Deutschlandradio Kultur Hinter verschlossenen Türen

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Deutschlandradio Kultur
Forschung und Gesellschaft am 19. Juli 2007
Redaktion Peter Kirsten
Hinter verschlossenen Türen
Wie viel Zwang braucht die Psychiatrie?
Von Wibke Bergemann
O-Ton
Das Bett ist mit Segufix ausgestattet: mit einem Bauchgurt, zwei Armgurten, und hier noch
mal die Befestigung der Fußgurte. Das ist ein Fixiersystem mit dem Fünfpunkte fixiert
werden, d.h. am Bauch, beide Arme und beide Beine. Und so wird der Bauch befestigt. Die
Magnetknöpfe können hier mit Magneten entfernt werden und dann hier entsprechend wie das
in der Größe gebraucht wird wieder befestigt werden. Das sind Armgurte, das ist der Teil der
am Arm befestigt wird, und hier wird das fest gemacht. So.
Wir verwenden das System, weil es vom Material her erträglicher ist für die Patienten, also
besser als Ledergurte.
Atmo: Musik
Sprecher:
Schätzungsweise jeder zehnte Psychiatriepatient in Deutschland erlebt mindestens
einmal eine Fixierung oder Isolierung. Das sind geschätzt 50 bis 70 Tausend
Menschen pro Jahr. Zwangsmaßnahmen betreffen vor allem zwei Gruppen: auf der
einen Seite ältere, verwirrte Menschen, die an Demenz leiden und vor Stürzen
geschützt werden. Auf der anderen Seite schizophren Erkrankte, die in einem Zustand
besonders großer Erregung nicht mehr mit Worten erreichbar sind: Die Psychose
verändert ihre Wahrnehmung. Andere Menschen erscheinen oft feindlich und lösen
mitunter große Angst aus, die in Gewalt umschlagen kann.
2
O-Ton
Das heißt wenn jemand unmittelbar aggressiv tätig ist, dann müssen sie einfach schützend
eingreifen. Was wir auch erleben, nicht so oft, dass jemand unmittelbare Selbstschädigungsund Verletzungsabsichten hat. Das heißt, wenn jemand mit dem Kopf gegen die Wand laufen
will, so was gibt es wirklich, dann müssen sie eingreifen, und verhindern, dass der das wieder
tut. Und wenn Worte in so einer Situation nicht ausreichen, dann brauchen sie eben tätliche
Mittel und/oder Medikamente.
Sprecher:
In Deutschland werden vor allem Fixierungen angewendet: Der Patient wird
überwältigt und auf dem Rücken an einem Bett festgebunden. Ein breiter Gurt führt
über den Bauch, schmalere Manschetten halten die Hand- und Fußgelenke am Bett.
Die Fixierung dauert normalerweise 2 bis 24 Stunden, in Extremfällen auch länger.
Eine wohl sanftere Alternative ist die Isolierung. Die berüchtigte Gummizelle ist
heutzutage ein normales Zimmer, das bis auf eine Matratze völlig leer geräumt ist. Der
Patient kann sich frei bewegen. Doch die Einsamkeit kann beispielsweise
Wahnvorstellungen verstärken. Daher ist höchst umstritten, welche der beiden
Methoden humaner und weniger entwürdigend ist:
O-Ton
Die Engländer halten Fixierung für ganz inhuman, und halten es für besser, einen Menschen
zu mehreren Personen, schwitzend festzuhalten. In Mittel- bis Osteuropa sind Netzbetten sehr
verbreitet, die halten unsere Fixierung und Isolierung für sehr inhuman
In Dänemark ist die Isolierung verboten, weil sie inhuman ist, die Niederländer halten die
Fixierung für sehr bedenklich und isolieren dafür sehr großzügig Das spricht alles dafür,
dass es keine harten Beweise gibt, was besser, humaner oder ethisch vertretbarer ist, sondern
dass das tatsächlich an Behandlungstraditionen hängt.
