FEIERTAGS-FORUM ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Ostermontag, 17. April 2017, 06.05 Uhr und 17.05 Uhr Der Seele einen Jingle geben Mystik im Alltag Von Brigitte Lehnhoff Redaktion: Florian Breitmeier Norddeutscher Rundfunk Religion und Gesellschaft Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22 30169 Hannover Tel.: 0511/988-2395 www.ndr.de/info - Unkorrigiertes Manuskript Zur Verfügung gestellt vom NDR Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf nur für private Zwecke des Empfängers benutzt werden. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors zulässig. Die Verwendung für Rundfunkzwecke bedarf der Genehmigung des NDR. Musik (aus: Arvo Pärt - Spiegel im Spiegel) Zitatorin: „Es gibt eine Unmittelbarkeit der Erfahrung, in der ein Mensch sagen kann „Gott kam zu mir“ oder „Ich sah das Licht am Ende des Tunnels“. Ich möchte solche Erfahrung nicht von dem abgrenzen, was in der Arroganz der Wissenschaftssprache manchmal „fromme Ergriffenheit“ genannt wird. Mystiker sind gewöhnliche Menschen, Schuhmacher, Kindermädchen, Wollfärber, Hausfrauen oder Physiker, und Gott selber ist verfügbar für jeden.“ O-Ton (Sabine Bobert): Mystik ist Selbstermächtigung des Menschen, dass er das, was ihm Gott geschenkt hat, sich wirklich aneignet. Es nutzt zur Lebensgestaltung hier und jetzt. Also der Mystiker erzeugt nichts, sondern der Schatz, der jedem Menschen geschenkt ist, er packt ihn aus und münzt ihn um für seinen Alltag. Titelansage: Der Seele einen Jingle geben. Mystik im Alltag. Eine Sendung von Brigitte Lehnhoff. Zitatorin: „Vielleicht steckt in dieser Selbstbescheidung eine der innersten Schwierigkeiten des modernen Protestantismus. Die Abwehr der Erfahrung, die Angst, sich ihr auszusetzen, stellt eine Art von „geistigem Selbstmord“ dar, der am Ende dieses Jahrhunderts in das reale Absterben der Glieder mündet.“ O-Ton (Sabine Bobert): Ja, ich stimme Dorothee Sölle zu. Sie bringt es auf den Punkt. Die gegenwärtigen Menschen quittieren das ja auch der Kirche so. Das gab eine soziologische Studie im Jahr 2004, ihr zufolge haben über 40 Prozent der Deutschen gesagt: Ich bin spirituell, aber nicht religiös. Ich lebe meine Gottsuche nicht im Rahmen der Kirchen. Und diese Menschen wollen nicht nur etwas behauptet haben, sie wollen selber nachdenken, sie wollen erleben, sie wollen üben. Was sie brauchen, sind aber spirituelle Lehrer, die sie auf dem praktischen Weg der Gotteserfahrung begleiten. Und wenn der Protestantismus das nicht macht, dann begeht er Selbstmord und schon sogar ein katholischer Theologe, Karl Rahner, sagte so um 1960: Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein. Einer, der etwas erfahren hat. Oder er wird nicht mehr sein. Autorin: Sabine Bobert, evangelische Theologin, lehrt an der Universität Kiel. Sie versteht Mystik auch als die erlernbare Kunst, hochgradig verfeinert wahrzunehmen, als Weg zu mentaler Klarheit. Geeignet nicht nur für religiöse Spezialisten, sondern auch für Menschen, die Führungskompetenz entwickeln oder einem Burnout vorbeugen wollen. Ihr Konzept praktiziert sie auch in Seminaren außerhalb der Uni. O-Ton (Teilnehmerin): Ich hab starke Rückenprobleme, habe alles ausprobiert und wollte nochmal einen neuen Weg gehen, um zur Heilung zu kommen. Zweite Motivation war, wir haben eine schwerstdepressive Tochter und sind auch da