Gefangen_im_Labyrinth - Die Kraft der Frauen

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Gefangen im Labyrinth
© Kathlen A.
(Ich bitte meine Leser darum, diese Geschichte weder zu vervielfältigen noch weiter zu
veröffentlichen.)
2
II.
In dem kleinen Krankenzimmer waren die Jalousien herunter gezogen, so dass kaum ein
Lichtstrahl in den Raum drang. Rebekka überprüfte noch einmal die Anzeigen auf dem
Vitaldatenmonitor, der die Herzfrequenz, den Blutdruck und die Sauerstoffsättigung des
Blutes überwachte.
Das junge Mädchen war mit unzähligen Kathedern und Schläuchen an die
lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen. Seit über einem Jahr lag sie nun schon im
Koma, ohne irgendeine Regung zu zeigen.
Rebekka stand noch eine Weile nachdenklich am Bett der jungen Patientin und betrachtete
prüfend das blasse Gesicht mit den langen Wimpern. Die blonden kurzen Haare waren dem
Mädchen von einer Schwester ordentlich geschnitten und gekämmt worden und die
schmalen Finger waren sauber und gepflegt.
Wieder wurde Rebekka von Schuldgefühlen geplagt. Denn Natalie war für sie mehr als
irgendeine andere Patientin. Sie war im letzten Jahr ihr Kindermädchen und der Unfall hatte
sich vor fast achtzehn Monaten in ihrem eigenen Haus ereignet.
In vier Wochen würden Natalies Eltern aus Deutschland eintreffen, um nach ihrer Tochter zu
sehen. Rebekka wusste, dass dieser Besuch sehr selten war, denn die Eltern hatten nicht
viel Geld und konnten sich den Flug nach New Jersey nur zweimal im Jahr leisten. In ihre
Gedanken vertieft, strich sie noch einmal die stets ordentlich gefaltete Bettdecke glatt, dann
verließ sie rasch das Zimmer.
Auf dem langen Krankenhausflur stieß sie mit Dave zusammen. „Hallo Darling, warst du
noch einmal bei Natalie?“ Rebekka nickte und brachte ein Lächeln zustande:
„Ja, ich habe gerade meine übliche Runde gemacht und wollte nur sichergehen, dass alles in
Ordnung ist.“
„Natürlich wolltest du das ... Hey, wie wäre es, wenn wir zwei jetzt eine Pause machen und
uns zum Lunch in unserem kleinen italienischen Restaurant an der Ecke treffen?“ Dabei
zwinkerte ihr Dave wie ein Schuljunge zu und Rebekka dachte für einen kurzen Moment, die
Zeit wäre stehen geblieben.
Kannte sie diesen Mann wirklich schon zwanzig Jahre? Doch in letzter Zeit drängte sich ihr
immer wieder die Frage auf, wie gut sie ihn eigentlich kannte.
Denn der scheinbar strahlende und immer gut gelaunte Dave hatte ein Talent, welches sie
selbst nicht besaß, er war vor allem ein guter Schauspieler.....
Dave hatte sich seinen jungenhaften Charme über die Jahre hinweg bewahrt. Er war
sportlich und gut aussehend und so manch eine der Krankenschwestern verfolgte ihn mit
sehnsüchtigem Blick.
Rebekka kam sich neben ihm immer klein und unscheinbar vor. Sie wusste nur zu gut, dass
die Katastrophe, die ihre Familie vor zwei Jahren heimgesucht hatte, noch immer an ihrer
Seele und ihrem Körper zehrte.
Dennoch war sie in ihrem Beruf stets unfehlbar und leistete ebensoviel wie Dave.
Vor jetzt fast zwanzig Jahren hatten sie sich hier in dieser Klinik gleich nach ihrem Studium
kennen gelernt. Als junge Ärzte fingen sie beide auf derselben neurologischen Station an,
auf der vor allem Komapatienten betreut und überwacht wurden.
Anfangs arbeiteten sie nur zusammen, doch schon bald entwickelte sich eine zarte Liebe
zwischen ihnen. Während Dave als Neurologe seine Kenntnisse hinsichtlich der
Bewusstseinszustände von Komapatienten vertiefte, schrieb Rebekka als Internistin an einer
Forschungsarbeit über die Verbesserung der Kontrolle der Vitalfunktionen bei
Komapatienten. Oft unterhielten sie sich bis spät in die Nacht hinein über ihre
Forschungsergebnisse.
Doch Rebekka liebte Dave nicht nur wegen seiner Klugheit, sondern war vor allem von
seinem Charme wie verzaubert. Er hatte es tatsächlich geschafft, sie innerhalb kürzester Zeit
um den Finger zu wickeln.
3
Doch dann wurde Rebekka schwanger und sie heirateten ziemlich überstürzt. Weil sich das
nach Meinung ihrer konservativen Eltern für ein Kind so gehörte.
Kurz darauf zogen sie in ihre erste gemeinsame Wohnung in New Jersey, die für sie drei
eigentlich viel zu klein war. Aber als junge Ärzte verdienten sie nur wenig und konnten sich in
der Großstadt nichts Besseres leisten.
Rebekka blieb mit dem Kind für ein halbes Jahr zu Hause. Aber in dem alltäglichen Einerlei
mit Baby und Haushalt und in der erdrückenden Enge ihrer winzigen Wohnung vermisste sie
ihre Arbeit umso mehr. Um wieder arbeiten zu können, besorgte sie sich eine Pflegemutter
für ihre Tochter. Eine Entscheidung, die sie später sehr bereuen sollte...
…
In dem kleinen italienischen Restaurant herrschte eine behagliche Atmosphäre.
Obwohl draußen die Mittagssonne vom Himmel strahlte, war es drinnen abgedunkelt und
somit angenehm kühl. . Das Restaurant war bis auf einen Gast am Tresen zu dieser Zeit
völlig leer. Daher konnten Dave und Rebekka ungestört an ihrem Lieblingstisch in einer
kleinen Nische Platz nehmen.
Rebekka beobachtete Dave still, während er mit dem Kellner einen fröhlichen Plausch hielt
und dann seine Bestellung in fließendem Italienisch aufgab.
Er war so redegewandt und ungezwungen, während sie selbst immer noch in ihre Trauer
eingehüllt war. Diese Trauer war wie ein schwerer Umhang, durch den alle anderen
Empfindungen nur noch gedämpft zu ihr durchdrangen. Die Liebe zu Dave und zu ihren
Kindern war mittlerweile ebenso in den Hintergrund geraten, wie die Hingabe zu ihren
Patienten. Obwohl sie nach wie vor sehr gewissenhaft arbeitete, war ihr Herz nicht mehr bei
der Sache.
Die meiste Zeit gelang es Rebekka, ihre Gefühle mit einem sorgfältig einstudierten Lächeln
zu überspielen. So auch jetzt, als Dave ihr mit seinem Glas zuprostete.
Rebekka sah ihn an und dachte plötzlich angewidert: > Warum zeigst du mir deine Trauer
nicht – Dave? Warum reden wir niemals über unsere Gefühle? Oder empfindest du nichts
von alledem, worunter ich so leide? <
Sie sagte jedoch kein Wort, nickte ihm stattdessen nur zu und stocherte mit ihrer Gabel
lustlos in ihrem Salatteller herum.
Dave langte über dem Tisch nach ihrer Hand: „Hey, Darling, alles in Ordnung mit dir? Machst
du dir Sorgen, wegen Natalies Eltern? Glaub mir, in einem Monat haben wir alles
überstanden und sie sind wieder fort.“
Rebekka zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt. „Wie kannst du nur so abgebrüht
sein, Dave? Das sind Eltern, die um ihre Tochter trauern und sich große Sorgen machen.
Was ist nur mit dir los? Fühlst du dich denn gar nicht mehr für Natalie verantwortlich? Oder
hast du unsere eigene Trauer vergessen? Erinnerst du dich nicht mehr an unseren
Schmerz? Wir haben auch eine Tochter verloren, Dave. Wir haben Sarah verloren, hast du
das vergessen?“
Dave blickte sie plötzlich mit kalten Augen an: „Sei still, Rebekka. Halt verdammt noch mal
deinen Mund. Gerade, weil ich jeden Tag an ihren Tod denke und dabei jedes Mal diesen
Schmerz durchlebe, muss ich etwas dagegen tun!“
Rebekka zuckte zusammen und starrte ihn erschrocken an. Doch schon im nächsten
Moment hatte Dave sich wieder in der Gewalt. Leise sagte er zu ihr: „Verzeih mir Schatz. Ich
hab es nicht so gemeint.“ Dann lächelte er plötzlich: „Stell dir vor, ich habe etwas
Unglaubliches entdeckt. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir mit Sarah
Kontakt aufnehmen können!“
Rebekka schaute ihn völlig verwirrt an. Dann flüsterte sie heiser:
„Aber Dave, was redest du denn da? Was meinst du damit, du hast etwas gefunden, um mit
Sarah Kontakt aufzunehmen? So etwas gibt es doch gar nicht.“
4
Dave war plötzlich aufgeregt wie ein Schuljunge. Er schnappte sich seinen Aktenkoffer,
klappte ihn auf und holte einen braunen, zerknitterten Umschlag hervor. Verstohlen blickte er
sich um, dann schob er Rebekka den Umschlag über den Tisch. „Mach ihn auf ...“
Rebekka zitterten plötzlich die Hände und ein unbehagliches Gefühl überkam sie. Sie starrte
auf den Umschlag, unfähig ihn zu berühren. Schließlich zog Dave aus dem Umschlag ein
unordentlich gefaltetes Blatt hervor.
Am oberen Rand war eine Visitenkarte angeklammert. Rebekka las die Adresse zweimal
durch:
Pedro Gonzilez
Quinston-Street 90
New Jersey
- Schamane –
Rebekka runzelte kurz die Stirn, doch dann vertiefte sie sich in das Schreiben.
Pedro Gonzilez schrieb:
Ich bin praktizierender Schamane und habe bereits viele erfolgreiche
Trancesitzungen und schamanische Reisen durchgeführt. Ich biete Ihnen an, mich
auf meinen schamanischen Reisen zu begleiten.
Wussten Sie, dass es ganz unterschiedliche Bewusstseinsebenen gibt, die unser
Unterbewusstsein durchläuft? Wollten Sie schon immer erfahren, was geschieht,
wenn sie Tagträume haben, sich im Tiefschlaf befinden oder gar bewusstlos sind?
Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod. Haben Sie Interesse, etwas über ihre
Schutz- und Ahngeister zu erfahren? Verspüren auch Sie den Wunsch, die Kräfte
der geistigen Welten für sich zu nutzen?
Weiter unten im Text hatte Dave zwei Sätze fett angestrichen.
Die Welt, in der wir uns in Trance befinden, ist der Welt, in der unsere Seelen
nach unserem Tod entschwinden, sehr nah. Auf meinen schamanischen Reisen
habe ich selbst erlebt, dass innerhalb dieser Welten eine sehr intensive Verbindung
zwischen den Lebenden und den Toten besteht.
Haben auch Sie Interesse, einen Kontakt zur geistigen Welt und zu ihren
verstorbenen Verwandten herzustellen?
Dave streichelte sanft Rebekkas Hand und als sie ihn endlich wieder ansehen konnte,
glitzerten auch in seinen Augen Tränen. Er hatte seine strahlende Maske abgelegt, wenn
auch nur für einen kurzen Augenblick.
...
Während Rebekka am Nachmittag vor ihrem Computer saß und versuchte, sich auf die
langen Zahlenkolonnen mit Untersuchungswerten zu konzentrieren, zogen draußen dicke
Regenwolken auf. Der Himmel verfärbte sich in ein bedrohliches Grau-Schwarz.
Kurzzeitig dachte sie an ihre Kinder zu Hause, doch dann ermahnte sie sich zur Ordnung.
Katharina würde schon alles richten und mit den Kindern sicher im Haus spielen.
Rebekka rieb sich müde über die Augen.
Der Brief, den Dave ihr gezeigt hatte, beschäftigte sie ungemein. Sie hatten sich lange
darüber unterhalten und dabei ihr Essen völlig vergessen.
