Mikroverunreinigungen (Kläranlagen)

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— Dienstag, 15. März 2011
Menschen altern
wie Primaten
Die Sterbewahrscheinlichkeit
ändert sich im Laufe
des Lebens bei Affen gleich
wie beim Menschen.
Die Kläranlage Wüeri bei Regensdorf diente als Testbetrieb: Ozongas wurde hier über Diffusoren (Bild rechts) in das bereits gereinigte Abwasser gespritzt. Fotos: Awel und Eawag
Kläranlagen lassen Giftstoffe durch,
Nachrüstung ist nötig
Viele Chemikalien fliessen heute trotz Abwasserreinigung ungehindert in Flüsse und Seen.
Ozongas und Aktivkohlefilter schaffen Abhilfe. Wer die Aufrüstung bezahlen soll, ist jedoch umstritten.
Beate Kittl
Ozongas soll die Männlichkeit von Fischen schützen. Das aggressive Gas, das
versuchsweise durch erste Kläranlagen
blubbert, kann hartnäckige Stoffe zerlegen, die unbehelligt durch die Abwasserreinigung rauschen. Es sind die Rückstände der Zivilisation: Überbleibsel der
rund 30 000 Chemikalien – Medikamente, Spülmittel, Farben oder Brandhemmer –, die in der Schweiz im Einsatz
sind. Manche davon entfalten auch nach
der Abwasserreinigung ungewollte Wirkung.
Leidtragende sind die Wasserorganismen. Das Forschungsprojekt Fischnetz
hat vor einigen Jahren aufgedeckt, dass
männlichen Fischen vielerorts Eizellen
im Hodengewebe wachsen, was ihre Fortpflanzung beeinträchtigen kann. Schuld
sind Hormone aus Antibabypillen und
Stoffe mit ähnlicher Wirkung wie Plastikweichmacher oder Flammschutzmittel.
Sie sind schon in winzigsten Mengen aktiv. «Und das ist nur die Spitze des Eisbergs», sagt Patricia Holm, Professorin
für Umweltwissenschaften an der Universität Basel und Leiterin des Projekts
Fischnetz. Algen leiden unter Herbizidrückständen, die natürliche Bakterienflora unter Antibiotika. «Für viele andere
Substanzen steht noch gar kein Nachweis
zur Verfügung.» Und auch ihre Wirkungen sind weitgehend unerforscht.
Unser Gesetz verlangt aber, dass
Tiere, Pflanzen und Trinkwasserreserven zu schützen sind. Darum schlägt das
Eidgenössische Departement für Um-
Beratung im Nationalrat
Motion wird behandelt
Wer soll den Ausbau der Kläranlagen bezahlen? Kommunen und Kantone waren sich bei
der Vernehmlassung zur Änderung der
Gewässerschutzverordnung einig, dass etwas
gegen die Spurenstoffe getan werden
muss. Was nicht ankam, war ein erstes
Finanzierungsmodell des Bundes. «Die Hälfte
der Schweizer Bevölkerung muss für ein
gesamtschweizerisches Interesse zahlen»,
meinte die Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz (BPUK). Auch die meisten
Parteien und Verbände forderten einen
Fonds, der über eine zentrale Abwasserabgabe gefüllt wird und die Umbauten
finanziert. Eine landesweite, möglichst
verursachergerechte Finanzierungslösung
verlangte die Kommission für Umwelt,
Raumplanung und Energie des Ständerates
(Urek-S) in einer Motion, die der Bundesrat
im September entgegengenommen hat. Im
Nationalrat steht das Thema nun diese
Woche auf der Traktandenliste. (bki)
welt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) nun eine Änderung der Gewässerschutzverordnung vor. Abwasserreinigungsanlagen (ARA) an besonders
belasteten Gewässern sollen technisch
aufgerüstet werden, um diese sogenannten Mikroverunreinigungen zu entfernen. «Nach heutigen Erkenntnissen sind
die Mikroverunreinigungen kein Risiko
für den Menschen», sagt Michael Schärer vom Bundesamt für Umwelt (Bafu),
Projektleiter der Strategie «Micropoll»
gegen Schadstoffe in Siedlungsabwässern. «Trotzdem ist es sinnvoll, sie vorsorglich zu reduzieren.»