alle möglichen Wege gegangen, ich wollte einfach nochmal gucken, ob es noch einen anderen Zugang gibt, um auch vielleicht ihr helfen zu können. O-Ton (Teilnehmerin): Ich hab mich immer schon mit mystischen Themen, mystischen Texten beschäftigt, und da eine Begleitung zu finden, das herunter zu brechen auf eine sehr einfache Ebene, die im Alltag umzusetzen ist. O-Ton (Teilnehmer): Dass ich mich mit Mystik beschäftigt habe, mit 18 fing das an und das waren damals diese pubertären Schwierigkeiten, auch mit Drogen waren große Probleme, die mich dann aber davon abgehalten haben, weiter auf dem Weg zu gehen. Und jetzt eben diese Schwierigkeiten mit unserer Familie. O-Ton (Teilnehmerin): Diese Verbindung von Spiritualität so aus der christlichen Tradition und gleichzeitig inneren Übungen, die einfach auch heilsam sind für die Seele, das spricht mich sehr an. Autorin: Heil werden an Körper, Geist und Seele. Anders mit Schmerzen umgehen können, weniger Ängste haben, weniger Depressionen. Das sind Motive, die in einer gestressten Gesellschaft immer mehr Menschen umtreiben. Sie bescheren nicht nur der Kieler Theologin Zulauf, sondern auch Anbietern von Achtsamkeitskursen. Das Versprechen ist das Gleiche: Krank machende Teufelskreise im Alltag lassen sich durchbrechen, mit Hilfe von Meditation, einer Technik, die Mystiker aller Religionen seit jeher anwenden. O-Ton (Sabine Bobert): Eine der spannendsten Entdeckungen durch die Meditationsforschung seit den 1990er Jahren ist das Stichwort Neuroplastizität. Neuroplastizität besagt, unser Gehirn ist nicht ein für alle Mal fest verdrahtet, etwa seit der Kindheit, sondern es reagiert schon innerhalb von einer Woche auf starke Reize, es beginnt sich innerhalb von einer Woche intensiv umzustrukturieren. Und die Meditationsforschung hat rausgefunden, dass vor allem die Arbeit mit gedanklicher Konzentration und mit inneren Bildern ganz stark dazu beiträgt, dass wir selber unser Gehirn zu dem Werkzeug machen können, was wir brauchen. Zu unserem Diener, zu einem treuen Freund, der uns unterstützt. Autorin: Aufbauend auf diesen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen beginnt Sabine Bobert ihre Seminare mit drei Grundübungen. O-Ton (Sabine Bobert): Wir denken, wir fühlen, wir wollen etwas. Denken, fühlen, wollen. Die Willensübung. Der Auftrag ist ganz einfach: Versuch Dir jede volle Stunde, die du wach bist, zum Beispiel ganz kurz ans Ohr zu fassen. Achte einfach drauf: Wer lenkt Dich von diesem kleinen Vorsatz ab. Und dann bekommen wir ganz schnell eine Liste, wo wir so von Pflichten zu sind, dass wir die Übung vergessen haben. Autorin: Wer oder was steuert mich und mein Verhalten? Das zu erkennen sei Voraussetzung dafür, den Willen zu entwickeln, der notwendig sei für jede Veränderung. O-Ton (Sabine Bobert): Die zweite Übung: Rette dich vor stressenden Gefühlen. Also Schmerz, Angst, Zorn. Das sind Signalgefühle, sie sind wichtig, dass Du was veränderst. Aber sie sind nicht dafür da, dass du den Tag oder den Rest Deines Lebens in ihnen verbringst. Sobald sie überhand nehmen, mach eine Übung für die Gefühle. Mein Vorschlag: Erschaff Dir eine innere Szene, in der du völlig loslassen kannst. Autorin: Es geht also darum, ein Grundgefühl von Ruhe, Geborgenheit, Wärme oder Gelassenheit zu erzeugen. Etwa durch das Erinnern an einen geliebten Menschen, an einen