5
Obwohl sie anfangs alles als Scharlatanerie abgetan hatte, vermochte Dave sie zu
überzeugen, dass es noch immer viele unerforschte Dinge gab, die man wissenschaftlich
einfach nicht erklären konnte. Er hatte ihr schließlich vorgeschlagen, sich ganz unverbindlich
einmal mit diesem Mister Gonzilez zu treffen.
Rebekka fühlte sich hin und her gerissen. Was, wenn es wirklich eine Möglichkeit gab, einen
Kontakt zu Sarah herzustellen?
Sie wusste, dass es aus medizinischer Sicht tatsächlich verschiedene Bewusstseinsebenen
gab, welche Mister Gonzilez beschrieben hatte. Genau dieser Aspekt war es, der den
Schamanen für sie wenigstens etwas in einem seriösen Licht erscheinen ließ.
Komapatienten befanden sich tatsächlich oftmals auf verschiedenen Ebenen der
Bewusstlosigkeit, je nach Schwere ihrer Verletzungen und ihres körperlichen Zustandes.
Doch der Gedanke an Schutz- und Ahngeister, von denen der Schamane gesprochen hatte,
rief bei ihr nur Unverständnis und Abneigung hervor.
Ein heftiges Donnergrollen ließ Rebekka erschrocken auffahren. Ein Gewitter hatte ihr
gerade noch gefehlt. Hastig stürzte sie aus ihrem Büro und eilte in Natalies Zimmer.
Eine der Krankenschwestern war schon dort und kontrollierte routiniert die Anzeigen auf dem
Monitor.
Die Schwester drehte sich lächelnd um und sagte: „Keine Sorge, Frau Doktor, hier ist alles in
Ordnung. Die aufgezeichneten Werte sind alle im normalen Bereich.“
Rebekka überflog mit einem prüfenden Blick den Monitor, dann trat sie dicht an Natalies Bett
und kontrollierte noch einmal gewissenhaft alle Katheder und Schlauchverbindungen.
Die Trachealkanülen zur Beatmung saßen fest und der Beatmungsschlauch ließ sein
monotones Pfeifgeräusch hören.
Während Rebekka äußerlich ruhig auf Natalies künstliches Atmen lauschte, drehten sich ihre
Gedanken wie wild im Kreis. Hier lag Natalie, deren Bewusstsein tief in ihrem Inneren
gefangen war. Doch ihr Körper war völlig unverletzt und die Kopfwunde war längst verheilt.
Aber sie lag immer noch im Koma und niemand konnte sich erklären, warum sie nicht
aufwachte.
Plötzlich hatte sie wieder das grausige Bild ihrer Tochter Sarah vor sich, am Tag ihres
Unfalls.
Das Motorrad lag unter dem Lastwagen, der ihrer Tochter und deren Freund bei einem
Überholmanöver entgegen gekommen war. Die beiden waren sofort tot.
Sarahs Körper war durch den Unfall furchtbar zerquetscht worden. Ein Bein war abgetrennt
und ihr Gesicht durch den Aufprall völlig zerfetzt.
Der Anblick in der Pathologie war so grauenvoll für Rebekka, dass sie auch jetzt noch oft
davon träumte und jedes Mal schreiend erwachte.
Aber was war mit Sarahs Seele geschehen? War ihre Seele wirklich unversehrt und heil?
Gab es überhaupt so etwas wie eine Seele? Und wenn ja, war es dann tatsächlich möglich,
einen Kontakt zu Sarah herzustellen, wie es Mister Gonzilez beschrieben hatte?
Rebekka wünschte sich nichts sehnlicher, als noch einmal mit ihrer verstorbenen Tochter
reden zu können. Ihr noch einmal versichern zu dürfen, wie sehr sie sie geliebt hatte und
noch immer liebte, immer lieben würde...
Blicklos starrte sie auf den Monitor neben Natalies Bett. Sie hatte nicht bemerkt, dass die
Schwester leise das Zimmer verlassen hatte.
6
Lizzy spielte in ihrem Kinderzimmer, während sie Katharina und ihre Brüder im
Nebenzimmer lachen hörte.
Draußen regnete es in Strömen und kleine Bäche liefen an ihrem Fenster herab. Der Wind
zerzauste die alten Bäume im Garten, die bedrohlich hin und her schwangen.
Brian und Ron alberten lachend mit Katharina herum und spielten Fangen mit ihr.
Es gab schon einmal ein Kindermädchen in diesem Haus. Aber darüber durfte Lizzy nicht
reden. Es gab auch einmal eine große Schwester für Lizzy, doch auch darüber sollte sie
nicht sprechen.
Lizzy seufzte schwer und mühte sich mit ihrer Puppe ab, deren Haare völlig verfilzt waren.
Die Puppe hatte Haare wie Sarah. Dicke rote Strähnen flossen ihr über die Schultern und
waren in ihrer Fülle kaum zu bändigen.
Lizzy wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Denn auch das war nicht
erwünscht. Sie durfte nicht weinen und nicht sprechen und so blieb auch das Lachen in ihrer
Kehle stecken. Lachen konnten nur Brian und Ron, denn die waren noch zu klein, um all die
furchtbaren Dinge zu verstehen, die in ihrer Familie passierten.
Auch ihre Mom lachte nicht mehr. Dafür lächelte sie stets, mit diesem sanften künstlichen
Lächeln, wovon Lizzy immer Bauchschmerzen bekam. Ihr Dad hingegen war meistens sehr
beschäftigt und schien ihr aus dem Weg zu gehen. Lizzy hatte nie gefragt, warum sich ihre
Eltern so seltsam verhielten. Instinktiv passte sie sich an und schwieg, denn sie wusste, dass
man ihre Fragen nicht beantworten würde. Fast erschien es so, als sei Sarah nie da
gewesen und als wäre alles in bester Ordnung.
Dabei war Lizzys ganze Welt zerbrochen. Ihre kleine heile Welt gab es nicht mehr...
Während sie aus dem Fenster blickte und dabei zusah, wie sich auf dem Weg im Garten
große Pfützen bildeten, hatte sie plötzlich ein anderes Bild vor Augen.
Sie war wieder sechs Jahre alt und stand an ihrem Fenster, während sie unten Sarah dabei
beobachtete, wie sie sich auf das Motorrad ihres neuen Freundes schwang. Ein kurzer Blick
zu ihrem Fenster hinauf und ein fröhliches „Good bye, Püppchen“ ... waren das Letzte, was
sie von ihrer großen Schwester zu sehen bekam.
Lizzy schüttelte energisch den Kopf – das waren nur Bilder, böse Bilder, die sie sorgfältig
ganz tief verpackt hatte. Sie durfte einfach nicht mehr an Sarah denken. Denn das tat
entsetzlich weh.
Lizzy seufzte noch einmal tief und schluckte tapfer ihre Tränen hinunter.
Jetzt gab es dieses neue Kindermädchen. Katharina war wirklich freundlich zu ihr und zu
ihren kleinen Brüdern. Sie kannte tolle Spiele und dachte sich jeden Tag neue
Überraschungen aus. Lizzy krampfte sich der Magen zusammen, als sie Katharina
insgeheim mit dem anderen Kindermädchen, mit Natalie verglich.
Sie presste ihre Lippen fest aufeinander, dann schüttelte sie ihre Puppe unsanft und warf sie
in die Puppenwiege. Hastig nahm sie sich ihre Malstifte und malte große Kreise auf ein Blatt
Papier. Doch die Kreise verwischten und verschwammen plötzlich vor ihren Augen.
Nein, sie wollte nicht weinen, sie wehrte sich gegen ihre Tränen. Genauso wie sie sich
dagegen wehrte, dass sie Katharina eigentlich gern hatte.
Aber im vorigen Jahr war Natalie ihr Kindermädchen, bis sie auf seltsame Weise aus ihrem
Leben verschwand. Jetzt gab es weder Sarah noch Natalie.
Doch sie liebte ihre große Schwester immer noch. Sarah, die immer so herrlich unbeschwert
und fröhlich war.
Mit Sarahs Tod kam auch die Angst. Angst davor, eines Tages auch Brian und Ron zu
verlieren oder sogar ihre Eltern. Ob wohl diese Katharina auch wieder verschwinden würde?
Lizzy betrachtete stumm die Regentropfen an ihrem Fenster und hatte plötzlich das Gefühl,
an ihren Tränen zu ersticken.
Es tat entsetzlich weh, Menschen zu verlieren, die man liebte. Doch noch schlimmer war die
Tatsache, dass es niemanden gab, mit dem sie darüber reden konnte.
7
III.
Peter Wendland hatte die Vierzig schon weit überschritten. Mit seiner fast kahlen Stirn,
seinen breiten Händen und dem Schmerbauch war er nicht gerade das, was man einen
sportlichen Typen nannte.
Stirn runzelnd betrachtete er seinen letzten Kontoauszug, den er gerade aus dem Automaten
gezogen hatte.
Dann zerknüllte er rasch das Papier in seiner Hand und ließ es achtlos auf den Bürgersteig
fallen. Es war besser, wenn Irene nichts davon wusste. Das würde sie nur wieder aufregen.
Besser war es auch, wenn er nicht weiter darüber nachdachte. Irgendwoher würden sie das
Geld für den Flug schon auftreiben. Irgendwie würde es weiter gehen. Es hatte schließlich
auch beim letzten Mal geklappt. Aber da war er noch nicht arbeitslos.
Peter dachte kurz an die knappen Worte, die ihm sein Personalchef vor nunmehr sechs
Wochen mitgeteilt hatte: „Herr Wendland, auf Grund der momentanen geringen Auftragslage
sehen wir uns leider gezwungen usw., usw. ... „ Man hatte ihm gekündigt, nachdem er fast
zwanzig Jahre für dieselbe Firma gearbeitet hatte. Einfach so ...
Aber auch das hatte er seiner Irene nicht erzählt.
Vor einem halben Jahr waren sie das letzte Mal in Amerika gewesen. Die Zeit schien seither
stillzustehen. Aber würde dieses Mal irgendetwas anders sein?
Er war sich ziemlich sicher, dass sich nichts geändert hatte.
Natalie würde noch genauso bewegungslos in ihrem Bett liegen. Ihre Augen würden immer
noch fest geschlossen sein. Sie würde einfach daliegen, so als wäre sie tot, was sie ja
irgendwie auch war. Zumindest erschien sie ihm mehr tot als lebendig.
Peter ging die Straße entlang, ohne den Blick zu heben. Er sah nicht die Bäume, die in voller
Blätterpracht rauschten, sah nicht den blauen Himmel und die strahlende Sonne. Tief in
Gedanken versunken, ging er immer weiter und bemerkte kaum die Leute, die ihm entgegen
kamen. Er hörte nicht die lachenden Kinder mit ihren Eiswaffeln in der Hand und sah nicht
die jungen Mütter mit ihren Kinderwagen. Er bemerkte nicht einmal das junge Mädchen,
dass in engen Shorts mit ihrem Fahrrad an ihm vorbei radelte und achtete auch nicht auf die
beiden jungen Hunde, die sich in einem Vorgarten balgten.
Als er die Haustür des Mehrfamilienhauses aufschloss und im Treppenflur seinen
Briefkasten öffnete, rutschte ihm ein weißer Umschlag entgegen.
Wieder ein Brief aus New Jersey – dachte Peter und riss hektisch den Umschlag auf.
Dr. Johnson schrieb ihnen jeden Monat einen dieser Briefe, um sie über den Zustand von
Natalie zu informieren. Peter überflog nervös die Zeilen, doch dann ließ er kraftlos die Hand
mit dem Brief sinken. Keine Veränderung – wie immer.
Dr. Johnson teilte ihnen mit, dass man einen ersten Versuch unternommen hatte, um Natalie
allein atmen zu lassen. Leider erfolglos.
Am Ende des Briefes drückte er wie immer sein tiefes Bedauern über den Unfall aus und
schrieb ihnen, dass er inständig hoffe, ihnen bald etwas Positives mitteilen zu können.
Peter spürte jedes Mal ein Unbehagen beim Lesen dieser Briefe. Er wusste, dass der Unfall
seiner Tochter im Haus des Doktors passiert war.
