EINE EINLEITUNG – KEINE ANLEITUNG ZUM GLÜCKLICHSEIN von Beate Hentschel und Gisela Staupe Glück ist das Thema des Buches, das begleitend zu einer gleichnamigen Ausstellung erscheint, die vom 6. März 2008 bis zum 2. November 2008 im Deutschen HygieneMuseum Dresden, dem Museum vom Menschen, in Zusammenarbeit mit dem Siemens Arts Program präsentiert wird. Die schier überwältigende Literatur zum Thema „Glück“ sowie die weiter steigende Anzahl von Glücksratgebern legen die Frage nahe, was ein weiteres Buch und eine weitere Ausstellung denn noch überhaupt Neues zum Thema „Glück“ beitragen können. Der boomende Markt für Glücksratgeber zeigt, welch wichtige Rolle das ganz persönliche Glück im Leben eines Menschen einnimmt und welchen Glückszwängen sich der Mensch heutzutage aussetzt, um sein Leben als ein ‚gelungenes’ Leben bezeichnen zu können. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Thema Glück ist also immer wieder notwendig. Wir wissen natürlich, dass das Streben nach Glück zu den anthropologischen Grundkonstanten des menschlichen Daseins zählt, und die Suche nach Glück und Zufriedenheit ist so alt wie die Menschheit selbst. Dieses Streben liegt in der Natur des Menschen; es ist eine Folge des Bemühens, das eigene Sein und Leben zu erhalten und vor allem zu gestalten. Doch historisch gesehen ist „pursuit of happiness“, also das Recht auf das Streben nach persönlichem Glück, ein junges Phänomen – erstmals in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 formuliert, auch wenn schon Aristoteles konstatierte: „Alle Menschen wollen glücklich sein.“ Doch er verstand unter Glück nicht das, was 1776 darunter verstanden wurde oder was wir heute darunter subsumieren. Denn die Vorstellungen vom Glück unterliegen einem stetigen Wandel, sind ebenso an sich ändernde gesellschaftliche Werte und Normen wie an den jeweiligen Kulturraum und herrschende politische Gegebenheiten gebunden und versuchen immer eine Antwort auf eine gleichzeitig banale wie wichtige Frage zu geben: Wie möchte ich leben? So definiert jede Generation für sich das gute Leben – Tiefe, Sinn und Richtung – neu. Die dringende Sicherung der Lebensumstände in Krisenzeiten beschert andere Glücksmomente als der Ehrgeiz, in Zeiten des Friedens den Wohlstand zu vermehren. Wohl kaum ein anderes derart facetten- und konfliktreiches Phänomen polarisiert so sehr wie das Glück – was Verbesserung für die einen bedeutet, geht oft mit einem Verlust für andere einher. Virulent ist der Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Selbsterhaltung einerseits und dem Streben nach Erfüllung andererseits. Fest steht auch, dass in den letzten Jahren unsere westeuropäischen Vorstellungen vom Glück einem Paradigmenwechsel unterworfen waren. Noch bis in die Achtzigerjahre waren diese eng an materielles Wohlergehen und an Garantien für die existentielle Absicherung gebunden. Geld und Wohlstand schienen die zentralen Verrechnungseinheiten für Glück zu sein. Heute, im Zeichen der wirtschaftlichen Krise, von Hartz IV und dem gleichzeitigen materiellen Wohlstand vieler Menschen, werden unsere Vorstellungen vom guten, glücklichen Leben auf den Prüfstand gestellt. Buch wie Ausstellung reflektieren diesen Wandel – mit dem Fokus auf aktuellen, sich wandelnden Vorstellungen vom Glück. Es geht im Kern um die – wahrlich nicht neue, aber dennoch weiterhin drängende – Frage, ob sich das seit 1776 postulierte Recht auf ein Streben nach persönlichem Glück heute nicht eher zu einem „gnadenlosen gesellschaftlichen