Adenauers Ostpolitik - Studia germanica et austriaca

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Adenauers Ostpolitik - "Der Schlüssel zur Lösung der ganzen Lage liegt in
Moskau und nicht in den Satellitenstaaten"
Magda Gregerová
Eines der außenpolitischen Hauptdilemmata der Bundesrepublik Deutschland nach
dem Zweiten Weltkrieg war die Frage, wie im Rahmen des Ost–West-Gegensatzes die westund ostpolitischen Ziele miteinander vereinbart werden konnten, ohne gegenseitig in Konflikt
zu geraten.1
Für Konrad Adenauer allerdings gab es ein solches Dilemma nicht. Er hat von Anfang
an für Deutschland jeden Versuch einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West strikt
abgelehnt. Das hieß für ihn zugleich, Deutschland zum verlässlichen Verbündeten der USA
zu machen und an der Westoption Deutschlands keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Zum
eigentlichen Ziel seiner Westpolitik wurde also nicht nur die Ausbildung eines westdeutschen
Kernstaates in Deutschland, sondern auch dessen feste Verankerung im Lager der westlichen
Demokratien. Die zweite Seite derselben Medaille (der Westbindung) war eine eher defensive
Haltung gegenüber der Sowjetunion. Diese hatte zum Ziel, die Bundesrepublik Deutschland
politisch, ideologisch, sozioökonomisch und militärisch gegen die Sowjetunion abzusichern.2
Die
Widersprüchlichkeit
der
westund
ostpolitischen
Ziele
der
bundesrepublikanischen Außenpolitik besonders in der "staatsbildenden" Phase der Jahre
1949–1955 wurde zum Kern einer Forschungskontroverse, die sich um die Frage drehte, ob
durch die zielstrebige politische und militärische Westintegration nicht wesentliche nationale
Chancen ungenutzt geblieben seien.3 Unter anderem wurde Konrad Adenauer vorgeworfen, er
habe im Hinblick auf die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland am Projekt der EVG
und auf die im Zusammenhang mit diesem Projekt stehende Garantie der Souveränität der
Bundesrepublik durch die Westmächte eine Chance zur Wiedervereinigung Deutschlands
verpasst. Gemeint ist hier vor allem das sowjetische Wiedervereinigungsangebot in der
berühmten Stalin-Note vom 10. März 1952, über das Adenauer in seiner Siegener Rede vom
16. März 1952 „ein vernichtendes Urteil“ abgegeben haben soll.4
Die andere – aus der Sicht der Ostpolitik Adenauers als viel gewichtiger erscheinende
– Forschungskontroverse befasste sich mit der eigentlichen Dynamik der west- und
ostpolitischen Zielsetzungen der bundesrepublikanischen Außenpolitik. So schien in der
Außenpolitik
der
Bundesrepublik
bis
zum
Scheitern
der
Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft im Jahre 1954 und bis zur Aufnahme der Bundesrepublik in die
NATO ein eher dynamisches Prinzip der westlichen Integration zu dominieren, während die
Phase nach 1955 eher durch eine Politik auf der Basis des schon Erreichten gekennzeichnet zu
sein schien. Seit dem Sommer 1955 (mit der Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO, mit
Wofram Hanrieder vertritt z. B. die These, dieser Versuch sei in der ‚formativen‘ Phase der Bundesrepublik
von 1949 bis in die späten fünfziger Jahre gescheitert. Vgl. Wolfram F. Hanrieder, West German Foreign Policy
1949-1979. Necessities and Choices, in: Ders. (Hg.), West German Foreign Policy 1949-1979, Boulder 1980, S.
15.
2 Anselm Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere
Entwicklung 1949-1963, Darmstadt 1963, S. 37.
3 Ebd., S. 53.
4 Paul Sethe, Zwischen Bonn und Moskau, Frankfurt/M. 1956, S. 49. In seiner Siegener Rede hat Adenauer zum
ersten Mal Stellung zur Stalin-Note vom 10. März 1952 bezogen, indem er erklärte, dass die Note nichts Neues
bringe und dass sie zum eingentlichen Ziel habe, die Teilnahme der BRD am Projekt der EVG zu verhindern.
Auf Adenauers Position wird näher eingegangen z. B. in: Andreas Hillgruber, Adenauer und die Stalin-Note
vom 10. März 1952, in: Dieter Blumenwitz/Klaus Gotto (Hgg.), Konrad Adenauer und seine Zeit. Politik und
Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers. Beiträge der Wissenschaft, Stuttgart 1976.
1
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der Erlangung der Souveränität, aber auch nach der Genfer Konferenz, die vor allem einen
‚atmosphärischen’ Wandel in den Ost–West-Beziehungen mit sich brachte) stand also die
Bundesrepublik – dieser Deutung nach – eindeutig in der „weltpolitischen Defensive“
(Waldemar Besson). Es sollte sich dieser Auffassung nach auch gerade im Sommer 1955 zum
ersten Mal erweisen, dass die Bonner Außenpolitik die weltpolitischen Vorgänge nicht mehr
rezipierte.5 Einige Autoren vertraten sogar die Ansicht, dass es während der Regierungszeit
Adenauers zu keiner Zeit eine Alternative zur konsequent westlich orientierten Außenpolitik
gegeben habe.6 Demgegenüber wurde die Ostpolitik Adenauers als „bloße Funktion des
eigenen Westkurses“7, als eine ‚Betonblock’-Politik dargestellt, ohne Alternativen,
Differenzierungen und Abweichungen selbst in Nuancen8. So wurde der Ostpolitik Adenauers
als Ganzes fast kein eingenständiger Wert beigemessen, weil sie einerseits durch Starrheit
gekennzeichnet war und weil sie andererseits ergebnislos blieb, bzw. weil ihr Erfolg primär
an den Erfolgen der Westpolitik Adenauers gemessen wurde. Diese eher plakative
Darstellung, die sich mit der Formel „Adenauer war defensiv nach Osten, innovativ nach
Westen“ umschreiben lässt, kann aber kaum zu einer differenzierten Betrachtung der
Adenauerschen Ostpolitik führen.