Gleich nach dem Unfall hatte man ihn und seine Frau benachrichtigt und sie wurden auf
Versicherungskosten sofort nach Amerika geflogen.
Es war von einem Treppensturz die Rede und von einer schweren Kopfverletzung mit daraus
folgendem Koma.
Man hatte Natalie sofort nach dem Unfall in die staatliche Klinik nach New Jersey gebracht.
Dort wurde sie von Dr. Johnson und seiner Frau betreut.
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Peter hatte sich damals lange mit dem sympathischen Ärztepaar unterhalten, die ihm immer
wieder versicherten, wie furchtbar dieser Unfall für sie sei. Seine Frau Irene saß stumm und
teilnahmslos daneben. Sie wollte mit niemandem sprechen und war seit dem Unfall nur noch
ein elendes Bündel, völlig kraftlos und nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Während ihres einwöchigen Aufenthaltes in New Jersey hatte Dr. Johnson ihm und seiner
Frau angeboten, in seinem Haus zu übernachten.
Peter nahm das Angebot erleichtert an, denn schon damals fehlte ihnen das Geld, um ein
teures Hotelzimmer zu buchen.
Seitens der Polizei in New Jersey gab es nur eine kurze Befragung zu Natalies Personalien.
Peter erinnerte sich, dass er auch diese Unterhaltung ganz allein bestreiten musste, weil
Irene sich völlig in sich selbst zurückgezogen hatte. Nichts und niemand schien sie in ihrer
Welt aus Schmerz und Verzweiflung erreichen zu können.
Als sie wieder in Deutschland waren, wurde ihnen mitgeteilt, dass es eine Untersuchung
durch das zuständige Policedepartment geben würde. Acht Wochen später erhielten sie ein
weiteres Schreiben mit der Information, dass die Untersuchungen nunmehr abgeschlossen
seien, mit dem Ergebnis, dass es sich eindeutig um einen bedauerlichen Unfall handelte.
Da Natalie in ihrem Zustand nicht transportfähig war, musste sie weiterhin in Amerika
medizinisch betreut werden. Dr. Johnson blieb daraufhin ihr behandelnder Arzt.
Ein halbes Jahr später flogen Peter und Irene noch einmal nach New Jersey. Doch zu
diesem Zeitpunkt weigerte sich die Versicherung, erneut den Flug zu bezahlen.
Auf Peters Anfrage verwies ihn ein mürrischer Versicherungsbeamter auf das Kleingedruckte
des Vertrages. Darin hieß es, dass eine Kostenrückerstattung für den Flug nur einmalig in
Anspruch genommen werden durfte.
Wenigstens konnten sie wieder kostenfrei bei dem freundlichen Ärzteehepaar wohnen.
Auch dieses Mal würden sie also den Flug allein bezahlen müssen. Wieder würden sie wie
Bittsteller in dem vornehmen Haus dieser freundlichen aber fremden Leute wohnen.
Für Irene war diese Tatsache wohl noch unangenehmer als für ihn. Denn sie hatte in dem
Haus ständig den Gedanken, dass Natalie einst im selben Zimmer gelebt hatte und sie
fürchtete sich vor der hohen geschwungenen Treppe, auf der der Unfall passiert war.
Inständig hatte sie Peter gebeten, doch dieses Mal eine andere Unterkunft zu suchen.
So versuchte er nun schon seit Wochen über diverse Reisebüros kleine und bezahlbare
Unterkünfte ausfindig zu machen, was sich aber als schier unmöglich erwies.
Peter rieb sich müde die Augen und stieg die Stufen zu seiner kleinen Wohnung hinauf.
Als er die Tür aufschloss, riss er sich zusammen und rief fröhlich vom Flur aus:
„Bin wieder da. .... Was gibt es denn zu essen?“
Er erwartete keine Antwort und wusste schon im Voraus, wo er Irene finden würde.
Sie saß im Wohnzimmer, in ihrem Sessel, den Blick stumm auf den ausgeschalteten
Fernsehapparat gerichtet. Neben ihr auf einem Tischchen stand der Käfig mit dem
Wellensittich, den Peter ihr vor zwei Monaten zum Geburtstag geschenkt hatte.
Das Tierchen zwitscherte munter und turnte beständig auf seinen Stangen herum.
Die Psychologin, die Irene seit einem halben Jahr betreute, hatte ihm geraten, dass ihr
vielleicht ein Haustier gut tun würde. Jemand, um den sie sich kümmern müsste.
Doch Irene nahm kaum Notiz von dem Vogel und so blieb das Füttern und Reinigen des
Käfigs, wie überhaupt alle Hausarbeit an Peter hängen.
Irene ging nach dem Unfall nicht mehr arbeiten. Dabei hatte sie ihren Job in einer Bücherei
geliebt und mit Freude dort gearbeitet. Es schien fast, als würde sie sich genau wie Natalie,
in einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit befinden.
Nachdenklich betrachtete Peter seine Frau eine Weile. Dann verschwand er leise in der
Küche. Er hatte sich angewöhnt, größere Portionen zu kochen und diese einzufrieren, um sie
dann nach und nach wieder aufzuwärmen. Das sparte Geld und Zeit.
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Mutlos ließ er sich auf den einzigen Küchenschemel sinken.
Die Küche war sehr klein, eher eine Kochnische, so dass sich darin zwei Personen
gleichzeitig schon im Wege standen.
Peter dachte an den Abend zurück, als sie vor zwei Jahren Natalie verabschiedet hatten.
Es war der Abend vor ihrem Abflug nach Amerika und sie hatten sich alle fein angezogen.
Dann waren sie zu dritt in ein schickes Restaurant gegangen, in dem Peter extra einen Tisch
bestellt hatte. Ein Luxus, den sie sich viel zu selten gönnen konnten.
Doch für seine Natalie war ihm nichts zu teuer. Wie hübsch sie an diesem Abend
ausgesehen hatte. Seine schlanke Tochter mit ihren blonden kurzen Haaren und in dem
schmalen schwarzen Kleid.
„Hallo ... du bist ja zu Hause. Das habe ich gar nicht gemerkt.“ Irene stand in der Küchentür
und blickte ihn erstaunt an.
Hastig wischte sich Peter die Tränen ab, bevor er sie anlächelte. „Aber ja, Schatz. Ich bin da
und ich koche uns jetzt etwas Feines.“
Irene lächelte sanft. Doch im nächsten Moment hatte sie ihn wohl schon wieder vergessen.
Wortlos tappte sie zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder in ihren Sessel.
Sie hatte Natalie gesehen, ihre geliebte Tochter.... Und sie hatte sie gerufen.
Aber Natalie schien sie nicht zu hören. Natalie saß auf einem Stein in einer düsteren Höhle.
Sie selbst stand am Höhleneingang. Ein langer schmaler Gang führte vom Eingang in den
Höhlenraum, in dem sich Natalie befand. Doch sobald sie einen Fuß hineinsetzen wollte,
wurde sie durch irgendetwas blockiert. Es schien, als wenn ihr der Zugang zu der Höhle
verwehrt wurde.
Also rief sie nach ihrer Tochter. Laut rief sie ihren Namen, immer und immer wieder.
Aber Natalie reagierte nicht ...
Verwundert darüber hatte sie der Frau Doktor Schneider bei ihrer letzten Sitzung alles
erzählt. Ihrem Peter konnte sie doch so etwas nicht erzählen. Peter musste jeden Tag fleißig
arbeiten ...
Die Frau Doktor hatte gesagt, dass alles nur ein Traum gewesen sei. Aber Irene hatte heftig
widersprochen:
„Nein, ganz und gar nicht, Frau Doktor. Das war kein Traum. Ich habe doch sogar gespürt,
dass es in der Höhle sehr kalt war. Dabei hatte Natalie nur ein dünnes Nachthemd an.“
10
IV.
Katharina ging mit den Kindern im Park spazieren. Es war noch einmal ein schöner
Sommertag, doch in der Luft lag schon der Duft des Herbstes. Die Blätter an den Bäumen
begannen sich langsam zu färben und es regnete jetzt häufiger.
Der Park war groß und sehr weitläufig angelegt. In seiner Mitte ruhte ein See, der an den
Ufern von dichtem Schilf eingerahmt war. Hier schwammen Enten und Blesshühner.
Auf den umliegenden Wiesen wuchsen riesige alte Platanen, deren eigenwillige Stämme mit
der abgeblätterten Rinde im Sonnenlicht weiß glänzten.
Für Besucher gab es zahlreiche Bänke und die Kinder tobten auf großzügig angelegten
Spielplätzen.
Brian und Ron hatten sich bereits für einen Lieblingsspielplatz entschieden, zu dem sie nun
Katharina drängten. Lizzy hingegen schien es wie immer egal zu sein, wohin sie gingen.
Sie wirkte immer noch abweisend und unzugänglich.
Als sie den Spielplatz erreicht hatten, stürmten die Zwillinge mit lautem Gebrüll zu den
Klettergerüsten. Lizzy und Katharina setzten sich auf eine der Bänke.
„Hey was ist los, Lizzy? Magst du nicht mitspielen? Schau mal, dort drüben ist eine
Schaukel, ich könnte dich ein wenig anschubsen wenn du möchtest?“
Doch Lizzy schüttelte nur stumm den Kopf.
Katharina zog aus ihrer Tasche ein kleines Buch hervor. Ohne zu fragen, begann sie Lizzy
die Geschichte von „Susi und Strolch“ vorzulesen. Lizzy hörte ihr aufmerksam zu und an
manchen Stellen lachte sie sogar. Fast unmerklich rutschte sie ein Stück näher an Katharina
heran.
Doch plötzlich erstarrte sie und blickte wie gebannt auf die gegenüberliegende Seite.
Dort nahm gerade auf einer der Bänke eine alte Dame Platz. Katharina hörte auf zu lesen:
„Was ist denn Lizzy, kennst du die Frau dort drüben?“ Im selben Augenblick winkte die Frau
zu ihnen herüber. Lizzy sprang plötzlich auf und rannte um den Spielplatz herum, bis sie bei
der alten Dame angelangt war. Sofort fiel sie der Frau um den Hals und ließ sich von ihr
küssen.
Katharina stand auf und ging langsam um den Spielplatz herum.
Schon von weitem erkannte sie, dass die Frau eine Ausländerin war, vermutlich kam sie aus
der Türkei. Denn sie trug trotz des warmen Wetters ein weißes Kopftuch und einen langen
schwarzen Mantel.
Als Katharina vor ihr stand, lächelte die alte Frau sie freundlich an und klopfte mit ihrem
freien Arm neben sich auf die Bank. Lizzy hing immer noch an ihr und hatte sich eng an ihren
Mantel gekuschelt.
Katharina gab der fremden Frau die Hand und setzte sich neben sie. Die Frau sagte in
starkem Akzent zu ihr: „Guten Tag, wie geht es dir? Du bist sicherlich das neue
Kindermädchen?“
„Ja, ich heiße Katharina ...“ Die alte Frau lächelte: „Ein schöner Name, ich heiße Hamira.“
Dann, mit einem Blick auf Lizzy sagte sie: „Wir haben uns lange nicht gesehen, Kleines.
Geht es dir wieder besser?“
Plötzlich und wie auf Knopfdruck fing Lizzy an zu weinen. Sie weinte so hemmungslos, dass
es Katharina das Herz zusammenkrampfte. Die alte Hamira wiegte sie in ihren Armen und
schaute Katharina sorgenvoll an. „Weine ruhig, mein Kleines, weine. Manchmal muss der
Schmerz erst rauskommen, bevor es besser werden kann...“
Dann sagte sie zu Katharina: „Sie hat viel durchgemacht, diese Kleine. Aber das weißt du
sicher schon.“ Katharina schüttelte den Kopf: „Nein, sie redet kaum mit mir ...“
Hamira schien verwundert: „Also hat man dir nichts gesagt? So, so. Nun, aber vielleicht
könnt ihr mich ja bald einmal besuchen kommen, was meinst du Lizzy? Würde dir das
gefallen? Im letzten Sommer wart ihr doch oft bei mir, nicht wahr?“
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Lizzy schluchzte immer noch, doch dann nickte sie eifrig.
