H E S S I S C H E R R U N D F U N K

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Marlis v. Rössing
Aufnahme: Marlene Breuer
WISSENSWERT
Geschichte des sozialen Wohnungsbaus (1)
Vom Hausen zum Wohnen
Von Christa Schell
Montag, 14.08.2006, 08.30 Uhr, hr2
Sprecher:
06-088
COPYRIGHT:
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zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.
O-Ton 1:
Das, was wir heute sozialen Wohnungsbau nennen, dessen
Geburtsstunde liegt im 19. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung gab´s
ja diesen neuen Typ des Wanderarbeiters, am anfang meistens
Bauernsöhne, die kein Land hatten, die zogen dann in die frühen
Industrien, und um diese entwurzelten Bauernsöhne nicht zum
Fabrikarbeiterproletariat zu machen, hat man von anfang an systematisch
Werkswohnungsbau betrieben.
Zitat:
“Masuren! In rheinländischer Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen
und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt, ganz wie ein
masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe des westfälischen
Industriebezirkes, eine reizende, ganz neue erbaute Kolonie der Zeche
´Viktor` Rauxel. Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern
und wird später etwa auf 65 Häuser erweitert werden.”
O-Ton 2:
Es gab ein festes System von solchen Siedlungen in Frankreich, in
England natürlich sehr früh schon, weil man einfach als Kapitalist, wenn
man auf dem Markt bestehen wollte, mußte man eine Grundlage
schaffen. Um nicht den Schwankungen der Konjunktur ausgeliefert zu
sein, brauchte man einen festen Stamm von Mitarbeitern, die jederzeit
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sich für die Firma aufopfern sozusagen, denen stellte man die Wohnung
zur Verfügung.
Zitat:
Zitat:
“Dabei beträgt die Miete für ein Zimmer (mit Stall und Garten) nur
4 Mk. monatlich, für westfälische Verhältnisse jedenfalls ein sehr billiger
Preis. Außerdem vergütet die Zeche für jeden Kostgänger monatlich 1
Mk. Da in einem Zimmer vier Kostgänger gehalten werden können, wird
die Miete also in jedem Monat um vier Mk. geringer, ganz abgesehen
davon, was die Familie an den Kostgängern selbst verdient.”
Autorin:
Man schrieb das Jahr 1905, als dieser in Auszügen zitierte “Aufruf an
die Masuren” erging und ihnen das Blaue vom rußschwarzen
westfälischen Ruhrpotthimmel versprach: die “höchsten Löhne” sowieso
und “etwa drei bis vier Zimmer” pro Wohnung; statt Feierschichten
Zusatzschichten und “vor jedem zweiten Haus auch ein Vorgärtchen”.
Wer es am schönsten pflegte, sollte eine Prämie bekommen. Und “wer
sich die Angelegenheit reiflich überlegt” hatte, siedelte um: in die –
so die Anpreisung - “reizende, ganz neu erbaute Kolonie” der Zeche
´Viktor` bei Rauxel. Eine Werkssiedlung wie viele, und mit den Worten
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des Denkmalschützers Christoph Mohr ein “früher Vorläufer des sozialen
Wohnungsbaus”, zu dem es einen noch früheren gab:
O-Ton 3:
Die Stunde Null des sozialen Wohnungsbaus, die finden Sie in Augsburg.
Familie Fugger hat damals als großes Welthandelsunternehmen schon
im frühen 16. Jahrhundert für die Mitarbeiter und vor allem auch für
die Witwen der Mitarbeiter eine kleine Fuggerei, eine kleine Siedlung
angelegt für über 100 Familien. Und dieses frühe Beispiel war dann
lange Zeit einzigartig eigentlich. Und man kann sagen, seit der
Reichsgründung 1870 gab es dann systematisch Siedlungsbau von den
Firmen. Die Familie Krupp ist so ein Beispiel. Die Leute mußten Miete
zahlen in Relation zum Gehalt eines Hilfsarbeiters bis hin zum erfahrenen
Facharbeiter. Und man hat sie natürlich auch gebunden an das
Unternehmen, sie haben dann in dem Laden eingekauft, der auch zu
dem Unternehmen gehörte. Und es gab dann auch Kinderbetreuung,
um auch die Frau in die Produktion führen zu können.
