Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Christiane Knauf WISSENSWERT „Zurück zur Natur“ Spuren der Lebensreformbewegung in Heppenheim Von Christiane Wagner Sendung: Dienstag, 10.04.2007, 08:30 Uhr, hr2 Autorin Zitatorin O-Töne 07-024 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1 Atmo Vogelgezwitscher Autorin: Ein verwunschen-verwildertes Grundstück am Waldrand von Hambach, einem kleinen Ortsteil von Heppenheim. Nichts erinnert daran, dass hier drei Jahrzehnte ein Mann gelebt hat, der als Höhlenmensch von Hambach in die Ortsgeschichte einging und weit über die Grenzen des Dorfes an der Bergstraße bekannt war. Sie nannten ihn den Wurzelfresser. Er stammte aus Hamburg und war urspünglich Architekt. Wann genau Adolf Friedrich Ellerbrock mit seiner Frau nach Hambach kam, ist nicht bekannt. Es muss wohl im Jahr 1930 gewesen sein. Er kaufte ein Grundstück am Waldrand, um ein Haus zu bauen, bekam aber keine Baugenehmigung. Und so grub er sich eine Höhle, drei Meter tief ins Erdreich. Man erreichte sie über eine Leiter, es gab kein Wasser, keinen Strom, keine Toilette. Dort lebte Adolf Ellerbrock zurückgezogen wie ein Einsiedler, seine Frau hatte ihn sechs Wochen nach der Ankunft verlassen. Er ernährte sich ausschließlich von „Grünzeug“, wie die Hambacher damals abschätzig sagten, von ungedüngtem Gemüse, Beeren, selbstgebackenem Brot. Hans Rhein war einer der wenigen, die etwas engeren Kontakt zu ihm hatten. Seine Eltern hatten ein Feld auf dem Nachbargrundstück des Höhlenmenschen. O-Ton 1: In den Nischen, die er gegraben hat, hat er seine Vorräte aufgehoben für den Winter, denn er war 100 % Vegetarier. Seine Werkzeuge hat er sich zum Teil selbst gemacht, eine Schubkarre oder eine Schleifmaschine mit Fußantrieb, hat im Wald Pilze Kräuter Beeren, und im Feld gesammelt und Pflanzen, hat sie getrocknet und in diesen Nischen aufbewahrt. Autorin: Fast dreissig Jahre lang lebte der Hambacher „Wurzelfresser“ in dieser Höhle. In den Ort kam er nur, um regelmäßig beim Friseur ein Bad zu nehmen und um Gemüse zu kaufen. Die Kinder liefen ihm nach und hänselten ihn, wenn sie ihn sahen. O-Ton 2: Er hat schulterlange Haare gehabt, einen wilden Bart wie der Rübezahl, Hosen bis hin zu den Knien, keine Strümpfe, Sommer wie Winter niemals welche angehabt und die Schuhe waren selbstgemacht aus Fahrradmantel; mit einem alten Rucksack auf dem Rücken, und dann ging er zum Einkaufen. Die Kinder sind ihm nachgelaufen und haben ihn ausgespottet, aber den Kindern kann man keine Schuld geben, die haben das von den Älteren so gelernt, die haben z.T. gesagt bekommen, wenn Du nicht artig bist, dann holt Dich der Wurzelfresser und steckt Dich in seinen Rucksack. 2 Autorin: Ellerbrock, der Aussteiger und Außenseiter, war eine Attraktion, weit über die Grenzen Südhessens hinaus. In den Zeitungen und in der Wochenschau wurde über ihn berichtet, Besucher kamen aus allen Teilen Deutschlands und sogar aus Holland, um den eigenbrötlerischen Eremiten zu bestaunen.Hans Rhein hat sie zu seiner Höhle geführt. O-Ton 3: Und wenn wir ans Tor kamen, hat er gerufen, wer ist denn da? Und da hab ich mich gemeldet, und da hat er uns reingelassen und die Leute wollten ja die Höhle besichtigen. Die war schon sehenswert. ...Und zu den Besuchern hat er zu einem Mann gesagt, der hat gefragt, was