Sprecher:
In Fachkreisen ist man sich einig, ohne Zwangsmaßnahmen geht es nicht. Denn die
Psychiatrie soll nicht nur heilen. Tilman Steinert, Nervenarzt am Zentrum für
Psychiatrie in Weißenau, verweist darauf, dass die Psychiatrie auch eine
Ordnungsfunktion hat: Sie soll Schlimmstes verhindern, etwa wenn Patienten sich aus
Verzweiflung das Leben nehmen wollen. Und sie soll die Gesellschaft vor möglichen
Übergriffen der Patienten schützen, wenn nötig mit Zwangsunterbringungen.
O-Ton
Wir Psychiater sind immer einem doppelseitigen Vorwurf ausgesetzt, wir sperren völlig
unschuldige Mitbürger völlig ungerechtfertigter Weise ein und gleichzeitig lassen wir
gefährliche Menschen, die man wirklich wegsperren müssten, frei herumlaufen oder lassen
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sie wieder gehen. Wir sehen uns beiden Vorwürfen ausgesetzt.
Auf der anderen Seite habe ich gerade ein Gutachten auf dem Tisch liegen, wo ein leitender
Arzt einer Klinik einen Patienten vorgestellt bekam, gemeinsam mit der Ehefrau, sorgfältig
geprüft hat und verneint hat, dass eine Selbst- oder Fremdgefährdung vorgelegen hat. Der
Patient wollte auch auf keinen Fall aufgenommen werden, der Arzt hat keine
Zwangseinweisung vorgenommen. Noch am selben Tag ist der Patient tätlich gegen seine
Ehefrau geworden, und hat gemeinsam mit seiner Ehefrau später den Arzt angezeigt wegen
unterlassener Hilfeleistung, mit dem Vorwurf er hätte ihn zwangseinweisen müssen.
Autorin:
Für die Betroffenen sind Zwangsmaßnahmen immer ein schlimmes Erlebnis. Die
Soziologin Gudrun K. hat das am eigenen Leib erfahren müssen. Bereits zweimal
wurde sie fixiert, das letzte Mal vor fünf Jahren. Damals litt Gudrun K. schon
monatelang unter Wahnvorstellungen und glitt immer tiefer in ihre eigene Welt aus
Verfolgungsängsten und Größenwahn ab. Ein Kinobesuch war schließlich der
Auslöser. Der gewalttätige Film, den sie sich anschaute, wühlte sie auf und ließ ihren
labilen Zustand kippen. Gudrun K. rastete aus: Auf dem Heimweg schrie sie Passanten
an und beschimpfte ihre Nachbarn. Die riefen schließlich den Sozialpsychiatrischen
Dienst.
O-Ton
Was damals die Situation immer zugespitzt hat, war die Zwangseinweisung, weil das ist ein
unheimlicher Stress, das kann sich jeder Mensch vorstellen, wenn da zwei Menschen vor der
Tür stehen und sagen, wir sind vom Sozialpsychiatrischen Dienst, wir wollen sie in eine
Klinik bringen, da kann man dann nicht mehr sagen ja oder nein. Denn hinter denen steht
schon die Polizei. Das war für mich damals unheimlich provokativ.
Autorin:
Im Krankenhaus wartet sie vergeblich auf ein Gespräch mit einem Arzt. Stattdessen
wird sie von einem Mitpatienten belästigt, der immer wieder in ihr Zimmer kommt. In
ihren Angstzuständen glaubt Gudrun K., der Mann wolle sie vergewaltigen. Als sie
abends aggressiv wird, und einen Pfleger anschreit, stürmt einige Minuten später eine
Gruppe von Mitarbeitern ins Zimmer. Für Gudrun K. werden ihre
Vergewaltigungsängste auf einmal Realität: Zehn Personen überfallen sie und fesseln
sie an ein Bett. Sie sieht, dass man ihr eine Spritze geben will, und ist sich sicher, dass
es eine Todesspritze ist.
