Sommersemester 2013 Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Grundkurs Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts/ Teil I 1780-1914 1. Vorlesung: Einführung/ Industrielle Revolution in England/ Französische Revolution Wichtige Einführungsliteratur zum 19. Jahrhundert - - - - KOCKA, Jürgen, Das lange 19. Jahrhundert. Arbeit, Nation und bürgerliche Gesellschaft (= Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 13), 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2002. NONN, Christoph, Das 19. und 20. Jahrhundert. Orientierung Geschichte, Paderborn 2007. OSTERHAMMEL, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009. SCHULZ, Matthias, Das 19. Jahrhundert (1789-1914), Stuttgart 2011. WIRSCHING, Andreas (Hg.), Neueste Zeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München 2006. Einführungen in die Geschichte der Westeuropäischen Doppelrevolution: - - I. FAHRMEIR, Andreas, Revolutionen und Reformen. Europa 1789-1850, München 2010. FEHRENBACH, Elisabeth, Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 12), 4. überarb. Aufl., München 2001. BUCHHEIM, Christoph, Industrielle Revolutionen. Langfristige Wirtschaftsentwicklung in Großbritannien, Europa und in Übersee, München 1994. Grundfragen und -strukturen des 19. Jahrhunderts - Anfang und Ende: Historiker haben in den letzten Jahrzehnten oft vom „langen 19. Jahrhundert“ (E. Hobsbawm) gesprochen und darunter die Zeit zwischen der so genannten "Westeuropäischen Doppelrevolution" (Industrielle Rev. in England/Frz. Rev.) und dem 1. Weltkrieg verstanden. Inzwischen ist es aber umstritten, inwieweit diese Periodisierung überhaupt für das gesamte Europa gelten kann. Die einzelnen Teile Europas wurden auf sehr unterschiedliche Weise von den großen Veränderungen erfasst, die Industrialisierung, gesellschaftlicher Wandel, Nationalstaat und Fundamentalpolitisierung mit sich brachten. Wenn man Geschichte des 19. Jahrhunderts im globalen Rahmen betreibt, was zunehmend eingefordert und getan wird, muss man erstens fragen, ob man die europäischen Entwicklungen zum Modell universaler Entwicklungen machen kann. Das wird vor allem von asiatischen oder afrikanischen Historikern zunehmend in Frage gestellt. Zweitens kann man deshalb auch die Frage nach dem Anfang und dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit festen Jahreszahlen beantworten. Dennoch bietet sich folgende Grobeinteilung in drei Phasen an: die so genannte Sattelzeit zwischen 1770 und 1830, die „viktorianischen Epoche“ zwischen 1830 und 1880 mit der überragenden Bedeutung Großbritanniens und die danach einsetzende Übergangsphase in den Hochimperialismus bis 1914. Charakter des 19. Jahrhunderts: Das 19. Jahrhundert war vor allem in Europa ein Jahrhundert der Modernisierung: Industrialisierung, Kommunikationsrevolution durch 1 Bahnen, Dampfschiffe und Telegraphie, die wissenschaftliche Revolutionen und die Herausbildung einer Wissensgesellschaft, sozialer Wandel, Migrationströme, Urbanisierung, die europäische Expansion und erste Wellen der Globalisierung, der Durchbruch des modernen Verfassungsstaats, Aufkommen des Nationalstaats (der sich aber auch in Europa keineswegs überall durchsetzte, denn Großreiche wie die Habsburger Monarchie, das Zarenreich und das Osmanische Reich gingen erst nach 1914 zugrunde!), Demokratisierung, politischer Massenmarkt (Parteien u. Verbände), Emanzipation des Menschen aus den bisherigen ständischen Ordnungen, Neuordnung der Geschlechterbeziehungen, Anfänge des Sozialstaats. Dennoch war das 19. Jahrhundert selbst in Europa nicht nur ein Jahrhundert des Fortschritts. Zum einen gab es innerhalb Europas noch große Entwicklungsunterschiede, zum anderen spielten traditionale Strukturen, Denkmuster und Verhaltensweisen in den europäischen Gesellschaften auch am Ende des 19. Jahrhunderts noch immer eine große Rolle. Moderne und Tradition, Wandel und Beharrung prallten vielfach – etwa in den Konflikten zwischen Staat und Kirche – hart aufeinander. Die moderne Geschichtswissenschaft thematisiert deshalb nicht mehr nur die großen Fortschrittstendenzen des 19. Jahrhunderts. Sie betont vielmehr auch den Misch-, Übergangs- und Durchgangscharakter, die Doppelgesichtigkeit dieses Jahrhunderts. Sie fragt dabei auch stärker als früher nach den Opfern und Kosten des Modernisierungsprozesses (z. B. ländliche und städtische Unterschichten, Umweltbelastungen). In noch stärkerem Maße gilt all dies, wenn man nicht nur die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, sondern die Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie dies Osterhammel in seinem eindrucksvollen Werk getan hat. Der Blick nach Afrika, Asien, Australien oder Amerika zeigt, dass hier zum Teil ganz eigene Entwicklungen und Strukturen das 19. Jahrhundert prägten. Allerdings ist festzuhalten, dass das 19. Jahrhundert wie kein anderes eine Epoche Europas war. Es war das Jahrhundert der Europäisierung der Welt, d. h. die europäischen Staaten dehnten ihre Macht und ihren Einfluss stärker als zuvor auf die übrige Welt aus, die auch wirtschaftlich und kulturell den europäischen Mustern unterworfen werden sollte. Ermöglicht wurde dieses erfolgreiche Ausgreifen Europas durch die mit neuen Technologien verbundene Wirtschaftskraft, die mehr und mehr auch militärisch genutzt wurde, und die politisch-gesellschaftliche Modernisierung der europäischen Staaten. (vgl. hierzu den gerade erschienen Aufsatz von Dieter Langewiesche, Das Jahrhundert Europas. Eine Annäherung in globalhistorischer Perspektive, in: Historische Zeitschrift 296, 2013, S. 29-48). Durch den kolonialen Zugriff wirkten sich die von Europa ausgehenden Veränderungen in einer Weise auf die übrige Welt aus, wie dies zuvor und danach nicht der Fall war. Die transnationalen Aspekte dieses europäischen