Um eine Korrektur dieser Ansicht bemüht sich z. B. Hans-Peter Schwarz – und
zwar nicht nur dadurch, dass er Adenauers Ostpolitik „defensive but not pessimistic“ nennt.9
Viel wichtiger erscheint die Tatsache, dass Schwarz – im Unterschied zu den anderen Autoren
– ein differenziertes Bild dieser Politik darstellt, indem er auf zwei unterschiedliche
Dimensionen der Adenauerschen Ostpolitik aufmerksam macht: Die eine liegt nach H.-P.
Schwarz im Politisch-Ideologischen, die andere im Realpolitischen.10 Die erste habe in sich
natürlich das Zeichen einer ideologischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion als einer
totalitären Macht getragen. Die realpolitische Sichtweise aber habe es unmöglich gemacht, die
Sowjetunion nicht als eine Weltmacht wahrzunehmen, die in den internationalen Beziehungen
ihre eigenen Interessen verfolgte. Hierbei muss auf die spezifisch deutsche Situation nach
dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen werden: Ohne die Mitwirkung der Sowjetunion als eine
der vier Garantiemächte mit Verantwortung für Deutschland als Ganzes konnte es kaum
Fortschritte in der wichtigen Frage der Wiedervereinigung Deutschlands geben. Boris
Meissner hat mit Recht darauf hingewiesen, dass das Bündnis mit den drei Westmächten für
Adenauer einer der Schlüssel war, der zur Lösung der Deutschland-Frage benötigt wurde. Der
zweite Schlüssel musste logischerweise in Moskau liegen.11 Nicht weniger bekannt ist
Adenauers Erklärung, dass „der Schlüssel zur Lösung der ganzen Lage (gemeint wird die
‚deutsche Frage’) ja doch in Moskau liegt und nicht in den Satellitenstaaten“. 12 Aus dieser
Perspektive scheint die Ostpolitik Adenauers doch etwas beweglicher zu sein. Es stellt sich
nämlich die Frage, ob man über eine ‚Betonblock-Politik’ reden kann, wenn diese Politik
5
Waldemar Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik. Erfahrungen und Massstäbe, München 1970, S. 169
– 170.
6 Bruno Bandulet, Adenauer zwischen Ost und West. Alternativen der deutschen Außenpolitik, München 1970.
7 Besson, Die Außenpolitik, S. 173.
8 Klaus Erdmenger, Das folgenschwere Missverständnis. Bonn und die sowjetische Deutschlandpolitik 1949 1955, Freiburg im Breisgau 1967, S. 106.
9 Es wäre einzuwenden, dass Schwarz dadurch bekannt ist, dass er dem Konflikt zwischen Adenauers Zielen und
der allgemeinen Entwicklung in der internationalen Politik nicht so einen hohen Wert wie die anderen Autoren
beimisst.
10 Hans-Peter Schwarz, Adenauer´s Ostpolitik, in: Hanrieder (Hg.), West German Foreign Policy, S. 140.
11 Boris Meissner, Adenauer und die Sowjetunion von 1955 bis 1959, in: Blumenwitz/Gotto (Hgg.), Konrad
Adenauer und seine Zeit, S. 194.
12 Boris Meissner (Hg.), Moskau-Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik
Deutschland 1955 - 1973. Dokumentation, Bd. I., Köln 1975, S. 34.
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innerhalb des sowjetischen Blocks zwischen der Sowjetunion und den anderen
Ostblockländern wesentlich unterscheidet. Verglichen mit der innovativ-kooperativen
Integrationspolitik im Rahmen der ‚freien Welt’ kann Adenauers Politik gegenüber der
Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten weder besonders kooperationsfreudig
noch anpassungsbereit wirken. Es kann Adenauer auch vorgeworfen werden, sein
Beziehungsmuster dem Osten gegenüber sei voller Härte, reserviert und legalistisch
gewesen.13 Wenn wir aber gerade die realpolitischen Gründe in Betracht nehmen, sollte mit
diesem Argument sehr vorsichtig umgegangen werden, besonders im Hinblick auf die
Sowjetunion, die in der Adenauerschen Ostpolitik in mancherlei Hinsicht eine exklusive
Stellung eingenommen hatte.
Gerade auf diese Frage – d. h. auf die Stellung, die die Sowjetunion und die anderen
sozialistischen Staaten im Adenauerschen ostpolitischen Konzept eingenommen haben – soll
in diesem Aufsatz genauer eingegangen werden. Es soll dargelegt werden, warum mit einer
gewissen Exklusivität (und auch Dynamik) der Beziehungen zur Sowjetunion innerhalb der
Adenauerschen Ostpolitik zu rechnen war, während dieselbe Exklusivität im Fall der
Ostblockländer im Rahmen der Ostpolitik Adenauers kaum zu erwarten war.