Hamira lächelte Katharina an: „Ich denke, du bist ein guter Mensch. Das sehe ich an deinen
Augen. Vielleicht kannst du unserer Kleinen helfen. Kommt mich ruhig bald besuchen. Lizzy
weiß, wo ich wohne.“
In diesem Moment ertönte in der Nähe eine Glocke und die Zwillinge kamen herbeigelaufen.
„Eis, Katharina, dort drüben gibt es Eis. Bitte, bitte, kauf uns eins, ja?“ Dabei blickten sie mit
einem Hundebettelblick, dem Katharina nicht widerstehen konnte.
Doch für einen Moment war sie unschlüssig, ob sie die Kinder wirklich allein lassen konnte.
Hamira nickte ihr freundlich zu: „Geh ruhig, ich kann auch einen Moment auf die drei
aufpassen.“
Katharina bekam von dem netten Eisverkäufer einen kleinen Behälter mit, so dass sie ihre
fünf Eiswaffeln besser tragen konnte. Sie schenkte auch Hamira eine Waffel, die sich
anfangs lachend sträubte. Doch dann saßen sie einträchtig auf der Bank, die Zwillinge links
und rechts neben Katharina und Lizzy immer noch auf Hamiras Schoß und schleckten ihr
Eis.
Katharina blickte verstohlen zu Lizzy, die nun eifrig mit Hamira erzählte. Die Nähe der alten
Frau schien wahrhaftig Wunder zu wirken.
Selbst auf dem Rückweg, den sie dieses Mal später als sonst antraten, weil der Abschied
von Hamira recht lang ausfiel, war Lizzy viel offener als sonst.
Am Abend brachte Katharina die Kinder ins Bett. Während sie den Zwillingen noch eine
Gutenachtgeschichte vorlas, saß Lizzy dieses Mal dicht neben ihr.
Rebekka und Dave würden an diesem Abend erst spät heimkommen, so dass Katharina die
Kinder allein ins Bett brachte.
Als sie auf Lizzys Bettkante saß, fragte sie: „Soll ich dir heute noch eine Extra-Geschichte
vorlesen?“ Lizzy schüttelte den Kopf: „Nein, aber kann ich dich etwas fragen?“ „Sicher Lizzy,
du kannst mich alles fragen“. Katharina war erstaunt, wie zutraulich die Kleine plötzlich war,
doch sie ließ sich nichts anmerken, damit Lizzy nicht gleich wieder vor ihr zurückschreckte.
„Würdest du mit uns zu Hamira gehen? Weißt du, Mom und Dad sollen nichts davon wissen.
Sie mögen es nicht, wenn wir zu Fremden gehen.“ Lizzy schaute sie bittend an.
Katharina lächelte: „Aber natürlich Lizzy, wenn du magst, können wir Hamira gern besuchen.
Ich finde, sie ist sehr nett.“
„Ja, sie ist wirklich nett!“ Lizzy strahlte und zum ersten Mal schlang sie ihre Arme um
Katharinas Hals und gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann kuschelte sie sich glücklich in
ihr Bett.
In dieser Nacht konnte Katharina lange nicht einschlafen. Tausend Fragen gingen ihr durch
den Kopf. Wer war diese Hamira und in welchem Verhältnis stand sie zu Lizzy? Von
welchem Schmerz hatte sie gesprochen und warum hatte Lizzy so herzzerreißend geweint?
Über welchen Kummer wollte Lizzy nicht sprechen und warum hatten Dave und Rebekka ihr
nichts davon erzählt?
Katharina hörte noch, dass draußen ein Wagen die Einfahrt hinauf fuhr und kurz darauf
wurde die schwere Eingangstür aufgeschlossen. Doch bald darauf schlief sie ein.
Sie stand am Eingang einer dunklen Höhle. Ein langer schmaler Gang führte vom Eingang in
den Höhlenraum. Ganz hinten, im äußersten noch sichtbaren Winkel der Höhle saß ein
Mädchen auf einem Stein. Es war bitterkalt, doch das Mädchen trug nur ein dünnes
Nachthemd.
Sie wollte zu ihr gehen, denn sie musste sie dringend etwas fragen.
Doch irgendetwas hielt sie auf. Es schien fast, als wenn der Zugang zur Höhle blockiert war.
Sie rief nach dem Mädchen. Laut rief sie ihren Namen, denn mit einem Mal wusste sie, dass
das Mädchen Natalie hieß. Aber Natalie schien sie nicht zu hören...
12
V.
Rebekka war aufgeregt. Dave hatte für diesen Abend einen Termin mit dem Schamanen
Mister Gonzilez vereinbart. Sie wollten sich zu einem Gespräch in seiner Wohnung treffen.
Katharina hatten sie erzählt, dass sie beide ins Theater gehen würden und sie darum
gebeten, heute Nacht die Kinder zu hüten.
Nun saß sie nervös im Wohnzimmer und starrte auf den Flügel. Er hatte Sarah gehört, doch
sie war nicht besonders gut darin und hatte nur selten darauf gespielt.
Hin und wieder blickte Rebekka zur Uhr, denn sie erwartete jede Minute, dass Dave nach
Hause kommen würde. Er war noch in der Klinik zu einem Meeting. Doch er hatte
versprochen, pünktlich zu sein.
In den letzten Tagen hatte Rebekka immer wieder den Brief von Mister Gonzilez gelesen.
Dabei waren ihr wieder Zweifel gekommen. Wahrscheinlich war er nur ein Scharlatan, einer
dieser Schwindler, wie es so viele gab. Aber etwas an seiner Art zu schreiben, hatte sie
beeindruckt. Er schien tatsächlich Hintergrundwissen zu haben und sich mit
Bewusstseinsebenen intensiv zu beschäftigen.
Zwei Stunden später saß sie noch nervöser auf dem Beifahrersitz, während Dave den
großen Wagen lässig durch die chaotische Innenstadt von New Jersey lenkte.
Bald hatten sie die breiten Straßen hinter sich gelassen und fuhren in einen Stadtteil, in dem
Rebekka noch nie gewesen war.
Die alten hohen Mietshäuser waren ziemlich heruntergekommen. In diesem Viertel lebten
scheinbar ausschließlich Schwarze und Asiaten. Viele der Häuser waren unbewohnt und
einige Fensterscheiben waren zerbrochen. Es roch nach Großstadtmüll und Abgasen,
während der Wind Plastiktüten und Papierfetzen vor sich her trieb.
Unwillkürlich ließ Rebekka die Fensterscheiben hoch und rutschte tiefer in ihren Sitz hinein.
Die Gegend wurde ihr zunehmend unheimlicher.
Dave bog in eine weitere dunkle Nebenstraße ein, dann parkte er kurzerhand am
Straßenrand. Rebekka las den Straßennamen - Quinston-Street - .
Dave zeigte auf eine verwitterte Eingangstür: „Hier muss es sein.“
Mit einem mulmigen Gefühl stieg Rebekka hinter Dave eine düstere Treppe hinauf bis in den
vierten Stock.
Mister Gonzilez empfing sie mit einem breiten Lächeln. Rebekka sah sofort, dass er
indianischer Abstammung war. Er war von kleiner aber kräftiger Statur. Seine dunklen
langen Haare hatte er zu einem schweren Zopf gebunden. Einzelne silbergraue Strähnen in
seinem Haar und kleine Fältchen um die Augen zeugten davon, dass er bereits im mittleren
Alter war. Er trug Jeans und einen groben Pullover mit bunten Stickereien und sein Hals
zierte eine Lederkette mit einem silbernen Amulett.
Die Wohnung war sehr groß, jedoch kaum möbliert. Die Wände brauchten dringend einen
neuen Anstrich und das Linoleum war an manchen Stellen schon brüchig.
Über einen langen düsteren Flur führte der Schamane sie in sein spartanisch eingerichtetes
Wohnzimmer.
Er bat sie, auf der alten Couch Platz zu nehmen. Vor ihnen, auf dem kleinen wackligen Tisch
hatte er bereits drei Kaffeebecher abgestellt. Eine einzelne dicke Kerze spendete warmes
Licht.
An der einen Wand des großen Raumes befand sich ein hohes Bücherregal mit unzähligen
Bänden und gegenüber der Couch, auf einem schmalen Schrank stand ein winziges
Fernsehgerät. Das Modernste in diesem Zimmer war ein Computer, der auf einem kleinen
Tisch in der Ecke stand.
„Was möchten Sie trinken, bitte?“ fragte Mister Gonzilez mit leichtem Akzent.
Dann zählte er auf: „Tee, Kaffee oder Bier? ....“ Sie entschieden sich beide für Tee.
13
Nach den ersten vorsichtigen Schlucken des heißen Getränkes kam Dave schnell zur Sache:
„Mister Gonzilez, ihr Brief klang für uns sehr interessant. Aber was muss man sich denn nun
unter einer schamanischen Reise vorstellen?“
Der Indianer erklärte langsam und immer wieder nach passenden Worten suchend, seine
Arbeit.
„Ich stamme ursprünglich aus Peru und schamanische Reisen sind für mein Volk etwas ganz
Normales. Immer dann, wenn Menschen in Not geraten, beispielsweise wenn der Regen
ausbleibt, wenn Hungersnot herrscht oder jemand sehr krank geworden ist, dann begibt sich
der Dorfschamane auf die Reise in eine der geistigen Welten um dort Rat und Hilfe zu
bekommen.
Sie müssen wissen, es gibt verschiedene Welten, nicht nur die, welche wir täglich real
erleben. Und wir sind überall von Geistwesen umgeben, auch wenn wir sie nicht immer
sehen oder hören können.
Wir Schamanen teilen die Welt zudem in drei Bereiche. In der unteren Welt suchen wir Rat
und Schutz bei unseren Krafttieren. Wir tanzen sozusagen unsere Krafttiere, mit denen wir
seit unserer Geburt in geistiger Verbindung stehen.
Um in die obere, wir nennen sie die geistige Welt zu gelangen, steigen wir durch den Rauch
unserer Feuer weit hinauf. Hier können wir unsere Ahnen treffen.
Manchmal erreichen uns in dieser lichten Welt auch jene Seelen, deren Körper gerade frisch
verstorben sind, um sich uns mitzuteilen.“
Rebekka und Dave hörten dem Schamanen aufmerksam zu.
Als Mister Gonzilez seinen Monolog beendet hatte, war es zunächst still im Raum.
Rebekka fand die Erzählung des Schamanen sehr mystisch und all das kam ihr ziemlich
absurd vor. Diese Welten und Geistwesen, von denen der Indianer gesprochen hatte,
entsprachen so gar nicht ihrem rationalen und medizinischem Verständnis.
Trotzdem keimte in ihr eine winzige Hoffnung auf und sie merkte, wie ihr Herz schneller
schlug.
Dennoch versuchte, äußerlich gelassen zu bleiben und räusperte sich.
„Wenn ich sie richtig verstanden habe, Mister Gonzilez, sind sie also der Meinung, dass die
Seelen bereits verstorbener Menschen mit ihnen kommunizieren können?“
Der Schamane lächelte: „Nun, kommunizieren ist sicherlich nicht das richtige Wort – ich
würde eher von einem gedanklichen Austausch sprechen.
Wissen sie, ganz sicher haben sie schon davon gehört, dass es so etwas wie telepathische
Fähigkeiten und auch Geistererscheinungen gibt. In unserer modernen Zeit häufen sich
Nachrichten von Medien, die behaupten, Geister würden in ihre Körper schlüpfen und durch
sie hindurch sprechen. Natürlich ist vieles davon Unfug. Aber manches konnte dennoch
durch parawissenschaftliche Experimente bestätigt werden.
Wie gesagt, die Schamanen meines Volkes sind von Anbeginn der Zeit mit den geistigen
Welten vertraut. Als Schamane glaube ich nicht nur an Geistwesen, ich erlebe und fühle sie
ständig und arbeite intensiv mit ihnen.
Um dies verwirklichen zu können, muss man sich, wie ich schon sagte, auf eine ganz
bestimmte Bewusstseinsebene begeben. Ich darf sagen, dass ich in dieser Hinsicht schon
weit gereist bin. Doch in den letzten fünf Jahren habe ich etwas ganz Erstaunliches
herausgefunden. Etwas, dass auch sie in medizinischer Hinsicht sehr interessieren dürfte.“
Mister Gonzilez machte eine kurze Pause, in der er sie prüfend musterte.