Zitat:
“Wer aus der Fabrik entlassen wird, muß natürlich auch, wenn er das
´Glück` hat, Mieter einer Kruppschen Wohnung zu sein, diese verlassen.
Bei
der
Wohnungsnot
in
Essen,
läßt
sich
der
Inhaber
einer
Werkswohnung manches Unrecht bieten, fügt sich in manche Unbill, die
er als freier Arbeiter nicht dulden würde. Aus Rücksicht auf irgend ein
Familienmitglied wird der ganzen Schar der Anverwandten Wohlverhalten
empfohlen. Alles arbeitet hin auf Züchtung eines Abhängigkeitsgefühls,
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das alle eigenwollende Regung erstickt, den Arbeiter mit unzerreißbaren
Fesseln in das Joch, unter die absolute Herrschaft des Wohltäters
spannt. Kann es eine bessere Kapitalsanlage geben?”
Autorin:
Der Zeitgenosse Wilhelm Düwell über den Fabrikfeudalismus wie er ......
Zitat:
.....“typisch so recht in Erscheinung tritt bei der welt´berühmten`
Wohlfahrtsfirma Krupp” -
Autorin:
- die um 1900 weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung Essens
beschäftigte und rund 4850 Werkswohnungen besaß. Eine Siedlung als
Stadt in der Stadt, mit allem, was dazugehörte: Werkspolizei,
Werksfeuerwehr,
Werkskrankenhaus,
betriebseigene
Bade-
und
Konsumanstalt, Sportverein und Werksbücherei. Und wer etwas anderes
– etwa die Metallarbeiterzeitung las - oder gar einem anderen Verein
beitrat – etwa dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, der verlor
wegen “sozialistischer Gesinnung” nicht nur seinen Job, sondern auch
sämtliche Ansprüche an die “Wohlfahrtspensionskasse” des preußischen
5
Stahlunternehmens - mit seiner “Zuckerbrot und Peitsche”-Politk, wie
sie auch ein Otto von Bismarck praktizierte. Seine Sozialpolitik soll sich
übrigens an der Kruppschen orientiert haben. Und dennoch: 1905 , schreibt der Historiker Joachim Petsch:
Zitat:
“1905 war ein Drittel der Arbeiterwohnungen überbelegt, wobei zu
berücksichtigen ist, daß die Behörden zu dieser Zeit eine Wohnung mit
einem beheizbaren Raum erst dann als überbelegt einstuften, wenn sie
mehr als sechs Personen beherbergte. In Berlin lebten vier Prozent der
Arbeiterschaft in Einzimmerwohnungen zu sechs und mehr Personen.
Besonders schwer hatten es die Frauen aufgrund ihrer Doppelbelastung
durch
Hausarbeit
und
Erwerbstätigkeit.
Da
der
Mietanteil
am
Haushaltseinkommen aber 20 bis 25 Prozent betrug, waren sie
gezwungen dazuzuverdienen; um die Mietkosten zu senken, wurden
weiterhin Schlaf- und Kostgänger aufgenommen.”
O-Ton 4:
In dieser Zeit war natürlich auch die Entstehungstunde der
selbstorganisierten Arbeiterhilfe, zum Beispiel Genossenschaften,
Siedlungsgenossenschaften,
und
mit
der
Entwicklung
der
Sozialdemokratie gab´s dann nach 1918 auch kommunale
Wohnungsfürsorge. Nach dem verlorenen Weltkrieg gab´s ja einen
massenhaften Zustrom arbeitsloser ehemaliger Soldaten, die in die Städte
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strömten und einen Job suchten und sich dann natürlich auch
verheirateten, und dafür war kaum Vorsorge getroffen. Und in der
Weimarer Zeit gab es dann ja auch einige Kommunen wie zum Beispiel
Frankfurt oder Celle oder Hamburg, wo Wohnungen quasi zum
Selbstkostenpreis von der Kommune auf billigem Bauland erstellt wurden
und zu möglichst niedrigen Preisen angeboten wurden.