O-Ton
4
Für mich war das Erleben eigentlich eher so, dass ich immer dachte, so jetzt ist es aus, jetzt
muss ich mein Leben in die Hand des Schicksals geben. Da habe ich innerlich abgeschlossen
mit meinem Leben, und hab gedacht, was jetzt kommt ist unausweichlich. Ich hab eben immer
damit gerechnet, ich sterbe jetzt.
Autorin:
Fünf Jahre ist das her. Seitdem nimmt Gudrun K. Medikamente – auch wenn die
Psychopharmaka Nebenwirkungen haben: Sie sedieren und machen dick. Mit ihren
müden Augen wirkt die 48-Jährige älter als sie ist. Doch Gudrun K. will unbedingt
verhindern, noch einmal in eine Fixierung zu geraten.
O-Ton
Das Traumatisierende daran ist, dass man an diese Situation zurückdenken muss, dass einen
das nicht loslässt, ich habe einfach Angst, wenn ich das nächste Mal in einer Stresssituation
in eine Klinik komme, dass ich da zurückversetzt werde.
Atmo: Musik
Autorin:
Fixierungen und Isolierungen sind massive Eingriffe in die Freiheitsrechte eines
Menschen. Weniger offensichtlich ist der Zwang dagegen bei der Vergabe von
Psychopharmaka. Medikationen finden oft in einer Grauzone statt. Nicht immer ist
dabei klar, wo der Zwang beginnt: Wenn ein Patient überredet wird? Wenn Druck auf
ihn ausgeübt wird? Oder erst wenn er körperlich überwältigt wird, um eine Spritze zu
bekommen?
Die Dortmunder Psychiaterin Margret Osterfeld hat solche subtilen Formen von
Zwang erlebt. Als sie vor sieben Jahren in eine schwere Krise geriet, brachte ihr Mann
sie ins Krankenhaus. Sie wurde selbst zur Patientin. Doch statt Hilfe zu bekommen,
ging es ihr in der Psychiatrie noch schlechter als zuvor. Sie fühlte sich entmündigt und
ausgeliefert.
O-Ton
Es ist ein Gefühl von konstant über Wochen nicht mehr ernst genommen zu werden. Und
alles, was ich tue oder sage, wird danach sortiert: Können wir das dokumentieren in der Akte
als Symptom oder ist es unwichtig? Dann brauchen wir uns auch nicht drum zu kümmern. Die
Psychiaterin in mir guckte aus der Ecke und dachte, na klar sehen die nur das. Aber
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ansonsten ist die Situation verrückt, und man kann dann nur noch verrückter werden. Wenn
mir das gleiche in einem anderen Beruf widerfahren wäre, also ich glaube, ich wäre darüber
zerbrochen.
Autorin:
Als sie die Medikamente verweigerte, setzten die Ärzte sie unter Druck und drohten ihr mit
einer Zwangsunterbringung. Sie nahm die Psychopharmaka schließlich wider Willen.
O-Ton
Ich habe nach der Androhung mit dem PsychKG sehr wohl das Medikament genommen, weil
ich wusste, was sonst gekommen wäre. Der hätte dann den nächsten Schritt gemacht,
Fixierung und Spritze.
Autorin:
Margret Osterfeld erlebte eine Realität, vor der sie als Psychiaterin bislang gerne die
Augen verschlossen hatte. Den Erzählungen von Patienten hatte sie nicht geglaubt.
Selbst betroffen erfuhr sie nun: Man muss keine Zwangsbehandlung durchführen, es
reicht die Androhung.
O-Ton
Da hat man an vielen Stellen systematisch mit Betrug gearbeitet. Frau Osterfeld wir machen
mal einen Spaziergang, und dann wurde das ein Spaziergang auf die geschlossene Station.
Oder Frau Osterfeld, wenn sie dieses Medikament nicht nehmen, dann mache ich ihnen ein
PsychKG, das ist unrechtmäßig. Man darf dieses Mittel nicht einsetzen, um jemanden zur
Medikation zu nötigen.