Ausgreifens werden innerhalb der Geschichtswissenschaft im Zuge der heutigen Globalisierungsprozesse immer stärker beachtet. Europa erlebte zwischen 1815 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs auch deshalb ein relativ friedliches Jahrhundert, weil der Machtwettbewerb der europäischen Großmächte militärisch außerhalb von Europa ausgetragen wurde. Das 19. Jahrhundert ist für Osterhammel von fünf charakteristischen Merkmalen geprägt, die in den einzelnen Teilen der Welt allerdings unterschiedlich zur Geltung kamen. Erstens durch eine asymmetrische Effizienzsteigerung, die sich sowohl in Wirtschaft und Wissenschaft als auch in der militärischen Macht und dem Ausbau des Staates zeigte und die Welt wie nie zuvor in reiche und arme Regionen, mächtige und schwache Staaten zerfallen ließ. Zweitens war das 19. Jh. durch eine gesteigerte Mobilität gekennzeichnet, die sowohl die Migration der Menschen als auch die Zirkulation von Waren, Kapital und Nachrichten betraf. Das dritte Merkmal war die Referenzverdichtung, mit der Osterhammel die enorme Steigerung interkultureller Wahrnehmungen und Transfers beschreibt. Als viertes Merkmal benennt Osterhammel das Spannungsverhältnis, das zwischen dem Gleichheitsversprechen der Aufklärung und neuen Hierarchisierungen entstand, wie sie etwa neue Formen rassisch 2 begründeter Diskriminierung mit sich brachten. Ungeachtet aller Gegenkräfte, die sich der Realisierung des Gleichheitspostulats und einer demokratischen Partizipation des Volkes noch entgegenstellten, war das 19. Jahrhundert aber fünftens auch ein Jahrhundert der „Emanzipation“. II. DIE INDUSTRIELLE REVOLUTION IN ENGLAND 1. Wirtschaft und Gesellschaft im späten 18. Jahrhundert: Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte der Großteile der europäischen Bevölkerung auf dem Lande. Die Landwirtschaft war überall noch der wichtigste Wirtschaftszweig. Schlechte Ernteergebnisse führten nicht selten zu Hungerkrisen. Die gewerbliche Wirtschaft bewegte sich zum Großteil noch in den traditionellen Strukturen des Handwerks. Dennoch vollzogen sich im 18. Jahrhundert vor allem in Westeuropa wichtige Veränderungen. Hierzu zählte die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion durch Fortschritte im Landbau und bei der Viehzucht, aber auch durch strukturelle Veränderungen wie dem verstärkten Aufkommen rational wirtschaftender Großbetriebe (Agrarkapitalismus). Außen- und Binnenhandel wiesen eine steigende Tendenz auf, was nicht zuletzt auf das europäische Ausgreifen nach Übersee zurückzuführen war. Und auch die gewerbliche Wirtschaft befand sich in einem Expansionsprozess. Eine wachsende Nachfrage nach gewerblichen Erzeugnissen förderte den Ausbau von Manufakturen und des ländlichen Heimgewerbes (vor allem Textilproduktion) und schließlich das Aufkommen erster Fabriken. In England begann die Industrielle Revolution. 2. Hauptcharakteristika von Industrieller Revolution (umstrittener Begriff) oder Industrialisierung: Durchsetzung neuer Techniken; massenhafte Nutzung von Rohstoffen, besonders zunächst Kohle und Eisen; Einrichtung des Fabriksystems und seiner arbeitsteiligen, zentralisierten und mechanisierten Produktionsprozesse; die Durchsetzung der freien Lohnarbeit; Kommunikationsrevolution; neue Form des Wirtschaftswachstums. 3. Ursachen der Industriellen Revolution: Man vermeidet heute monokausale Erklärungen und sieht die Ursache in einem ganzen Bündel von wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Faktoren: Bevölkerungswachstum, Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion und bessere Ernährung, günstige Verkehrsverhältnisse, technische Neuerungen, überseeische Expansion, Humankapital, Schaffung günstiger Rahmenbedingungen durch den Staat (Wirtschaftsliberalismus, kalkulierbare Rechtsordnung, machtpolitische Sicherung von Märkten). Das Pionierland der Industriellen Revolution war England, wo im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts aufgrund günstiger Rahmenbedingungen der Industrialisierungsprozess begann. 4. Wichtigste Erfinder und Erfindungen: James WATT (1736-1819): Erfinder der Dampfmaschine mit Drehbewegung 1782; John KAY: 1733 fliegendes Weberschiffchen zur Beschleunigung des Webens; James HARGREAVES: Spinning Jenny in den 1760er Jahren; Richard ARKWRIGHT: Spinnmaschine mit Wasser- oder Dampfkraft; Abraham DARBY: Verhüttung von Eisenerz mit Koks statt Holzkohle, Henry CORT 1783: Vereinfachung der Stahlproduktion durch das Puddel-Verfahren. Der wichtigste Bereich der frühen Industrialisierung war die Baumwollspinnerei, deren Wachstum sich in England (Manchester vor allem seit 1780) beschleunigte. Auch wenn gesamtwirtschaftliche Berechnungen das quantitative Ausmaß des zwischen 1780 und 1800 erreichten Wachstums erheblich niedriger einstufen als frühere Forschungen (Kritik am 3 Mythos "Industrielle Revolution") und England um 1800 in vielerlei Hinsicht noch vorindustrielle Strukturen besaß, so darf man die Bedeutung des eingetretenen Wandels nicht unterschätzen. Die industrielle Revolution war zunächst einmal ein regionales Phänomen. Die "revolutionären" Veränderungen dieser Führungsregionen werden in einer gesamtnationalen Wachstumsstatistik daher zu schnell eingeebnet. Um 1800 wurden die Fortschritte der englischen Industrie auf dem Kontinent einerseits bewundert (Industriespionage). Andererseits war man angesichts der mit ihnen verbundenen sozialen Probleme noch keineswegs generell davon überzeugt, langfristig denselben Weg einschlagen zu müssen. Selbst in England war man, wie die Schriften von Robert Thomas MALTHUS zeigen, um 1800 nicht voll davon überzeugt, durch die Beschleunigung der Industrialisierung der wachsenden Bevölkerung ausreichende Existenzbedingungen schaffen zu können. Der Lebensstandard der Massen ist in den