Prominenz und Propaganda - Gottfried Wilhelm Leibniz Gesellschaft

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Prof. Rolf Wernstedt
Präsident der Gottfried- Wilhelm- Leibniz- Gesellschaft
Prominenz und Propaganda
Vortrag auf der internationalen Arbeitstagung „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus“
23. – 25. September 2010 im Leibnizhaus in Hannover
Gliederung:
I.
II.
III.
IV.
V.
I.
Einleitende Bemerkungen zum Prominenzbegriff
Zwei Fallbeispiele über den Zusammenhang von Prominenz und Propaganda
1. Der Sport
2. Die Heiligen
Dynastische Prominenz und funktionale Excellenz
Bürgerliche Prominenz
Veränderung des Verhältnisses von Prominenz und Propaganda im 20.
Jahrhundert. Sozialismus und Faschismus/Nationalsozialismus
a) Marxismus und Propaganda
b) Nationalsozialismus und philosophische Dienstleistungen zum Zwecke der
Propaganda
c) Ein NS- Versuch zu Leibniz
Einleitende Bemerkungen zum Prominenzbegriff
Das Thema meines Vortrags ist nicht nur der Alliteration in der Überschrift geschuldet. Die
Begriffe Prominenz und Propaganda verlangen nach Umschreibung und Abgrenzung, bevor
man über ihren systematischen, politischen und historischen Zusammenhang nachdenkt.
Zumindest muss man sich im Klaren darüber sein, wie unscharf die Begriffe verwandt werden
und wie trüb ihr Zusammenhang ist. Gleichwohl kann man auf sie wohl nicht verzichten. Auf
eine ähnliche Unschärfe des Begriffs der „Öffentlichkeit“ hatte vor 50 Jahren bereits Jürgen
Habermas hingewiesen.
Unter Prominenz versteht man, dass jemand beruflich und gesellschaftlich eine herausragende
Stellung einnimmt und in diesem Sinne eine herausragende Persönlichkeit ist, was auch
häufig oder gelegentlich kommuniziert wird. Die Gebiete, in denen dieses Prädikat verliehen
wird, sind höchst verschieden und auch in unterschiedlichen Zeiten durchaus unterschiedlich.
Heute findet man Prominenz unter Schauspielern, Sportlern, Künstlern, Musikern,
Wirtschaftsmanagern, von Politikern ganz zu schweigen. Es scheint, als ob Prominenz sich an
den Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit und der aktuellen Berühmtheit knüpft.
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Wer sich im Fernsehen (oder Internet) die Sendungen anschaut, erkennt sehr schnell, dass
sich Prominenz in Film, Funk und Fernsehen in der Regel an spezifische gesellschaftliche
Schichten wendet.
Prominenz ist schichtenabhängig.
Sportler, ob im Fußball, im Boxen, Radfahren, Eishockey oder Leichtathletik ( oder beliebiger
Sportarten) haben eine andere, viel zahlreichere Aufmerksamkeit und Anhängerschaft als
Nobelpreisträger. Film- und Fernsehschauspielerinnen sind häufig unabhängig von ihren
schauspielerischen Leistungen Gegenstand umfangreicherer Berichterstattung als
herausragende Leistungen auf den abendlichen Bühnen. Man muss sich nur die täglichen
Klatschspalten und die nachmittäglichen oder spätabendlichen sog. Promi- Sendungen
anschauen.
Dummheit schützt nicht vor Prominenz.
Auch im öffentlichen politischen Raum sind es nicht allein die Inhaber politischer Ämter, die
die größte Prominenz besitzen. Mindestens gleichwertig erscheinen die Fernsehmoderatoren,
Journalisten und Filmemacher. Politische Prominenz erscheint weniger als Ausfluss
politischer Legitimation denn als Ausfluss öffentlicher Darstellungsfähigkeit in Wort und
Bild. Neuerdings kann man den Eindruck haben, dass politische Prominenz an besondere
Nehmerqualitäten gegenüber fairen und unfairen Angriffen gekoppelt ist.
Auch wissenschaftlicher Ruhm, ob vom Nobelpreis oder anderen Auszeichnungen abgeleitet,
ist höchst vergänglich. Wer würde aus dem Gedächtnis die Ausgezeichneten des letzten
Jahres nennen können? Welche Dichter, Schriftsteller oder Philosophen sind prominent?
Wer würde einem heute auf Schillers Bemerkung in Wallensteins Prolog einfallen „Wer den
Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten“? Wer gehörte heute zu den
Besten? Und wen sollten sie würdigen?
Schon anhand dieser unsystematischen Beobachtungen lässt sich sagen, dass der semantische
Gehalt des Prominenzbegriffs so groß ist, dass man danach fragen muss, welche Kriterien
für welche Leistungen gelten und wer diese nach welchen Interessen festlegt.
Ob aktuelle Prominenz auch von Dauer ist, d. h. über die jeweilige Gegenwart hinausreicht,
bedarf einer zusätzlichen Überlegung.
II. Zwei Fall-Beispiele über den Zusammenhang von Prominenz und Propaganda
Ich möchte dies zunächst an zwei Beispielen, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam
haben, diskutieren: an dem des Sports und dem der Heiligen in den christlichen Kirchen.