Atmo: Musik
Sprecher:
Die Psychiatrie war von ihrer Entstehung an mit der Frage der Gewalt verbunden. Die
Geschichtsschreibung setzt den Beginn der klassischen Psychiatrie in das Jahr 1793,
als der Arzt Philippe Pinel in einer historischen Tat die Geisteskranken im Pariser
Hospital Bicetre aus ihren Ketten befreit. Bis dahin wurden Irre zusammen mit Armen,
Alten, Unzüchtigen und Straftäter eingekerkert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzt
sich ein neues Verständnis von Wahnsinn durch. Es beginnt das ärztliche Denken, das
den Irren als Geisteskranken betrachtet, der nun systematisch geheilt werden soll.
Der Philosoph Michel Foucault sieht in Pinels neuem Asyl vor allem einen Ort der
gesellschaftlichen Normierung. Der Geisteskranke wird zwar befreit, doch nun lastet
der Vorwurf auf ihm, sich von seiner eigentlichen vernünftigen Natur entfernt zu
haben. Die handfesten Ketten werden ersetzt durch die Autorität der Vernunft.
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In „Wahnsinn und Gesellschaft“ schreibt Foucault:
Zitator:
Der von Pinel befreite Irre und nach ihm, der Irre der modernen Internierung, sind
Gestalten eines Prozesses. Wenn sie das Privileg haben, nicht mit Verurteilten
vermischt oder ihnen angenähert zu werden, werden sie dazu verurteilt, in jedem
Augenblick unter der Wucht einer Anklage zu stehen, deren Text nie gegeben wird,
denn ihr ganzes Leben im Asyl formuliert ihn. Das Asyl des positivistischen Zeitalters,
für dessen Gründung man Pinel rühmt, ist kein freies Feld der Beobachtung, der
Diagnose und der Therapie, sondern ein juristischer Raum, in dem man angeklagt,
beurteilt und verurteilt wird, und aus dem man nur durch die Wendung dieses
Prozesses in die psychologische Tiefe, das heißt in die Reue befreit wird. Der
Wahnsinn wird im Asyl bestraft. Selbst wenn er außerhalb freigesprochen wird. Für
lange Zeit und bis zu unserer Zeit wird er in einer moralischen Welt eingekerkert.
Sprecher:
Im Zeitalter der Vernunft dient die Unvernunft dem vernünftigen Subjekt zur
Selbstvergewisserung. Der Wahnsinnige erfährt sich selbst dagegen über den Abstand
von der Norm. Die Entfernung von der Vernunft der Anderen wird zur
Mangelhaftigkeit. Die Psychiatrie wird zu einem Ort der Unterwerfung in der
foucaultschen Disziplinargesellschaft. Foucault sieht in dieser Wende die Grundlage
für unsere heutige psychologisierende Wahrnehmung des Wahnsinns.
Zitator:
Auf der einen Seite gibt es den Vernunftsmenschen, der den Arzt zum Wahnsinn
delegiert und dadurch nur eine Beziehung vermittels der abstrakten Universalität der
Krankheit zulässt. Auf der anderen Seite gibt es den wahnsinnigen Menschen, der mit
dem anderen nur durch die Vermittlung einer ebenso abstrakten Vernunft
kommuniziert, die Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der
Gruppe, Konformitätsforderung ist. Die Konstituierung des Wahnsinns als
Geisteskrankheit am Ende des 18 Jahrhunderts trifft die Feststellung eines
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abgebrochenen Dialogs. Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft
über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können.
Sprecher:
Foucault gilt als ein Vordenker der Antipsychiatrie-Bewegung. Tatsächlich stellen
seine Betrachtungen die Psychiatrie grundsätzlich in Frage: Mit welchem Ziel wird
eigentlich behandelt? Brauchen psychisch Kranke die Psychiatrie oder wird sie aus
unserer Gesellschaft heraus benötigt? Und: Wenn Wahnsinn die Abweichung von der
Norm ist, wer bestimmt, was normal ist?