Den eigentlichen Beginn der bundesrepublikanischen Ostpolitik markiert das Jahr
1955, genauer gesagt Adenauers Moskaureise im September 1955 und die damit verbundene
Aufnahme von diplomatischen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der
Bundesrepublik Deutschland. Für Adenauer waren gerade in der Konstellation des Jahres
1955 durch die Einbeziehung der BRD in das westliche Verteidigungsbündnis und die
Erringung der Souveränität die Voraussetzungen gegeben, um bilaterale Verhandlungen mit
der Sowjetunion aufzunehmen.14 Seiner Entscheidung, die Einladung nach Moskau trotz der
Kritik vor allem seitens der Amerikaner15 zu akzeptieren, lag auch die Überzeugung zu
Grunde, Deutschland sollte in der sich im Jahre 1955 abzeichnenden Ära der Détente direkte
Kontakte zu Moskau suchen, um einer möglichen Isolierung auf der internationalen Szene
vorzubeugen. Adenauer selbst lässt in seinen Erinnerungen sein Interesse an der Aufnahme
diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion deutlich erkennen. In seinen „Erinnerungen“
behauptet er, dieses Prinzip sogar dem Vorbehalt einiger Mitglieder der deutschen Delegation
in Moskau übergeordnet zu haben, die die Ansicht vertraten, dass aus den Verhandlungen mit
den Sowjets vieles für Deutschland herausgeholt werden müsse – und könne, z. B. eine
sowjetische Gegenleistung etwa in der Form einiger Fortschritte in der
Wiedervereinigungsfrage.16 Diese Entscheidung Adenauers überrascht umso mehr, wenn man
bedenkt, mit welchem Misstrauen der Kanzler das Vorgehen der Sowjets – nicht nur – in der
unmittelbaren Nachkriegszeit begleitet hatte.17
Trotzdem haben die pragmatischen Gründe gerade im Fall der Sowjetunion die
Oberhand gewonnen. Jedenfalls fehlte es in Adenauers Regierungserklärung vom 22.
September 1955, die er nach seiner Rückkehr aus Moskau zur innenpolitischen Begründung
der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion abgab, nicht an pragmatisch–
13
Hans Peter Schwarz, Das aussenpolitische Konzept Konrad Adenauers, in: Rudolf Morsey/Konrad Repgen
(Hgg.), Adenauer-Studien I, Mainz 1971, S. 107.
14 Meissner, Adenauer und die Sowjetunion, S. 194.
15 Am bekanntesten sind die Vorwürfe der Amerikaner, die der langjährige Russland-Experte des State
Department Charles Bohlen formuliert hat und an dessen Kritik näher Wilhelm Grewe eingegangen ist. Vgl.
Wilhelm Grewe, Rückblenden 1976 - 1951. Aufzeichnungen eines Augenzeugen. Deutsche Außenpolitik von
Adenauer bis Schmidt, Frankfurt/M. 1979, S. 245 – 249.
16 Konrad Adenauer, Erinnerungen 1953 - 1955, Bd. 2., Stuttgart 1966, S. 546. Diese Auffassung Adenauers
wird von W. Grewe etwas korrigiert., in: Grewe, Rückblenden 1976 – 1951, S. 250.
17 Gregor Schöllgen, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart,
München 1999, S. 44.
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realpolitischen Argumenten. Am prägnantesten hat sie später Wilhelm Grewe
zusammengefasst: „Selbstverständlich musste die Bundesrepublik wie jeder andere Staat ein
Interesse daran haben, möglichst normale diplomatische Beziehungen zu einer Macht zu
unterhalten, die unstreitig eine der beiden Weltmächte der Gegenwart ist. Dies galt um so
mehr, als die Sowjetunion eine der vier Sieger- und Besatzungsmächte von 1945 ist, deren
Konsens sowohl für die Wiedervereinigung Deutschlands als auch für den Abschluss eines
endgültigen Friedensvertrages unerlässlich ist. Nicht zuletzt sollte im Verhältnis zu allen
Drittstaaten das politische Gewicht der Bundesrepublik durch die diplomatische Anerkennung
der Sowjetunion steigen.“18
Gerade den Drittstaaten gegenüber warf aber das Ergebnis der Moskauer
Verhandlungen eine Reihe von schwierigen Fragen auf, die zu weiteren Entscheidungen
nötigten. In der Regierungserklärung Adenauers wurde die Bedeutung von zwei
völkerrechtlichen Vorbehalten hinsichtlich der Nichtanerkennung des territorialen
Besitzstandes und des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik hervorgehoben, mit der
die Bundesrepublik ihre Staatsräson bestätigt zu bekommen gedachte. Diese Formel musste
zwar von den Sowjets entgegengenommen, aber nicht inhaltlich akzeptiert werden. Deswegen
galt es für Bonn zu verhindern, dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Bonns zu
Moskau von dritten Staaten als willkommene Rechtfertigung benutzt werden konnte,
ihrerseits diplomatische Beziehungen zur DDR herzustellen, damit das Regime anzuerkennen
und zugleich den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch zu gefährden.19 Adenauer
bezog zwar in der obenerwähnten Regierungserklärung den Drittstaaten gegenüber eine klare
Position, indem er erklärte: „Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen
Standpunkt bezüglich der sogenannten DDR aufrecht. Ich muss unzweideutig feststellen, dass
die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur ‚DDR’
durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen
Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen“20. Diese
Formulierung ließ aber die Frage der möglichen Sanktionen Bonns zur Abwehr gegen solche
Versuche offen. Zur weiteren Verhärtung dieser Linie kam es erst später, auf einer
Botschafterkonferenz in Bonn im Dezember 1955, auf der zum ersten Mal die sogenannte
‚Hallstein-Doktrin’ formuliert wurde: „Wenn dritte Staaten diplomatische Beziehungen zur
DDR aufnehmen, so betrachtet dies die BRD als ‚unfreundlichen Akt’, der gegebenenfalls mit
dem Abbruch der Beziehungen geahndet wird. Ausgenommen gilt die Sowjetunion als vierte
Besatzungsmacht mit Verantwortung für ganz Deutschland.“21 Trotz der Warnung einiger
Ostexperten, bei der Formulierung der Hallstein-Doktrin die inneren Verhältnisse in den
sowjetischen Satellitenstaaten zu berücksichtigen22, überwog in Bonn eine harte Linie, die bei
gleichzeitiger Absicherung der eigenen Staatsräson die Sowjetunion als einzige Ausnahme
von der Regel der Alleinvertretung gewertet wissen wollte.