ARA werden aufgerüstet
Zwei Technologien kommen dafür infrage, die bereits zur Trinkwasseraufbereitung und bei Industrieabwässern eingesetzt werden: Ozongas und Aktivkohlefilter können organische Spurenstoffe
eliminieren. «Beide Verfahren können
eine grosse Zahl von Spurenstoffen entfernen und sinnvoll in bestehende ARA
integriert werden», sagt Daniel Rensch,
Sektionsleiter Abwasserreinigungsanlagen des Kantons Zürich. Beide wurden
unlängst in Pilotversuchen des Bafu und
der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) evaluiert.
Während sechzehn Monaten musste
Klärmeister Robert Schmid die Messinstrumente in der Kläranlage Wüeri bei
Regensdorf besonders gründlich putzen, damit die Spurenstoffe präzise gemessen werden konnten. So lange lief
die Testanlage: Feine Düsen spritzten in
einem separaten Abwasserbecken vollautomatisch Ozongas aus einem elektrisch betriebenen Generator ein. Das
Gas – besser bekannt als Strahlungsschild in der Stratosphäre – ist für Menschen giftig, seine Handhabung ist jedoch in der Trinkwasseraufbereitung
längst Routine, auch bei der Aufbereitung von Zürichseewasser. «Neu ist die
Anwendung bei Abwasser, wo die Mengen von Wasser und Schmutz im Tagesverlauf schwanken.
Im zweiten Versuch in Vidy bei Lausanne wurde ein Becken mit Aktivkohle
aus gemahlener Steinkohle eingebaut.
Die Spurenstoffe heften sich an die
poröse Oberfläche der Kohlepartikel;
die entstandene Schlacke muss mit dem
Klärschlamm zusammen verbrannt werden. Wenn pro Kubikmeter Abwasser
zehn Gramm Kohle benötigt werden,
macht das auf 1000 Einwohner jährlich
eine Tonne zusätzlichen Abfalls.
Die beiden Pilotversuche ergaben,
dass beide Techniken die Mikroverunreinigungen gründlich entfernen, was
herkömmliche Kläranlagen nur zu
40 Prozent schaffen. Ein Team um Cornelia Kienle vom Ökotoxzentrum der
Eawag und der ETH Lausanne (EPFL)
unterzog das gereinigte Wasser einer
Reihe von Biotests: Sie tröpfelten es auf
Hefezellen in der Petrischale, um die östrogene Wirkung zu testen, führten für
Industrieabwässer entwickelte Toxizitätstests mit Wasserflöhen, Leuchtbakterien und Grünalgen durch und beobachteten, wie Baby-Regenbogenforellen im
Ausflusswasser gediehen.
Im Schnitt sank die Menge der rund 50
gemessenen Spurenstoffe um 80 Prozent;
im gleichen Mass sanken auch ihre Auswirkungen auf Organismen. Einer der
häufigsten Stoffe – das Schmerzmittel Diclofenac, von dem in der Schweiz jährlich
über 4 Tonnen verkauft werden – konnte
je nach Versuchsort zu 80 bis 100 Prozent
entfernt werden. Der verweiblichende Effekt von Hormonen auf Fischlarven verschwand, und im Furtbach hinter der Regensdorfer Anlage konnten wieder mehr
empfindliche Flussinsektenarten gezählt
werden. «Das ist ein sehr, sehr grosse Verbesserung», sagt Kienle.