Pflichtprogramm“, ja fast zu einer „Diktatur des Glücks“ entwickelt habe. Denn was passiert, wenn jemand das Ziel, glücklich zu sein, nicht erreicht? Ist sein Leben dann gescheitert? Wer bestimmt überhaupt die Norm, die uns sagt, dass wir glücklich sind? Die heutige „Verpflichtung zum Glück“ soll deswegen hinterfragt werden – ohne das Streben nach persönlichem Glück in Frage stellen zu wollen: Können wir heute noch das Glück wie ein Grundrecht einfordern, das jedem zusteht? Suchen wirklich alle nach dem Glück? Und gehört zum Glück nicht auch das Unglück? Noch nie hat das „private Glück“ so viel Aufmerksamkeit erfahren wie heute. Ob das Streben nach dem Glück allerdings als der geheime Motor der Moderne bezeichnet werden kann, wie vielfach behauptet, darf bezweifelt werden. Tatsache aber ist: Die Auslöser für die Auseinandersetzung mit den Themen „Glück“, „das gute Leben“ oder „die Suche nach dem Lebenssinn“ sind der historisch einmalige Wohlstandsschub in Westeuropa und in den USA und die sich daran anschließende Debatte um die Verteilung des Zuwachses materiellen Reichtums und seiner Grenzen. In Deutschland gibt es – bei aller sozialen Differenzierung und allen bestehenden Einkommensunterschieden – mehr Geld, als die Menschen zur Existenzsicherung bedürfen. Das reale Volkseinkommen hat sich seit 1950 vervierfacht. Das restitutive Einkommen wird immer geringer, das dispositive Einkommen höher, also kann mehr Geld für individuelle Wünsche, für Konsum, ausgegeben werden. Zudem haben die Arbeitszeiten seit den Sechzigerjahren stetig abgenommen. Freizeit, die Zeit für individuelles Glück, hat folglich zugenommen. Aus der jahrhundertealten Überlebensorientierung ist die Erlebnisorientierung geworden. Die Daten sprechen nicht für ein Harmoniemodell oder soziale Gerechtigkeit, denn es gibt neue soziale Ungleichheiten. Aber sie beschreiben dennoch ein gesellschaftliches Phänomen: Der Mensch ist bei der Verwirklichung seiner selbst, beim individuellen Glück angekommen. Doch oft genug wird dabei nicht bedacht, dass mit „freedom and pursuit of happiness“ ursprünglich der Traum von individueller Freiheit und vom schönen Leben aller gemeint war und nicht primär das individuelle Streben nach dem eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Interessen anderer. Heute wird das Leben als „Projekt“ betrachtet, und der Sinn des Lebens besteht aus dem, was einem gefällt. Keine Kultur reicht an die quasireligiöse Subjektzentrierung der Gegenwart heran. Wenn man das eigene Leben als Selbstzweck betrachtet, interessiert man sich vor allem dafür, ob die Ereignisse einem gefallen, weniger dafür, ob sie etwa über das eigene Leben hinausweisen. Woran soll sich der Mensch orientieren, wenn man das Objektive durch die Orientierung an sich selbst ersetzt hat? Doch die derzeitige wirtschaftliche Unsicherheit sowie die radikalen gesellschaftlichen Veränderungen veranlassen uns, über das eigene individuelle Leben, über die Gesellschaft, deren Mitglied mit all seinen Freiheiten und Pflichten der Mensch ist, nachzudenken und darüber hinaus womöglich andere, neue Formen eines guten, eines gelingenden Lebens zu entdecken. Ob die Krise auch das Ende der sogenannten „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) mitsamt seinen Glücksprojektionen bedeutet, als die letzte und aktuellste Ausformung unseres Gesellschaftsmodells, das mag dahingestellt sein. Politiker, Wissenschaftler und Mediziner sind sich einig, dass sich die Gesellschaft und ihre Individuen mit ihren Glücksansprüchen