„Ich habe entdeckt, dass Menschen, die im Koma liegen und sozusagen auf der Schwelle
zwischen Leben und Tod stehen, sich in unmittelbarer Nähe von verstorbenen Seelen
befinden.“
Rebekka starrte ihn ungläubig an, während sie merkte, dass ihr Puls zu rasen begann.
14
Der Schamane räusperte sich: „Wissen sie, es gibt auf einer bestimmten
Bewusstseinsebene eine sehr starke Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten.
Ich habe auch herausgefunden, dass Komapatienten beständig die Seiten zwischen der
diesseitigen und der jenseitigen Welt wechseln.“
Rebekka schüttelte ungläubig den Kopf: „Aber wie haben sie das herausgefunden? Haben
sie Medizin studiert?“ „Nein“, sagte Mister Gonzilez leise. „Kommen sie, ich will ihnen etwas
zeigen...“
Er führte sie hinaus auf den Flur und von dort in ein weiteres Zimmer.
Als er die Zimmertür öffnete, schlug ihnen ein atemberaubender Geruch von Ausdünstungen
und Krankheit entgegen. An einer Wand stand ein großes Bett und darin lag ein Mensch
oder vielmehr das, was von ihm übrig war.
Rebekka schlug erschrocken die Hände vor den Mund. Sie erkannte, dass in dem Bett eine
Frau lag. Eine sehr alte und furchtbar abgemagerte Frau, die mehr einem Skelett glich, als
einem lebenden Menschen.
Ihre Augen waren weit geöffnet und ihr Blick wanderte unstet an der Decke entlang, während
sie nur ganz flach atmete. Doch ihre Hände bewegten sich unablässig zuckend auf der
Bettdecke.
Mister Gonzilez lächelte traurig, während er leise sagte: „Das ist meine Mutter. Die Ärzte
sagen, sie befindet sich im Wachkoma. Sie ist jetzt seit beinahe fünf Jahren in diesem
Zustand.“
Dave griff nach Rebekkas Arm, bevor sie einen Schritt auf das Bett zumachen konnte und
zog sie rasch mit sich aus dem Zimmer.
Als sie sich einigermaßen gefasst hatte, fragte sie Mister Gonzilez barsch: „Was ist mit ihr
passiert?“
Der Schamane bat sie höflich, wieder auf der Couch im Wohnzimmer Platz zu nehmen.
„Nun, meine Mutter ist vor fünf Jahren schwer gestürzt und fiel ins Koma. Nach etwa sechs
Monaten war sie plötzlich wieder wach. Doch ein Teil ihres Selbst ist nicht mehr in dieser
Welt. Denn seither ist sie in diesem Zustand, unfähig zu reden und zu sitzen. Dafür sind ihre
Augen und ihre Hände nun in ständiger Bewegung. Die Ärzte konnten nichts für sie tun. Und
nachdem sie ein weiteres halbes Jahr im Krankenhaus lag und sich ihr Zustand nicht
geändert hatte, habe ich sie mit nach Haus genommen. Sie kann allein atmen und ihre
Nahrung bekommt sie durch einen Tropf, den ich ihr täglich mehrmals wechsle.
Ich denke, ich kann ihre Pflege auch allein bewältigen und sie ist bei mir besser aufgehoben,
als in irgendeinem Krankenhaus.“
Rebekka sprang zornig auf: „Das denke ich ganz und gar nicht. Denn ganz offensichtlich
geht es ihr nicht gut.“
Sie war plötzlich wieder ganz Ärztin: „Mister Gonzilez, ihre Mutter gehört in ein Krankenhaus,
wo sie medizinisch versorgt wird. Das würde ich ihnen auch dann sagen, wenn ich nicht
Ärztin wäre. Ich habe noch nie einen Patienten mit apallischem Syndrom, oder wie sie sagen
Wachkoma gesehen, der sich in einem derart ausgemergelten Zustand befindet. Das ist
einfach unverantwortlich.“
Rebekka schluckte schwer und sah sich Hilfe suchend nach Dave um. Doch der schaute
angestrengt auf den Boden und schwieg.
Mister Gonzilez lächelte sanft: „Meine Mutter sagt mir oft, dass sie sich sehr wohl fühlt und
sie erzählt mir von dieser schönen Welt, in der sie sich momentan befindet ...“
Rebekka fiel ihm irritiert ins Wort. „Aber Patienten mit apallischem Syndrom können nicht
reden...“
„Nun, nicht reden im wörtlichen Sinn – es handelt sich sozusagen um Gedankenaustausch,
oder auch Telepathie. Sie sendet mir Bilder – wunderschöne Bilder von herrlichen
Landschaften.
In dieser anderen Welt trifft sie viele Menschen, jene die bereits gestorben sind. Sie ist oft
mit meinem Vater zusammen, der wie sie mir mittels ihrer Bilder zeigt, wieder kräftig und
gesund erscheint, obwohl er schon seit mehr als fünfzehn Jahren tot ist.“
15
Rebekka hatte plötzlich Tränen in den Augen.
„Wollen sie damit sagen, dass es wirklich möglich ist? Komapatienten haben tatsächlich
Umgang mit den Toten?“ Mister Gonzilez lächelte wieder:
„Ja, das ist es, was ich ihnen erklären will. Wissen sie, mein Volk verehrte schon immer
seine Ahngeister und die großen Schamanen hielten von jeher Kontakt zur jenseitigen Welt.
Der Tod, so sagt man bei uns, ist nur der Übergang in eine neue Welt, in die Welt der
Geister und Ahnen.
Mein Volk glaubt an die Wiedergeburt und als Schamane weiß ich, dass der Zeitpunkt für die
Rückkehr einer Seele von den Göttern bestimmt wird.“
Er sah Rebekka und Dave nachdenklich an:
„Wissen sie, ich habe mein gesamtes schamanisches Wissen von meinem Großvater erlernt.
Allerdings lehrte mich meine Mutter, seit sie sich in diesem Zustand befindet, etwas anderes.
Durch sie habe ich selbst erlebt, dass es einigen verstorbenen Seelen möglich ist, bereits vor
ihrer eigentlichen Wiedergeburt in den Körper eines lebenden Menschen zu schlüpfen.“
Rebekka fasste erschrocken nach Daves Hand: „Für wie lange ist das möglich?“
„Nun“, Mister Gonzilez blinzelte. „Solange es die Seele des anderen Körpers zulässt, denke
ich.“
Dave blickte interessiert auf: „Könnte man dann also einer verstorbenen Seele einen
passenden Körper anbieten, in dem sie weiter leben kann?“
Mister Gonzilez blickte zu Boden: „Nun, theoretisch ist das möglich. Aber dann würde ein
furchtbarer Kampf zwischen den Seelen stattfinden.“
Daves Gesichtszüge wurden hart: „Und wenn man der einen Seele suggeriert, sie müsse
aus ihrem Körper weichen, um einer verstorbenen Seele Platz zu machen?“
Rebekka sprang auf: „Dave, um Himmels willen – worauf willst du hinaus?“
„Das weißt du doch genau, nicht wahr? Wir wollen doch beide Sarah zurück.
Koste es, was es wolle ...“
Für einen Moment war es ganz still im Raum. Rebekka spürte, wie ihr übel wurde und
presste eine Hand auf ihren Magen. Dave starrte schweigend auf die Tischplatte. Der
Schamane hatte sich abgewandt und starrte blicklos aus dem Fenster. Dann sagte er wie zu
sich selbst:
„Ja, es ist möglich, aber es wird seinen Preis haben, wie ich schon sagte...“
Mister Gonzilez hatte sehr leise gesprochen, doch Rebekka dröhnten seine Worte in den
Ohren.
Dave sagte mit einem Seitenblick auf Rebekka: „Verstehen sie mich nicht falsch, aber wir
haben vor zwei Jahren unsere Tochter verloren. Wenn es auch nur eine winzige Chance
gibt, sie zurückzuholen, dann müssen wir die nutzen.“
„Ja, Mister Johnson, das verstehe ich...!“
„Dave, bitte lass uns nach Hause fahren.“ Rebekka machte einen Schritt auf die Tür zu, das
Gesicht leichenblass, während sie heftig zitterte.
Mister Gonzilez blickte sie mitfühlend an. „Ich kann ihren großen Schmerz spüren, Misses
Johnson. Wenn sie möchten, dann könnte ich Kontakt zu ihrer verstorbenen Tochter
aufnehmen. Damit sie wissen, dass es ihr gut geht, dort, wo sie jetzt ist. Würden sie das
wollen?“
Rebekka schaute ihn völlig verblüfft an. Doch die sanfte und höfliche Art des Schamanen
wirkte beruhigend auf sie. Das ganze Gespräch und die Situation waren so absurd gewesen,
dass der Gedanke, Kontakt zu Sarah herzustellen, ihr plötzlich gar nicht mehr so abwegig
vorkam.
Sie setzte sich wieder und versuchte angestrengt, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken.
Der Schamane stellte vier weitere Kerzen auf den Tisch und ordnete sie den
Himmelsrichtungen entsprechend an. Dann entzündete er sie. Die Flammen bewegten sich
sacht und gaben dem Raum eine wohlige Atmosphäre.
16
Der Schamane berührte sanft Rebekkas Hände und sagte: „Nennen sie mich Pedro.“
„Ja gern, ich bin Rebekka.“ Rebekka lächelte das erste Mal an diesem Abend.
Auch Dave reichte dem Schamanen noch einmal wortlos die Hand, wobei er ihm kurz
zunickte.
Pedro zog aus einem Schubfach einen kleinen Lederbeutel, in dem er ein gelbliches Pulver
aufbewahrte. Langsam ließ er das Pulver über die Flammen rieseln. Sie loderten kurzzeitig
hell auf und kurz darauf verbreitete sich im Raum ein süßlicher Geruch.
Aus einer Zimmerecke holte der Schamane eine kleine hölzerne Trommel, die er sich beim
Sitzen zwischen die Knie klemmte. Langsam und rhythmisch schlug er mit den Fingern einen
stetigen Takt auf der mit Fell bespannten Trommel. Dazu summte er eine leise Melodie.
Das sanfte Trommeln hatte etwas Tröstliches und Beruhigendes an sich.
Rebekka lauschte den Tönen mit geschlossenen Augen und dabei schien die Zeit im Raum
stillzustehen. Auch Pedro hatte seine Augen geschlossen und lehnte sich auf seinem Stuhl
zurück. Plötzlich sagte er leise:
„Ich sehe sie vor mir, ihre Sarah. Ihre langen roten Haare wehen im Wind und sie trägt
Bluejeans und ein weißes T-Shirt. Jetzt kommt sie näher. Sie will mir etwas sagen.
Ja, ich verstehe sie…
Sie sagt, es geht ihr gut, dort wo sie ist. Und sie wünscht sich, dass sie beide nicht mehr so
traurig sind. Sie meint, dem Trouble-Duo scheint es gut zu gehen, was sie beruhigend findet.
Doch sie beide müssen sich mehr um das Püppchen kümmern. Und sie sollen den Flügel
verkaufen. Er steht nur sinnlos rum…
Sie weiß, dass es für sie alle schwer ist und sie hat das wirklich nicht gewollt. Aber am
meisten sorgt sie sich um ihr Püppchen. Sie findet es schlimm, dass niemand mehr in der
Familie miteinander redet. Das hat sie nicht gewollt. Und auch den Unfall von Natalie hat sie
nicht gewollt.
Es tut ihr unendlich leid, alles was geschehen ist. Aber sie weiß, dass es ein Wiedersehen
geben wird, irgendwann, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Und in der Zwischenzeit wird
sie, so oft es ihr möglich ist, in der Nähe sein. Sie hat sie alle furchtbar lieb und wird sie nicht
vergessen.“
Pedro schüttelte sich leicht, so als wenn er aus tiefem Schlaf erwachte. Dann öffnete er
langsam die Augen und setzte sich aufrecht hin.
Rebekka starrte ihn fassungslos an und auch Dave konnte seine Bestürzung nicht
verbergen.