besonderen Ort oder eine Erfahrung in der Natur. O-Ton (Sabine Bobert): Dein Gehirn wird drauf reagieren, als seist Du dort und wird Deinem Körper die passenden Botenstoffe senden. Du kannst deine Gefühle sich erholen lassen, indem du dich ganz oft an Dein inneres Paradies begibst. Autorin: Die dritte Übung schließlich ist aus Sicht der evangelischen Theologin die eigentliche Kernübung. O-Ton (Sabine Bobert): Die großen mystischen Bewegungen arbeiten mit Mantren. Ein Mantra ist ein Konzentrationswort. Also wir haben Mantren in der Politik, zum Beispiel „Die Rente ist sicher“ oder „Wir schaffen das“, das sind Sätze, die einfach immer so oft wiederholt werden wie n Werbeslogan. Und was oft genug wiederholt wird, scheint wahr zu sein. Und die Werbung sagt eben auch: Weiß, weißer geht’s nicht oder Nichts ist unmöglich und das sind Jingle. Und Jingle gehen ungeprüft auf ihren Wahrheitsgehalt in die Tiefen unserer Seele. Und sie steuern uns. Das wichtigste ist: Such Dir selber Deinen Jingle. Lass nicht andere Dich steuern. Autorin: Das bekannteste christliche Mantra ist das sogenannte Herzens- oder Jesusgebet: Zitator: Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme Dich meiner. Autorin: Es gibt aber auch offenere Varianten für nicht religiöse Menschen. Etwa die beiden folgenden: Zitator: In Liebe geborgen. - Alles ist eins. Autorin: Die Wirkung der regelmäßigen Wiederholung ist vielfach beschrieben: Innerlich oder halblaut gesprochen im Rhythmus des ein- und ausströmenden Atems, konzentriert das Mantra die Aufmerksamkeit. Quälende Gedankenschleifen lassen sich so unterbrechen. O-Ton (Teilnehmerin): Also ich hab unterschiedliche Erfahrungen. Das eine ist, wenn ich nachts aufwache und vielleicht Ängste hochkommen oder Sorgen, hab ich das Gefühl, dass das Herzensgebet mir viel innere Ruhe gibt und ich mich entspannen kann und ein Gegenüber hab und mich irgendwo in Christus geborgen weiß oder aufgehoben weiß und das gibt mir Halt. Und das andere ist mit der Willensübung zum Beispiel, dass ich jetzt auch eine konkrete Entscheidung getroffen hab, ein Arbeitssystem zu verlassen, was mir schon lange schadet und es jetzt aber auch umzusetzen. Tatsächlich zu sagen, ich geh da weg, es tut mir nicht gut, es macht mich krank. Also auch ein Stück weit innerer Autonomie und, ja, Selbstfürsorge gefördert hat. Musik (aus: Udo Lindenberg - Durch die schwere Zeit): Es geht nicht immer geradeaus Manchmal geht es auch nach unten Und das wonach du suchst Hast du noch immer nicht gefunden Die Jahre ziehen im Flug an dir vorbei Die Last auf deinen Schultern, schwer wie BleiAutorin: Was Altrocker Udo Lindenberg da besingt, trifft ein verbreitete Grundgefühl vieler Menschen, dass im eigenen Leben etwas ganz Entscheidendes fehlt. So deutet jedenfalls Klaus Kairies den Text. Der emeritierte Professor für Betriebswirtschaft ist Dozent an der Hochschule Hannover. In einem Seminar über Nachhaltigkeit in der Wirtschaft vertritt er vor 15 Studenten die These, dass der Weg zu einem erfüllteren Leben derselbe ist wie der zu mehr Nachhaltigkeit. Er führt nach innen. O-Ton (Klaus Kairies): Und dazu bitte ich Sie, den Ellenbogen auf den Tisch zu stellen und die rechte Hand mal hoch zu halten. Dann schließen Sie bitte ihre Augen, so und jetzt geht es darum festzustellen, ob die rechte Hand noch da ist. Autorin: Gespannte Stille. Die