Die Hallstein-Doktrin als leitende Maxime der Ostpolitik der Ära Adenauer wurde im
Rückblick vor allem nach ihrem Scheitern beurteilt. So wird die Hallstein-Doktrin oft nur als
Selbstzweck dargestellt, dem nur ein ‚abstrakter Unrechtstatbestand’ (gemeint ist die
Anerkennung der DDR) zu Grunde lag. Dieser Auffassung nach bewegte sich die Planung der
Grewe, Rückblenden 1976 – 1951, S. 251.
Schöllgen, Die Außenpolitik, S. 45.
20 Meissner, Adenauer und die Sowjetunion, S. 205.
21 Hans-Georg Lehmann, Deutschland-Chronik 1945 - 1995, Bonn 1996, S. 131.
22 W. Grewe erwähnt in diesem Zusammenhang die von den Ostexperten im Auswärtigen Amt formulierte
‚Geburtsfehlertheorie‘, die auf den anhaftenden Makel der mangelnden Entscheidungsfreiheit der sowjetischen
Satelliten in der Frage der Anerkennung der DDR aufmerksam gemacht hat. Vgl. Grewe, Rückblenden 1976 –
1951, S. 252.
18
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Hallstein-Doktrin inhaltlich nur innerhalb völkerrechtlicher Instrumentarien wie Repressalie
und Retorsion, ohne sich auf eine umfassende Analyse der internationalen Situation der
Bundesrepublik zu stützen.23 Demgegenüber haben die offiziellen Stellen in Bonn die
Vorwürfe des juristischen Formalismus von Anfang an abgelehnt. Waldemar Besson legt
Wilhelm Grewe den Satz in den Mund, die Hallstein-Doktrin sei „eine politische Maxime, die
aus sehr nüchternen und praktischen Überlegungen erwachsen sei“.24 Obwohl diese Äußerung
von Grewe nicht wörtlich bestätigt wurde, ist sie doch inhaltlich deckungsgleich mit seiner in
den berühmten 5 Punkten zusammengefassten Erläuterung zur Hallstein-Doktrin, in der er
unter anderem auf folgende Aspekte aufmerksam machte: Es müsse dem in der Öffentlichkeit
– nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland – weitverbreiteten Vorurteil
entgegengetreten werden, dass es sich bei der Nicht-Anerkennung der DDR um eine
Prestigefrage oder um juristischen Formalismus handle. Es müsse das Verständis dafür
geweckt werden, dass es sich um eine eminent politische Frage handelt, vor allem deswegen,
weil die Anerkennung der DDR nicht nur völkerrechtlich, sondern auch politisch und
psychologisch die Anerkennung der Teilung Deutschlands bedeutete. Weiterhin hat Grewe
unter anderem den Vorwurf zurückgewiesen, die Politik der Nicht-Anerkennung sei nur ein
verhandlungstaktisches Hindernis seitens der BRD: Im Falle der Preisgabe dieser Politik sei
die Verhandlung zwischen der BRD und DDR auf einer quasi-völkerrechtlichen Basis der
Gleichberechtigung nicht zu vermeiden. Diese Verhandlungsform würde aber niemals zur
Wiedervereinigung in Freiheit führen, da nicht erwartet werden könne, dass der eine
Verhandlungspartner einer Lösung zustimmt, die seinem politischen Selbstmord
gleichkommt, so Grewe.25 Trotzdem haben einige Autoren in diesem Zusammenhang den
Verdacht ausgesprochen, dass völkerrechtliche Konstruktionen wie die Hallstein-Doktrin nur
eine Fassade darstellten, hinter der sich eben doch die schweigende Hinnahme des Status quo
der Teilung verbarg.26 Es ist nicht möglich, diese Feststellung am Beispiel der ‚dritten
Staaten’ zu prüfen. Dort war Bonn nämlich bis zum Ende bereit, die beiden völkerrechtlichen
Vorbehalte hinsichtlich der Nichtanerkennung der DDR und des Offenhaltens der
Grenzfragen gegenüber den Ländern des Sowjetblocks zu verteidigen, infolgedessen der
Bundesrepublik in diesen Ländern (insbesondere in Polen, aber auch in der
Tschechoslowakei) z. B. durch das Grenztabu der nachteilige Beigeschmack eines banalen
Revisionismus gegeben wurde. 27
Es lag aber der Hallstein-Doktrin auch die Überzeugung zu Grunde, dass „Moskau
allein zählte“. Der Sowjetunion gegenüber wurde so die Frage der Hallstein-Doktrin als eine
fundamentale Frage für die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik vorgestellt, die zugleich
von einer fundamentalen Bedeutung für die sowjetische Deutschlandpolitik sei.28 So wurde
der Kern der Hallstein-Doktrin der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie bewusst
gegenübergestellt, was den Eindruck einer gewissen Parität der beiden völkerrechtlichen
Konstrukte erwecken sollte, bzw. damit für die Bundesrepublik eine Verhandlungsposition
auf der Basis des ‚Nullsummenspiels’ vorbereitet werden sollte. Sicherlich wollte Bonn auf
diese Weise primär ausloten, unter welchen Bedingungen die Sowjetunion zu einer
Entschärfung der europäischen Spannungen, vor allem in der deutschen Frage, bereit sein
23
Heinrich End, Zweimal deutsche Außenpolitik. Internationale Dimensionen des innerdeutschen Konfliktes
1949 - 1972, Köln 1973, S. 42.
24 Besson, Die Außenpolitik, S. 198.
25 Grewe, Rückblenden 1976 – 1951, S. 741.
26 Schwarz, Das außenpolitische Konzept, S. 96.
27 Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas, Frankfurt/M./Berlin 1992, S. 319 – 320.
28 So Staatssekretär Hallstein, zitiert in: Daniel Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschlandund Ostpolitik des Aussenministers im Kabinett Adenauer 1955 - 1961, Düsseldorf 1993, S. 91.