„Oh mein Gott, sie haben sie wirklich gesehen? Unsere Sarah? Sie hat ihre Zwillingsbrüder
oft das Trouble-Duo genannt. Und zu Lizzy sagte sie immer Püppchen. Und ihr Flügel, sie
hat ihn immer gehasst. Aber woher weiß sie das mit Natalie und dem Unfall…?
Rebekka zitterte am ganzen Körper. Doch dieses Mal war Dave schnell bei ihr und nahm sie
in die Arme. „Danke, Mister ... äh, danke, Pedro. Sie wissen gar nicht, was sie uns damit
gegeben haben.“ Pedro räusperte sich: „Nein, bitte, das war nicht der Rede wert. Wenn sie
mögen, können wir das jederzeit wiederholen.“ Pedro lächelte flüchtig, doch dann wurde er
ernst: „Nur über das Andere werden wir noch einmal reden müssen.“
Dave klopfte ihm auf die Schulter und sagte schnell: „Ganz bestimmt werden wir das.
Doch jetzt müssen wir wieder nach Hause. Vielen Dank für alles, Pedro.“
„Gern geschehen …, äh Rebekka?“
Rebekka, die schon in der Tür stand, drehte sich noch einmal zu ihm um:
„Nehmen sie bitte die Warnung ernst. Kümmern sie sich um ihre Kleine. Denn vergessen sie
nie, die Lebenden haben immer Vorrang vor den Toten ...“.
Rebekka nickte wie betäubt, dann drehte sie sich langsam zu Dave um und ließ sich von ihm
die steile Treppe hinunter führen. Sie hatte das Gefühl, als wäre der Boden unter ihren
Füßen plötzlich zu einer schwankenden Masse geworden.
17
VI.
Die Höhle war feucht und kalt und der Boden klebte an ihren nackten Füßen.
Sie fror in ihrem dünnen Nachthemd, doch sie konnte ihre Sachen nicht finden. Sie wusste
nicht einmal wie sie hierher gelangt war und auch nicht, ob sie träumte oder wach war.
Ein schwacher Lichtstrahl drang bis zu dem Stein vor, auf dem sie saß. Das Licht schien
vom Eingang der Höhle zu kommen. Doch so oft sie auch aufstand und sich dem Eingang
nähern wollte, umso weiter und beschwerlicher erschien ihr der Weg dorthin.
Hin und wieder tat sie ein paar mühsame Schritte auf den Eingang der Höhle zu. Doch dabei
schürfte sie sich die Füße an den spitzen Steinen des Bodens auf. Und sie kam überhaupt
nicht voran, sie erreichte nicht einmal die Nähe des Eingangs, den sie von hier aus mehr
ahnen, als sehen konnte.
Verzweifelt und kraftlos kehrte sie schließlich immer wieder zu ihrem Stein zurück, um sich
darauf auszuruhen, während sie vor Anstrengung und Furcht am ganzen Körper
zitterte.
Manchmal wagte sie auch einen Blick in die andere Richtung hinter ihrem Rücken.
Dort schlängelte sich der Weg labyrinthartig an einem Felsvorsprung vorbei. Doch jedes Mal,
wenn sie den Gedanken hatte, aufzustehen und es in dieser Richtung zu versuchen, warnte
ein Teil ihres Verstandes sie, es nicht zu tun. Sie ahnte instinktiv, dass es von dort kein
Zurück mehr gab. Es war eine Falle, aus der sie sich niemals wieder befreien könnte, sollte
sie es wagen, die unsichtbare Grenze zu überschreiten.
Mittlerweile hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Erschöpft schloss sie die Augen und sah
plötzlich ihre Mutter vor sich, wie sie in ihrem Sessel saß und blicklos vor sich hin träumte.
Doch war das wirklich ihre Mutter? Ihr Gesicht war so blass und sie war furchtbar
abgemagert. Sie schien krank zu sein.
Während sie noch besorgt das liebe Gesicht musterte, hob ihre Mutter plötzlich ihren Kopf
und erwiderte ihren Blick. Ihre Augen lächelten und ihr Mund formte Worte, die sie nicht
verstehen konnte.
Erschrocken riss sie die Augen auf. Doch da war nichts. Sie saß immer noch auf ihrem Stein
und es war, als hätte sie nur von ihrer Mutter geträumt.
Aber dann, ganz plötzlich spürte sie eine Bewegung hinter ihrem Rücken. Ein kalter
Lufthauch streifte sie und sie fühlte, wie sich an ihren Armen die feinen Härchen aufstellten.
Ruckartig drehte sie sich um, während sie hastig ihren Atem ausstieß.
Im letzten Moment sah sie eine Gestalt hinter dem Felsenvorsprung verschwinden. Eine
Gestalt mit langen wehenden roten Haaren.
Ohne darüber nachzudenken, sprang sie von ihrem Stein auf und hastete der Gestalt
hinterher. Dabei überhörte sie sämtliche Warnungen in ihrem Kopf.
Denn ein anderer Teil ihres Verstandes flüsterte ihr zu: > Es ist noch jemand in dieser
Höhle! Ein Mädchen … Vielleicht kann sie dir helfen, hier wieder herauszufinden? <
Ungeachtet der spitzen Steine, die ihr messerscharf in die bloßen Füße schnitten, stolperte
sie voran. Endlich hatte sie den Felsvorsprung erreicht.
Keuchend blieb sie stehen und lehnte sich an die Wand, während es vor ihren Augen
flimmerte. Inmitten der tanzenden bunten Punkte entdeckte sie plötzlich einen Schatten.
Nein, es war kein Schatten, es war ein Mann und er kam geradewegs auf sie zu.
Angst bemächtigte sich ihrer, als sie plötzlich seinen weißen Kittel sah und erkannte, wer er
war.
Fast ungläubig starrte sie in sein Gesicht, während er eine Spritze aus seiner Tasche zog
und sie ihr unbarmherzig in den Arm stieß.
Ihre Lippen formten einen lautlosen Schrei, bevor sie wieder in die tiefe einhüllende
Dunkelheit der Höhle versank.
18
„Hallo, da seid ihr ja. Wie geht es euch? Kommt doch rein, bitte ...!“
Hamira winkte Katharina und die drei Kinder in ihre Wohnung und gab jedem rechts und
links zwei Küsse auf die Wange. Auch Katharina wurde von ihr in dieser herzlichen Art
begrüßt.
Sie führte ihre Gäste in ein kleines Wohnzimmer, deren größtes Möbelstück eine riesige
Couch war. Aus der Küche drang Kinderlachen zu ihnen herüber und dann betraten zwei
dunkeläugige kleine Mädchen das Wohnzimmer.
„Oh, Lizzy, wie schön!“ Die Kinder kannten sich anscheinend gut und Lizzy wurde sofort
umarmt und mit Fragen bestürmt. Die Mädchen plapperten halb englisch, halb kurdisch,
doch sie schienen sich zu verstehen.
Hamira brachte eine große Schale mit Datteln und anderen Früchten herein und stellte für
Katharina eine Extraschale bereit.
Stolz zeigte sie auf die zwei Mädchen: „Das sind meine Enkelkinder. Meine Töchter müssen
immer viel arbeiten und da betreue ich die Kleinen tagsüber.“
Die Kinder spielten mittlerweile alle in dem großen Flur der Wohnung und Hamira und
Katharina schauten ihnen dabei amüsiert zu.
„Es geht Lizzy ein wenig besser, nicht wahr?“
„Ja, seit wir dich im Park getroffen haben, ist sie viel zugänglicher und redet endlich mit mir.“
Katharina lächelte verlegen. Sie hatte immer noch das Gefühl, als wenn es ihre Schuld wäre,
dass Lizzy sich so von ihr ferngehalten hatte.
„Magst du Kaffee trinken, oder vielleicht Mokka?“ Hamira ging zur Küchentür und winkte
Katharina, ihr zu folgen.
Die Küche war klein und die Schränke dort passten nicht zueinander. Anstelle einer Spüle
gab es nur eine große Waschschüssel, in der sich schmutziges Geschirr stapelte. Ein alter
Gartentisch und vier Plastikstühle ergänzten die spärliche Einrichtung.
Hamira stellte zwei zierliche Mokkatassen mit Goldrand und eine passende Zuckerdose auf
den Tisch. Dann gab sie mit geübter Hand Kaffeebohnen in eine alte Kaffeemühle und
während sie die Bohnen zu Pulver mahlte, summte sie eine leise Melodie.
Die Zwillinge kamen angelaufen und baten um Saft. Hamira lächelte, holte aus ihrem hohen
Küchenschrank fünf Plastikbecher hervor und goss billigen Saft aus einem riesigen Kanister
ein. Sie rief nach ihren Mädchen und ließ sie die Becher verteilen.
Während sie das gemahlene Kaffeepulver mit einer genau bemessenen Menge Zucker und
Wasser in einem kleinen Tiegel aufkochen ließ, schwatzte sie munter mit Katharina und
befragte sie über ihre Herkunft und ihre Familie.
Nebenbei verteilte sie Gebäck und Schokolade auf kleinen Tellern und forderte die Kinder
auf, zuzugreifen. Katharina hatte trotz des Kindergeschreis das Gefühl, irgendwie
angekommen zu sein. Hamira verstand es vortrefflich, alle ihre kleinen und großen Gäste
zufrieden zu stellen und ganz nebenbei noch interessante Gespräche zu führen.
„Weißt du, Katharina, ich habe auch einen Bruder, der in Deutschland lebt. Er ist sehr weit
weg von mir, das ist schade für mich. Aber meine beiden Schwestern und meine Töchter und
ihre Männer wohnen hier in der Nähe. Ursprünglich sind wir alle mit meiner Mutter aus dem
Irak geflohen. Ich war damals noch ein junges Mädchen und meine Schwestern noch Kinder.
Nun ist meine alte Mutter vor drei Jahren gestorben. Sie war eine tapfere und sehr fleißige
Frau. Wir Geschwister halten noch immer fest zusammen und mittlerweile haben wir selbst
schon Kinder und Enkelkinder. Zu größeren Festen treffen wir uns alle regelmäßig mit der
ganzen Familie. Das ist bei uns so.“
„Ja, das finde ich schön.“ Katharina lächelte, denn sie fand diese Art zu leben wirklich schön.
Eine große glückliche Familie, nicht besonders reich, aber trotzdem zufrieden.
Hamira erzählte von ihren Schwestern und deren Familien und von ihren eigenen Töchtern.
Die meisten Mitglieder ihrer Familie arbeiteten in Restaurants oder hatten eigene kleine
Lebensmittelläden. Jeder versuchte irgendwie über die Runden zu kommen in diesem „Land
der unbegrenzten Möglichkeiten“.
19
Hamira erzählte ihr auch von ihrem Glauben. Sie gehörte zu den Jesiden, eine
Glaubensminderheit, die im Irak immer wieder von fanatischen Moslems angegriffen und
verfolgt wurden. In Amerika konnte Hamira frei nach ihrem Glauben leben und durfte auch
arbeiten gehen, was im Irak absolut unmöglich war. Seit ihrer Flucht hatte sie in
verschiedenen Haushalten als Kindermädchen und Haushälterin gearbeitet, denn sie liebte
Kinder über alles.
Geschickt schöpfte Hamira ein wenig Kaffeesatz in die Mokkatassen und füllte dann nach
und nach die aromatisch süße Flüssigkeit hinzu.
Die Kinder hatten sich mittlerweile ihre Malbücher und Stifte auf den Fußboden im Flur
gelegt und malten nun emsig. Eines der irakischen Mädchen war in Lizzys Alter. Sie hieß
Kizal und gerade flüsterte sie etwas in Lizzys Ohr, woraufhin beide vor Lachen losprusteten.
Hamira lächelte und auch Katharina war erleichtert, Lizzy einmal so unbeschwert zu sehen.
„Komm, lass uns nun Mokka trinken. Wenn du willst, werde ich nachher einmal in deine
Tasse schauen ...“
Katharina blickte die alte Frau verwirrt an. „Was meinst du damit?“
„Nun“, Hamira lächelte geheimnisvoll: „Ich könnte dir aus dem Kaffeesatz etwas über dein
Leben erzählen ... natürlich nur, wenn du magst.“
„Ja, warum nicht?“ Katharina nickte ein wenig unsicher.