Studenten konzentrieren sich mit geschlossenen Augen auf das Experiment. Dann die Erfahrungen: O-Ton (Student): Man hatte, wenn man sich auf die Hand konzentriert hat, ne Art Kribbeln in der Hand, man hat es wirklich gespürt so n bisschen. Und sobald man angefangen hat zu denken, war dieses Kribbeln weg. O-Ton (Studentin): Ja, das ist auch meine Quintessenz, dass man halt entweder nur fühlen oder denken kann. Und was ich auch noch ganz erstaunlich fand, dass dieses Kribbeln für mich im ersten Moment noch nicht ausgereicht hat. Also ich musste mich da nochmal vergewissern, dass meine Hand auch noch wirklich da ist. O-Ton (Student): Wenn ich jetzt die Augen zumache und jetzt nichts fühle, dann spielt ja sozusagen das Gehirn einen Streich und man denkt, man hätte gar keine Hand, aber dadurch, dass man wirklich sich auf sie konzentriert hat, hat man sie auch gespürt. O-Ton (Klaus Kairies): Ja, der tiefe Sinn besteht darin, einfach ein Gefühl dafür zu bekommen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass man die Situation wirklich so wahrnimmt, wie sie ist. Wenn man einen Raum betritt beispielsweise oder in eine Situation kommt, sofort ist der Denkapparat eingeschaltet, Gefühle schalten sich ein und damit ist man im Grunde genommen von der Wahrnehmung der tatsächlichen Situation getrennt. Und dann ist es schwierig, angemessen zu handeln. Autorin: Den Denkapparat abschalten, alle Wahrnehmungsfilter zur Seite schieben, vorurteilslos im Hier und Jetzt sein, wahrnehmen ohne zu benennen und zu bewerten: Das lässt sich erreichen durch Meditation. Die meisten haben diese Technik noch nicht selbst erprobt, lassen sich im Seminar aber darauf ein und mancher ist am Ende überrascht. O-Ton (Student): Danach konnte ich mich viel besser konzentrieren, also ich hatte vorher auch das Problem, dass ich total übermüdet war, danach hat die Konzentration bei mir zugenommen, ich war auch viel offener für alles, auch bisschen besser gelaunt und nicht abgelenkt wirklich und ich denke auch auf jeden Fall, ich werd’s fürs eigene Leben anwenden, so. Autorin: Klaus Kairies will seinen Studenten zumindest eine Ahnung davon geben, dass sich über Meditation ein Bewusstseinszustand erreichen lässt, der Freude und kreative Intelligenz freisetzen kann. Er schildert das eindrücklich am Beispiel des Komponisten Johannes Brahms. Der hat beschrieben, dass seine schöpferischen Kräfte sich in einem Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen entwickelten. Inspiriert durch eine lebendige Kraft und Quelle, die mit bewusstem Denken nicht erfahrbar sei. Kairies nennt diese Quelle, betont religionsneutral, „tiefere Dimension“. Und er erzählt seinen Studenten, dass viele Top-Manager versuchen, sich mit dieser Quelle zu verbinden, etwa um kreativer zu sein oder ihr Personal besser zu führen. Aus einem Wirtschafts-Magazin zitiert er: O-Ton (Klaus Kairies): Alle Weltreligionen wissen um die Kraft der inneren Versenkung. Die hierzulande bekanntesten Traditionen: die Mystik des Christentums und die ZEN-Praxis des Buddhismus. Wer die Aufmerksamkeit ganz nach innen richtet, so die religiöse Dimension der Meditation, nimmt Kontakt zu dem göttlichen Kern in sich auf, - das ist die tiefere Dimension, anderes Wort – und empfindet eine neue Art von Verbundenheit zu allem Lebendigen, auch zu den Mitmenschen. Autorin: These des Ökonomen: Gelingt