VÜ: Soziologische Hauptströmungen Interaktionistische Ansätze (Bacher, SS2002) 1. Allgemeine Merkmale Annahme von ätiologischen bzw. ursachenorientierten und z.T. von marxistischen Ansätzen = Devianz kann einfach festgestellt werden. Interaktionistische Ansätze = diese Annahme stimmt nicht; die Zuschreibungen "abweichend", "kriminell" usw. werden konkret ausgehandelt. Normanwendung ist selektiv! Bsp.: Straßenbahn --> alte Dame ohne Fahrschein --> Vergesslichkeit; jugendlicher Punker ohne Fahrschein --> Schwarzfahren Anwendung hängt von Macht ab. "Unterschiede in der Fähigkeit, Regeln aufzustellen und sie auf andere Leute anzuwenden, sind in ihrem Wesen nach Machtunterschiede (entweder legale oder außerlegale)." (Becker zit. in Lamnek 1993: 226) 1 Aufhellung dieses Prozesses und die Analyse der damit verbundenen Konsequenzen sind wichtig. 1.1. Hinterfragen des Normenverständnisses Douglas, Jack D., 1970: Deviance and Order in a Pluralistic Society. In: McKinney John C. / Tiryakian, Edward A. (Eds.): Theoretical Sociology. Perspectives and Developments. New York [AppeltonCentury-Crofts], S. 367-402 1.2. Merkmale nach Becker Unterscheidung zwischen Regelverletzung und Etikettierung Etikettierung als "abweichend" Regelverletzung nein ja nein Bsp: Erwerbstätigkeit Bsp.: fälschliche Beschuldigung ja Bsp.: voreheliche Bsp.: Diebstahl Sexualität 2 interaktionistische Theorien = beschäftigen sich mit beiden Prozessen ==> Vorwurf, dass Regelverletzungen keine Rolle spielen, stimmt nach Becker daher nicht, beides sind Prozesse wichtigste Methode = teilnehmende Beobachtung, dennoch ist nach Becker die Kritik, dass Machtunterschiede ausgeblendet werden, nicht gerechtfertigt, Machtunterschiede können auch studiert werden, da häufig Indiskretionen zwischen den Mächtigen 2. Theoretische Grundlagen: Sozialtheorie von Mead Grundüberzeugungen von Mead (siehe dazu Wenzel 1990: 50): Soziale Probleme können rational, kooperativ und arbeitsteilig, durch ein auf Verstehen basierendes, demokratisches Vorgehen gelöst werden. ("Amelioration through understanding" /"Verbesserung durch Verstehen", Smith zit. in Wenzel 1990: 38). Auf Ausgrenzung basierende Strategien sind zur Lösung sozialer Probleme nicht geeignet. Die kommunale Ebene ist für die Lösung sozialer Probleme am besten geeignet. Sozialreformerischer Lösungsansatz von Mead geht über die Sozialtechnologie ("piecemeal-engineering") eines Poppers hinaus. 3 In seinen theoretischen Arbeiten versucht Mead nun zu zeigen, dass Menschen 1. zu rationalem Handeln, 2. zu kreativen (neuen) Problemlösungen, 3. zum Verstehen, 4. zu Demokratie und 5. zu Kooperation und Arbeitsteilung fähig sind. Dieser Versuch wird u.a. 1981 von Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns wieder aufgegriffen. Diese Fähigkeiten ergeben sich zunächst aus der anthropologischen Sonderstellung des Menschen (Preglau 1989): Der Mensch besitzt aufgrund von Instinktarmut und Weltoffenheit die Fähigkeit zur sozialkommunikativen Selbstprogrammierung. Mead entwickelt zwar im Unterschied zu Habermas (1981) keine explizite Theorie, unter welchen Bedingungen welche Lösungsstrategie gewählt wird. Die Frage kann aber dennoch implizit beantwortet werden. 