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könnte29, wobei zum Maximalziel die Aufgabe der DDR und die Wiedervereinigung
Deutschlands wurde. Das war natürlich eine besonders riskante Strategie, die noch dazu
keinesfalls mit einem ‚Nullsummenergebnis’ enden konnte. Trotzdem, oder gerade deswegen
wird Moskau (im Unterschied zu den anderen osteuropäischen Staaten) insbesondere in den
Jahren 1957 bis 1961 zum Prüfstein sowohl der Beständigkeit als auch der Flexibilität der
Adenauerschen Ostpolitik.
So wurde von Adenauer z. B. die Botschaft Bulganins vom 5. Februar 1957, in der
Zwecks Ausbau der gegenseitigen deutsch–sowjetischen Beziehungen von Bulganin der
Abschluss eines Handelsvertrages, einer Kulturkonvention, eines Abkommens über
wissenschaftlich - technische Zusammenarbeit und einer Konsularkonvention vorgeschlagen
wurde, als prüfenswert bewertet.30 Adenauer erkannte sogar, dass in der Botschaft ein neuer
Ton angeschlagen wurde31. Bulganin brachte in seiner Botschaft zwar die Überzeugung zum
Ausdruck, die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik könne zur
Lösung der Wiedervereinigung Deutschlands beitragen. Zugleich verwies er aber die
Bundesregierung in dieser Frage an die Adresse der DDR. Diese Reaktion Adenauers stieß
auf Ablehnung vor allem bei Außenminister von Brentano, der öffentlich davor warnte, die
Freundschaft mit dem Westen für Konzessionen gegenüber der Sowjetunion aufs Spiel zu
setzen.32 Sicherlich war die Gefahr nicht zu unterschätzen, die Sowjetunion könnte der
Bundesrepublik ihren Kurs aufzwingen, der zum Ziel hatte, die Beziehungen zur
Bundesrepublik unter Ausklammerung der politischen Hauptprobleme auf eine vertragliche
Grundlage zu stellen, wohingegen das Interesse Bonns gerade dem Offenhalten der
politischen Fragen galt. Adenauers Urteil beruhte jedoch auf ganz anderen Erwägungen: Er
hielt es für notwendig, den Kontakt zu Moskau offenzuhalten und die Außenpolitik der
Sowjetunion nach der Ostblockkrise, die zeitweilig zur Isolierung der UdSSR geführt hat, auf
die Probe zu stellen.33
Im darauffolgenden Jahr – 1958 – wagte Konrad Adenauer eine bemerkenswerte
Eigeninitiative in Richtung Sowjetunion, die auch als ein Beweis der pragmatischen
Flexibilität des Kanzlers angeführt werden kann. Es handelte sich dabei um eine im Inhalt
zwar revolutionäre, jedoch nicht um eine ‚einsame’ Initiative des Bundeskanzlers – er
unterrichtete seine westlichen Verbündeten während der Pariser NATO-Konferenz im
Dezember 1957 von seinem Vorschlag, auf diplomatischem Wege eine Annäherung zwischen
der Sowjetunion und der Bundesrepublik zu versuchen. In einem geheimen Gespräch wurde
dann die Sowjetunion am 19. März 1958 über ihren Botschafter in Bonn, Smirnow, von
Adenauer gefragt, ob sie bereit wäre, der DDR den Status Österreichs zu geben. Der
Bundeskanzler war sich der Brisanz dieses Vorschlags bewusst – nicht umsonst fürchtete
Adenauer, „von seinen eigenen Leuten dafür gesteinigt zu werden“34: In Bonn hätte der
"Österreich-Plan", wäre er bekannt geworden, Entrüstung hervorgerufen. In der
Wiedervereinigungsfrage hatte sich Adenauers eigene politische Partei, die CDU, keinen
Handlungsspielraum zugestanden, indem sie an der Forderung nach freien Wahlen als erstem
Schritt zur Wiedervereinigung festhielt. In Adenauers Vorschlag kam demgegenüber zum
ersten Mal eine Richtung zum Zuge, die die Bereitschaft erkennen ließ, bei der Lösung der
29
Helga Haftendorn, Sicherheit und Entspannung. Zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1955 1982, Baden - Baden 1986, S. 50.
30 Konrad Adenauer, Erinnerungen 1955 - 1959, Bd. 3, Stuttgart, 1967, S. 347
31 Ebd., S. 355
32 Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit, S. 156.
33 Ebd., S. 157.
34 Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3, S. 378. Weiter wird auf den Österreich-Plan näher auf S. 365 - 380 der
Erinnerungen eingegangen.
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Wiedervereinigungsfrage ein Zwischenstadium einzuschieben. Der Auffassung Klaus Gottos
nach handelte sich dabei eher um eine Alternativüberlegung, wie man ein Optimum an
unaufgebbaren Prinzipien wahren und doch den sowjetischen Interessen entgegenkommen
konnte.35 Man könnte mit Karl Dietrich Bracher sagen, auch die Frage der Wiedervereinigung
war damit aus dem Bereich des ‚Revisionismus’ gebrochen und in den Bereich dessen gerückt
worden, was sie eigentlich war: Es handelte sich um 17 Millionen Menschen in der DDR,
denen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wurde.36 So wurde aber dieser Vorschlag
sicherlich nicht in Moskau interpretiert. Es war nämlich mit dem Vorschlag der ‚ÖsterreichLösung’ eine für die Sowjetunion schwerlich akzeptable Forderung formuliert worden, denn
politische Freiheiten in der DDR zuzugestehen hieß auch, der Bevölkerung die Westoption zu
ermöglichen.37 Es bestand auch eine andere Gefahr, diesmal für die Bundesrepublik: Das, was
in Bonn als ein Zeichen der realpolitischen Flexibilität ausgelegt werden konnte, konnte in
Moskau eher als Schwäche des Bundeskanzlers ausgelegt werden, der langsam beginnt, sich
mit dem Status quo in Europa (d. h. mit der Teilung Deutschlands) abzufinden. Sicherlich
bewegte diese Initiative Bonns die Sowjetunion nicht zur Änderung ihrer auf der ZweiStaaten-Theorie gegründeten Deutschlandpolitik, da in ihr eine verklausulierte Anerkennung
dieser Theorie steckte. So ist diese Initiative auch nicht zum Testballon der sowjetischen
Konzessionsbereitschaft in der deutschen Frage geworden. Im Gegenteil: Es war die
Adenauersche Ostpolitik, die sich selbst mit der Formulierung dieses Vorschlags auf die
Probe gestellt hatte. Vor allem wurde aber mit Adenauers Vorschlag einer ‚ÖsterreichLösung’ für die DDR erstmals der Weg einer möglichen Alternative für die deutsche
Außenpolitik gewiesen – zwischen einer rückhaltlosen Westbindung und der Abkehr vom
Westen.