es, tatsächlich zu fühlen, dass man mit allem Lebendigen verbunden ist, wird man außerstande sein, weiter auf zerstörerische Art zu wirtschaften. Mit Mystik zu mehr Nachhaltigkeit. O-Ton (Klaus Kairies): Es gibt ja verschiedene Worte für diese tiefere Dimension im Menschen. Bei uns im Kulturkreis sagt man häufig Mitte oder man sagt Spiritualität oder man sagt das absolute Bewusstsein und im christlichen Bereich sagt man Mystik dazu. In meiner Lehrveranstaltung habe ich sie jetzt praktisch als Synonym benutzt. O-Ton (Peter Zimmerling): Ich persönlich glaube, Mystik ist eine zum Menschsein gehörende Anlage, eine religiöse Empfindlichkeit, könnte man vielleicht auch sagen. Autorin: Peter Zimmerling lehrt praktische Theologie an der Universität Leipzig. Er bezweifelt nicht, dass das, was sein Professorenkollege in Hannover den Studenten vermittelt, etwas mit Mystik zu tun hat. Und doch wendet er ein: O-Ton (Peter Zimmerling): Ich befürchte, dass eine zu starke Verzweckung von Spiritualität, von Mystik auch und entsprechenden mystischen, spirituellen Erfahrungen unter der Hand diese Erfahrungen ihres eigentlichen göttlichen Charakters entkleidet. Weil dann wieder doch die menschliche Machbarkeit sie bestimmt. Autorin: Im Christentum wird der mystische Erfahrungsweg häufig mit drei Stufen beschrieben. Am Anfang steht demnach die Reinigung oder Läuterung des Ichs, ein Prozess der Selbstklärung. Auf der nächsten Stufe, der Erleuchtung, wird der Suchende offen für eine neue Realität. Das Ziel ist die sogenannte Vereinigung, die eigentliche Gottesbegegnung. O-Ton (Peter Zimmerling): Dass es zu einer echten Gottesbegegnung kommt, also der berühmten unio mystica, der Vereinigung mit Gott oder wie immer man das nennen will, diese Schau des göttlichen Lichtes, wie die orthodoxe Tradition es nennt, oder wie Ignatius von Loyola sagt in seinen geistlichen Übungen, dass sozusagen der Schöpfer selbst sich der Seele mitteilt, dass das passiert, ist immer Geschenk. Nach der einhelligen Überzeugung aller Mystiker der Tradition und Mystikerinnen. Autorin: Zimmerling, der sich intensiv mit evangelischer Mystik auseinandergesetzt hat, versteht diese als eine intensive Form der Spiritualität. O-Ton (Peter Zimmerling): Spiritualität ist, in Anlehnung an die erste Denkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland von 1979, Rechtfertigungsglaube, religiöse Übung, spirituelle Übung und nach dem Evangelium ausgerichtetes Handeln im Alltag. Musik (aus: Duo spiritu - Una furiva Lagrima (G. Donizetti)) Autorin: Die Cella St. Benedikt in Hannover am ersten Sonntag in der Fastenzeit. Die Brüder im Stadtkloster haben zum Ite-missa-est-Gottesdienst eingeladen, was übersetzt so viel heißt wie „Entsendung in die neue Woche“. Zu diesem Gottesdienst gehört auch eine besondere musikalische Gestaltung. Musik (aus: Duo spiritu - Una furiva Lagrima (G. Donizetti)) Zitator: Wir möchten die alte mönchische Tradition den Menschen in unserer Stadt aufschließen, dass jeder unserer Gäste zu seiner ganz eigenen Mitte findet, zu dem, was ihn mit dem Geheimnis unseres Lebens in Berührung bringt. Autorin: So heißt es auf einer Informationskarte für Besucher. Es geht also offenbar um einen mystischen Erfahrungsweg. Die Mönche wollen es interessanterweise aber nicht so nennen. Der Begriff Mystik, das ist herauszuhören, ist ihnen im Alltagsgebrauch