1. Der Sport
Sportliche Prominenz hat seit der Begründung der neuzeitlichen Olympischen Spiele ihren
Anknüpfungspunkt an nationalen Rückkopplungsmöglichkeiten (Man sollte aber nicht
vergessen, dass auch in der Antike die Namen von Olympioniken mit der Herkunftspolis
verbunden war; anders als bei berühmten Gladiatoren der Römerzeit) .
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Da im Sport prinzipiell Chancengleichheit für alle interessierten Sportlerinnen und Sportler
besteht, war es hier immer leicht möglich, die individuellen Träume von persönlicher
Leistung, Berühmtheit und nationaler Identifikation zu vereinigen.
Alle Olympischen Spiele, Welt- und regionale Meisterschaften, haben in diesem Sinne seit
Langem den Doppelcharakter individuellen Ehrgeizes und nationaler Resonanz.
Dieser Aspekt hat sich spätestens seit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin unrevidierbar
mit der Olympischen Idee verkuppelt. Denn in Umkehrung des völkerverbindenden
Charakters des Sportes wurde der sportliche Wettbewerbsgedanke auf den nationalen
Wettbewerb ausgedehnt und mit Überlegenheitsgedanken verknüpft.
Die Zahl der errungenen Medaillen, vor allem der prestigeträchtigen Goldmedaillen, wurde
als Ausweis nationalen Rankings verstanden und mit dem Wesensgehalt des entsendenden
Staates und seines Selbstverständnisses sowie dem dahinter stehenden Volk gleichgesetzt.
Dieser Gedanke produziert den Wunsch, die sportlichen Gewinner als Repräsentanten des
Landes zu sehen und dies auch kenntlich zu machen.
Dies ist der Ort der Nutzbarmachung von sportlicher Prominenz zur Propaganda.
Die Nationalsozialisten haben dies vor, während und nach der Olympiade ausgiebig getan und
mit dem Rassegedanken zusätzlich verbunden. Deshalb wurden nach der Olympiade jüdische
und farbige Sportler diskriminiert bzw. ignoriert. Bei älteren Menschen sind auch heute noch
die Namen deutscher Olympiasieger von 1936 lebendig.
Der Gedanke der propagandistischen Nutzung des Sports setzte sich nach dem 2. Weltkrieg
zunächst vor allem in den Ländern des sog. sozialistischen Lagers fort, aber auch die anderen
Länder blieben davon nicht unberührt.
Die Sowjetunion und die DDR haben alle Siege bei allen Olympischen Spielen und
Weltmeisterschaften zu Aussagen über die Überlegenheit ihres politisch- gesellschaftlichen
Systems genutzt. Entsprechend war auch immer die Propaganda. Diese sollte Eindruck bei der
jeweiligen Bevölkerung machen und diente damit der indirekten politischen
Legitimationsbeschaffung. In schöner Offenheit hat dies vor wenigen Tagen der ehemalige
stellvertretende Vorsitzende des DDR- Deutschen Turn- und Sportbundes, Thomas Köhler , in
seinen Memoiren getan ( „Zwei Seiten der Medaille“). Gleichzeitig wollte man damit
Eindruck auf die Länder machen, die nicht in westlichen Bündnissen verankert waren.
Mit der zusätzlichen Kommerzialisierung des Sports, seiner raffinierten Übungsmethoden, der
medizinischen, einschließlich der Dopingmöglichkeiten und der damit verbundenen
Finanzperspektiven, verschob sich die Handhabung des Sports.
Prominenz im Sport dient auch heute noch der nationalen emotionalen Erhöhung. Man ist
sich heute aber noch nicht klar darüber, ob diese emotionale Erhöhung in
Massenveranstaltungen und neuerdings in Public- Viewing- Zusammenkünften wirklich
nationaler Identifikation entspringt. Bei der multikulturellen Zusammensetzung heutiger
Fußballmannschaften ist dies auch nicht eindeutig, obwohl es manche angesichts der
fröhlichen Präsentation von schwarz-rot-goldenen Fahnen politisch gern so sähen.
Viel dominanter ist wahrscheinlich die Event- Emotionalität und vor allem der kommerzielle
Aspekt einzuschätzen.
Die große raum- und zeitgreifende Berichterstattung über sportliche Wettbewerbe produziert
zur Freude der Siegerinnen und Sieger Prominenz. Medien, Sportverbände und nationale
politische Repräsentanz sonnen sich darin.
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Prominenz wiederum bedeutet Wiedererkennungswert und schafft damit Möglichkeiten der
Sympathiewerte.
Die Nähe zur Sportprominenz oder deren Ermöglichung verschafft nicht nur Propaganda-,
sondern zugleich Werbepotential. Auf den Werbeflächen der Stadien und Rennstrecken und
Trikots wird für die Produkte geworben, in den VIP- Etagen werben die Politiker für sich.
Propaganda wird zur Werbung mit prominenten Namen und Bildern. Nutznießer sind die
Sportler und die Firmen. Sportler wissen, dass ihr Ruhm, ihre Prominenz nicht von Dauer ist,
sondern dass sie diesen Status möglichst schnell innerhalb weniger Jahre in bare Münze
umsetzen müssen. Dauernde Bekanntheit über Jahrzehnte hinweg ( darüber hinaus kann man
noch keine Aussagen machen) ist nur wenigen Sportlern, die gleichsam den Status von
Legenden erreicht haben, vorbehalten: Max Schmeling etwa, Fritz Walter, Uwe Seeler, Franz
Beckenbauer.
