von Schuld. Dem kann man sich nicht entziehen.“ (152)
Nach Präses Schneider dürfen wir uns nicht völlig der Logik des Krieges aussetzen. Im
konkreten Kampf geht es nur noch ums nackte Überleben. Da bleiben ethische Überlegungen schnell außen vor. „Mir geht es nicht darum, Bundeswehrsoldaten zu kritisieren, die
mitten im Einsatz stehen. Das würde ich nie tun.“(152)
Doch die Kirche habe den Frieden und nicht den Krieg zu predigen. Und wie sieht der
Theologe den Einsatz in Afghanistan? „Es gibt einen Moment, wo ich sagen kann, das ist
ethisch vertretbar, wenn nämlich die Taliban mit einem unglaublichen religiösen
Fanatismus die eigene Bevölkerung terrorisieren. Aber wenn durch den Einsatz eine
Regierung an der Macht gehalten wird, die in sich korrupt ist, wenn Wahlfälschung
legitimiert wird, indem das Ergebnis manipulierter Wahlen anerkannt wird, kann man
den Afghanistan-Einsatz dennoch infrage stellen. Was wir für den Frieden brauchen, ist
eine Zivilgesellschaft, die den Frieden will. Das lässt sich nicht von außen aufzwingen.“
(152)
Im alten Rom galt der Satz: „Wenn du den Frieden willst, musst du den Krieg vorbereiten“.
Heute muss es darum gehen, den Frieden vorzubereiten. Doch was bedeutet das? Schneider
greift in seiner Erklärung auf ein Wort des Propheten Jesaja zurück, in dem es heißt, dass
Friede eine Frucht der Gerechtigkeit ist. Und er ergänzt: „Wenn wir Frieden wollen,
müssen Hunger und Unterentwicklung überwunden werden. Wir müssen etwas für
Bildung und Arbeit tun. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die Güter dieser Erde
gerechter verteilt werden. Wir haben ein massives Verteilungsproblem und damit ein
Gerechtigkeitsproblem. Das sind die Punkte die zum Krieg führen. Wenn wir für Frieden
sorgen wollen, dann müssen wir an diesen Stellen ansetzen.“(152)
* * *
Anmerkungen
Abkürzungen :
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(24)
(25)
(26)
(27)
(28)
(29)
(30)
(31)
(32)
(33)
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Vgl. hierzu die Ausführungen des Münchner Professors für Psychologie und Leiters
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KOELBL / IHLAU, S. 22. Vgl. Fn. 22.
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KORNELIUS, S. Vgl. Fn. 23.
KORNELIUS, S. Vgl. Fn. 23.
KORNELIUS, S. Vgl. Fn. 23.
www.the free dictionary.com. strategy.
DIE ZEIT. Das Lexikon in 20 Bänden. Bd. 14, Hamburg 2005, S.217.
(35) BAUDISSIN, W: Graf von: Soldat für den Frieden. Entwürfe für eine zeitgemäße
Bundeswehr, hrsg. von Peter v. Schubert. München 1969, S. 268.
(36) CLAUSEWITZ, C. von: Vom Kriege. Erftstadt 2008, S. 364.
(37) Die Skizze der US-Strategie erfolgt in Anlehnung an die Rede des US-Präsidenten in
der Dokumentation v. 04.12.2009 bei:
www.unikassel.de/fb5/frieden/regionen/USA/Obama-afgh-dt.html.
Die in Kapitel 6 angeführten Zitate sind aus o.a. Dokumentation.
(38) Dokumentation bei: www.uni-kassel.de/fb5/frieden/regionen/Afghanistan/usa(factsheet).
(39) So DIE ZEIT (www.zeit.de/2003) über das Buch von MÜNKLER, H.: Die
neuen Kriege. Das Buch ist inzwischen als Taschenbuch bei Rowohlt in der 3.
Auflage erschienen. Reinbek bei Hamburg 2007.
(40) SZ, 11. Januar 2010 (Blick in die Presse).
(41) SZ, 03. Dezember 2009.
(42) SZ, 24. September 2009.
(43) SZ, 05. Februar 2010.
(44) SZ, 16./17. Januar 2010.
(45) SZ, 05. Februar 2010.
(46) politbarometer zdf.de v. 29,01.2010.
(47) SZ, 19.Juni 2009.