frühen Jahrzehnten der Industriellen Revolution im Übrigen nur wenig gestiegen, zum Teil sogar gefallen. Hinzu kam die von vielen Betroffenen als Verschlechterung empfundenen Bedingungen der neuen Fabrikarbeit: Monotonie, Lärm, Schmutz, Zeitdruck, Disziplinierung, Kinderarbeit, Trucksystem usw. Die sozialen Krisen führten vor allem seit 1800 zu Protestbewegungen der Arbeiter (Ludditen-Aufstand) und harten Repressionsmaßnahmen der englischen Regierung. Trotz außenpolitischer Rückschläge unter König Georg III. (1760-1820) und wachsender Reformforderungen kam es aber in Großbritannien mit seinen vergleichsweise weit entwickelten Freiheitsrechten und einem flexibel reagierenden politischen System zu keiner politischen Revolution. Im Vergleich mit Frankreich war das von William Pitt d. Jüngeren (1783-1801, 1804-06) regierte wirtschaftliche Pionierland England um 1800 eher ein Hort von Tradition und Konservativismus. III. DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION 1. Revolutionsbegriff und Revolutionsforschung: Revolutionen sind besondere Verlaufsformen des historischen Prozesses. Ursprünglich meinte der Begriff Revolution eine Umwälzung im Sinne der Wiederherstellung früherer Zustände. Revolution im modernen Sinne meint eine "politisch-soziale Totalumwälzung" und die Schaffung einer neuen Ordnung. Seine entscheidende politische Aufladung erhielt dieser Begriff am Ende des 18. Jahrhunderts. Mit der amerikanischen Revolution von 1776, in der 13 Staaten ihre Unabhängigkeit vom Mutterland England vollzogen und erstmals allgemeine Menschenrechte proklamiert wurden, und mit der Französische Revolution von 1789 setzte sich der neue Revolutionsbegriff durch. Hier ging es nicht mehr um die Rückkehr zu Altbewährtem, sondern um den Aufbruch zu einer neuen Ordnung auf der Grundlage der Volkssouveränität. 2. Die amerikanische Revolution wirkte in vielfacher Weise auf die politischen und sozialen Konflikte Europas ein und stärkte jene Kräfte, die seit längerem die überkommenen gesellschaftlichen und herrschaftspolitischen Verhältnisse in Europa kritisierten. Die mit der Aufklärung aufkommenden Reformforderungen zielten zum einen auf eine neue Gesellschaftsordnung, mit der die bisherige ständische Gliederung mit all ihren Privilegien für einzelne Gruppen überwunden werden sollte. Neben der Überwindung ständischer und konfessioneller Schranken sollte zum anderen aber auch die politische Herrschaft auf neue Grundlagen gestellt werden. Der traditionellen Legitimation monarchischer Herrschaft durch die göttliche Weltordnung stellten die Vertreter der Aufklärung den Herrschaftsvertrag zwischen Herrscher und Beherrschten entgegen und forderten neue Formen politischer Partizipation. In den 1780er Jahren nahmen in vielen Teilen Europas nicht nur die Reformdebatten weiter zu, es gab vielmehr auch eine Fülle von Unruhen, deren Ziele freilich 4 oft noch weit auseinanderstrebten und zum Teil auch gegen Reformen gerichtet waren, die aufgeklärte Herrscher wie Kaiser Joseph II. begonnen hatten. Mit der Französischen Revolution von 1789 begann dann eine neue Phase der politisch-sozialen Kämpfe. 3. Französische Revolution in der Geschichtsschreibung: Die umfangreiche Revolutionshistoriographie war lange geprägt von drei Grundrichtungen: der konservativen, der liberal-bürgerlichen und der sozialistischen Richtung, einschließlich ihres sowjetmarxistischen Ablegers, neuere Ansätze zeichnen ein differenzierteres Bild. A. Konservative Deutungen (Burke, Taine, Chaunu): z. T. Revolution als Folge von Verschwörungen, Antikatholizismus der Revolution, Minderung der Macht Frankreichs. B. Liberale Deutungen (Thiers, Michelet): trotz Terrorherrschaft positives Gesamtbild, Revolution als Durchbruch zu Menschen- und Bürgerrechten, Rechtsgleichheit und moderner Verfassung. C. Sozialistische Interpretation (Jaurés, Lefebvre, Soboul): Revolution als Kampf zwischen Feudalismus und Kapitalismus (Adel-Bourgeoisie), Bedeutung der schon hervortretenden sozialrevolutionären Unterströmungen, wichtige Stufe auf dem Weg zur sozialistischen Gesellschaft. D. Moderne strukturanalytische Forschung (Richet): differenzierteres Bild vom Ancien Régime und der Revolution, unterschiedliche Revolutionsebenen, Nebeneinander moderner und traditionaler Strukturen und Erwartungen. E. Revolution als Kulturrevolution (Vovelle): Umbruch der Mentalitäten. 4. Ursachen und Vorgeschichte der Französischen Revolution: Die Ursachen der Französischen Revolution waren vielschichtig, monokausale Erklärungen sind wenig überzeugend. Die Revolution war nicht das Ergebnis quasi gesetzmäßiger ökonomischer und sozialer Entwicklungen, dennoch spielten auch wirtschaftliche und soziale Faktoren im Ursachengeflecht eine wichtige Rolle: Anstieg der Bevölkerung, seit 1770 Krisen- und Stagnationserscheinungen der zunächst expandierenden Wirtschaft, Arbeitsmangel und hohe Getreidepreise, Unzufriedenheit der Bauern über das noch bestehende Feudalsystem, Konflikte zwischen Adel und aufstrebendem Bürgertum. Die Revolution von 1789 ist aber nicht auf den einen großen sozialen und wirtschaftlichen Gegensatz (Adel-Bürgertum) zurückzuführen. Die komplizierten Konfliktlagen führten gemeinsam mit dem geistigen und politischen Wandel zur wachsenden Unzufriedenheit in allen Schichten der französischen Gesellschaft, die dann in eine Revolution mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen mündete. Zu den Ursachen der Revolution gehörten ferner die mit der Aufklärung einhergehenden geistesgeschichtlichen Umbrüche. Die Blütezeit der französischen Aufklärung lag zwischen 1750 und 1770: VOLTAIRE (1694-1778: Ideal des aufgeklärten Monarchen), MONTESQUIEU (1689-1755: Kräftigung von Zwischengewalten, Gewaltenteilung, Aristokratie als ausgleichendes Moment zwischen Monarch und aufstrebendem Bürgertum), ROUSSEAU (1712-1788: Lehre vom Gesellschaftsvertrag als Grundlage jeder Herrschaft, Volksherrschaft), Enzyklopädisten (DIDEROT, d`ALEMBERT: Popularisierung der neuen Ideen). Zwischen 1770 und 1789 verstärkte sich die Rezeption aufklärerischer Ideen (Freimaurerlogen, Lesegesellschaften, Salons, Akademien und erste politische Klubs, Zeitschriften, Zeitungen und Pamphlete). Die Radikalisierung des Meinungsstreites trug dazu bei, in breiten Bevölkerungsschichten die Autorität der alten Mächte (Monarchie u. Kirche) zu untergraben. Der Politisierungsprozess in Frankreich und die Kritik an den alten Institutionen wurde schließlich auch durch die amerikanische Revolution und die Unruhen in europäischen Nachbargebieten (Niederlande, österreichische Niederlande, Schweiz) befördert. 