Atmo: Musik
Sprecher:
Die Psychiatrie hat das Thema Zwangsmaßnahmen lange tabuisiert - ein notwendiges
Übel, das man hinnahm, aber gerne verschwieg. Erst Mitte der Neunziger Jahre
begannen hierzulande einzelne Kliniken systematisch die Anzahl der
Zwangsbehandlungen zu erfassen. Die erheblichen Unterschiede zwischen den
Kliniken, die dabei zum Vorschein kamen, machten deutlich: Ob ein Patient eine
Zwangsmaßnahme erlebt, hängt nicht allein von seinem Zustand ab, sondern auch
davon, in welchem Krankenhaus er behandelt wird. Statt auf evidenzbasierten
Standards beruht die Behandlungen vielerorts auf Traditionen.
O-Ton
Lauter solche Konzepte wie Lebensqualität oder die subjektiven Erlebensseiten, die sind
insgesamt in der Medizin relativ neu. Und das hängt natürlich schon damit zusammen, dass
man sich nicht mehr nur dafür interessiert, ist mit dieser Zwangsmaßnahme etwas
Gefährliches verhindert worden? Sondern, wie finden das eigentlich die Betreffenden, was
löst das bei denen aus? Es klingt heute erstaunlich, aber es ist noch gar nicht lange her, dass
die Medizin begonnen hat, sich mit den Betroffenen zu beschäftigen.
Sprecher:
In einer breit angelegten Studie untersuchten der Psychiater Tilman Steinert und seine
Kollegen aus neun weiteren Kliniken, welche Zusammenhänge es zwischen den
Strukturmerkmalen einer Klinik und der Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen gibt.
Können sich Faktoren wie die Bettenzahl oder die Lage eines psychiatrischen
Krankenhauses auf die Zahl der Zwangsmaßnahmen auswirken? Vor allem ein
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Merkmal fiel beim Vergleich auf: Kliniken mit relativ wenig Zwangsmaßnahmen
verfügten über detaillierte Leitlinien, in denen der Umgang mit Fixierungen und
Isolierungen festgelegt ist. Unklar bleibt jedoch, ob die Leitlinien die Ursache sind,
oder ob nicht eine schon zuvor bestehende, erhöhte Sensibilität in einer Klinik dazu
führte, dass überhaupt Leitlinien ausgearbeitet wurden.
O-Ton
Wir haben viele wichtige Faktoren nicht gemessen, nämlich eben die Einstellung der Leute.
Wir haben es nicht gemessen, weil wir es nicht messen konnten. Aber diese ganzen eher
gefühlten Faktoren, die haben wir ja notgedrungen gar nicht einbezogen, und ich glaube
nach wie vor, dass das die wichtigeren Faktoren sind als die Bettenzahl und die Lage der
Klinik auf dem Land oder in der Stadt.
Sprecher:
Der Weltverband der Psychiatrie setzte nun ein klares Zeichen: Er veranstaltete im
Juni in Dresden den ersten Weltkongress ausschließlich zum Thema
Zwangsmaßnahmen. Das gemeinsame Interesse bündelte sich an der Frage der besten
Praxis.
Doch auch der Psychiatrie-Weltverband konnte nur eine relative geringe Zahl von
Psychiatern für dieses heikle Thema interessieren. Rund 400 Ärzte nahmen an dem
internationalen Kongress teil. Darunter Pedro Ruiz, ehemaliger Vorsitzender der
American Psychiatric Association.
O-Ton
The only especiality in the field of medicine that permitts to have involuntary treatment is
psychiatry. So when you get a conference with this particular type of topic, psychiatrist begin
to be a little bit defensive and a little bit worried, and they will be frightened about what
happens here. The issue, why psychiatrists do not respond to this type of conference, is
because psychiatrists go when they are paid for. Industry brings 8000 psychiatrist to attend
the annnual meeting of the American Psychaitric Association. This conference is not
supported, or minimally supported by the industry. The people who are here have come out of
there own interest. That makes a big difference.