(48) SZ, 16./17. Januar 2010.
(49) RZ, 21. Dezember 2009.
(50) SZ, 07. Dezember 2009.
(51) SZ, 07. Dezember 2009.
(52) SZ, 13. Januar 2010.
(53) SZ, 28. Januar 2010.
(54) SZ, 09. Februar 2009.
(55) RZ, 30. September 2009.
(56) SZ, 02. Dezember 2009.
(57) DIE ZEIT, 28. April 1995. James William Fulbright, amerikanischer Politiker,
Mitglied der Demokratischen Partei. Als Vorsitzender des Außenpolitischen
Senatsausschusses (1959 – 1974) Gegner der Vietnampolitik der USA.
(58) DIE ZEIT, 31. Januar 2008.
(59) www.zeit.de /online/2009/14.
(60) SZ, 07. April 2009.
(61) SZ, 05. Februar 2010.
(62) SZ, 08. Februar 2010.
(63) SZ, 16./17. Januar 3010.
(64) SZ, 27. Januar 2010 und 29. Januar 2010.
(65) SZ, 27. Januar 2010.
(66) SPIEGEL ONLINE. 26. Januar 2010.
(67) www.taz.de 29.01.3010/7. Kommentare
(68) RZ, 29.Januar 2010.
(69) SZ, 18. November 2009.
(70) SZ, ebd.
(71) SZ, 16./17. Januar 2010.
(72) SZ, 12, Februar 2010.
(73) So James Jones im Interview. Stern Nr. 7 v. 11. Februar 2010.
(74) www.taz.de. 29. Januar 2010 / 7. Kommentare.
(75) RZ, 27. Januar 2010.
(76) RZ, ebd.
(77) in SZ, 28. Januar 2010.
(78) www.taz.de. 29.01.2010 / 7. Kommentare.
(79)
(80)
(81)
(82)
(83)
(84)
(85)
(86)
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(113)
(114)
(115)
(116)
(117)
(118)
(121)
(122)
(123)
(124)
(125)
www.auswaertiges-amt.de. Londoner Afghanistan-Konferenz, 28. Januar 2010, S.2.
So die Orientalistin Almut Wieland-Karimi im SPIEGEL-Interview.
www.spiegel.de. 28.Januar 2010.
SZ, 26. Januar 2010.
www.spiegel.de. 28. Januar 2010.
www.spiegel,de. 28. Januar 2010, 20:02.
SZ, 29. Januar 2010.
www.auswaertiges-amt.de.
www.spiegel,de. 28. Januar 2010.
linksfraktion.de. Pressemitteilung 29. Januar 2010.
Vgl. hierzu den Hinweis in Fn. 38.
www.taz.de. 29. Januar 2010.
SZ, 14./15./16. August 2009.
SZ, 27. Januar 2010.
Stiftung Wissenschaft und Politik. Diskussionspapier. Stand 13.03.2007.
www.swp-berlin.org.
Alle weiteren dort angeführten Resolutionen vgl. Fn. 92.
I n: „Das schreit geradezu nach Aufklärung“. Interview mit Marcus Klöckner v.
15.Dezember 2009, S. 1. (Telepolis). www.heise.de.
DEISEROTH, ebd., S.2.
Ders., ebd., S.4.
Ders., ebd., S.6.
Ders., ebd., S.2
Ders., ebd., S.3.
Ders., ebd.,S.4.
Lea Wüst (Phoenix.online.de). Mit Material von AP.
www.uni-kassel.de. Bundeswehr: ISAF-Einsatz mit Kampfmandat. 01. Januar 2010.
(Friedensratschlag), S. 2.
Nach DEISENROTH, vgl. Fn. 94, S.2.
Die anderen Resolutionen werden aufgelistet bei: Stiftung Wissenschaft und Politik.
Diskussionspapier. Stand 13.03.2007. www.swp-berlin.org.
UN-Schutztruppe für Afghanistan, Bundestagsbeschluss. (Friedensratschlag).
www.uni-kassel.de.
www.spiegel.de. 26.Januar 2010.
SZ, 16. Februar 2010.
www.heute.de (20.01.2010. ISAF-Chef fordert mehr Risiko von der Bundeswehr.
Ebd.
SZ, 27. Januar 2010.
SZ, ebd.