Zitat:
“´Jeder sein eigener Villenbesitzer! So weit muß es in zwei bis drei
Jahren kommen.` Sagte der Hausherr, der uns am Sonntag auch zur
Einweihungsfeier seiner neuen Villa eingeladen hatte. Sie gehört zu
einem eineinhalb Kilometer langen Block, der hochgestellt einen
Mordswolkenkratzer
gäbe,
vorläufig
aber
auf
weichem
Ackerfeld
umgekippt daliegt.”
Autorin:
Einer von vielen, und als solcher ist er nicht zuletzt auch ins Blickfeld
der zeitgenössischen Presse gerückt. Ort des Geschehens: Mainhattan,
die deutsche Stadt der “Mordswolkenkratzer” schlechthin. An ihr führt
kein Weg vorbei – in der Entwicklung vom Hausen zum Wohnen.
Schließlich stellen die umgekippten Blöcke von einst nach wie vor alles
bisher Dagewesene in den städtebaulichen Schatten. Auch wenn sie ganz
offensichtlich etwas gewöhnungsbedürftig waren – zumindest für den
Frankfurter Generalanzeiger, der sie um die Weihnachtszeit des Jahres
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1926 begutachtet hat - unter der Überschrift “Fest- und Familienzauber
im ´Blockhäuschen`:
Zitat:
“Die
Wändchen
der
Zimmerchen
tragen
ausgewählte
farbige
Bespannung, das gibt einen freundlichen Hintergrund für die dunkleren
Möbel, die man, da man sie ja doch nicht stellen kann, am besten
draufmalen läßt. Nur kann man in gemalten Betten schwer schlafen,
aber auch da hat mancher weise Bauherr einen Ausweg gefunden. Zwei
Betten in ein Zimmer, das kriegt er nicht unter, er richtet also im unteren
Stockwerk das Schlafzimmer der gnädigen Frau ein, und darüber das
des Ehemanns. In einigen geplanten Neubauten soll ein direkter
Verbindungsweg durch eine Strickleiter von unten nach oben hergestellt
werden, man kann sich dann beim Gutenachtkuß noch so nett
zuwinken.”
Autorin:
Nur was der Kritikus damals zu erwähnen vergaß: Nicht etwa für die
mehr oder weniger ausladende “gnädige Frau”, sondern ausdrücklich
für die “kleinen Leute” haben die Architekten des “Neuen Bauens” für
das “Neue Frankfurt” der Weimarer Zeit in großem Stil das gebaut,
was wir heute ein wenig abschätzig “Massenwohnungsbau” nennen: in
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Niederrad, in Goldstein, im Riederwald, am Bornheimer Hang – kurzum
und im wahrsten Sinne des Wortes an allen Ecken und Enden der Stadt.
Um die 20000 “Wohnungen für das Existenzminimum” – wie man sie
nannte: funktional, genossenschaftlich und nachbarschaftlich orientiert.
Und bis auf das siedlungstypische flache Dach glich wunderbarerweise
keine “Blockhäuschen”-Siedlung der andern . Sie entstanden zwischen
1925 und 1933 bekanntermaßen unter der Regie des gebürtigen
Frankfurter Stadtbaurats Ernst May und mit der Begründung:
Zitat:
“Hinter uns liegt ein Jahrhundert, das aus imperialistischem Ehrgeiz die
Aufgabe der Architektur in prunkvollen Monumental-Lösungen suchte.
Wir erleben den Morgen einer Epoche, die die vornehmste Aufgabe des
Bauens in der Befriedigung des Wohnbedürfnisses der breiten Massen
der Völker erblickt.”