Voice Over:
Das einzige Gebiet in der Medizin, das unfreiwillige Behandlung erlaubt, ist die
Psychiatrie. Wenn also eine Konferenz zu diesem speziellen Thema stattfindet, gehen
Psychiater in die Verteidigungshaltung, sie werden etwas unruhig und fragen sich, was
hier wohl diskutiert wird. Und dann fehlt hier natürlich der finanzielle Anreiz.
9
Psychiater kommen zu einem Kongress, wenn sie bezahlt werden. Die
Pharmaindustrie bringt 8000 Psychiater zum Jahrestreffen der American Psychiatric
Association zusammen. Diese Konferenz wird nur ganz gering von der Industrie
unterstützt. Die Leute, die hier sind, sind aus eigenem Interesse gekommen. Das ist ein
großer Unterschied.
Sprecher:
Während des gesamten Kongresses demonstrierten ehemalige Psychiatrie-Patienten
vor dem Tagungsgebäude und prangerten Zwangsmaßnahmen als Folter und als
Verletzung der Menschenrechte an. Die Veranstalter hatten bereits im Vorfeld auf die
wachsende Kritik aus Betroffenenorganisationen reagiert und zwei Hauptvorträge für
ehemalige Psychiatrie-Patienten eingeräumt. Iris Hölling, Vorstandmitglied im
Weltverband der Psychiatriebetroffenen, sprach von einem historischen Moment.
O-Ton
Dass es gleich noch ein Panel geben wird, das von Betroffenen organisiert wurde, dass es
auch einige betroffene Vortragende gibt, ist für die World Psychiatric Association historisch.
In anderen Psychiaterorganisationen gibt es das schon länger, aber die World Psychiatric
Association ist sozusagen die biologistischste und die konservativsten der Weltverbände von
Psychiatern, und darum hat das schon eine besondere Bedeutung.
Sprecher:
Juan Mezzich, Präsident des Weltpsychiatrieverbandes, zeigte sich überraschend offen
für die Kritik der Betroffenen:
O-Ton
Taking advantage of this historical opportunity of responding to groups of users of services
that in the past were otside, and now have the courage to come in, and to which we can not
responde in any other way then with open arms to listen to, to see how we can do ourwork
more effectively, not only being scientifically skillful, but being humanisticallly commited.
Voice Over:
Wir sollten diese historische Gelegenheit nutzen, den Betroffenen zu antworten, die in
der Vergangenheit draußen standen und nun den Mut haben, herein zu kommen, und
die wir nicht anders empfangen können als mit offenen Armen, in dem wir ihnen
zuhören, um zu verstehen, wie wir unsere Arbeit besser machen können, nicht nur
wissenschaftlich versiert, sondern auch humanistisch engagiert.
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Atmo: Musik
Autorin:
Zu Besuch in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel. Äußerlich
unterscheidet sich die Klinik kaum von einem normalen Krankenhaus. Lange
pastellfarbene Gänge, eine von den Patienten nutzbare Küche, in der Gabeln und
Messer offen herum liegen. Vor den Fenstern gibt es keine Gitter. Seit Jahren arbeiten
die Bielefelder systematisch daran, die Zahl der Zwangsmaßnahmen im eigenen Haus
zu verringern. Dazu gehören hauseigene Standards, die für alle Mitarbeiter festlegen,
unter welchen Bedingungen Zwangsmaßnahmen durchzuführen sind. Eine der
wichtigsten Veränderungen waren die neu eingeführten Sitzwachen, sagt die
Oberärztin Regina Ketelsen. In der Bielefelder Klinik darf ein Patient während einer
Fixierung nicht mehr allein gelassen werden – eine in Deutschland immer noch
verbreitete Praxis, die auch die Anti-Folter-Kommission des Europarates 2005
kritisierte.
O-Ton
Dass Menschen, die fixiert sind, in früheren Zeiten häufig sich selbst überlassen waren, alle
Viertelstunde mal jemand reingeschaut hat, das hat sich mit den Standards sehr verändert.