Das, was im Sportlichen noch einen gewissen Doppelcharakter hat, scheint im medialkünstlerischen Bereich sich inzwischen eindeutig auf die kommerzielle Seite verlagert zu
haben.
2. Die Heiligen
Fast zwei Jahrtausende hat das Christentum die Geschichte Europas und seit der Renaissance
weiter Teile Amerikas und anderer Kontinente bestimmt. Kirchliche Prominenz war
gekoppelt an hohe Würdenträger, deren Einfluss nicht immer klar in weltlich und kirchlich zu
trennen war. Dass aber auch weltliche Herrschaft christlichen Normen und den
Herrschaftsinteressen kirchlicher Würdenträger zu folgen hatte, war bis zur Reformation im
Grundsatz nicht umstritten. Das verhinderte nicht erbitterte Konflikte. Aber die Drohung mit
oder der Vollzug der Exkommunikation war für einen mittelalterlichen Menschen, ob Bettler
oder Kaiser, nach der Todesstrafe fast die höchste Strafe.
Der Säkularisierungsprozess ist bis heute nicht wirklich abgeschlossen.
Die Erfindung des Martyriums gehört zu den wirkungsmächtigsten Instrumenten des
Glaubens. Den Gläubigen zu sagen, auch ihr qualvoller Tod, wenn er aus Glaubensgründen
erlitten wird, habe einen Sinn in der Rettung der Seele vor ewiger Verdammnis, ist der Aufruf
zur Unbeugsamkeit gegenüber allen Anfechtungen und Aufforderungen, Überzeugungen und
Glaubensinhalte zu revidieren. Diese Haltung führt dazu, dass der Tod als sinnvolle
Konsequenz nicht nur für den Getöteten, sondern vor allem für die Überlebenden gesehen
wird. Er führt zur Stabilisierung der Glaubens- Gemeinschaft. Ein solcher Märtyrertod dient
der Bezeugung und der Verbreitung des Glaubens, er ist nicht notwendigerweise
abschreckend. Seine Erscheinung muss in diesem Sinne propagiert werden.
Fides propaganda est.
Der Märtyrertod führt notwendigerweise zur Prominenz unter den Gleichgesinnten.
Prominenz und Propaganda sind begrifflich an kaum einer anderen Stelle so eng verknüpft
wie hier. Denn die über alle Zeiten hinweg bezeugte Standhaftigkeit im Glauben verschafft
den Märtyrern eine namentliche Identität, die durch den Glaubensbezug gleichsam alle
individuellen Eigenschaften verliert.
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Umgekehrt führt das Märtyrertum zu einem verstärkten Zusammenhalt der
Glaubensgemeinschaft und verschafft ihr erhöhte Legitimation und damit
Herrschaftssicherung und Strukturerhalt im Innern und nach außen.
Dies ist, unbeschadet aller Glaubensdimension und- überzeugung, ein hoch politischer
Wirkungszusammenhang, der über Jahrhunderte angehalten hat und noch nicht zu Ende ist.
Wenn es gelingt, die prominenten Namen in den religiösen und weltlichen Alltag zu
transformieren, ist der Gipfel der Identifikation erreicht. Mit den Namenstagen, den
beruflichen Zuordnungen, der Bennennung von Kirchen und Einrichtungen ist dies in nahezu
paradigmatischer Weise gelungen.
Die Berufung auf positive Prominenz kann eigene Bedeutungserhöhung verschaffen. Die
Anbetung der Heiligen ist eine ewig andauernde Propaganda des Glaubens.
III. Dynastische Prominenz und funktionale Excellenz
Der Typus dieses Zusammenhangs zwischen Propaganda und Prominenz ist natürlich nicht
auf den religiös- kirchlichen Raum beschränkt.
In der hierarchisch gegliederten feudalen Welt und ihren dynastischen Strukturen bedurfte es
keiner gesonderten Propaganda für Prominenz. Das schloss natürlich nicht aus, dass sich
Herrscher oder Herrscherhäuser Geschichtsschreiber verpflichteten, die den Auftrag hatten,
die Taten und Geschehnisse möglichst lichtvoll darzustellen. Das war eine Tradition, die seit
der Antike immer wieder festzustellen ist.
Die Prominenz war ausnahmslos in der Geschlechterfolge der jeweiligen Dynastie
vorhanden und wurde so in der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation ( später
sogar unter Einschluss der Schulbücher) behandelt. Das schloss wiederum Rivalitätskämpfe
mit allen zeitbedingten Publikationsmöglichkeiten nicht aus. (Doppelkönigtum,
Ketzervorwürfe etc.)
In den Ländern des Protestantismus galt dies sogar gegenüber den Landeskirchen. Das ging in
Deutschland bis 1918 so.
Aber dennoch haben sich seit Jahrhunderten die europäischen Potentaten der excellenten
Fähigkeiten von Künstlern, Technikern, Architekten, Militärs oder Politmanagern bedient.