Im Kontext der Adenauerschen Ostpolitik als Ganzes lässt dieser Vorschlag zugleich
die Frage aufkommen, warum mit einer ähnlichen Flexibilität Bonns auch anderen
osteuropäischen Staaten gegenüber nicht zu rechnen war. Grundsätzlich lag die Begründung
natürlich in der Hallstein-Doktrin. Trotzdem wird damit die Frage, vor allem nach den
Motiven Adenauers, nicht zufriedenstellend beantwortet. Obwohl diese Frage zu den eher
wenig erforschten gehört, gibt es immerhin eine Reihe von Vermutungen, weshalb eine nach
außen sichtbare Politik nicht zum Tragen gekommen ist.
Die Ansicht, Adenauer habe bis zum Ende an seiner realpolitischen Position
festgehalten, nach der er zuerst die Hauptprobleme mit Moskau zu lösen versuchte, um erst
nachher innerhalb dieses Rahmens neue Beziehungen zu den osteuropäischen Staaten zu
gestalten38, wird vor allem von Hans-Peter Schwarz vertreten. Auch Klaus Gotto kommt
anhand seiner Analyse der Adenauerschen Ostpolitik zu dem Schluss, dass Adenauer zu
keinem Zeitpunkt geglaubt hat, über die osteuropäischen Staaten in der
Wiedervereinigungsfrage etwas zu erreichen oder an Moskau heranzukommen.39 Im Bereich
des Pragmatisch–Realistischen bewegt sich auch die Schwarzsche ‚Satelliten-Theorie’:
Danach sei die Sowjetunion im Ostblock von Adenauer als unumschränkte Hegemonialmacht
angesehen worden, so dass die Beziehungen zu den Satellitenstaaten in der DeutschlandFrage nichts Positives oder sogar eine Verschlechterung des deutsch–sowjetischen
35
Klaus Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik 1954 - 1963, in: Morsey/Repgen (Hgg.), AdenauerStudien I, S. 34 – 40.
36 Bracher, Die Krise Europas, S. 319 – 320.
37 Doering-Manteuffel, Die Bundesrepublik Deutschland, S. 99.
38 Schwarz, Das außenpolitische Konzept, S. 93; Ders., Adenauer´s Ostpolitik, in:
Hanrieder (Hg.), West
German Foreign Policy, S. 137; Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3.
39 Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik, S. 21.
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Verhältnisses hätten bringen können.40 Dies zeigte sich deutlich besonders im Laufe der
Ereignisse in Polen und in Ungarn im Jahre 1956. Von Adenauer selbst wurde mehrmals die
besondere Stellung Polens im Ostblock hervorgehoben.41 Trotzdem hat er die sich am
Beispiel Polens und Ungarns im Jahre 1956 abzeichnende Differenzierung im Ostblock nicht
zugunsten einer aktiveren Politik in Richtung Mittel- und Osteuropa ausgenutzt. Unmittelbar
nach den Herbstereignissen 1956 schien es ihm sogar unklug, sich in Osteuropa zu
engagieren, vor allem weil er fürchtete, dass die Sowjetunion eine deutsche Initiative in
diesem Raum zum Anlass nehmen könnte, in Polen mit Gewalt einzugreifen.42
So hat zwar Adenauer im Januar 1957 Heinrich Krone anvertraut, „man müsse die
Tendenzen zur Selbständigkeit in den osteuropäischen Staaten als Ansatzpunkte europäischer
Politik begrüßen“43, im Oktober desselben Jahres hat aber Deutschland z. B. auf den vom
polnischen Außenminister Rapacki vorgelegten Plan zur Schaffung einer kernwaffenfreien
Zone in Mitteleuropa unter Einbeziehung Polens, der ČSR, der BRD und der DDR ablehnend
reagiert. Dieser Plan, obwohl sowohl für die NATO als auch für die Bundesrepublik
unnanehmbar, trotzdem auch die nationalen Interessen Polens berücksichtigend, wurde in der
westlichen Welt als ein Versuch Polens interpretiert, eine selbständige (d. h. von Moskau
relativ unabhängige) Politik zu betreiben. Sicherlich erhofften sich die reformistischen Kräfte
von der westdeutschen Teilnahme an diesem Plan eine gewisse Abschwächung der festen
Bindung ihrer Länder an Moskau. Adenauer hielt demgegenüber diese Ideen für gefährlich:
Er fürchtete, durch solche Pläne den Neo-Isolationismus in den USA zu stärken und damit
zugleich die Verankerung der BRD in der westlichen Welt zu schwächen44, nicht zu reden
vom Einfluss solcher Pläne auf eine mögliche Abkühlung des deutsch–sowjetischen
Verhältnisses. Es wird sogar angenommen, dass die am Beispiel des Rapacki-Planes in den
Vordergrund getretenen realpolitischen Einschätzungen Adenauers die Vernachlässigung des
Staatengürtels in Mittel- und Osteuropa stärker bedingt haben als die sich aus der HallsteinDoktrin ergebenden Implikationen.45
Jedenfalls werden die Gründe der Vernachlässigung Osteuropas auch darin gesehen,
dass Adenauer die potentielle Rolle der BRD in diesem Raum als unwichtig angesehen habe,
weil dieser geographisch-politische Raum seinem außenpolitischen Denken fremd gewesen
sei.46 Bezeichnenderweise hatte der Bundeskanzler 1955 wirklich bei der Ernennung des
Außenministers von Brentano die Konzeption der Politik gegenüber Osteuropa, anders als die
Russlandpolitik, nicht ausdrücklich sich selbst vorbehalten.47 Im Auswärtigen Amt wurden
die Möglichkeiten einer flexibleren Politik gegenüber den kommunistischen Oststaaten intern
intensiv geprüft und erwogen, ohne zugleich die beiden Vorbehalte den territorialen
Besitzstand und die Politik der Nichtanerkennung der DDR betreffend in Frage zu stellen. So
unterbreitete das Auswärtige Amt im Januar 1957 einen Vorschlag zur Errichtung von
Handelsvertretungen in den betroffenen Ländern Mittel- und Osteuropas als eine
Zwischenlösung, die zugleich den langfristigen Interessen der Bundesrepublik Rechnung
tragen sollte. Einer der Gründe, warum diese Initiative in der Ära Adenauer nicht ergriffen
wurde, wird darin gesehen, dass sich die Bundesregierung im gleichen Jahr 1957 entschlossen
hatte, die äußerste Konsequenz der Hallstein-Doktrin zu verwirklichen und den Bruch mit
Schwarz, Adenauer´s Ostpolitik, S. 136 – 137; zitiert in: Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik, S. 21.
Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3, S. 366 – 368.
42 Ebd., S. 367.
43 Heinrich Krone, Aufzeichnungen zur Deutschland- und Ostpolitik 1954 - 1969, in: Morsey/Repgen (Hgg.),
Adenauer-Studien I, S. 141.
44 Schwarz, Das außenpolitische Konzept, S. 93.
45 Ebd.
46 Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik, S. 21.
47 Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit, S. 168.
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Jugoslawien zu vollziehen. Einige Autoren vertreten die Ansicht, dass dieser Schritt für
Adenauer zwar ungelegen kam, er sich aber aus Gründen der Glaubwürdigkeit als notwendig
erwiesen habe, obwohl er einer bereits ins Auge gefassten, flexiblen Osteuropapolitik Fesseln
anlegte.48 Es wird aber auch die These vertreten, mit dem Abbruch der diplomatischen
Beziehungen zu Jugoslawien sei dem Gedanken der Errichtung von Handelsmissionen um so
größere Bedeutung zugekommen.
Jedenfalls schloss Adenauer auf einer Pressekonferenz in West-Berlin am 3. Oktober
1958 die Errichtung von Handelsmissionen in den Gefolgsstaaten der Sowjetunion nicht
explizit aus. Trotzdem wurde zu demselben Anlass die Priorität der Sowjetunion in der
deutschen Ostpolitik von Adenauer besonders hervorgehoben, die Ausdruck in seinem
berühmten Satz fand, dass "der Schlüssel zur Lösung der ganzen Lage ja doch in Moskau liegt
und nicht in den Satellitenstaaten".49
Noch einmal – und zwar im Jahre 1959 – schienen die Länder Osteuropas in der
deutschen Ostpolitik als ein geeignetes diplomatisches Spielmaterial angesehen zu werden,
das zu gegebener Zeit, bei Druck der Sowjetunion oder des Westens, hätte eingesetzt werden
können. Unter dem Eindruck von Chruschtschows Berliner Ultimatum und im
Zusammenhang mit der wachsenden Bereitschaft des Westens zur Entspannung hatte
Adenauer im Januar 1959 „auf Anregung der US“50 in Erwägung gezogen, diplomatische
Beziehungen zu Polen und der Tschechoslowakei herzustellen. Im Juli 1957 kam noch die
Überlegung über ein Gewaltverzichtsangebot an Polen und an die Tschechoslowakei seitens
der Bundesrepublik dazu.51 Diese Pläne wurden letzendlich nicht realisiert.
Trotzdem wurden gerade ab 1959 Weichen in zwei Richtungen der
bundesrepublikanischen Ostpolitik gegenüber den sowjetischen Satellitenstaaten gestellt. Die
erste sah vor, dass die Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten zu entwickeln und
auszubauen seien. Auf der anderen Seite versuchte Adenauer immer noch, an der Priorität der
Sowjetunion in der deutschen Ostpolitik festzuhalten.
Erst die Errichtung der Berliner Mauer im Jahre 1961 blockierte alle Bemühungen um
eine Verbesserung der deutsch–sowjetischen Beziehungen und ließ daher zunächst die erste
Richtung stärker zum Zuge kommen.52 Die Entwicklung des Jahres 1961 machte zugleich
deutlich erkennbar, mit Karl Dietrich Bracher gesagt, dass die Zeit nicht für eine automatische
Versöhnung von Westkurs und Wiedervereinigung gearbeitet hatte.53 Das Scheitern der
Wiedervereinigungspolitik wird nicht selten auch zum Erklärungsmuster des Scheiterns der
Adenauerschen West- und Ostpolitik als Ganzes. So vertritt z. B. Rolf Steininger die These,
dass für Adenauer die Wiedervereinigung kein ernsthaftes Thema gewesen sei.54 Diese These
ist jedoch einem anderem Historikerstreit einzugliedern, der außerhalb des zeitlichen
Rahmens dieses Aufsatzes liegt.
Als weit bedeutender erweisen sich für die Betrachtung der Adenauerschen Ostpolitik
diejenigen Studien, die sich mit der Periode 1955–1961 der deutschen Außenpolitik befassen.