Hamira bemerkte es und lachte fröhlich: „Oh, nein, Katharina – nur keine Angst. Sehe ich
etwa aus wie eine böse Hexe?“
Katharina lachte nun ebenfalls erleichtert. Irgendwie schien sie sich in Hamiras Gegenwart
völlig entspannen zu können. Selbst Lizzy war hier fröhlich und ausgelassen, genau so wie
ein Kind in ihrem Alter sein sollte.
Während sie langsam den heißen Mokka tranken, sagte Hamira: „Du musst dabei denken,
Katharina. Denke über dein Leben nach, über Erfreuliches und Schlechtes und darüber, was
du dir für deine Zukunft wünschst.“
Sie selbst drehte, nachdem sie ausgetrunken hatte, ihre Tasse herum und stellte sie
kopfüber auf die Untertasse. Katharina tat es ihr gleich.
Die Zwillinge kamen kurz angelaufen, um sich noch einmal von der Schokolade auf den
Tellern zu nehmen und Katharina ermahnte sie, nicht so viel Süßes zu essen. Die Mädchen
waren mittlerweile dazu übergegangen sich gegenseitig die Haare zu bürsten und zu
flechten.
Hamira nahm vorsichtig Katharinas Tasse auf und drehte sie zu sich herum. Der Kaffeesatz
hatte sich dunkel am Rand festgesetzt. Hamira schaute lange in den Kaffeesatz und runzelte
dann die Stirn.
„Träumst du manchmal, Katharina?“ Katharina zuckte zusammen. „Ja, natürlich, hin und
wieder, so wie jeder ....“ Hamira blickte sie nachdenklich an. „Nein, ich denke, du träumst
anders. Erzähl mir davon, hattest du erst kürzlich einen sonderbaren Traum?“
Katharina dachte wieder an ihren Traum von dem Mädchen in der Höhle. Wie hieß sie doch
gleich?
„Ja, ich hatte einen Traum. Ich stand am Eingang einer Höhle und ganz hinten konnte ich ein
Mädchen sehen. Es war kalt dort und irgendetwas verhinderte, dass ich in die Höhle gehen
konnte. Aber ich wollte dieses Mädchen etwas Wichtiges fragen. Sie trug nur ein Nachthemd
und sie konnte mich nicht hören, obwohl ich sie gerufen habe. Leider kann ich mich nicht
weiter erinnern.“
Hamira runzelte nachdenklich die Stirn. „Und du weißt auch nicht mehr, was du sie fragen
wolltest? Wie hieß denn dieses Mädchen?“ Katharina zuckte mit den Schultern. „Ich kann
mich wirklich nicht erinnern, tut mir leid.“
20
Hamira wirkte plötzlich sehr ernst und schaute wieder in die Tasse:
„Ich weiß nicht, was soll ich dir sagen? Ich sehe hier keine guten Zeichen. Ich glaube, diese
Leute und dieses Haus werden dir nicht gut tun. Aber warte, ich habe etwas entdeckt, etwas
ganz Wunderbares. Ich sehe ein Wesen, das dich beschützt. Ein weibliches Wesen,
vielleicht ein Schutzgeist, wird dir zur Seite stehen. Doch jemand, ich glaube es ist eine
junge Frau, sucht nach dir. Sie scheint deine Hilfe zu brauchen.“
Katharina sah zu den spielenden Kindern hinüber. Dann sagte sie leise:
„Bitte Hamira, zuerst brauche ich deine Hilfe. Du kennst Lizzy schon länger und du kennst
ihre Geschichte. Was ist mit ihr passiert? Warum verhält sie sich so abweisend?
Sie ist die meiste Zeit traurig und ängstlich. Erst seit kurzem, seit wir dich auf dem Spielplatz
getroffen haben, ist sie mir gegenüber ein wenig zugänglicher. Ich würde ihr so gern helfen,
aber das kann ich nur, wenn du mir ihre Geschichte erzählst.“
Hamira nickte langsam: „Ja, ich denke, genau aus diesem Grund sollten wir uns treffen.
Weißt du, es ist eine schlimme Geschichte, die der Kleinen passiert ist und ich verstehe auch
nicht, warum dir Lizzys Eltern nichts davon erzählt haben. Vielleicht wollen sie aber auch
nicht darüber reden? Es gibt Leute, die glauben, dass ihre Probleme verschwinden, wenn sie
nicht darüber reden. Aber ich denke, durch das Schweigen macht man sie nur größer…“
Hamira seufzte, dann erzählte sie leise:
„Ich kenne Lizzy, seit sie ungefähr vier Jahre alt ist. Wir haben uns oft auf dem Spielplatz im
Park gesehen und wie kleine Kinder so sind, suchte sie einfach den Kontakt zu meinen
Enkelkindern und auch zu mir.
Sie kam oft zu diesem Spielplatz und immer in Begleitung ihrer älteren Schwester Sarah.
Diese Sarah war so ein hübsches Mädchen mit langem rotem Haar und sie kümmerte sich
sehr liebevoll um ihre kleine Schwester. Später brachte sie dann auch die Zwillinge im
Kinderwagen mit. Die Eltern sind ja beide Ärzte und arbeiten viel, da bleibt wohl wenig Zeit
für die Kinder.
Doch dann, vor zwei Jahren ereignete sich dieser furchtbare Motorradunfall, bei dem Sarah
ums Leben kam. Es war ganz entsetzlich und auch mir tat das Herz weh, als ich davon
erfahren habe. Wie musste sich da erst Lizzy fühlen? Danach habe ich Lizzy lange Zeit nicht
mehr gesehen.
Im vorigen Jahr wohnte bei den Johnsons dann ein Kindermädchen. Sie war sehr freundlich
und kam viel mit den Kindern auf den Spielplatz. Lizzy suchte sofort wieder meine Nähe.
Nun war sie sieben Jahre alt und ging schon zur Schule. Doch sie hat nur selten über Sarah
und den Unfall gesprochen. Aber ich habe immer gespürt, dass sie furchtbar gelitten hat.
Mit dem Kindermädchen habe ich mich oft unterhalten. Sie war eine nette und unkomplizierte
junge Frau und hin und wieder kam sie mich mit den Kindern besuchen.
Es waren immer schöne Nachmittage. Doch dann, eines nachts ist das Kindermädchen von
der Treppe gestürzt. Es war ein Unfall und man hat Natalie sofort in das städtische Klinikum
in New Jersey gebracht. Ich habe gehört, dass Dr. Johnson sie dort selbst betreut, denn sie
liegt seitdem im Koma.“
Katharina war plötzlich ganz aufgeregt: „Natalie? Hast du eben Natalie gesagt? Ich glaube,
so hieß auch das Mädchen in meinem Traum...“
Hamira zuckte zusammen und legte den Finger auf den Mund.
„Sch, leise – lass Lizzy nichts davon hören ...“ Erschrocken sahen sie beide zu den Kindern
hinüber, doch die Mädchen spielten noch immer zufrieden, während die Zwillinge nun aus
den Seiten des Malbuches kleine Papierflieger bauten.
„Du meinst also, du hast von Natalie geträumt?“
Katharina sagte zögernd: „Ich weiß nicht, ich habe Natalie nie kennen gelernt. Aber ich habe
das Mädchen in meinem Traum so gerufen.“
„Kannst du dich vielleicht erinnern, wie sie ausgesehen hat?“
Katharina dachte nach: „Ja, sie trug ein dünnes Nachthemd und ihre Haare waren kurz und
blond. Ach, ich weiß nicht, ich erinnere mich nicht mehr so genau.“
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Hamira schaute sie nicht an, als sie leise sagte: „Natalie hatte kurzes blondes Haar und seit
dem Unfall liegt sie im Krankenhaus, daher vielleicht das Nachthemd. Vielleicht ist sie die
junge Frau, die zu dir Verbindung aufnehmen will.“
Katharina spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken jagen. Doch dann schaute sie
Hamira zweifelnd an: „Aber das ist doch völlig unmöglich. So etwas gibt es doch gar nicht.“
Die alte Frau nickte bedächtig: „Doch Katharina, so etwas gibt es. Glaub mir, es gibt viele
Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir uns einfach nicht erklären können.
Doch über jeden von uns wacht ein geistiges Wesen und schützt uns. Niemand von uns ist
allein. Das erzähle ich dir aus meiner persönlichen Erfahrung, obwohl ich weiß, dass du nicht
wirklich daran glaubst. Man muss auch nicht daran glauben, man kann es spüren, wenn man
es zulässt.“
Hamira räusperte sich, bevor sie weiter sprach:
„Natalie liegt jetzt im Koma. Soviel ich weiß, ist das ein Zustand zwischen Leben und Tod.
Wer weiß, vielleicht kann sie gerade deshalb mit dir in deinen Träumen in Kontakt treten.
Man sagt, die Welt zwischen den Welten ist voller Wunder. Vielleicht will sie dir etwas
Wichtiges mitteilen?“
Katharina schüttelte ungläubig den Kopf: „Aber das kann ich nicht glauben. So etwas
passiert doch nicht im wirklichen Leben, oder?“ Verunsichert blickte sie Hamira an.
Die nahm ihre kalten Hände in die ihren. „Weißt du, ich glaube, du musst selbst
herausfinden, ob das, was ich dir erzählt habe, für dich wahr ist. Aber ehrlich gesagt, ich
hatte von Anfang an, als ich von Natalies Unfall gehört habe, ein eigenartiges Gefühl. Ich
dachte immer, irgendetwas stimmt da nicht. Doch leider kenne ich Lizzys Eltern nicht und
kann mir von ihnen kein Bild machen. Ich glaube nur, dass diese Familie und dieses Haus dir
nicht gut tun werden, Katharina. Sei also vorsichtig bei allem, was du sagst und tust. Erzähl
besser auch niemandem etwas von deinem Traum.“
Katharina nickte stumm. Wieder fiel ihr Blick auf Lizzy und sie dachte:
> Armes kleines Mädchen, erst verliert sie die geliebte Schwester und bald darauf auch ihr
Kindermädchen. Kein Wunder, dass sie so kontaktscheu ist. <
Hamira musste wohl dasselbe gedacht haben: „Ja, für Lizzy ist das alles sehr schwer zu
verarbeiten. Aber ihr Vater ist Arzt, ich glaube sogar Neurologe. Da liegt es doch eigentlich
nahe, dem Kind eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen, nicht wahr?
Doch scheinbar kümmert sich niemand darum. Ich verstehe das einfach nicht.“
Katharina nickte nachdenklich. Auch sie hatte das Gefühl, dass es gerade einem Neurologen
bewusst sein musste, dass seine kleine Tochter Hilfe brauchte, nachdem sie ihre geliebte
Schwester verloren hatte.
Als sie an diesem Abend nach Hause kamen, waren die Kinder fröhlich und aufgedreht, und
selbst Lizzy alberte herum.
Rebekka und Dave waren noch in der Klinik und so bereitete Katharina für die Kinder ein
paar Sandwichs zu, die sie mit Eiern und Tomaten garnierte. Die Zwillinge mäkelten an den
Tomaten herum, doch Lizzy aß zum ersten Mal alles auf.
Später, als Katharina die Kinder längst zu Bett gebracht hatte, kam Rebekka müde und
erschöpft nach Hause. Sie erzählte, dass Dave Bereitschaftsdienst hatte und erst am
nächsten Morgen kommen würde.
Katharina bemerkte Rebekkas Erschöpfung und bot an, ihr eine Kanne Tee zu kochen.
Rebekka nickte zerstreut und ließ sich müde auf ihre Couch fallen.
Als Katharina wenig später mit einem Tablett, zwei großen Tassen und der Teekanne wieder
im Wohnzimmer erschien, war Rebekka bereits fest eingeschlafen.
Fürsorglich breitete Katharina eine warme Decke über sie, bevor sie leise die Treppe hinauf
schlich und es sich in ihrem Bett gemütlich machte. Sie nahm sich eines ihrer mitgebrachten
Bücher aus ihrem Koffer und knipste die kleine Leselampe an.