Lorenzo di Medici machte Florenz zum Zentrum herausragender Künstler, Leonardo da Vinci
diente italienischen und französischen Monarchen, Colleonis militärisches Talent kennt man
noch heute, Macchiavellis Dienste am Florentiner Hof und Thomas Morus´ Wirken in
London werden noch heute gerühmt, selbst wenn beide in Ungnade gefallen waren und Morus
sogar hingerichtet wurde. Brunelleschis Architektur bleibt unzerstörbar prominent.
Namen, die schon bekannt waren oder durch ihre Berufung erst bekannt wurden, vergrößerten
den Ruhm adeliger Herrscherhäuser und dienten insofern auch hier dem Tüchtigkeitsnachweis
der Herrschaft.
Es war aber immer Prominenz der zweiten Reihe.
Das sollte sich im Kern bis in die Aufklärung so fortsetzen. Am gesellschaftlichen Ranking
änderte das nichts. Richelieu in Paris, Europäische Wissenschaftler am Hofe Peters des
Großen in Russland, Leibniz in Hannover, Voltaire in Sanssouci, Goethe in Weimar, sind
solche Beispiele.
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Wissenschaftliche oder kulturelle Excellenz wurde von der Logik und den Interessen der
Herrschaftssicherung und –mehrung in Dienst genommen.
Sie war funktionale Excellenz und nicht selbständige Prominenz. Die Beteiligten wussten
dies und verhielten sich auch so. Dies galt auch unabhängig von Aufträgen.
Eine besondere Karriere in dieser Konstruktion machte im 19. Jahrhundert die militärische
Prominenz. Sie wurde, zumal in Deutschland zum tonangebenden und im Ranking führenden
gesellschaftlichen Part, gleich nach der Geblütsprominenz. Noch im Jahre 1914 musste
Reichskanzler Bethmann- Hollweg an der kaiserlichen Tafel hinter den militärisch
höherrangigen Titelträgern am Ende des Tisches sitzen.
Namen wie Blücher, Roon oder Moltke übertrugen durch ihr militärisches Ansehen Kraft und
gefühlte Legitimation auf die herrschenden Häuser. Das unheilvolle Wetterleuchten dieser
Tradition war die zunächst hoch gelobte, dann schäbige Rolle Ludendorffs und Hindenburgs
im und nach dem ersten Weltkrieg. An ihnen lässt sich der verhängnisvolle Weg überbetonten
militärischen Denkens in einer Gesellschaft beobachten. Im Zweiten Weltkrieg kann man die
deutsche Generalität nur als normativ entkernt bezeichnen. Selbst der einzige General mit
vorzeigbarer Prominenz, Erwin Rommel, hat nach einer Gehorsamsverweigerung Selbstmord
begehen müssen. Auch seine Prominenz hat ihn nur ein paar Monate geschützt, weil die NaziPropaganda seinen Namen noch brauchte.
IV. Bürgerliche Prominenz
Gleichwohl haben sich seit der Französischen Revolution im politischen Raum und mit dem
Beginn der naturwissenschaftlich- technisch basierten industriellen Revolution im
gesellschaftlich- wirtschaftlichen Raum die Geltung und Stärke der dynastischen Prominenz
verringert.
Die alte Prominenz konnte sich gegenüber den Ansprüchen eines auf geistiger Leistung,
Effizienz, wirtschaftlicher Kraft und kapitalistischer Verwertung basierten Ansehens der
heranwachsenden bürgerlichen Schicht nicht behaupten. Ihre Herrschaftsansprüche wurden
zunehmend als hohl und überholt wahrgenommen. Die intellektuelle Substanz des Adels war
mit Ausnahme weniger herausragender Gestalten (Peter I. und Katharina in Russland,
Friedrich II. in Preußen ) ohnehin nie über eine Durchschnittsleistungsfähigkeit
hinausgelangt, wenn überhaupt. Die Welfen in Hannover kennt man ja hier.
Die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftsweise vergrößerte den Bedarf an intellektueller
Breite.
Techniker, Naturwissenschaftler, Ökonomen, Unternehmer, Mediziner, Juristen, Pädagogen,
Künstler wurden objektiv bedeutender als die alte Nomenklatura.
Ihre Bedeutsamkeit für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft wurde
überdeutlich.
Diese bürgerliche funktionale Elite gehörte zum Arsenal der sich dem Fortschritt
verschreibenden Gesellschaft. Die damit verbundene Denkweise war in ihrem Kern
bürgerlich demokratisch und bewusst oder unbewusst gegen die Geblütsprominenz gerichtet..
Sie war brauchte die alte Prominenz gar nicht mehr, ließ sie aber gewähren,, solange die
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schwächer werdenden adeligen Ansprüche den ökonomischen Ausweitungsdrang nicht
behinderte.
Dies ins Bewusstsein zu heben, d. h. zu propagieren, war die Aufgabe der liberalen und
sozialen Freiheitsbewegungen. Dies ist die Geburtszeit der eigentlichen politischen
Prominenz. Die Parlamente sind die Arena dafür, nicht allein die exekutive
Regierungsprominenz.
Ein Mann wie Goethe war noch unprominenter weimarischer „Ministerpräsident“, seine
Prominenz hatte ihre Quelle in seinem literarischen und dichterischen Ansehen.