Das heißt, es muss immer ein Mitarbeiter präsent sein, im Zimmer. Oder es gibt bei uns einen
Beobachtungsraum durch die Scheibe, wenn der Patient das nicht aushält, dann durch die
Scheibe. Aber der Patient darf sich nicht selbst überlassen sein.
Autorin:
Auch die Zeiträume für regelmäßige, ärztliche Kontrollen bei Fixierungen und
Isolierungen wurden verkürzt: Statt alle 24 Stunden muss der Arzt nun alle zwei
Stunden prüfen, ob die Ruhigstellung fortgesetzt wird. Das Ergebnis: Fixierungen und
Isolierungen können sehr viel schneller wieder beendet werden. Die
Zwangsmaßnahmen sind heute in Bielefeld um ein gutes Drittel kürzer als vor zehn
Jahren.
Die Standards legen zudem fest, dass jeder Zwangsmaßnahme eine Nachbesprechung
mit allen Beteiligten folgen muss. Dieser Punkt sei auf Wunsch der Patienten in die
Leitlinien mit eingeflossen, sagt Oberärztin Ketelsen.
O-Ton
Weil viele das so traumatisierend und so schlimm erleben und überhaupt nicht verstehen,
warum es dazu gekommen ist, dass es wichtig ist, dass die Betroffenen auch unsere
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Sichtweise, unser Handeln verstehen, unsere Hilflosigkeit, wo wir keinen anderen Weg mehr
gesehen haben als eine Zwangsmaßnahme. Um das auch für sich verstehbarer zu machen,
sich nicht als Opfer einer Willkür zu fühlen, was für die Betroffenen auch sehr schrecklich ist.
Autorin:
Wichtiger als eine professionelle Anwendung von Zwangsmaßnahmen, ist die Frage,
wie lassen sich Eskalationen von vorneherein vermeiden? Die Bielefelder trafen eine
mutige Entscheidung und schafften 1994 die geschlossenen Stationen in der
allgemeinpsychiatrischen Abteilung ab. Auf den ehemals geschlossenen Stationen
wurden akut gefährdete Patienten mit anderen, ruhigeren Patienten zusammengelegt.
Die Türen werden seitdem nur noch im Notfall abgeschlossen.
O-Ton
Wir haben uns dazu entschlossen, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass eine
geschlossene Station von vorne herein durch die geschlossene Tür an sich auch mit mehr
Gewalt verbunden ist, weil die geschlossene Tür an sich eine großer Stressfaktor ist.
Zusätzlich sind die üblichen geschlossenen Stationen, wo alle schwierigen Patienten erstmal
aufgenommen werden, auch damit verbunden, dass eine Ballung schwierigster,
schwerkranker Patienten auch noch mal dazu führt, dass mehr aggressives Verhalten, mehr
Zwang sich entwickelt.
Autorin:
Der Versuch glückte. Fixierungen und Isolierungen nahmen deutlich ab. Die zuvor
befürchteten Risiken traten nicht ein: Weder begingen mehr Patienten Selbstmord,
noch verließen mehr Zwangseingewiesene unerlaubt die Einrichtung. Tatsächlich
entspannte sich die Atmosphäre auf den Stationen – nicht zuletzt durch die Mischung
von schwierigen und weniger schwierigen Patienten.
Von dem entspannteren Klima profitierten aber nicht nur Patienten, sondern auch
Mitarbeiter, sagt der Psychiater Tilmann Steinert. Am baden-württembergischen
Zentrum für Psychiatrie Weißenau wurden in den neunziger Jahren ähnliche Reformen
wie in Bielefeld beschritten.
O-Ton
Ob da die Summe der ganzen deeskalierenden Maßnahmen eine Rolle spielt, weiß ich nicht
genau. Aber ich weiß, dass sowohl ich selbst als auch unsere Mitarbeiter früher mehr und
öfter Angst hatten. Da spielt sicher eine Gesamtpsychiatriepolitik eine Rolle, unter der
Überschrift vertrauensbildende Maßnahmen.