Ozon wird favorisiert
Welche der beiden Methoden eingesetzt
würde, hängt von den Bedingungen in
den einzelnen Kläranlagen ab. «Ich würde
bei überwiegend kommunalem Abwasser dem Ozon den Vorrang geben», sagt
Hansruedi Siegrist, Leiter des Forschungsbereichs Verfahrenstechnik an
der Eawag. Denn Ozon entfernt nicht nur
Spurenstoffe, sondern entkeimt und entfärbt das Abwasser auch und entfernt Gerüche; zudem ist es in der Schweiz bereits in der Trinkwasseraufbereitung im
Einsatz. Nachteile sind seine Toxizität,
Abbaustoffe, die mit einem Zusatzfilter
entfernt werden müssen, sowie die energieaufwendige Gewinnung. Siegrist
schätzt jedoch, dass die Ozonung des Abwassers den jährlichen Stromverbrauch
pro Person von rund 1000 Watt um nur
ein Watt erhöhen würde – ein kleiner Posten. Aktivkohle ist zwar ungiftig, benötigt
aber deutlich mehr Energie bei der Herstellung, die häufig in Schwellenländern
stattfindet, und muss zudem entsorgt
werden.
Der Haken am Erfolg: Er ist nicht gratis. Nach den Kriterien der geänderten
Gewässerschutzverordnung müssten
rund 100 von 700 Kläranlagen in der
Schweiz bis 2022 saniert werden; im Kanton Zürich wäre es jede zweite. Das würde
rund 1,2 Milliarden Franken kosten,
schätzt der Bund. Der Betriebsaufwand
dürfte bei der grössten Kläranlage der
Schweiz, dem Werdhölzli, um 8 Prozent
steigen, bei kleinen Anlagen um bis zu 25
Prozent. «Unsere bestehende Infrastruktur hat über 67 Milliarden Franken
gekostet», hält Schärer vom Bafu fest. Dieser Investition sei es zu verdanken, dass
erstickte Seen und schäumende Bäche
heute wieder sauber und belebt seien.
Umweltverbände stören sich – neben
den hohen Kosten – auch an der einseitigen technischen Lösung. «Es ist unverständlich, warum ein rein technischer Lösungsansatz als umfassende Strategie dargestellt wird», sagt Andreas Knutti, Verantwortlicher Bereich Wasser beim WWF.
«Es muss auch beim Verbrauch angesetzt
werden.» Sämtliche Chemikalien müssten geprüft, die gefährlichen verboten
und durch unproblematische ersetzt werden. Kurzfristig erscheint es jedoch wenig
praktikabel, gängige Schmerzmittel oder
Antibabypillen zu verbieten. Zudem
scheiden Frauen auch natürliche Östrogene aus. «Das neue Chemikaliengesetz
zielt darauf, sehr giftige und schwer abbaubare Substanzen zu regulieren», sagt
Schärer vom Bafu. «Derzeit erachten wir
die technische Lösung, die ein möglichst
breites Spektrum an Stoffen eliminiert,
aber als die sinnvollste.»
Auch eine Aufgabe kleiner, veralteter
Kläranlagen zugunsten grösserer und
moderner Regionalanlagen fordern die
Umweltverbände. «Seit Jahrzehnten belasten Kleinanlagen unsere Gewässer»,
sagt Knutti. «Der Druck auf Zusammenschlüsse muss erhöht werden.»
Verlust für Drogenfahnder
Über die Notwendigkeit, die Mikroverunreinigungen loszuwerden, herrscht
jedoch Einigkeit – ausser vielleicht bei
der Kriminalpolizei. Denn nebst Antibabypille und Antibiotika hinterlassen
auch die Abbauprodukte von Kokain
ihre Spuren im Abwasser. Dank hochsensiblen Messgeräten können Wissenschaftler heute so den Drogenkonsum
der Schweizer abschätzen. Christoph
Mathieu von der Universität Bern fand
an einem Sonntag im Zürcher Abwasser
Spuren von 650 Gramm Kokain – das
sind rund 19 000 Linien an einem einzigen Sommerwochenende. Wird das Abwasser von den Mikroverunreinigungen
gereinigt, verlieren die Fahnder einen
ihrer verlässlichsten Informanten.
Das Wasser enthält
so viele Hormone,
dass männlichen Fischen
vielerorts Eizellen im
Hodengewebe wachsen.