Noch sicherten Kleinadelige wie Metternich oder W. v. Humboldt, Frh. vom Stein oder Graf
Hardenberg die Regierungshäuser. Ihre Fähigkeiten werden aber im Laufe des 19.
Jahrhunderts zusehends durch Bürgerliche ersetzt. In Frankreich, England und Italien war
diese Entwicklung am Weitesten, während sich in Deutschland noch lange adelige gebildete
Angehörige das politische und gesellschaftliche Sagen haben.
Der Aufstieg der bürgerlichen politischen Prominenz geschah im Medium der neu
entstandenen Öffentlichkeit und ihrer Diskursfreiheiten. Zeitungen, Journale, politische
Versammlungen, Vorträge, Bankette, Salons und alle möglichen Formen moderner
Kommunikation wurden eingesetzt, bevor der Rundfunk eine völlig neue Vermehrung der
Informationen und der Propagierung der Handlungen von politischer Prominenz erlaubte.
V. Veränderung des Verhältnisses von Prominenz und Propaganda im 20. Jahrhundert
( Sozialismus und Faschismus/Nationalsozialismus)
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zeit, in der sich nach dem Desaster des 1.
Weltkrieges und den ungelösten sozialen Problemen des Kapitalismus Großideologien Gehör
verschafften und sich in einzelnen Ländern durchsetzten. Sozialismus und
Faschismus/Nationalsozialismus. Beide versuchten von unterschiedlichen Seiten her die
ungelösten Probleme wirtschaftlicher, politischer und geistiger (ideologischer) Art zu lösen.
Ihre Ansätze sind nicht vergleichbar.
Aber Sozialismus und Faschismus sind für ihre politischen Ansprüche trotz aller gewaltsamen
Methoden ihrer Etablierung und Herrschaftssicherung auf die Zustimmung der Bevölkerung
angewiesen. Der Legitimationsbedarf für diese politischen Regime ist enorm.
Beide behaupten von sich, für die Lösung aller sozialen, geistigen, wirtschaftlichen und
politischen Probleme nicht nur die richtigen aktuellen Instrumente zu haben, wozu auch die
gewaltsame Durchsetzung ihrer Ziele zählten, sondern auch die dauernden richtigen und
damit gültigen Gesamtvorstellungen zu besitzen. Für beide rechtfertigen die Ziele alle
Maßnahmen, und zwar rücksichtslos.
Geschichtstheoretische Überzeugungen wie im historischen Materialismus oder
rassentypologische Verallgemeinerungen bilden den Hintergrund für konkrete politische
Tagesentscheidungen.
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Für eine solche Grundauffassung, die für die Vertreter erhebliches Ungeduldspotential und
damit Aggression beinhaltete und für die Skeptiker oder nicht Überzeugten
Verfolgungsgefahr bedeutete, brauchte es stete Neubegründung und Rechtfertigung.
a. Marxismus und Propaganda
Unter unserer Fragestellung „Prominenz und Propaganda“ gewinnt die Herrschaft dieser
Systeme in Verbindung mit modernen Massenmedien eine neue Dimension.
In Russland und der Sowjetunion und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in allen sog.
realsozialistischen Ländern haben die theoretischen Begründer des Sozialismus, Karl Marx
und Friedrich Engels absoluten Promistatus und sind in der praktischen Selbstauffassung
kommunistischer Staaten gleichsam wissenschaftliche Heilige.
Prominenz, als wissenschaftlicher Anspruch der Richtigkeit ihrer Analyse war allein durch
die Nennung Propaganda.
In unterschiedlichen Phasen gehören dazu dann Lenin und/oder Stalin in der Sowjetunion
oder in China Mao Tse Tung, in Vietnam Ho Chi Minh, in Kuba Fidel Castro, in Nordkorea
die Kims. Der Personenkult, wie es seit Chruschtschow system- selbstkritisch formuliert
wurde, trieb groteske Blüten. Wissenschaftliche Theorie wurde als Herrschaftsmittel den
unmittelbaren nationalen politischen Interessen verwandt und in Verbindung mit den gültigen
Interpreten als kombiniertes Propagandasystem entfaltet.
Eine gigantische, geradezu monströse mediale und administrative Dauerpropaganda in
weltpolitischer Eschatologie ergoss sich über die Bevölkerung.
Da der Marxismus auf die modernen, naturwissenschaftlich basierten Wissenschaften
besonders großen Wert legte, wurden alle wissenschaftlichen und künstlerischen Namen der
Vergangenheit zu Vorläufern eines unaufhaltsamen Fortschritts erklärt, in dessen Tradition
man stehe.
Die Berufung auf sie geriet zum unhinterfragbaren Auroritätsmerkmal und wurde damit in das
Propagandasystem integriert, das der Legitimation der Herrschaft diente.
In der DDR hatte dies schließlich sogar die Auswirkung, dass auch russische Gelehrte und
Dichter des 18.- 20. Jahrhunderts als besonders avantgardistisch dargestellt wurden und als
Vorbilder in den Schulbüchern, Lexika und populärwissenschaftlichen Zeitungen gepriesen
wurden ( Lomonossow, Puschkin, Gorki, Mitschurin, Weltraumpioniere etc.).