Autorin:
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Vertrauen statt Zwang - Ein Umdenken muss dabei auf allen Ebenen stattfinden und
fängt bei der Klinikleitung an, meint Steinert.
O-Ton
Es ist ja ganz wichtig, Mitarbeitern Unterstützung zu geben, und selbst wenn mal etwas
passiert müssen sie nicht Angst haben, dass sie von mir im Regen stehen gelassen werden.
Wenn sie mehr auf Vertrauen als auf Sicherheit setzen, wenn dann tatsächlich mal ein Patient
davon läuft und mit der Polizei wieder geholt werden muss, werde ich sie nicht dafür zur
Verantwortung ziehen.
Autorin:
Dennoch sind Krankenhäuser wie Bielefeld und Weissenau bislang Vorreiter. Ob
Leitlinien, regelmäßige Fortbildungen für Mitarbeiter oder offene Türen –
Maßnahmen, die Zwangsbehandlungen vorbeugen oder sie zumindest erträglicher
machen, sind noch immer eine Ausnahme an deutschen Krankenhäusern.
Atmo: Musik
Sprecher:
Kritiker weisen darauf hin, dass eine Reduktion von Zwangsbehandlungen damit
beginnen muss, dass weniger Menschen gegen ihren Willen eingewiesen werden. Das
deutsche Betreuungsgesetz ermöglicht es, dass Betroffene allein wegen ihres
psychotischen Zustands zwangseingewiesen werden. Das Argument: Die Krankheit
könnte sich verfestigen, wenn sie unbehandelt bliebe. 1998 klagte ein Betroffener, der
wegen seiner Wahnvorstellungen zwangseingewiesen wurde, vor dem
Bundesverfassungsgericht – mit Erfolg: Das Gericht erkannte in der
Zwangsunterbringung einen Verstoß gegen das Freiheitsrecht und bemerkte in seiner
Urteilsbegründung:
Zitator:
Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den
psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes die Notwendigkeit von
Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag, zwangsweise in einer
geschlossenen Einrichtung unterzubringen, um eine drohende gewichtige
gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dabei drängt es sich auf,
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daß dies nicht ausnahmslos gilt, weil schon im Hinblick auf den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart
einschneidende Maßnahme unterbleiben muß und somit auch dem psychisch Kranken
in gewissen Grenzen die "Freiheit zur Krankheit" belassen bleibt.
O-Ton
Wir Mediziner definieren uns ja alle darüber, dass wir helfen und heilen wollen. Und
natürlich ist es für uns viel leichter zu helfen und zu heilen, auch über die Form der
Zwangseinweisung, als jemanden wieder gehen zu lassen.
14
Autorin:
Die Psychiaterin Margret Osterfeld kennt die Sicht der Ärzte. Auch ihr falle es schwer,
jemanden in einer schweren Krise nicht zu behandeln. Die Verantwortung lastet auf
dem Arzt, ein Formular für die Zwangsunterbringung ist dagegen schnell ausgefüllt.
Und so fällt die Entscheidung schnell für das gesundheitliche Wohl und gegen die
persönliche Freiheit des Betroffenen. Margret Osterfeld verärgert diese Praxis:
O-Ton
Ich kann jemanden nicht zu einer Behandlung zwingen, nur weil er krank ist. Es ist völlig
klar, dass sie bei einer schweren Krebserkrankung sagen können, ich will keine Chemo, ist
völlig klar, aber sie kriegen trotzdem, was an Linderung möglich ist. Und dieses ‚ich will
nicht’ wird psychotisch Kranken nicht zugestanden. Da heißt es gleich, das ist
krankheitsuneinsichtig, das ist krankheitsbedingt.
Atmo: Musik, darauf:
Autorin:
Aber es gibt ein Recht auf Krankheit. Auch für psychisch Kranke.
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