Wie bei den Menschen leben auch bei
den meisten Affenarten die Weibchen
länger als die Männchen. Das zeigt eine
im Fachmagazin «Science» publizierte
US-Studie. Der Mensch ist zwar die langlebigste Primatenart, aber der Ablauf
seiner Alterung unterscheidet sich nicht
wesentlich von jenem bei Affen. Bisher
waren Biologen davon ausgegangen,
dass die Menschen während ihrer langen Lebenszeit anders und langsamer
altern als die anderen Primaten.
Anne Bronikowski von der IowaState-Universität in Ames und Susan
Alberts von der Duke-Universität in Durham verglichen den individuellen Verlauf der Alterung bei fast 3000 Affen aus
sieben Arten. Es handelte sich dabei um
Sifaka-Lemuren aus Madagaskar, Kapuzineraffen aus Costa Rica, Spinnenaffen
aus Brasilien, Diadem-Meerkatzen und
Paviane aus Kenia sowie Schimpansen
und Gorillas.
Hohes Risiko bei den Jungen
Die Forscherinnen massen den Alterungsverlauf, indem sie bestimmten,
wie sich die Sterbewahrscheinlichkeit
im Laufe des Lebens verändert. Diese
Daten glichen sich bei all diesen Arten
und entsprachen auch den für Menschen typischen, wie die beiden Forscherinnen berichten: Nach einem hohen Risiko in jungem Alter folgt eine
Phase der relativen Sicherheit, danach
steigt die Wahrscheinlichkeit zu sterben
kontinuierlich an.
Auch in einem anderen Punkt ähneln
die Menschen ihren nächsten Verwandten: Bei fast allen untersuchten Primatenarten leben die Weibchen länger, das
Todesrisiko der Männchen steigt früher.
Eine Ausnahme machen hier die brasilianischen Spinnenaffen. Ihre Männchen
leben ebenso lange und mit gleichem
Risikoverlauf wie die Weibchen, möglicherweise wegen ihres sehr wenig aggressiven Verhaltens bei der Konkurrenz
um Weibchen. Sifaka-Lemuren verhalten sich da völlig anders. Die Männchen
konkurrieren ihr Leben lang heftig um
die Weibchen – und sie altern und sterben besonders schnell.
Die Unterschiede in der Alterung der
verschiedenen Arten zeigten keinen Zusammenhang mit ihrer Verwandtschaft,
sondern könnten ausschliesslich auf den
Lebensumständen beruhen, berichten
die Forscherinnen. Dies bedeute, dass
der Mensch trotz seiner langen Lebensspanne, die er der modernen Medizin
verdanke, immer noch ein typischer
Primat sei. (sda/dpa)
Kurz
Universität Bern
Tropfsteine zeugen von
Sintfluten im Schwarzen Meer
Das Schwarze Meer war lange ein vom
Mittelmeer isolierter Süsswassersee. In
den letzten 670 000 Jahren kam es aber
laut einer Berner Studie rund ein Dutzend Mal zu gewaltigen Meerwasser-Einflüssen. Solche Wassereinbrüche könnten die historische Basis sein für die biblische Geschichte der Sintflut. Um die
Vorgänge zu rekonstruieren, nutzte das
Team um Dominik Fleitmann vom Institut für Geologie der Universität Bern
und vom Oeschger-Zentrum für Klimaforschung ein ungewöhnliches geologisches Archiv: Tropfsteine aus einer
Höhle. Die Zusammensetzung der Sauerstoffisotopen der Steine gibt Hinweise
auf das Regenwasser in der Vergangenheit, denn dieses wird in den Tropfsteinen versteinert. Die Niederschläge wiederum werden beeinflusst von der Wasserverdunstung des Meers. So lässt sich
anhand der Tropfsteine feststellen,
wann das Meerwasser eher salzig und
wann es süss war, wie die Forscher im
Fachmagazin «Nature Geoscience»
schreiben. Es sei erstaunlich, wie oft
sich der Zustand des Schwarzen Meeres
verändert habe, meint Fleitmann. Die
Rekonstruktionen zeigten, dass mindestens zwölf Mal Mittelmeerwasser eingebrochen sei und mindestens sieben Mal
eine Verbindung zum Kaspischen Meer
bestanden habe. (sda)
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