SZ, 29. Januar 2010.
SZ, ebd.
SZ, 27.Januar 2010.
SZ, ebd.
SZ, 30./31. Januar 2010.
Panorama, 21.Januar 2010/ 21.45. www.daserste.de
ebd.
SZ, 18. August 2009.
SPIEGELONLINE. 28. Januar 2010. Vor London-Konferenz.
ZEITmagazin No. 40. 24.09.2009., S. 21.
Bundeswehr in Afghanistan. Die gezähmte Armee. Panorama, 21. Januar 2010.
www.daserste.de
(126) Merkels neue Afghanistan-Strategie. Parole Vernebelung. SPIEGEL ONLINE, 26.
Januar 2010.
(127) SZ, 26. Januar 2010.
(128) SZ, 10. September 2009.
(129) ebd.
(130) SZ, 29. Januar 2010.
(131) RZ, 28. Januar 2010.
(132) SZ, 03. Februar 2009.
(133) SZ, 10. September 2009.
(134) DEISEROTH, Dieter: Deutschlands „Kampfeinsatz“: Jenseits des Rechts.
Vorabdruck für die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ im
Dezember 2009. www.fr-online.de
(135) Telepolis. „Das schreit geradezu nach Aufklärung.“ Interview Marcus
Klöckner mit Dieter Deiseroth am 15. 12. 3009, S.1 . www.heise.de
(136) ebd.,S. 2.
(137) Vgl. (134).
(138) www.csu-landesgruppe.de. grundsatzposition, S.1.
(139) ebd.
(140) SCHMIDT, Helmut. Münchner Runde. BR-online. 03.03.2010.
(141) SZ, 25. Januar 2010.
(142) Gelöbnis. Helmut Schmidts Rede im Wortlaut. 20. Juli 2008. www.morgenpost.de
(143) RZ, 24. März 2009.
(144) www.heute.de 04.11.2009
(145) SZ, 25. Januar 2010.
(146) SZ, 29. Januar 2010.
(147) ebd.
(148) Afghanistan. ZEIT ONLINE, dpa 28.03.2009.
(149) Die zukünftige Strategie für Afghanistan und Pakistan. Übersicht des Weiße
Hauses (Fact Sheet). www.uni-kassel.de /fb5.
(150) SZ, 07. Januar 2010.
(151) ebd.
(152) RZ, 15. Januar 2010.
Angaben zur Person
geb. 1939 in Heidelberg.
Nach der Mittleren Reife von 1957 – 1960 Zeitsoldat bei der Bundesmarine.
1961 – 1964 Besuch des Abendgymnasiums in Kiel. (Tätigkeiten als Hilfsarbeiter in
verschiedenen Arbeitsbereichen).
1964 nach bestandener Externer Reifeprüfung Eintritt in die Bundesmarine als
Offizieranwärter.
Ausbildung zum Seeoffizier u.a. auf dem Segelschulschiff „Gorch Fock“ und dem
Schulschiff „Deutschland“.
Anschließend Tätigkeiten u.a. als Fernmeldeoffizier und in der Offizieranwärterausbildung (Zugführer) auf dem Schulschiff „Deutschland“, Hörsaalleiter an der
Marineoffizierschule Flensburg-Mürwik und Lagezimmeroffizier beim Befehlshaber
der Seestreitkräfte der Nordsee.
1972 – 1978 Studium Pädagogik, Philosophie, Soziologie und Psychologie an
der Ludwig-Maximilians-Universität München; Abschluss Magister Artium (M.A.)
Lehrstabsoffizier am Zentrum Innere Führung in Koblenz (Grundlagenarbeit und
Lehrtätigkeit in Seminaren). Kadettenoffizier auf dem Schulschiff „Deutschland“,
Hörsaalleiter für Jugendoffizierlehrgänge an der Akademie für Kommunikation in
Waldbröl.
Veröffentlichungen zu Fragen der Menschenführung, der Politischen Bildung
und zu friedens- sicherheitspolitischen Themen.
1986 im Rahmen des Personalstrukturgesetzes aus dem aktiven Dienst ausgeschieden.
Seither zahlreiche journalistische ehrenamtliche Tätigkeiten im kommunalen Bereich
(u.a. zwei kulturhistorische Bücher über das Leben im Westerwald in der Zeit
zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert).
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