bezahlen wir denn an Eintritt, und da hat er den Mann angeguckt und hat gesagt, geben Sie mir das, was drei Zigarren kosten, die Sie gerade rauchen. Also, er hat die Menschen eingeschätzt, wie gut sie betucht sind. Autorin: Adolf Ellerbrock war nicht der einzige, der in dieser Zeit nach Heppenheim kam, um seinen Traum von einem Leben im Einklang mit der Natur zu verwirklichen, der grauer Städte Mauern hinter sich ließ, um zurückzukehren zu ländlicher Einfachheit und Ursprünglichkeit. Als Antwort auf die Industrialisierung entstand an der Schwelle zum 20. Jahundert die Lebensreformbewegung, die sich gegen die negativen Erscheinungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts richtete. Als Teil dieser Bewegung war 1910 die reformpädagische Odenwaldschule entstanden. Adolf Ellerbrock gründete 1936, inzwischen 58 Jahre alt, eine neue Familie. Tochter Ute musste täglich einen weiteren Weg durch den Wald gehen, von der Höhle bis zur Odenwaldschule in Ober-Hambach. Ein Reporter nannte sie damals „Das Rotkäppchen vom Odenwald.“ O-Ton 4: In ihrer Freizeit, sie ging ja in Hambach in die Schule, hat sie bei den Bauern geholfen, sie war sehr fleißig, bekam dafür Kartoffeln oder Getreide, Fleischprodukte hat sie nie angenommen, durfte sie nicht essen, und hat somit geholfen, die Familie zu ernähren, denn von irgendetwas mussten sie ja leben. Autorin: Die Tochter des Höhlenmenschen durfte nicht am Religionsunterricht teilnehmen, und nicht an der Schulspeisung, die nach dem Krieg eingeführt wurde, denn da gab es Milchprodukte. Und die hatte Ellerbrock vom Speiselplan gestrichen. Musik/Nocturne/Chopin opus 9 ... 3 Ein naturnahe vegetarische Ernährung spielte in der Lebensreformbewegung eine grosse Rolle. Im heute eher mondän anmutenden Kurort Ascona im Tessin wurde die Vegetarierkolonie Monte Veritá gegründet - in der Nähe von Berlin die ObstbauKolonie Eden. Dort lebte Anfang der 20er Jahre ein Wegbereiter des biologischdynamischen Landbaus: Ewald Krönemann. Er war Mitgründer der Arbeitsgemeinschaft natürlicher Landbau und Siedlung, in der sich 1927 land- und gartenbaulich Interessierte aus dem Umfeld der Lebensreformbewegung zusammenschlossen. In einer stillgelegten Mühle im Hambacher Tal bei Heppenheim, in der Obstbausiedlung Benninghoven, richtete diese Arbeitsgemeinschaft 1929 einen Lehrhof ein. Teilnehmer berichteten, dass sie schon bei Sonnenaufgang zur Erdbeerernte aus den Betten geholt wurden. Die Erdbeeren wurden mit dem Frühschnellzug an ein Reformhaus in Frankfurt verschickt. 1943, mitten im Krieg, verkaufte Benninghoven das Obstgut aus Altersgründen an den Heppenheimer Maler Hans Kohl. Als dieser 1945 aus russischer Kriegsgefangenschaft kam, brachte er als Startkapital eine Handvoll Wildaprikosenkerne mit. Seine Tochter Ursula Busch erinnert sich: O-Ton 5: Die hat er mitgebracht, da war ein ganzer Acker mit Aprikosen, ...das waren spezielle kleine Aprikosen, die aber ein unwahrscheinlich gutes Aroma hatten. Autorin: Bis heute verwandeln jedes Jahr im Frühling 150 ukrainische Wildaprikosenbäume und edle Birnen-Apfel-Buschbäume das Hambacher Tal in ein weißes Blütenmeer. Atmo Der malerische Ortsteil Hambach, das milde Klima, das wirkte wohl wie ein Magnet. Es waren insgesamt neun Familien, die sich Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre in dieser Gegend ansiedelten, um ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen. Einer von ihnen war Otto Paucke, der 1930 von Stendhal an die Bergstraße gezogen war. Er wohnte in der Nähe der Familie Unger und vermachte Rudi Unger später das idyllisch gelegene Grundstück, auf das er sein Haus gebaut hatte. In seinem Nachlass hat Rudi Unger ein Tagebuch gefunden. Die Einträge in Sütterlin im Jahr 1918 zeigen, dass Paucke schon als junger Mann auf der Suche war nach der idealen Lebensform. Sein Nachlassverwalter Rudi Unger: 4 O-Ton 6: Was mir besonders aufgefallen ist, und sofort bewusst wurde, dass er als erstes nicht nach der Uhr lebte. Er hat mir gesagt, er steigt morgens auf, wenn es hell wird, wenn er ausgeschlafen hat und geht ins Bett, wenn er müd ist. Und er hat auch grundsätzlich mit mir nie morgens Termine gemacht. Weil er ganz einfach gesagt hat, das ist schon Stress im Leben. Morgens möchte er nicht einen Termin haben, da möchte er nicht nach der Uhr leben. Autorin: Otto Paucke betreibt biologisch-dynamische Landwirtschaft, sät, pflanzt, erntet nach dem Mondkalender. Er lebt bescheiden. Kein Strom, kein fließend Wasser, keine Toilette im Haus. Helmut Jacobi kommt jeden Morgen auf dem Schulweg am Anwesen von Otto Paucke vorbei. Und jeden Morgen versucht er neugierig, einen Blick zu erhaschen, auf den Mann, der sich draußen wäscht. O-Ton 7: Der Herr Paucke, kann ich mich gut entsinnen, der hat seine Morgentoilette an einem kleinen Bach erledigt, er hat das Wasser irgendwo abgeleitet, dann kam es aus dem Rohr, da hat er sich das Wasser immer an den Körper gesprüht und mit den Händen auch das Gesicht gereinigt, das war eben Natur. Man hat die Eltern sich nie waschen sehen.Das war hier die einzige Ausnahme, wo man mal eine Oberkörperwäsche erlebte. Autorin: Otto Paucke, ein Sonnenanbeter, der nach dem Rhythmus des Mondes lebte und der Freikörperkultur frönte. Neben Ratgebern zur Haushaltsführung und Schriften über Wege zu neuer geistiger Lebensgestaltung finden sich in seinem Nachlass auch unzählige Hochglanzhefte und Postkarten mit Aktfotografien in freier Natur. Die Wiederentdeckung des Körpers nach jahrhundertelanger Missachtung alles Leiblichen war eines der Hauptthemen der Lebensreform. Schlanke, hoch gewachsene, athletische, tänzerisch-biegsame, braungebrannte Menschen. Auch in der Bildenden Kunst Ausdruck der Sehnsucht nach dem Paradies. Verbindungen zur Lebensreform gab es um die Jahrhundertwende auch zur Darmstädter Mathildenhöhe. Die Museums-Kustodin Dr. Renate Ulmer. O-Ton 8: Um 1901 gab es an verschiedenen Gebäuden auf der Mathildenhöhe Darstellungen, wo solche Paradiesvorstellungen bildlich dargestellt waren, ich erinnere etwa an das Haus des Künstlers Hans Christiansen, die sog. Villa in Rosen, dort gab es einen Erker, der geschmückt war mit einem Glasmosaik mit der Darstellung von Mann und Frau – sozusagen eine profanisierte Darstellung von Adam und Eva - und auch hier spürt man natürlich den Geist der Zeit, also Befreiung des Körpers, ein Aufbruch in 5 die Moderne und ein Heraus aus den Zwängen, den Konventionen des wilhelminischen Zeitalters. Musik/Chopin Walzer Zitatorin: Hansen war strenger Vegetarier. Die Familie lebte von Rohkost. Nur Tee wurde in Strömen getrunken. Der Samowar glimmte den ganzen Tag. Und Hansen rauchte