Doch schon nach wenigen Seiten fielen ihr die Augen zu:
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Sie stand wieder am Eingang der dunklen Höhle. Der lange schmale Gang, der tiefer in den
Höhlenraum führte, war dunkel und glänzte feucht. Ganz hinten, im äußersten Winkel der
Höhle saß wieder dieses Mädchen auf dem Stein. Es war bitterkalt, doch auch dieses Mal
trug sie nur ein dünnes Nachthemd.
Katharina wollte zu ihr gehen. Doch wieder wurde sie aufgehalten.
Es schien, als wenn eine unsichtbare Kraft den Eingang zur Höhle blockierte. Sie rief nach
dem Mädchen. Laut rief sie ihren Namen, denn nun wusste sie, dass das Mädchen Natalie
hieß. Aber das Mädchen blickte stumm zu Boden.
Doch dann ganz langsam hob sie ihren Kopf und blickte in ihre Richtung. Sie schien zu
weinen...
Katharina schreckte aus ihrem Traum auf. Sie hörte ein Schluchzen, welches aus Lizzys
Zimmer kam. Rasch warf sie die Bettdecke zurück und eilte in das Kinderzimmer.
„Lizzy, was ist denn? Hast du schlecht geträumt?“
Lizzy schluchzte und konnte kaum sprechen: „Es war Natalie, ich habe sie gesehen. Sie war
in einer Höhle und es war so kalt dort...“
Katharina fuhr zurück, als hätte man sie geschlagen. Wie war das möglich? Das konnte doch
gar nicht sein. Sollte Lizzy tatsächlich denselben Traum gehabt haben?
Katharina war noch immer ganz benommen. Nervös drehte sie an ihren Haaren und begann
plötzlich, alles in Frage zu stellen. > Sollte Hamira doch Recht haben? Wollte und vor allem
konnte Natalie tatsächlich auf diese Weise Kontakt zu ihnen aufnehmen? <
Katharina setzte sich auf Lizzys Bettkante und streichelte sanft ihre Wange. „Möchtest du mir
ein wenig von Natalie erzählen, Lizzy?“
Lizzy nickte, erst stockend und dann immer lebhafter erzählte sie:
„Weißt du, mit Natalie habe ich immer so toll gespielt. Sie kannte eine Menge spannende
Geschichten, die hat sie alle selbst erfunden. Manchmal, wenn Mom und Dad lange arbeiten
mussten, habe ich mit Natalie heimlich noch spät Fernsehen geschaut.
Einmal hat Natalie sogar eine ganze Nacht mit mir in meinem Baumhaus verbracht und wir
haben uns dort Gruselgeschichten erzählt. Aber am Ende haben wir darüber gelacht.“
An dieser Stelle fing Lizzy bitterlich an zu weinen und klammerte sich ängstlich an Katharina:
„Ich hab Angst, dass dir auch etwas geschieht. Weißt du, allen Menschen, die ich gern habe,
passiert etwas.“
Katharina nahm sie in die Arme und wiegte sie sanft. „Nein Lizzy, glaub mir, es wird mir
nichts passieren. Hab keine Angst, ich werde schon auf mich aufpassen.“
Doch innerlich war sie völlig durcheinander. Wie war das alles nur möglich?
Sie wusste nicht viel über Patienten, die im Koma lagen. Doch es kam ihr völlig absurd vor,
dass jemand in diesem Zustand zu irgendwem Kontakt aufnehmen konnte, schon gar nicht
über dessen Träume.
Sie hatte Hamira am Nachmittag einfach nicht glauben wollen und alles auf ihre für sie
fremde Kultur und deren Glauben geschoben.
Aber war es nicht ebenso unmöglich, dass zwei Personen denselben Traum zur gleichen
Zeit hatten? Katharina war völlig verwirrt.
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VII.
Dave stand am Fenster seines Arbeitszimmers und beobachtete, wie graue Nachtwolken
den silbrigen Mond verdunkelten. Die beiden Straßenlaternen beleuchteten den Parkplatz
unter ihm nur spärlich und Dave sah, wie die letzten Kollegen die Klinik verließen.
Jetzt waren außer ihm nur noch ein Bereitschaftsarzt und vier Nachtschwestern auf der
Station.
Dave rieb sich müde über die Augen. Ein prüfender Blick zur Wanduhr zeigte ihm, dass es
Zeit war. Für einen kurzen Moment stellte er sich Rebekka zu Hause vor, wie sie entspannt
auf der Couch saß und in einem Buch las. Die Kinder lagen vermutlich schon in ihren Betten
und schliefen.
Dave hatte sich angewöhnt, das Medikament für Natalie in einer unscheinbaren Dose im
Kühlschrank seines Arbeitszimmers aufzubewahren. Einmal wöchentlich verabreichte er ihr
heimlich das teure und noch dazu verbotene Mittel, um sie am Aufwachen zu hindern.
Niemand ahnte etwas davon und binnen weniger Stunden ließ sich das Medikament auch
nicht mehr in ihrem Körper nachweisen.
Nervös strich er sich über seine schmerzende Stirn. Die Kopfschmerzen würden ihn wohl nie
wieder verlassen. Seit Sarahs Unfall war er nicht einen Tag mehr schmerzfrei gewesen.
Doch er konnte nicht aufhören, um seine Tochter zu trauern. Mit ihrem Tod hatte sich Leben
ein Gefühl von Kälte und Bitterkeit in sein Leben geschlichen.
Täglich quälten ihn Gedanken, wie er den Unfall hätte verhindern können. Sie hätte nicht
Motorrad fahren dürfen, er hätte sie an diesem Tag mit dem Auto in die Stadt fahren sollen.
Durch seinen Kopf schwirrten eine Unzahl Fragen, auf die er nie eine Antwort erhielt:
Wieso musste ausgerechnet seine geliebte Tochter sterben? Weshalb passierte so etwas
Furchtbares gerade seiner Familie? Sarah war so jung, so talentiert und so wunderschön.
Sie war sein ganzer Stolz, seine Erstgeborene. Warum?
In seinem Beruf als Neurologe behandelte er täglich unzählige Menschen, die an seelischen
und geistigen Krankheiten litten. Menschen, die oftmals danach trachteten, sich selbst zu
töten und dank seiner Hilfe am Leben blieben.
Aber seine junge, gesunde Tochter, die ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte, hatte
der Tod mit sich fort gerissen. Gnadenlos und unerbittlich ...
Der Tag ihres Unfalls stand ihm ständig vor Augen und besonders nachts quälten ihn
grausige Träume. Er wusste, dass es Rebekka genauso erging. Doch er war immer der
Stärkere in ihrer Beziehung gewesen. So versuchte er seine wahren Gedanken nach außen
hinter einer Fassade aus Gleichmut und ruhiger Gelassenheit zu verstecken. Doch innerlich
machte es ihn schier verrückt, dass er nicht handeln konnte.
Nach dem Unfall hatte er sich mehr und mehr in seine Arbeit vergraben. Nachts, wenn er
nicht schlafen konnte, hatte er im Internet recherchiert. Obwohl er wusste, dass es nichts
geben würde, was ihm Sarah wieder zurückbrachte, konnte er nicht damit aufhören.
Dann plötzlich entdeckte er im Netz die Anzeige von Pedro Gonzilez. Das war vor ungefähr
einem Jahr. Es war dieselbe Anzeige, die er erst vor gut einer Woche Rebekka in dem
italienischen Restaurant gezeigt hatte.
Er kontaktierte damals den Schamanen sofort, ohne Rebekka etwas davon zu erzählen.
Die erstaunlichen Erkenntnisse des Indianers faszinierten ihn von Anfang an.
Seine vorerst gesunde Skepsis wich bald einem ungeheuren Staunen und in seiner
Verzweiflung klammerte er sich an Dinge, die er vorher rundheraus abgelehnt hätte.
Fast zur selben Zeit zog Natalie bei ihnen als Kindermädchen ein.
Dieser Umstand sowie die nicht enden wollende Trauer in seinem Herzen und die
tiefgründigen Gespräche, die er mit dem Schamanen führte, ließen nach und nach einen
Plan in seinem Kopf entstehen.
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Dave hatte bis dahin schon einiges von angeblichen Wunderheilern und ihren vermeintlichen
Kontakten zur geistigen Welt gehört und das Ganze immer für Humbug gehalten.
Doch was dieser Schamane ihm erzählte, schien tatsächlich ein Beweis zu sein.
Ein Beweis wofür? Dass es wirklich so etwas wie ein Leben nach dem Tod gab?
In seinem Schreibtisch im Büro häuften sich seitenlange E-Mails, die er seitdem von Mister
Gonzilez erhalten hatte und wovon Rebekka nichts ahnte.
Je intensiver er sich mit den schamanischen Praktiken des Indianers auseinander setzte,
umso mehr erkannte er die Möglichkeit, die sich ihm daraus bot. Und langsam reifte sein
Plan zur Gewissheit. Doch es war noch zu früh, um mit Rebekka darüber zu sprechen.
Dave musste sie erst langsam darauf vorbereiten.
Wie Mister Gonzilez versicherte, war es möglich, dass jeder Mensch auf einer bestimmten
Bewusstseinsebene mit den Toten Kontakt aufnehmen konnte.
Dave war zwar einerseits immer noch skeptisch, andererseits jedoch fasziniert von dieser
Entdeckung und der kaum fassbaren Gelegenheit, die sich ihm damit zu bieten schien.
Nur ein einziges Mal traf er den Schamanen persönlich in seiner Wohnung.
Damals war er ebenso entsetzt wie Rebekka über den ausgemergelten Zustand von Pedros
Mutter. Doch gleichzeitig faszinierte ihn der gedankliche Austausch, den der Schamane mit
seiner Mutter führte.
Kurz darauf hatte er Natalies Unfall systematisch geplant.
Er wusste, dass sie häufig über Kopfschmerzen klagte und so gab er ihr eines Abends
anstelle einer Schmerztablette ein Betäubungsmittel, welches er genauestens dosiert hatte.
Natalie bekam Durst und versuchte, mitten in der Nacht und halb betäubt hinunter in die
Küche zu gehen. Daraufhin stürzte sie die hohe Treppe hinab und war bewusstlos, noch
bevor sie unten ankam.
Dave veranlasste sofort, dass Natalie in seine Klinik gebracht wurde. Dort spritzte er ihr
heimlich ein Medikament und versetzte Natalie in einen tiefen komatösen Zustand.
Lange Zeit hatte Dave gezögert, Rebekka den Schamanen vorzustellen.
Bei ihrem ersten Zusammentreffen vor drei Tagen hoffte er inständig, dass alles gut gehen
würde und täuschte ebenso wie Pedro vor, dass sie sich zum ersten Mal sahen.
Doch Rebekka war viel zu aufgeregt, um irgendetwas zu bemerken. Hinterher tat es ihm
unendlich leid, sie so belügen zu müssen. Aber wie sollte er sonst seine Frau auf das
Unfassbare vorbereiteten?
Denn etwas an dieser Begegnung hatte auch ihn aus der Fassung gebracht. Er hatte dem
Schamanen niemals die Spitznamen seiner Kinder verraten. Aber Pedro hatte ganz klar von
„Püppchen“ und dem „Trouble-Duo“ gesprochen. Diese Namen hatte Sarah immer für Lizzy
und die Zwillinge benutzt. Demnach schien der Schamane tatsächlich eine Verbindung zu
Sarahs Seele gehabt zu haben. Ein Beweis mehr, dass er mit ihm auf dem richtigen Weg
war.
Und dennoch konnte sich Dave immer noch nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn die
Seele von Sarah in den Körper von Natalie schlüpfen würde.
Denn das war sein Plan. Er war teuflisch, dass wusste er, doch für seine Tochter würde er
einfach alles tun, was möglich war.
Sarahs Körper wurde bei ihrem Unfall völlig zerstört. Doch ihre Seele, so hatte der
Schamane ihm erklärt, war immer noch heil und unversehrt. Sie war unsterblich und
brauchte nur einen geeigneten Körper, um wieder in dieser Welt existieren zu können.
In Daves Augen gab es nur einen, der das Unmögliche möglich machen konnte und Pedro
Gonzilez befand sich bereits auf dem Weg hierher.
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