zu unklar, zu belastet mit abwertenden Deutungen wie Frömmelei. O-Ton (Bruder Karl-Leo Heller): Also ich würde über Gottesbeziehung reden. Ich würde über das sprechen, was mich mit Gott in Beziehung bringt und wie ich das erleben kann. O-Ton (Pater Johannes Sauerwald): Und das ist einmal das Gebet, das ist die Arbeit, bete und arbeite, und bei Benedikt eben auch noch lese! Das heißt also: Sinne nach, meditiere oder halte stille. Autorin: Bruder Karl-Leo Heller und Pater Johannes Sauerwald betonen, dass der Weg zu einer Gottesbeziehung nichts vom Alltag Losgelöstes sei, sondern mitten darin verankert. Die Kunst bestehe darin, gegenwärtig zu sein im Augenblick. O-Ton (Pater Johannes Sauerwald): Indem wir ernst nehmen, was Benedikt in der Regel in seinem ersten Wort geschrieben hat: Höre! Das aufeinander hören, füreinander offen sein, aufnahmefähig, Zeit haben auch, nach dem zu fragen, wie es dem anderen geht und natürlich das in der Beziehung zu Gott auch zu tun. Auch auf ihn zu hören, danach zu fragen, was will er von uns in unserer Gemeinschaft, was will er von mir, worin liegt sein Auftrag für uns in dieser Zeit. O-Ton (Bruder Karl-Leo Heller): Wenn man so im Alltag lebt, filtert man 95 Prozent dessen, was ans Ohr kommt, eigentlich aus und nimmt es nicht wirklich wahr. Und mich in eine Haltung zu bringen, dass ich deutlich mehr wahrnehme, ganz besonders immer dann, wenn ich wirklich in der persönlichen Begegnung mit Menschen bin, aber natürlich auch, wenn ich in der Begegnung mit Gott bin. Autorin: Die Benediktinermönche lassen keinen Zweifel daran, dass dieser Weg mühsam ist, mit Enttäuschungen verbunden, mit Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Bruder Karl-Leo Heller beschreibt für sich als entscheidend, eine Balance zu finden zwischen den dunklen und den hellen Momenten. Sich einzupendeln wie in der Beziehung zu einem guten Freund, mit dem man durch gute und schlechte Zeiten geht. O-Ton (Bruder Karl-Leo Heller): Und diese Balance bedeutet dann in mir Gelassenheit und Vertrauen. Das entsteht in mir dabei. Und ich glaube, je länger ich lebe, gibt es einfach eine Zuversicht in die Nähe und Güte und Liebe Gottes. Das ist, würde ich jetzt für mich sagen, das Stärkste, was passiert. Musik (aus: Duo spiritu - Una furiva Lagrima (G. Donizetti)) Autorin: Gibt es mystisches Erleben außerhalb von Religionen? Was genau kennzeichnet einen mystischen Erfahrungsweg? Darüber gibt es keine einheitliche Meinung, weder innerhalb der Religionen noch zwischen oder außerhalb von ihnen. Mystik als ein existenziell-erfahrungsbezogener Weg ist aber seit einigen Jahrzehnten wieder ein Thema. Und zwar nicht nur in der Theologie, sondern auch in der Literatur, der Philosophie oder der Psychologie. Peter Zimmerling, evangelischer Theologe an der Universität Leipzig, begründet das unter anderem damit, dass moderne Risikogesellschaften nach Orientierung suchen. Traditionelle Gestaltungskräfte wie etwa die Kirchen hätten ihre Deutungshoheit und Überzeugungskraft verloren oder zumindest eingebüßt. O-Ton (Peter Zimmerling): Wenn es denn stimmt, das jeder Mensch Geschöpf Gottes ist, dann muss in ihm irgendwie eine Sehnsucht sein, wie Augustinus das ausgedrückt hat in seinen Confessiones, seiner Autobiografie: Unser Herz ist unruhig bis es Ruhe findet Gott in Dir. Also es gibt irgendwie eine Sehnen, Dorothee