5 Eine weitere Ursache ist in der Krise des absolutistischen Herrschaftssystems zu sehen. Das seit 1774 von Ludwig XVI. regierte Frankreich war durch eine kostspielige Außenpolitik, hohe Ausgaben des Hofes und ein ineffizientes Steuersystem immer tiefer in die Finanzkrise geraten, die notwendigen Reformen waren aber bis 1789 am Widerstand der privilegierten Stände (Adel, Klerus) gescheitert. Der König musste dann erstmals seit 1614 die Generalstände zum 1. Mai 1789 einberufen, um die Steuerfrage anzugehen. Inzwischen hatte sich mit der nationalen oder Patriotenpartei eine neue, vom Bürgertum dominierte politische Kraft bemerkbar gemacht. Sie führte den Kampf sowohl gegen den König als auch gegen dessen Widersacher aus dem Lager der privilegierten Stände. Das neue Selbstbewusstsein des dritten Standes wurde in der berühmten Schrift des Abbé Emmanuel Sieyès: "Was ist der Dritte Stand" untermauert, die im Januar 1789 erschien. Gefordert wurde eine verfassungsmäßig abgesicherte Mitsprache des dritten Standes an der Gestaltung der staatlichen Ordnung. Die Wahl der Generalstände und die dabei verfassten Beschwerdehefte des Volkes ("Cahiers de doléances") trieben den Politisierungsprozess im Winter 1788/89 weiter voran. Am 5. Mai 1789 begann mit der Eröffnung der Generalstände in Versailles ein neuer Abschnitt in der politischen Geschichte Frankreichs. 5. Die drei Revolutionen vom Sommer 1789: A. Die staatsrechtliche Revolution vom Sommer 1789: Zusammentreten der Generalstände am 5. Mai 1789 (Vertreter des Klerus, des Adels und des dritten Standes): Nachdem die Mandate des Dritten Standes schon vorher verdoppelt worden waren, wurden nun weitere bisherige ständische Regelungen der Versammlung (getrennte Sitzungen und Abstimmungen nach Ständen statt nach Köpfen) in Frage gestellt. Am 17. Juni 1789 erklärten sich die Vertreter des dritten Standes, unterstützt von Vertretern der beiden anderen Stände, zur Nationalversammlung. Verteidigung der eigenen Ansprüche durch den Ballhausschwur vom 20. Juni 1789. Der Zickzack-Kurs König Ludwigs XVI. führte am 14. Juli zum Ausbruch der Revolution. B. Die städtische Revolution und der Sturm auf die Bastille: Hohe Lebensmittelpreise, allgemeine Unzufriedenheit und Gerüchte über die Auflösung der Nationalversammlung führten in Paris und anderen Städten zu Tumulten. Am 14. Juli kam es zur Erstürmung der Bastille (Symbol des Despotismus). Die städtische Revolution brachte das besitzende Bürgertum an die Macht, das aber von Anfang an unter erheblichem Druck der städtischen Mittel- und Unterschichten stand. C. Bauernrevolution und Abschaffung des Feudalsystems: Im Juli 1789 erhoben sich in vielen Teilen Frankreichs auch die Bauern gegen ihre Grundherren. Um die Bauernrevolution einzudämmen, entschlossen sich die Abgeordneten der Nationalversammlung in der Nachtsitzung vom 4. August 1789, das gesamte Feudalsystem mit einem Schlage aufzuheben. 6. Aufbau und Scheitern der konstitutionellen Monarchie 1789-1792 - Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, Absage an die alte Gesellschaftsordnung - Beginn der Verfassungsberatungen durch die in Versailles tagende Nationalversammlung - Die anhaltende wirtschaftliche Misere und das Zögern des Königs gegenüber den Beschlüssen der Nationalversammlung führten zu neuen Unruhen. Am 5. Oktober 1789 zogen politisierte Massen, darunter viele Frauen, von Paris nach Versailles, um die königliche Familie nach Paris zu holen (die Monarchie als Gefangene der Revolution). - Oktober 1790: Ersetzung des Lilienbanners durch die Trikolore 6 - - - - - - Reformwerk der Nationalversammlung: Verfassung vom 3. September 1791 (Einkammersystem, Zensuswahlrecht, König ernennt Minister, Offiziere und Diplomaten, hat aber nur noch ein aufschiebendes Veto gegen Beschlüsse des Parlaments); Verwaltungsreformen (neue Einteilung in Departements, Distrikte, Kantone und Kommunen); neue Gerichtsverfassung, Abschaffung des Erbadels (Juli 1790), Gleichstellung der jüdischen Minderheit (September 1791), Aufhebung von Zünften und anderen Korporationen (März 1791), Verbot von Arbeitervereinigungen und Streiks (Loi le Chapelier vom Juni 1791). Die Kirchenpolitik löste neue Konflikte mit dem König aus: die Güter der Kirche wurden als Nationalgüter verkauft (Ausgabe der Assignaten); neue vom Staat gesetzte Kirchenordnung, Zivilkonstitution des Klerus, der einen Eid auf die neue Ordnung leisten musste. Die ablehnende Haltung des Papstes und großer Teile des Klerus spaltete die französische Gesellschaft und verschärfte die Gegensätze zwischen der Nationalversammlung und dem kirchentreuen Ludwig XVI.; der von Mirabeau und La Fayette unternommene Versuch einer Versöhnung von Monarchie und Revolution hatte keine Chance mehr, zumal der König mit seinem gescheiterten Fluchtversuch vom Juni 1791 neues Misstrauen entstehen ließ. Während der Verfassungsberatungen hatten sich innerhalb der Nationalversammlung politische Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielen herausgebildet. Der wichtigste dieser Klubs war der Jakobinerklub (Gesellschaft der Freunde der Verfassung), von dem sich im Sommer 1791 die gemäßigten Feuillants abspalteten. Sie bildeten in der 1791 neu gewählten Nationalversammlung zunächst die stärkste Gruppe, hatten aber keine eigene Mehrheit. 