Wissenschaftlernamen wurde auf diese Weise in das tief gestaffelte IndoktrinationsNetzwerk eingebaut.
b) Nationalsozialismus und philosophische Dienstleistungen zum Zwecke der Propaganda
Die sog. nationalsozialistische Bewegung in Deutschland ( zu sehen auch im Kontext der
autoritären faschistischen Regime in Italien, Spanien, Mittelosteuropa) , stellte als
ideologischen Hintergrund ein wenig konsistentes Gemisch aus nationalistischen
Ressentiments, rassentheoretischen Setzungen, völkerpsychologischen
Abgrenzungsbemühungen und antijüdischen Wahnvorstellungen dar. Aber diese geistige
Grundhaltung konnte die weit verbreitete Ablehnung des Versailler Friedensvertrages, die
ungelösten wirtschaftlichen und Arbeitsmarktprobleme sowie die populäre antidemokratische
Einstellung der deutschen Eliten und weiter Massen der Bevölkerung für ihre politischen
Ziele mobilisieren. Ihr wurde am 30. Januar 1933 mit der Übertragung der
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Reichskanzlerschaft durch den Reichspräsidenten v. Hindenburg auf Adolf Hitler die Macht
übergeben.
Es fanden sich viele deutsche Wissenschaftler, die aus autoritären Staatsvorstellungen,
chauvinistischer Grundeinstellung und antisemitischen Überzeugungen dem Regime ihre
Dienste anboten, auch wenn sich nicht alle explizit als Nationalsozialisten empfanden.
Es muss hier nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit private Überlegungen auf
Karrierehoffnungen oder Einflussmöglichkeiten eine Rolle spielten ( Carl Schmitt, Martin
Heidegger u. a.). In der Regel hatten sie gegen das Führerprinzip, das allen demokratischen
Kriterien und rationalen neuzeitlichen Erwägungen zuwiderlief, nichts einzuwenden. Auch
gegen die willkürliche Entlassung hoch verdienter und international angesehener jüdischer
Kollegen gab es keinen nennenswerten Protest.
Gleichwohl war auch die nationalsozialistische Herrschaft auf einen breiteren
Begründungszusammenhang ihrer Herrschaft angewiesen.
Hinter dem gigantischen und energischen Leerlauf der propagandistischen Inszenierungen
war es selbst klügeren Nazis nicht verborgen geblieben, dass es besserer geistiger
Begründungen bedürfte, wenn man die Ansprüche einer auf tausend Jahre gedachten
Herrschaft als Herrenvolk sichern wollte.
In unserem Zusammenhang möchte ich nur einen kleinen Aspekt vorstellen, der mit der Rolle
einiger Philosophen und ihrer geistigen Zuarbeit für die Nazi- Führung zu tun hat.
Der Tübinger Philosoph Theodor Haering (1884-1964) hatte es 1940/41 übernommen, einen
Sammelband unter der Fragestellung „Das Deutsche in der Deutschen Philosophie“ (Stuttgart
1941) herauszugeben. Die Idee war, prominente Namen der Philosophiegeschichte unter dem
Gesichtspunkt ihres spezifischen Deutschseins herauszuheben und ihr Werk so zu
interpretieren. Im weiteren Sinne sollte es wohl dem „Kriegseinsatz der
Geisteswissenschaften“, wie es damals hieß, dienen.
Es wurden folgende Namen als deutsche Philosophen identifiziert: Albert der Deutsche,
Meister Eckart, Nicolaus von Cues, Paracelsus, Jacob Böhme, Johannes Kepler, Leibniz,
Christian Wolff und die deutsche Aufklärung, Immanuel Kant, Herder, Goethe, Schiller,
Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche.
Zu jedem von ihnen gab es einen besonderen Artikel. Beteiligt waren neben Haering Wilhelm
Grebe, Joachim Ritter, Ferdinand Weinhandl, August Faust, Max Caspar, Gerhard Krüger,
Max Wundt, Hinrich Knittermeyer, Benno von Wiese, Hermann Glockner, Cay von
Brockdorff und Günther Lutz.
Das erkenntnisleitende Interesse hat Haering in seinem zusammenfassenden Vorwort
schnörkellos genannt. „Nie ist den Völkern Europas eindringlicher als heute, zumal in dieser
Kriegszeit, die Besinnung auf ihre Eigenart und den eigentümlichen Beitrag zur Pflicht
gemacht worden, den sie mit dieser ihrer Besonderheit zu dem lebendigen Völkerorganismus
zu leisten haben-: zu diesem Idealziel, wie es sich immer mehr, an Stelle einer
gleichmacherischen und darum unlebendigen und lebensunkräftigen, verwaschenen
Menschheitsutopie siegreich durchzusetzen beginnt.“ (a. a. O. S. V)
Dies gelte ganz besonders für die Philosophien der Völker. Deshalb sei es unabweisbar, der
Frage nachzugehen, was an und in der deutschen Philosophie im besonderen Sinne deutsch
war.
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An den größten deutschen Denkern sei daher geprüft worden, was denn vor allem in ihrem
Unterschied und Gegensatz zu den großen Philosophen des Westens, der Franzosen und
Engländer, spezifisch deutsch sei.