Sölle hat es sehr schön auf ihre Weise ausgedrückt „Es muss doch mehr als Alles geben“. Autorin: Es geht also um die Suche nach Sinn, nach etwas, das über den Einzelnen hinausweist. Um den einen großen Zusammenhang und wie dieser persönlich erfahrbar ist. O-Ton (Sabine Bobert): Vor allem die evangelische Kirche ist durch Rationalismus und Aufklärung gegangen und hat vieles an alter Überlieferung rausgeschmissen. Und wir haben jetzt durch den globalen Austausch die tolle Situation, dass asiatische Meister und tibetische Mönche, Yogis, ihre Überlieferungen wieder zu uns bringen und das zwingt uns dazu, die Tradition wieder auszugraben. Autorin: So haben die Kirchen ihre Klöster wiederentdeckt, jene Orte, an denen die Suche nach Gottesbegegnung von je her ihren Platz hat. Auf Zeit erproben Menschen dort, was es heißen kann, Glauben nicht nur zu denken, sondern auch zu erfahren. Ungebrochener Beliebtheit erfreut sich weiterhin das Pilgern, eine uralte Form ganzheitlicher Erfahrung. Auch Exerzitientage sind wieder gefragt. Mancherorts wird die Kirchenmusik wieder gestärkt. Denn bis heute lassen sich Menschen davon berühren, wie Dichter und Komponisten ihre Gottesbeziehung in Wort und Ton zum Ausdruck bringen. Aber: O-Ton (Sabine Bobert): Mystik ist basisdemokratisch. Sie mag Hierarchien nicht und das waren schon die Dauerkonflikte. Also erstmal schon für die katholische Kirche so im 16., 17. Jahrhundert, sie war ganz ehrlich, als sie mystische Basisbewegungen verfolgte. Sie hat nämlich nicht gesagt, ihr lehrt falsch, sondern sie warf den mystischen Lehrern vor, Verachtung der kirchlichen Hierarchie und ihrer Sakramente. Also: Mystik ist politisch, sie ist kirchenpolitisch. Diese Leute werden freie Geister. Sie lassen sich wenig einschüchtern. Autorin: Doch vor solchen freien Geistern müssen sich die bis heute hierarchisch geprägten Kirchen nicht fürchten. Die Abwehr alles Nichtrationalen ist noch immer tief im gesellschaftlichen Denken verwurzelt. Das spiegelt sich in den Erfahrungen katholischer wie evangelischer Seelsorger, die in geistlicher Begleitung ausgebildet sind, die also mystische Erfahrungen zu unterscheiden wissen von rein psychischen oder physischen Reaktionen. Ihnen begegnen Menschen, die von inneren Bildern und Stimmen berichten, von Lichterfahrungen, Dämonenkämpfen oder intensiver unbegründbarer Freude. Das seien mystische Erfahrungen, über die aber jene, die sie erleben, kaum zu sprechen wagten. Weil sie befürchteten, dass niemand ihnen glaube. Zitator: Ein Glaube, der nicht bereit ist, überrascht zu werden, ist auf eine religiöse Weise gottlos geworden. Gott darf anders reden, als es unserer gewohnten Erwartung und den gewohnten Orten und Situationen entspricht. Die Erwartbarkeit ist der Tod des Hörens. Autorin: Schreibt der Geigenbauer und geistliche Schriftsteller Martin Schleske. Und die evangelische Theologin Dorothee Sölle war überzeugt: Zitatorin: Wir sind nicht nur die, die wir kennen, die wir zu sein glauben. Wir sind alle fähig, anders zu sein, wir können uns selber verlassen, wir sind der Versenkung und der Transzendenz fähig. Musik (aus: Arvo Pärt, Spiegel im Spiegel) *** Literaturhinweise: Dorothee Sölle, Mystik und Widerstand – Du stilles Geschrei, Kreuz Verlag, 2014, S. 36 und S. 41 Martin Schleske, Herztöne – Lauschen auf den Klang des Lebens, Adeo Verlag, 2016, S. 177