werden ändern müssen. Der seit dem 2. Weltkrieg langsam sich steigernde Wohlstand der Bundesrepublik und die gesellschaftliche Liberalisierung haben das öffentliche Klima in Deutschland nachhaltig geprägt. Aber wie materielle Ansprüche in einer Steigerungsspirale gefangen sind, so geht es auch jenen Glücksansprüchen, die sich nicht nur auf die erste zentrale Verrechnungseinheit des Glücks, das Geld, beziehen, sondern die in immateriellen Währungen wie Sinn, Freude, Liebe, Vergnügen, Arbeit, Anerkennung usw. gemessen werden. Wenn nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Glück unseren Alltag geradezu flutet und gleichzeitig zum Gegenstand ganz unterschiedlicher Forschungszweige avanciert, so fördert ein zweiter Blick auf das vermeintliche Glück indes ein Paradox zutage: Obwohl wir – zumindest in der sogenannten Ersten Welt – durchaus im goldenen Zeitalter leben, was unsere gesellschaftlichen und ökonomischen Lebensgrundlagen betrifft, entwickelt sich nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation die Depression weltweit zur Volkskrankheit Nummer 1. Unsere Gesellschaft, die das individuelle Streben nach Glück zum Programm erhoben hat, droht nach Auffassung verschiedener Psychologen und Emotionsforscher ins emotionale Elend abzugleiten. Die insbesondere durch die Medien propagierte Vorstellung, dass nur der Glückliche erfolgreich und sexy ist, bedingt also zugleich das unheilvolle Gegenteil. Bei jeder unangenehmen, schmerzvollen oder „negativen“ Empfindung stellt sich das Gefühl des verlorenen Paradieses ein. Umwege über Krisen sind nur gestattet, sofern man aus ihnen noch schöner, noch stärker, noch größer hervorgeht. Nur, wie auch immer man es wendet, das sogenannte „Glück“ bleibt das ewige Leitmotiv des Lebens: als Illusion, bewusste Suche oder Laisser-faire. Es oszilliert dabei stetig zwischen dem, was Privatsache (emotionaler Gefühlszustand, materielle Mindestausstattung) ist und bleibt, und dem, was als gesellschaftlich notwendig gilt (politische Rahmenbedingungen, geistige und körperliche Freiheit, Rechtsinstitutionen). Dies mündet in der Frage nach dem Verhältnis der individuellen, privaten Dimension und der sozialen Dimension der Lebensqualität (Wohlstand, Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit). Dieses Lesebuch versammelt Beiträge von Autoren ganz unterschiedlicher Provenienz, die sich aus ganz verschiedenen Perspektiven des Themas „Glück“ annehmen, ganz und gar ohne die Absicht, damit eine Anleitung zum Glücklichsein zu liefern. Herausgeberinnen und Autoren gehen von einem erweiterten Glücksbegriff aus und untersuchen das Glück als Inbegriff von Liebe, Freiheit, Humanität, Sicherheit, Gesundheit, Glaube, Ritual, Zufriedenheit, Nostalgie, Heimat, als Synonym für die Abwesenheit von Angst oder Gewalt. Darüber hinaus betrachten wir das Glück nie ohne sein Gegenteil – Gefühle wie Schmerz, Trauer, Verlust –, kurz: Das Unglück bedeutet keinen Störfall im System. An dieser Stelle sei allen Personen und Institutionen gedankt, die zum Gelingen des Projekts beigetragen haben, besonders der Kuratorin Claudia Banz. Unser ganz besonderer Dank gilt dem Künstler Meschac Gaba, den wir als künstlerischen Leiter für die Ausstellung gewinnen konnten und der durch seine bisherige Arbeit geradezu prädestiniert ist, das Thema in ebenso anregende wie provozierende visuelle Denkräume umzusetzen. Ebenso danken wir dem Soziologen Gerhard Schulze, mit dem wir einen fachlich äußerst kompetenten Berater an unserer Seite hatten.