4 Ursachen für ausgrenzende Lösungsstrategien: Fehlen demokratischer Strukturen starre Orientierung an einer universellen Moral, Ideologie usw. ohne Berücksichtigung der konkreten Problemlagen Zwischenfazit: Nach Mead ist der Mensch anthropologisch in der Lage, andere zu verstehen. Verstehen ist die Grundlage für Sozialreformen, die nicht auf Abgrenzung/Ausschließung abzielen, sondern auf neuen Formen der Kooperation basieren bzw. diese entwickeln, mit dem Ziel von Verhaltensänderungen und der Verbesserung von Lebenssituationen. In seinen sozialpsychologischen Arbeiten entwickelt Mead seine anthropologischen Grundannahmen weiter und präzisiert diese. Seine Überlegungen können in folgender Grundthese zusammengefasst formuliert werden: 5 Wenn wir den Prozeß der Identitätsbildung oder die konkrete Handlung einer Person untersuchen, so können wir feststellen, dass Personen in der Lage sind, die Erwartungen anderer zu übernehmen, dass diese Erwartungen sowie mögliche Reaktionen in der Handlungsplanung auch tatsächlich berücksichtigt werden, dass Handeln somit nicht ein reaktiver Akt im Sinne eines behavioristischen S-R-Modells ist, sondern mögliche Handlungsalternativen zunächst kognitiv durchgespielt werden, wobei die Individualität des einzelnen kreative Problemlösungen und die Entwicklung einer personalen Identität zulässt. Der Prozess einer Handlungsabfolge sieht bei Mead folgendermaßen aus: 6 Identität Umwelt Interaktionen ME I Individuum + vorausgehender Prozeß + Interpretation der Reaktionen Interaktionen Problemstellung Vergegenwärtigung der Reaktionen anderer, insbes. von signifikanten und verallgemeinerten Anderen Entwicklung von Ideen Handlung Denken Identität können wir uns nach Mead als individuelle Kombination von unterschiedlichen (Rollen-)Erwartungen vorstellen, als Fließgleichgewicht zwischen dem eigenen Selbstbild und den (wahrgenommenen) Fremdbildern. Identität wird wesentlich davon beeinflusst, welche Identität oder Rollen andere einer Person in Interaktions- und Kommunikationsprozessen zu schreiben und wie diese von der betreffenden Person interpretiert wird. Beispieltext: Mead, G.H., 1987 [1918]: Psychologie der Strafjustiz. In: Joas, H. (Hg.): Georg H. Mead – Gesammelte Aufsätze. Band 1., Frankfurt a.M., S. 253-284 7 3. Primäre und sekundäre Devianz der interaktionistische Ansatz von Edwin M. Lemert "The deviant person is a product of differentiating and isolating processes." (Lemert 1993 [1951], 70) Zunächst ist nach Lemert festzuhalten: Differenzierung und Isolation findet bei vielen bereits seit Geburt aufgrund von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen, der Zugehörigkeit zu einer Minderheit oder zu einer benachteiligten sozialen Schicht statt. Abweichungen sind in dieser Hinsicht Ergebnis eines unbewussten Prozesses. Im Jugend- und Erwachsenenalter sind Abweichungen dagegen häufiger das Ergebnis eines bewussten, schrittweisen Prozesses, wobei es aber auch abrupte, traumatische Änderungen geben kann. Schrittweiser Prozeß von der primären zur sekundären Devianz 8 Person A: sozial akzeptierte Rolle(n), positive Beziehung zu Anderen Integration in best. Rolle(n)= Identität Bedrohung der Identität Negative Bewertung der Anderen + abweichendes Handeln (primäre Devianz) personale und situationale Ursachen Reaktion der Anderen abweichendes Handeln (sekundäre Devianz) Übernahme einer anderen sozial akzeptierten Rolle Übernahme der abweichenden Rolle Häufigkeit und Sichtbarkeit des abweichenden Handelns, Stärke der Reaktion der anderen Ähnliche Verlaufsmodelle wurden von Becker (siehe z.B. Howard S. Becker 1993a [1953], 1993b [1955] und Erving Goffman 1993 [1963]) entwickelt, wobei zusätzliche, zum Teil aber auch andere Faktoren spezifiziert wurden. 