Dies ist eine aufschlussreiche Phase, in der besonders der erweiterte Bonner
Handlungsspielraum zu prüfen erlaubt, welches Gewicht die West- und Ostpolitik im
48
Zu seinem Verhältnis zu Jugoslawien siehe Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3, S. 367; die erwähnte These zitiert
in: Gotto, Adenauers Deutschland- und Ostpolitik, S. 21.
49 Meissner (Hg.), Moskau-Bonn, Bd. I., S. 34.
50 „Eine Analyse unserer Situation - Aufzeichnung vom 30. Januar 1959“, in: Adenauer, Erinnerungen, Bd. 3, S.
462 – 468.
51 Krone, Aufzeichnungen zur Deutschland- und Ostpolitik, S. 153.
52 Meissner (Hg.), Moskau-Bonn, Bd. I., S. 48.
53 Bracher, Die Krise Europas, S. 320.
54 Rolf Steininger, Deutsche Geschichte seit 1945. Darstellung und Dokumente in vier Bänden, Bd. 2, 1948 1955, Frankfurt/M. 1996, S. 331.
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Gesamtbezug der Bonner Außenpolitik besaßen. Waldemar Besson handelt z. B. die
Westpolitik Bonns und die gleichzeitige Ostpolitik auch in der Ära nach 1955 getrennt ab.
Die Bundesrepublik wird als zuverlässiger Partner der westlichen Welt dargestellt,
infolgedessen sie nicht imstande ist, eine flexiblere Ostpolitik zu betreiben.55 Die Starrheit der
Bonner Ostpolitik im Vergleich zur flexibleren Westpolitik zeigt Besson am Beispiel der
Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Moskau, an der Hallstein-Doktrin, aber auch an
der Ablehnung des Rapacki-Planes durch die Bundesrepublik. Auch von Hans-Peter Schwarz
wird die Priorität der bundesrepublikanischen Westpolitik nicht in Frage gestellt. Trotzdem
verweist er – im Unterschied zu Besson – auf ein kontinuierlich festgehaltenes Konzept
einerseits und auf eine Beweglichkeit in den einzelnen Problembereichen und Perioden
andererseits als zwei Hauptcharakteristika der Adenauerschen Außenpolitik. Im Unterschied
zu Besson hält Schwarz die Jahre 1955–1958 für eine Periode eigenen Gepräges, weil
Adenauer spätestens 1958 den Versuch unternommen habe, die Grundlinien seiner Ostpolitik
in Richtung einer Hinnahme des Status quo zu verschieben.56 Hans-Peter Schwarz macht aber
zugleich darauf aufmerksam, dass es sich um keine vorbehaltslose Hinnahme des Status quo
handelte, da Adenauer nicht bereit war, eine mehr oder weniger kompensationslose
Übernahme der sowjetischen Zielvorstellungen als ‚Ausgleich’ zu akzeptieren oder diese gar
als Beginn einer Verständigung und ‚Versöhnung’ mit den anderen sozialistischen Staaten zu
feiern.
Dies ist natürlich nur eine der Thesen, die auf die unterschiedliche Stellung Moskaus
und den anderen Satellitenstaaten Mittel- und Osteuropas innerhalb der Adenauerschen
Ostpolitik verweisen und die zu erklären versuchen, warum – im Vergleich zu Moskau – mit
einer gewissen Exklusivität der Beziehungen zu den anderen sowjetischen Satellitenstaaten
nicht zu rechnen war. Diese Dimension der Adenauerschen Ostpolitik ist aber noch immer
eher unerforscht und so können neben den in diesem Aufsatz erwähnten Thesen noch andere
Vermutungen naheliegen.
Jedenfalls war es bis 1961 in der Bonner Ostpolitik allein die Sowjetunion, die zählte.
Nach 1961 zeigte sich zwar deutlich, dass der Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands auch
über die anderen Ostblockstaaten nach Moskau führen soll. Trotzdem war es – im
Unterschied zu den anderen sowjetischen Satellitenstaaten – nur der Weg über die
Sowjetunion, von dem sich man in Bonn bis 1961 erhoffte, Fortschritte in der
Wiedervereinigungsfrage zu erzielen.
Paradoxerweise wurde mit der Hervorhebung der besonderen Stellung Moskaus im
Rahmen der Adenauerschen Ostpolitik der Sowjetunion die Chance gegeben, der
Bundesrepublik Deutschland deutlich zu machen, dass es sich beim Widerstreit der
deutschlandpolitischen Konzeptionen zwischen Bonn und Moskau nicht um ein
‚Nullsummenspiel’ mit ‚Nullsummenergebnis’ auf der Basis der Gleichberechtigung
handelte, sondern um eine Lösung, die nur aufgrund eines Abkommens zu Lasten des Dritten
auf der Basis des Bilateralismus der Supermächte zu erreichen war, was tatsächlich mit dem
Bau der Berliner Mauer auch geschah. Hinter der ‚Fassade’ der Hallstein-Doktrin verbarg sich
höchstwahrscheinlich nicht eine schweigende, sondern nur eine bedingte Hinnahme des
Status quo der Teilung. Auch in der Ära Adenauer konnte es also Alternativen zum
vorbehaltslosen Westkurs geben, wenn auch um den Preis des Verzichts auf die
Wiedervereinigung Deutschlands in nächster Zukunft.
Jedenfalls hatte Moskau von Bonn durch die Adenauersche Ostpolitik indirekt die
Chance bekommen, zum Prüfstein der vermeintlichen Widersprüchlichkeit der west- und
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Besson, Die Außenpolitik der Bundesrepublik.
Schwarz, Das außenpolitische Konzept.
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ostpolitischen Zielsetzungen der bundesrepublikanischen Politik in der Ära Adenauer zu
werden. Diese wurde von der Sowjetunion sofort ergriffen. Prag, Warschau und den anderen
Städten Mittel- und Osteuropas im sowjetischen Machtbereich blieb diese Chance von der
Adenauerschen Ostpolitik für die Dauer der Ära Adenauer verwehrt.
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