ununterbrochen Zigaretten. Autorin: So beschreibt Paula Buber, die Frau des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, der 1916 mit seiner Familie von Berlin nach Heppenheim gezogen war, in ihrem Roman „Muckensturm“ den sogenannten „Naturmenschen“ Klaus Hansen. Zitatorin: Er hatte zuoberst auf dem Pfingstberg eine kleine Siedlung gegründet,die der Bürgermeister weitherzig in ihrem Entstehen und in ihrer Ent- wicklung nicht gestört hatte, obwohl rein äußerlich manches den bau-polizeilichen Vorschriften und manchen muckensturmerischen Gepflogeheiten zuwiderlief. Die übrige Stadtverwaltung und besonders die Kernbürger sahen diesen Zuwachs nicht eben gern. Man verschwieg die Siedlung, wusste nichts mit ihr anzufangen. ... Vegetarier, Rohköstler, Sektierer, Heilkundige, hatten sie von auswärts stets einen gewissen Zuzug von Menschen, der sich leiblich oder geistig bei ihnen aufrichtete, in den Wäldern schweifte, kam und wieder verschwand. Muckensturm verdaute diese Kolonie schlecht. Autorin: Ob „Muckensturm. Ein Jahr im Leben einer kleinen Stadt“ ein Schlüsselroman über das Heppenheim Anfang der 30er Jahre ist, ist umstritten. Keinen Zweifel gibt es aber daran, dass das Vorbild für die Figur des Klaus Hansen der Aussteiger Hans Klassen ist, der 1928 wegen des milden Klimas mit seiner Familie an die Bergstraße gekommen war. Nach einem Kongress zum Thema „Religiöser Sozialismus“, an dem auch Martin Buber teilgenommen hatte. Hans Klassen hatte 1923 in Thüringen bei Coburg die Kommune Sonnefeld und später den „Verlag Neu-Sonnefelder Jugend“ gegründet. Die Klassens hatten engen Kontakt zum Hause Buber. Der Heppenheimer Stadtarchivar Harald Jost. O-Ton 10: Es gab dann, weil die Buberschen Enkelinnen und die Kinder der Familie Klassen ungefähr im gleichen Alter waren, durchaus Berührungspunkte, was darauf hindeutet, dass man nicht so furchtbar weit auseinander war weltanschaulich, denn die einschlägigen Berührungspunkte hat es zwischen der Fam. Buber und den Heppenheimer Nachbarn sonst weniger gegeben. 6 Autorin: Wie die anderen Aussteiger, waren auch die Klassens Außenseiter, von den Heppenheimer Bürgern mit einer Mischung aus Neugier und Argwohn beobachtet. Doch die Lebensreformer, die sich damals an der Bergstraße angesiedelt hatten, wollten sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Und sie wollten auch niemanden zu ihrer Lebensform bekehren. Harald Jost. O-Ton 11: Natur, frische Luft, Begegnung mit Gleichgesinnten, das war hier alles möglich, man hat ja versucht, so auf seiner eigenen kleinen Scholle sein alternatives Leben zu führen, und wenn das anderen merkwürdig vorkommt oder irgendwelche Fragen hervorruft, dann ist das deren Problem und nichts, worum man sich selbst kümmern muss. Autorin: Die Aussteiger von Heppenheim wollten nur ihren Traum verwirklichen von einem selbstbestimmten Leben im Einklang mit der Natur. Sie haben kaum Spuren hinterlassen. Der einzige, der auch über die Grenzen der Kleinstadt hinaus bekannt war, Adolf Friedrich Ellerbrock, starb am 8. Mai 1959. Es gibt keinen Grabstein, der an ihn erinnert. Das Grundstück, auf dem er mit seiner Familie gelebt hat, ist verwildert, die Höhle zugeschüttet. Der „Höhlenmensch von Hambach“ lebt nur noch in der Erinnerung einiger weniger Menschen, die ihn persönlich gekannt haben. 7