9 4. Der interaktionistische Ansatz von Becker Grundmerkmale wurden bereits in Abschnitt 1.2 skizziert. klassische Arbeit: Becker, H.S., 1963: Outsiders. Studies in the Sociology of Deviance. Toronto. Im Unterschied zu Lemert betont Becker neben dem Prozeßcharakter auch die Selektivität der Normsetzung und Normanwendung (siehe Lamnek 1993: 224-228). Die diesbezügliche Grundthese lautet: Die Normsetzung und Normanwendung hängt von politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnissen ab. Im Vordergrund seiner Analysen steht der Prozess der informellen Etikettierung und der Reaktion der Betroffenen darauf. Begründung: Fortlaufende soziale Kontrolle auf der Basis von Macht (offizielle Kontrolle) wäre sehr mühsam, daher muss Kontrolle durch informelle Kontrolle in alltäglichen Situationen durch Interaktionen mit Personen, die für die "abweichenden" Personen wichtig sind, stattfinden. Derartige informelle Kontrollinstanzen entwickelt Becker beispielsweise auf der Basis einer Studie von 50 qualitativen Interviews mit Marihuana-Konsumenten (Becker 1993b). 10 Becker geht dabei von folgender Grundannahme aus, die er auch empirisch "überprüft": Nicht positive Motivation führt zu Konsum, sondern Konsum zu positiver Motivation, sofern bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Diese sind: (1.) Erlernen der Techniken, (2.) Erlernen der Wahrnehmung der positiven Effekte, (3.) Erlernen des Genusses der positiven Effekte Daneben ist es erforderlich, dass bestimmte informelle Kontrollinstanzen weniger effektiv werden (Becker 1993b). Becker unterscheidet drei Phasen: Nicht-Konsument Anfänger Gelegenheitskonsumenten reguläre Konsumenten Beim Übergang von einer Phase zur folgenden verlieren folgende Kontrollinstanzen an Effizienz bzw. müssen durch den Konsumenten überwunden werden: Kontrolle bezüglich des Zugangs zur Droge Kontrolle bezüglich des Verbergens des Drogenkonsums vor (bedeutsamen) Anderen Kontrolle bezüglich der moralischen Einstellung zum Drogenkonsum 11 Zugang zur Zugang zur Zugang zu Subkultur Subkultur illegalem Markt Überwindung, Erfahrung, daß Rückzug der Angst Geheimhaltung und/oder entdeckt zu möglich Effektkontrolle Rationalisierung Rationalisierung werden Rationalisierung moralischer Nichtkonsument Vorbehalte Anfänger moralischer Vorbehalte moralischer Gelegenheitskonsument Vorbehalte regulärer Konsument positive Motivation des Konsums Aktuelles Beispiel aus der Forschung: Venkatesh, S. A., 1997: The Social Organization of Street Gang Activity in an Urban Ghetto. AJS, Vol. 101 (1), S. 82-111 Literatur (sofern nicht ausführlich im Text zitiert). Becker, H. S., 1993a [1953]: Becoming a Marihuana User. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, S. 185-193 Becker, H. S., 1993b [1955]: Marihuana Use and Social Control. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, S. 212-222 Goffman, E., 1993 [ 1963]: Stigam and Social Identitiy. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, S. 75-95 Habermas, J., 1981: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1 und 2. Frankfurt a.M. Lamnek, S., 1993: Theorien abweichenden Verhaltens. 5. Auflage. München Lemert, E. M., 1993 [1951]: Primary and Secundary Deviation. In: Pontell, H.N. (D.): Social Deviance. Readings in Theory and Research. New Jersey, S. 70-74 Preglau, M., 1989: Symbolischer Interaktionismus: Georg Herbert Mead. In: Morel, J. u.a. (Hrsg.): Soziologische Theorie. Abriß der Ansätze ihrer Hauptvertreter. München-Wien Wenzel, H., 1990: Georg Herbert Mead zur Einführung. Hamburg 12