20. April 1792 Kriegserklärung der Nationalversammlung an Österreich (wegen Unterstützung der französischen Emigranten und Drohungen gegen die Revolution). Während der König auf die Niederlage Frankreichs setzte, um die politischen Dinge revidieren zu können, erhofften sich die Befürworter des Krieges (vor allem die Girondisten) ein engeres Zusammenrücken der Franzosen und die Festigung der revolutionären Errungenschaften. Der ungünstige Kriegsverlauf, der Streit um die Kirchenpolitik, soziale Probleme und die wachsende Politisierung der Gesellschaft (Klubs, aktive Rolle von Frauen wie Madame Roland, Olympe de Gouges) führten im August 1792 zum Sturz der Monarchie. Septembermorde von 1792 in den Pariser Gefängnissen als Höhepunkt neuer Gewaltwellen gegen vermeintliche Feinde der Revolution. 7. Vorgeschichte, Entwicklung und Bedeutung der Jakobinerdiktatur: - - - September 1792 Wahlen zum Nationalkonvent, geringe Beteiligung, Erfolg der Girondisten, die stärker waren als die Montagnards (Bergpartei, radikalerer Teil des auseinander brechenden Jakobinerklubs), die große Mehrheit der Konventsmitglieder war zunächst auf keine Richtung festgelegt. Die Position der Girondisten festigte sich durch den militärischen Erfolg von Valmy am 20. September 1792. Der Nationalkonvent setzte die Forderungen des 10. August 1792 in die Tat um: offizielle Abschaffung der Monarchie und Errichtung einer Republik in Form eines unteilbaren Einheitsstaates. Es folgten der Prozess gegen den König und die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793. Anfang 1793 erlitt Frankreich schwere Niederlagen gegen die nun unter Führung Englands agierende Koalition. Hinzu kamen innere Unruhen: Unzufriedenheit über schlechte Versorgung in Paris, royalistische Bauernerhebungen in der Vendée; Kritik an regierenden Girondisten. 7 - - - - - - - Im März 1793 erzwangen revolutionäre Kräfte die Einrichtung eines Revolutionstribunals und die Todesstrafe für Gegenrevolutionäre. Den Machtkampf zwischen den Girondisten und den vom Pariser Kleinbürgertum (Sansculotten) unterstützten Montagnards wurde am 2. Juni 1793 zugunsten der letzteren entschieden. Mit dem Beginn der Jakobinerherrschaft (Danton, Robespierre) erhielt Frankreich zwar noch im Juni 1793 eine neue, vom Konvent verabschiedete Verfassung (allgemeines Wahlrecht, Recht auf Arbeit, Recht auf Bildung, Armenunterstützung). Sie trat jedoch wegen des Ausnahmezustandes nicht in Kraft. Die Regierungsarbeit lag bei den zwei Konventsausschüssen, dem für die Verteidigungsfragen zuständigen Sicherheitsausschuss und dem Wohlfahrtsausschuss. Die regierenden Jakobiner betrieben nun eine rigorose Zentralisierung des Staatsapparates (gegen föderalistische Ziele der Girondisten) und versuchten, durch Wirtschaftslenkung und die Schaffung einer schlagkräftigen Revolutionsarmee die inneren und äußeren Krisen in den Griff zu bekommen. Hauptkennzeichen des neuen Systems wurde schließlich der Terror, der sich immer rascher ausbreitete. Die wichtigste Unterstützung erhielten die Jakobiner von den so genannten Sansculotten (klein- und unterbürgerliche Pariser Volksbewegung, aktiver Kern umfasste etwa 10% der männlichen Bevölkerung). Zu ihren Hauptforderungen gehörten die Festsetzung von Höchstpreisen und Beschränkungen der Eigentumsrechte. Das sozialökonomische Wunschziel war eine egalitäre Gesellschaft von selbständigen Kleinproduzenten. Man bekannte sich zum Eigentum, doch ganz im Sinne einer egalitären Kleineigentümergesellschaft. In politischer Hinsicht plädierten die Sansculotten für eine direkte Demokratie. Krieg und die Gegenrevolution im Inneren festigten zunächst das Bündnis zwischen Jakobinern und Sansculotten. Der Konvent ließ sich von den Sansculotten zu harten Maßnahmen gegen Wucherer drängen. Am 27. September 1793 wurde das maximum générale eingeführt, das die Preise und Löhne generell begrenzte und die Gewinnspannen im Handel auf 5-10% reduzierte. Dennoch wuchsen bald die Gegensätze zwischen den sozialradikalen Gruppen und den regierenden Jakobinern. Im Herbst 1793 wurde eine kleine sozialradikale Gruppe um den ehemaligen Priester Jacques Roux (Enragés) verhaftet, vor Gericht gestellt und auf die Guillotine geschickt. Angesichts der inneren und äußeren Bedrohungssituation sicherte sich der Wohlfahrtsausschuss im Herbst 1793 weitere Vollmachten und etablierte sich nun endgültig als unumstrittenes Machtzentrum der Regierungstätigkeit. Seit September erhielt er das Recht, seine Mitglieder zu kooptieren. Zu den wichtigsten Männern zählten neben Robespierre dessen engster Mitarbeiter Saint-Just, der für die Armeelieferungen zuständige Carnot, der für die Rüstungsmanufakturen zuständige Jeanbon Saint-André und die auf Druck der Sansculottenbewegung aufgenommenen Collot d'Herbois und Billaud-Varenne. Am 10. Oktober 1793 erklärte der Nationalkonvent die Regierung Frankreichs für revolutionär bis zum Frieden. Durch das Gesetz vom 4. 12. 