Dabei schälen sich nach Haering drei Merkmale heraus:
Zum Ersten sei es eine durchgehend „größere Universalität der deutschen Weltschau“, die
durch alle Gegensätze hindurch zu einer „lebendigen Einheitsschau“ dränge. Dies wird einer
„instinktiven Abneigung“ zugeschrieben, die „die ganze Wirklichkeit, ihr Sein wie ihr Sollen,
allzu rasch und gewaltsam dogmatisch nur auf einen Leisten zu spannen und so zu
vereinseitigen und- zu verarmen“ drohe.
Haering schließt daran sogar die Frage, ob es nicht die Aufgabe des deutschen Geistes sein
könne, auch „innerlich Europas lebendig bestimmende Mitte zu werden“ und „durch diese
besondere philosophische Veranlagung und Bestimmtheit dazu berufen sein könnte, die
einseitigeren Denkformen und Geister der anderen Völker….ohne Gewaltsamkeit sogar in
sich aufzunehmen, ja durch solche Ergänzung erst zu ihrer Vollendung bringen und somit
einander versöhnen zu können“ (a. a. O. S. VI).
Er schließt mit der Erwägung, „ob nicht gerade der deutsche Geist imstande sein könnte, die
auch in jenen anderen schlummernden und nur vereinseitigten verwandten Anlagen wieder
voll und ganz zu wecken, die im deutschen Geiste sich nur allseitiger entfaltet haben“. ( a.a.
O. S. VI/VII).
Zum Zweiten sei es ein durchgängiges Merkmal deutscher Philosophie, dass sie „ vor allem
den geistigen Realitäten, in ihrer Eigenart gegenüber den anderen Realitäten mehr gerecht
geworden“ sei. Dies sei das „wahrhaft idealistische aller deutschen Philosophie“.
Darin sei nun auch als Drittes inbegriffen eine „selbstverständlich dynamisch-aktivistische
Note im Unterschied zu einer mehr statisch quietistischen Art der Weltbetrachtung“. Immer
sei schließlich das Werden dem Sein überlegen gewesen, Tat und Wille sei beim Menschen
über die unveränderliche, statische Ruhe der ratio, zu stellen, genauso „freie Verantwortung
über bloße schicksalhafte Naturnotwendigkeit“. Darin gründe schließlich auch die
Besonderheit der deutschen Philosophie, dass sie eine „Geschichte der Persönlichkeit, nicht
nur der Sachen allein gewesen“ sei.
Bei dieser programmatischen Einleitung fällt der sprachliche Duktus auf, der sich an die
damalige gängige propagandistische Wortwahl anlehnt. Begriffe wie „vereinseitigen“
„Gleichmacherei“, „verarmen“, Überfremdung“, Lebendigkeit versus Statik“ u. a. sind nach
dem zweiten Weltkrieg als aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammend identifiziert
worden. Sie gehören zur ideologisch- propagandistischen Spracherziehung des dritten
Reiches- und konnten in der Bundesrepublik noch lange als sprachliches Reservoir auch für
andere politische Intentionen benutzt werden. Sie waren etabliert und darum wirksam.
Hellmuth Plessner nannte so etwas 1959 „gebrauchsfertige Abtötungstechniken“ gegen
Kritik und Selbstkritik.
Und der Gdanke, dass sich die Philosophie der westlichen Völker erst in der deutschen
Philosophie vollende, ist nicht weit weg vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen
sollte.
Es ist der klassische Fall der gedanklichen und sprachlichen Anbiederung der Intellektuellen
an die Macht. Sie ist selbst nicht im herkömmlichen Sinne nationalsozialistisch, sie enthält
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aber für einfachere Gemüter der Politik und ihrer Legitimationsbedürfnisse alles Potential, um
sich gerechtfertigt zu fühlen und das propagandistisch auszuschlachten.
In einem der Philosophie gewidmeten Buch im Jahre 1941im Namen eines imaginären
universellen idealistischen und lebendigen deutschen Geistes gegen die „unlebendige,
lebensunkräftige, verwaschene Menschheitsutopie“ zu polemisieren ist die definitive Absage
an den politischen Humanismus, der in der Gemeinsamkeit des Rationalismus, der
Demokratie und der Aufklärung sich im Westen entwickelt hatte.
Dafür sollten Philosophen, die man unhistorisch als deutsche reklamierte, als prominente
Zeugen propagandistisch in Anspruch genommen werden.
Nichtsdestoweniger wurde Haering zwar nach 1945 nicht sofort wieder ordentlicher
Philosophieprofessor, sondern erst mit seiner Emeritierung, durfte aber seit 1948 wieder
lehren und wurde 1957 sogar Tübinger Ehrenbürger.
c) Ein NS- Versuch zu Leibniz
Gerhard Krüger ( 1902- 1972), Philosoph in Münster und nach dem Krieg in Frankfurt hoch
geachtet, hatte es übernommen, in dem genannten Sammelband über Leibniz zu schreiben.
(a. a. O. S. 209- 225).