O-Ton 5:
Der Ansatz dieses Neuen Frankfurts war, nicht nur Wohnungen für das
Existenzminimum zu schaffen, sondern eine neue Wohn- und
Lebensform durch eine neue Architektur zu ermöglichen. Diese
Architekten hatten ja einen ganz hohen Anspruch, diese Gruppe um
Mai. So wurde damals von der Frau Grete Schütte diese berühmte Küche
entwickelt, auf engstem Raum hochfunktional. Und das gleiche passierte
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eben auch mit der Ausrichtung der Häuser zur Sonne, es gab kleine
Dachterrassen, wo man sich sonnen konnte, es gab das kleine Gärtchen
zur Selbstversorgung, jedes Haus sollte einen Obstbaum haben mit
Pflaumen und Mirabellen, also eine kleine Sozialutopie auch, die damals
in diesen Städten wie Frankfurt, Celle, Magdeburg, verwirklicht wurde.
Das war eine der ganz wenigen Phasen in der deutschen
Architekturgeschichte, wo neue Siedlungmodelle entstanden sind, die
heute noch beispielhaft sind und die auch heute wieder von jungen
Architekten studiert werden.
10
Autorin:
Kein Wunder. Hatte doch - mit den Worten des Hauptkonservators beim
Landesamt für Denkmalpflege Christoph Mohr -
“die Avantgarde”
gebaut ; Architekten, die sich mehrheitlich der Arbeiterbewegung
verbunden fühlten; und die bei Walter Gropius in die Lehre gegangen
waren, dessen Dessauer Bauhaus zum Inbegriff des “Funktionalismus”
und der “weißen Moderne” wurde. Ihm verdankt die Stadt Frankfurt am
Main die mit Pappeln bepflanzte Siedlung am Lindenbaum; dem
Niederländer Mart Stam die in den 1970ziger Jahren vom Abriß bedrohte
Hellerhofsiedlung. Doch für das dort von Max Cetto 1931/32 geplante
Volkshaus West – mit Kino, Volksbücherei und Kinderlesesaal – fehlte
(wie für viele schöne Pläne)
das Geld.
O-Ton 6:
Wie Sie wissen, kam ja dann die Weltwirtschaftskrise, und dann brach
wieder alles zusammen. Und die eigentliche Wohnungsfrage war auch
in der Weimarer Zeit nur ansatzweise zu lösen. Es gab also ewig die
Diskussion darüber, wieviel Prozent seines Einkommens ein Mensch für
die Wohnung ausgeben muß. Und da wird ja von Fachleuten immer
diese magische Grenze von 25 Prozent gefordert, aber die Leute
kommen fast immer an die Hälfte ihres Einkommens, das ist im
kapitalistischen System ein unauflösbarer Widerspruch zwischen der
Bodenwertsteigerung und dem, was man dann bauen kann, in der Nähe
von Ballungszentren. Und die Nazis ham eben nicht geschafft, was sie
der Bevölkerung versprochen haben, billiges Wohnen für jeden.
11
Autorin:
So viel zur Wohnungsbaupolitik derer, die zu Zeiten des selbsternannten
braunen “Baumeisters” Adolf Hitler angeblich die Sache der “kleinen
Leute” vertraten: Sie jagten (vertrieben ? ), die – wie sie sie nannten
– “jüdisch-bolschewistischen” Architekten des “Neuen Bauens” ihres
“rassefremden Bauens” wegen aus dem Land. Während die Gelder für
den öffentlich geförderten Wohnungsbau von Anbeginn an vorrangig in
Arbeitsbeschaffungsprogramme zum Zwecke der Aufrüstung flossen. Und
1939/40, mit dem Verbot aller nichtkriegswichtigen Bauten, kam selbst
der von den Nazis bevorzugte Kleinsiedlungsbau für den “erbgesunden
Siedler” mit dem “Willen zum Kind” zum Erliegen. Doch die ganze
Welt unter das monumentalistische Walm- und Satteldach ihrer “Blutund Boden”-Architektur zu zwingen, gelang ihnen glücklicherweise nicht.
Ende
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