1793 erfolgte eine weitere Zentralisierung des Herrschaftssystems. Am Ende des Jahres 1793 hatte sich die Revolution gegenüber ihren innerfranzösischen Gegnern (Zerschlagung eines Aufstandes der Girondisten und der gegenrevolutionären Kräfte in der Vendée, grausame Racheakte, Politik der verbrannten Erde) durchgesetzt. Außenpolitische Stabilisierung durch militärische Erfolge nach der "levé en masse" vom August 1793 (Volkskrieg, Heer von fast 1 Million motivierter Soldaten gegen die Söldnerheere des alten Europas). Trotz der Behauptung gegen äußere und innere Feinde häuften sich seit Oktober 1793 die großen Prozesse gegen die inneren Gegner (Revolutionstribunal unter Ankläger Antoine Fouquier-Tinville). Zu den wichtigsten Opfern im Herbst 1793 gehörten die Girondisten 8 - - - Brissot und Vergniaud, die ehemalige Königin Marie Antoinette und der Herzog Philipp Égalité. Der Großteil der Verhaftungen erfolgte weniger wegen politischer Opposition gegen die Revolution, sondern wegen Vergehen gegen die strengen wirtschaftspolitischen Bestimmungen. Die Zahl der pro Monat Hingerichteten lag bis November 1793 in ganz Frankreich bei etwa 100. Im November stieg sie auf 500, im Dezember gab es über 3000 Hinrichtungen. Trotz der militärischen Erfolge im Inneren und nach außen ging der Terror der Kriegsdiktatur weiter. Robespierre hielt es für verfrüht, die Zügel wieder zu lockern. Hierzu trugen auch die inneren Auseinandersetzungen in der Bergpartei bei. Gegen Robespierre und seine Anhänger standen rechts Danton und seine Anhänger und links die Anhänger des Journalisten Jacques René Hébert (Hébertisten). Letztere traten das Erbe des 1793 von einer katholischen Gegnerin der Revolution (Charlotte Corday) ermordeten Marats und der auf Weisung Robespierres hingerichteten Enragés an und warfen den Machthabern vor, Feinde der Gleichheit und des Volkes zu sein. Im März 1794 wurde ein Aufstandsversuch der Hébertisten in den Anfängen erstickt, die Führer des ultralinken Flügels wurden am 13./14. März 1794 verhaftet und wenige Tage später hingerichtet. Kurz danach erfolgte die Ausschaltung der Danton-Anhänger. Trotz der Ausschaltung linker und rechter Abweichler und eines günstigen Kriegsverlauf erreichte der Terror zwischen April und dem 27. Juli 1794 (Sturz Robespierres), noch einmal einen neuen Höhepunkt. Am 10. Juni 1794 begann der so genannte Große Schrecken. Der Terror war nicht von Anfang an in der Revolution angelegt, sondern die Folge einer Dynamik aus innerer wie äußerer Bedrohung. Ziel des Terrors war es zunächst, den ausgebrochenen Bürgerkrieg zu kanalisieren und unkontrollierte Gewalttaten des Volkes zu stoppen (deshalb auch Schauprozess und öffentliche Hinrichtung). Krieg, Bürgerkrieg und die inneren Widersprüche der Revolution sorgten dann dafür, dass sich der Terror verselbständigte. Mit der Verschärfung des Terrors untergrub Robespierre jedoch immer mehr seine eigene Machposition. Indem er gegen die Führer der Volksbewegung (Enragés, Hébertisten) und auch immer mehr gegen die Interessen der Sansculotten handelte (Rückkehr zum Wirtschaftsliberalismus) schwächte Robespierre den Druck der Straße und stärkte den nach wie vor tagenden Nationalkonvent. Auf der anderen Seite verstärkte die Ausschaltung der Gemäßigten im Bürgertum, aber auch unter den Sansculotten die Furcht vor einer weiteren Eskalation des Terrors. All dies erleichterte es den Abgeordneten des Nationalkonvents, nun die Rückkehr zu den Normen eines bürgerlichen Liberalismus einzuleiten. Am 27. Juli 1794 wurde Robespierre gestürzt und mit seinen engsten Anhängern hingerichtet. Die neue Politik der Thermidorianer um Paul Barras brach die innere Dynamik des Revolutionsprozesses. Sie war auf Mäßigung und Versöhnung ausgerichtet. Durch Beendigung des Terrors, Religionsfreiheit und Wirtschaftsliberalismus sollten die Franzosen wieder frei und sicher leben können, ohne auf die grundlegenden Errungenschaften der großen Revolution verzichten zu müssen. 8. Bilanz der Revolution: - ÖKONOMIE: einerseits bessere rechtliche Rahmenbedingungen zur Entfaltung neuer Wirtschaftskräfte (Aufhebung von Binnenzöllen, Zünften usw.), andererseits hemmende Wirkungen durch den zeitweilig sehr dirigistischen Kurs und die agrarpolitischen Folgen der Revolution (Stärkung des Kleinbauerntums). Der wirtschaftliche Vorsprung Englands wuchs gerade in den neunziger Jahren deutlich an. - GESELLSCHAFT: Auch in sozialer Hinsicht hielt sich die Zäsurwirkung in Grenzen. Die Revolution zerstörte die alte Ständegesellschaft, aber diese befand sich schon vor 1789 in einem Auflösungsprozess. Hauptnutznießer der neuen Verhältnisse war das Bürgertum. Hierbei handelte es sich aber nicht um ein modernes, industriell tätiges Großbürgertum, sondern um die durch Revolutionsgewinner erweiterte Grundbesitz- und 9 - - Rentenbourgeoisie des Ancien Régime. Sie bildete den Kern jener Notabelngesellschaft, die bis in die vierziger Jahre die Geschicke Frankreichs bestimmte. Stabilisierung des französischen Kleinbauerntums durch die Revolution. POLITIK: Hier trat der Zäsurcharakter von 1789 am deutlichsten hervor: Menschen- und Bürgerrechte, Rechtsgleichheit des Bürgers (nicht der Frauen), Verfassung auf der Grundlage der Volkssouveränität, moderner Nationalstaat. Der ältere Begriff der Nation wurde politisch neu aufgeladen und rückte seit 1789 in das Zentrum der revolutionären Ideologie und Praxis des dritten Standes. Er war untrennbar mit Selbstbestimmung und Souveränität des Volkes verbunden und wurde zu einem dynamischen und in ganz neuer Form mobilisierenden Prinzip der inneren wie äußeren Politik (Nation als wichtigste Richtschnur allen politischen Handelns und zugleich als Religionsersatz). KULTUR: Mit der Französischen Revolution veränderten sich Wertekanon und Alltag der Franzosen: Durchsetzung der französischen Hochsprache, neue Formen bei der Vermittlung politischer Botschaften, Politisierung der Gesellschaft, Bruch mit religiösen Traditionen (Fest des höchsten Wesens Juni 1794, Förderung der Entchristianisierung), neue kulturelle Praktiken (politische Feste), dauerhafte Spaltung der französischen Gesellschaft in Anhänger der Revolution und Traditionalisten. IV. DER AUFSTIEG NAPOLEONS 1. Von den Thermidorianern zum Staatsstreich Napoleons: - 1794/95 Herrschaft des Konvents/ Thermidorianer: Beruhigungs- und Versöhnungspolitik, neue Verfassung vom 22. 8. 1795: Rechtsgleichheit bekräftigt, aber Zensuswahlrecht - 1795-1799 Herrschaft des Direktoriums (P. Barras, E. J. Sièyes, R. Ducos, J. F. Reubell, L. Carnot): außenpolitische Konsolidierung durch militärische Erfolge, Tochterrepubliken, Annexionen, 1795 Frieden mit Preußen - Innenpolitischer Konsolidierungskurs mit hohen sozialen Opfern; Kritik von linken Gruppen (Babeuf) und royalistischer Opposition - Die angespannte innenpolitische Lage begünstigte den Aufstieg junger erfolgreicher Militärs (General Hoche; Napoleon Bonaparte, geb. 1769) - Erfolge Napoleons in Italien 1796/97; durch den am 3. /4. September 1797 erfolgten Fructidor-Staatsstreich und den Frieden von Campo Formio 18. Oktober 1797 (mit Österreich) stieg die Macht Napoleons. Das Direktorium ermunterte den zu mächtig werdenden Napoleon dann zur Eroberung Ägyptens. Trotz der militärischen Schlappe im Mittelmeer erhielt Napoleon Ende 1799 angesichts der inneren Unruhen in Frankreich eine neue Chance zur Eroberung der Macht. - Die anhaltende Wirtschaftskrise und Wahlerfolge der linken Opposition brachten das ohnehin schwache Direktorium in neue Schwierigkeiten. Dies verstärkte in der öffentlichen Meinung die Sehnsucht nach einem "Retter", nach starker Exekutive und innenpolitischer Ruhe. Hierin lag Napoleons große Chance. Durch den Staatsstreich vom 18. und 19. Brumaire (9./10 Nov.) 1799 stieg Napoleon nun zur entscheidenden Figur der Innenpolitik auf. Nach Ausschaltung des Parlaments wurde eine neue Führung unter den drei Konsuln Sièyes, Ducos und Napoleon installiert, die eine neue, auf Napoleon zugeschnittene Verfassung erarbeitete. Napoleon regierte künftig fast wie ein aufgeklärt absolutistischer Monarch (Scheinkonstitutionalismus). - Napoleon profitierte davon, dass sich Frankreich nach zehn Jahren Revolution in einer Phase der Erschöpfung befand, von dem Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung. Die Mehrheit der Gesellschaft wollte jedoch nicht nur das Ende der Revolution, sondern auch die Sicherung ihrer materiellen Ergebnisse. Beide Bedürfnisse erfüllte Napoleon mit der 10 Aussage vom 15. Dezember 1799: "Bürger, die Revolution hält an den Grundsätzen fest, die an ihrem Beginn standen. Sie ist beendet." Konkret hieß das: Das Eigentum in der bestehenden Form wird festgeschrieben und garantiert gegen die Neuauflage linker Experimente und gegen die Ansprüche der Emigranten und anderer Opfer der Revolution. 2. Napoleons Weg zur Kaiserkrönung: - Festigung der Macht durch innen- und außenpolitische Erfolge Napoleons: Der Code Civil von 1804 schrieb wesentliche Errungenschaften von 1789 fest. Dieses moderne bürgerliche Gesetzbuch (Ausnahme Frauenrechte) wurde wegweisend für andere Teile Europas. Weitere innere Reformen: Verwaltungsreformen (weitere Zentralisierung), Justizreformen sowie Schul- und Universitätsreformen, Wirtschaftsförderung. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen, ein wirtschaftlicher Aufschwung und der Ausgleich mit dem Papst (Konkordat 1801) trugen ebenfalls zur Festigung der Macht Napoleons bei. - außenpolitische Erfolge: siegreiches Ende des zweiten Koalitionskrieges (1799-1802) durch den Frieden von Lunéville vom Februar 1801 (Österreich akzeptiert die französische Vorherrschaft in Oberitalien, die Rheingrenze, Anerkennung der Tochterrepubliken). Am 27. März 1802 schloss auch England in Amiens einen Frieden mit Frankreich. - Napoleon nutzte das neu gewonnene Prestige zum Ausbau seiner Herrschaft in Frankreich. 1802 gelang es Napoleon, sein Konsulat durch Plebiszit auf Lebenszeit zu verlängern. Im Mai 1804 veranlasste er den Senat, die Verfassung zu ändern und ein Kaisertum zu errichten. Am 6. November 1804 stimmte das französische Volk mit großer Mehrheit der Verfassungsänderung zu. Am 2. Dezember fand in Notre-Dame in Anwesenheit des Papstes die Krönung von Napoleon und seiner Gattin Josephine statt. Napoleon legte anschließend einen Eid ab, der alle Bedenken der alten Revolutionäre zerstreuen sollte und in dem er noch einmal die grundlegenden Prinzipien der Revolution bekräftigte. Lesenswerte deutschsprachige Napoleon-Biographien französischer Historiker: R. DUFRAISSE, Napoleon. Revolutionär und Monarch, München 1994. J. TULARD, Napoleon oder der Mythos des Retters, Tübingen 1978. V. DEUTSCHLAND UND DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION: Französische Revolution und Expansion Napoleons bildeten auch für die deutsche Geschichte eine wichtige Zäsur. Die großen Auswirkungen begannen aber nicht unmittelbar nach 1789, sondern eigentlich erst in der napoleonischen Zeit. Die politischen Strukturen des Alten Reiches unterschieden sich deutlich vom zentralistischen Einheitsstaat Frankreich. Das Alte Reich funktionierte mit seinen jahrhundertealten Institutionen besser (Rechtssicherheit, Bedeutung für das europäische Mächtegleichgewicht), als vielfach behauptet worden ist. Es war aber am Ende des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt aufgrund der egoistischen Politik seiner beiden Hauptmächte Österreich und Preußen den neuen europäischen Herausforderungen militärisch und politisch nicht mehr gewachsen. In den Territorien des Reiches hatten zahlreiche, von den Ideen der Aufklärung beeinflusste Herrscher schon vor 1789 damit begonnen, Verwaltungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen einzuleiten, die zu ersten Erfolgen führten (Auflockerung des ständischen Gefüges, wirtschaftliche Neuerungen). Wie in Frankreich wurde auch in der sich herausbildenden öffentlichen Meinung über gesellschaftliche und politische Reformen diskutiert (bedeutendste Publizisten: Ch. F. Nicolai, A. L. Schlözer; Ch. F. D. Schubart; Ch. M. Wieland). Viele deutsche Intellektuelle begrüßten die französische Revolution, ohne aber 11 ihre Nachahmung für die anders gearteten deutschen Verhältnisse (Reformen hatten schon begonnen!) zu propagieren. Seit 1792 wandte man sich aber in den intellektuellen Kreisen zunehmend von der nun immer mehr in Gewalt abgleitenden Revolution ab (v. a. Schiller). In der deutschen Gesellschaft gab es nach 1789 eine Fülle von Unruhen und Protesten (Bauernaufstand in Sachsen, Handwerkerunruhen). Sie blieben aber regional begrenzt und führten nicht zur deutschen Revolution (Gründe u. a.: kein Zentrum wie Paris, keine Verbindung von intellektuellen Führern und Volk wie in Frankreich, negative Wirkung der französischen Innenpolitik und der französischen Kriegspolitik, Vertrauen in die Reformbereitschaft aufgeklärter Herrscher, massive Repression der Regierenden). Die Französische Revolution förderte die bereits begonnene Herausbildung politischer Strömungen. Man kann drei Hauptrichtungen unterscheiden: 1. Die konservative Strömung entwickelte sich vom Traditionalismus zum Konservativismus im Sinne einer abgrenzbaren Weltanschauung. 2. Die liberale Richtung (Vorbild: konstitutionelle Monarchie mit Rechtsgleichheit, Freiheits- und Mitbestimmungsrechten). 3. Die radikaldemokratische Richtung ( deutscher Jakobinismus, mit Frankreich sympathisierend und kooperierend, Mainzer Republik 1792/93, Cisrhenanen, süddeutsche Jakobiner, alle bleiben aber ohne entscheidende politische Wirkung). Das Ende des Alten Reiches 1795-1806: - 1795 Frieden von Basel: Preußen beendete Krieg mit Frankreich und akzeptierte den Rhein als deutsch-französische Grenze. - Oktober 1797: Frieden von Campo Formio. Auch Österreich akzeptierte die Abtretung der linksrheinischen Gebiete. - Seit 1797 wurde auf dem Kongress zu Rastatt über eine Neuordnung des Reiches verhandelt, sie scheiterte am erneut ausbrechenden Krieg. - Der Friede von Lunéville, den Österreich und Frankreich am 9. Februar 1801 schlossen, beendete den neuen Krieg zwischen dem Reich und Frankreich. - Am 25. Februar 1803 einigte man sich in Regensburg auf den so genannten Reichsdeputationshauptschluss. Es war das letzte große Reichsgesetz, das zugleich zum Markstein auf dem Weg zum Ende des Alten Reiches werden sollte. Wichtigste Bestimmungen waren die Säkularisation der geistlichen Reichsstände und die Verstaatlichung der Kirchengüter (Aufhebung von Klöstern, Verkauf des Landes) sowie die Mediatisierung von Reichsstädten und Reichsritterschaften. Vom territorialen Umbruch profitierten vor allem die süddeutschen Staaten Württemberg, Bayern und Baden, die nun enge Verbündete Napoleons wurden. - Letzte Versuche einer Reichsreform (Karl Theodor von Dalberg) scheiterten. Bereits 1804 nahm Kaiser Franz II. den neuen Titel eines Kaisers von Österreich an und signalisierte selbst die schwindende Bedeutung des Alten Reiches. - Nach der Niederlage Österreichs im 3. Koalitionskrieg (1805: England, Rußland, Österreich gegen Napoleon, Sieg der Engländer auf See unter Admiral Nelson am 21. Oktober 1805 bei Trafalgar; entscheidender Sieg Napoleons am 2. Dezember 1805 in der Dreikaiserschlacht von Austerlitz) und dem Frieden von Preßburg (26. Dezember 1805) wurden weitere bislang reichsunmittelbare Herrschaften mediatisiert (Grafen und Fürsten, endgültig auch Reichsritter, Städte Augsburg, Nürnberg, Frankfurt) und zur weiteren Abrundung der verbliebenen Staaten genutzt. Zudem musste Franz I. im Frieden von Pressburg die den Kurfürsten von Bayern und Württemberg nun von Napoleon verliehene Königswürde anerkennen. Neue Titel erhielten auch andere Monarchen: Großherzog von Baden, Herzog von Nassau. - Am 12. Juni 1806 unterzeichneten sechzehn deutsche Monarchen die Rheinbundakte. Dieser Staatenbund besiegelte die enge Verbindung zwischen Frankreich und den deutschen Mittelstaaten. Napoleon war der oberste Protektor des Bundes, dem sich nach 12 - der preußischen Niederlage vom Herbst 1806 auch fast alle anderen Staaten des so genannten "dritten Deutschland" (alle deutschen Staaten außer Preußen und Österreich) anschlossen. Der Rheinbund stand durchaus in der Kontinuität des Alten Reiches, seine Gründung war allerdings der letzte Schritt zu dessen Ende. Am 1. August 1806 erklärten die Rheinbundstaaten ihren Austritt aus dem Reichsverband. Am 6. August legte Franz II. nach einem Ultimatum Napoleons die Kaiserkrone nieder und löste die noch bestehenden Institutionen des Reiches auf. Eine weitere Veränderung der deutschen Verhältnisse brachte der 4. Koalitionskrieg 1806/07. Preußen, das sich durch eine ungeschickte Außenpolitik in eine schwierige Lage gebracht hatte und von Frankreich ausgespielt sah, erklärte Napoleon den Krieg. Am 14. Oktober 1806 kam es zur militärischen Katastrophe Preußens in der Schlacht von Jena und Auerstedt. Gemeinsam mit Russland führte man zwar den Krieg im Osten noch weiter, durch den Sieg Napoleons in der Schlacht bei Friedland am 14. Juni 1807 wurde die russisch-preußische Koalition aber endgültig niedergerungen. Am 9. Juli 1807 kam es zum Frieden von Tilsit, der endgültig alle preußischen Großmachtträume zunichte machte. Preußen erlitt große Gebietsverluste westlich der Elbe und in Polen, musste hohe Kontributionen zahlen, eine zeitweilige französische Besatzung hinnehmen und durfte nur noch ein 42 000 Mann starkes Heer unterhalten. Aus der preußischen, hannoverschen und hessischen (Kassel) Konkursmasse schuf Napoleon 1807 das Königreich Westfalen, das von seinem jüngsten Bruder Jerome regiert wurde. Nach dem vom Napoleon-Schwager Murat regierten Großherzogtum Berg war das der zweite französische Vasallenstaat auf deutschem Boden. Im Osten fasste Napoleon die von Preußen abgetretenen polnischen Gebiete zum Herzogtum Warschau zusammen, das vom sächsischen König Friedrich August I. (1806-1827) in Personalunion regiert wurde (Sachsens König als treuester Verbündeter Napoleons). 13