Krüger versucht, Leibniz in die Zeit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einzuordnen, die
nach den Erfahrungen der Religionskriege kosmopolitische Perspektiven gehabt habe. Aber
Leibniz sei der Begründer der deutschen Aufklärung, bei dem alle Erscheinungen ihren
logischen Horizont haben sollten. Deshalb versuche er auch, die Welt mit Hilfe rationaler
Argumente zu verstehen. Das bedinge die Mathematisierung des Denkens. Deutsch sei nun
das genaue Gegenteil dieses Rationalismus. Und so sehr Leibniz dem Rationalismus
angehöre, so sehr bezeuge sich seine deutsche Eigenart dadurch, dass er sich eine
„auffallende Offenheit für das geheimnisvolle Eigenwesen der Natur bewahrt habe, deren
Kräfte in uns und außer uns eine unberechenbare Lebendigkeit“ hätten.
Das Deutsche an Leibniz liege darin, wie er sich zu den Gefahren verhält, die vom
aufgeklärten Denken ausgehe.
Die Vernünftigkeit, so Krüger, führe zur Vereinzelung des Menschen, weil sie die
hergebrachten Autoritäten des Glaubens und andere bezweifle und nur an der Instanz der
Vernunft hänge und seinem Urteil unterwerfe. So habe auch Leibniz feste Bindungen
gescheut. „Trotz unzähliger Beziehungen war er im wesentlichen einsam.“ Aber er habe doch
das Bedürfnis gehabt, praktisch zu wirken, „ und zwar ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt
der nationalen Wohlfahrt“. So sehr sei Leibniz auf die Politik fixiert gewesen, dass sein
„wissenschaftliches Lebenswerk ein literarisches Trümmerfeld von Bausteinen geblieben“ sei.
Krüger versucht, Leibniz zu einem Denker zu stilisieren, dem die national Wohlfahrt
Deutschlands ein Anliegen gewesen sei, der „die Überfremdung der deutschen Kultur durch
die französische“ bekämpfte. Dies sei nach Krüger der Zug seiner Persönlichkeit an dem sein
„bewusstes Deutschtum schon immer unverkennbar in Erscheinung trat“.
Leibnizens Beobachtung über die „Nachdrücklichkeit und den Reichtum der deutschen
Sprache muss nach Krüger als besonderes deutsches Bewusstsein interpretiert werden.
Leibnizens Bemerkung, dass „Ursprung und Quell des europäischen Wesens großen Theils“
bei den Deutschen zu suchen sei, wird hervorgehoben. Dies ist nach Krüger der Beweis, dass
Leibniz damit „die Gefahr des Kosmopolitismus“ gebannt habe.
Als dritte Gefahr des Rationalismus neben der Vereinzelung und der Unlebendigkeit wird von
Krüger genannt, dass alle religiöse Bindung in Gefahr gerate. Das sei die Gefahr, dass man in
die Illusion verfallen könne, es „ gebe ein menschliches Leben ohne die entschiedene
moralische Stellungnahme“. Dagegen habe Leibniz eigentümlich deutsch reagiert, nämlich
durch „ tief empfundenes Bewusstsein einer religiösen Verpflichtung“ im Gegensatz zum
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„aufgeklärten Atheismus und Immoralismus, den die moderne Vernunft in der Staatslehre von
Macchiavelli, Hobbes und Spinoza zeitigte. Leibnizens Versuch „souveräne Selbständigkeit
und religiösen Respekt“ zusammen zu denken „ ist ein deutscher Zug“, resümiert Krüger.
Auch sei der Wunsch, jenseits der Widersprüchlichkeit von Rationalität und Religion eine
höhere Wahrheit zu suchen, typisch deutsch.
Krüger sucht fast verzweifelt danach, Leibniz irgendwie eine besondere nationale Note zu
geben.
Die völkische Variante, die Haering in der deutschen Philosophie suchte, hat Krüger Leibniz
nicht unterstellt.
Fast resignierend klingt deshalb sein Satz „ Der Individualismus des Zeitalters ließ Leibniz
nicht dazu kommen, der Erkenntnis der nationalen Eigenart, die er so deutlich besaß, auch
metaphysisch Raum zu geben“.
Der Begriff des Volksgeistes sei zwar erst später erfunden worden, aber auch von Leibniz
Monadenlehre führe ein Weg zur „nationalen Eigenart“, weil anerkannt werde, dass der
Mensch in seinem universalen Erkenntnisdrang „durch sein Wesen an seine Heimatstelle
gebunden sei“.
Man sieht an diesen Gedankengängen, wie schwer sich Krüger tut, den erwarteten
Erkenntnisertrag zu erbringen, dass Leibniz umstandslos als deutscher Philosoph im Sinne
einer deutschen Besonderheit in Anspruch genommen werden kann.
Je intensiver er sich mit Leibnizens Gedanken beschäftigt, desto konstruierter wirken die
Gedankengänge und Verknüpfungen. Krüger gehört zu denen, die verkrampft versucht haben,
irgendeine Symbiose Leibnizscher Gedanken und deutsch-zentrierter völkischer Denkweise
zu konstruieren. Leibnizens wissenschaftliche und historische Prominenz war zu verlockend,
ihn als irgendeinen Ahnherren der eigenen Denkweise zu reklamieren und somit Propaganda
zu betreiben. Ohne Verfälschung war dies allerdings nicht möglich. So haben sich eine Reihe
von Philosophen bereit erklärt, dem „Wissens- Kriegs- Dienst“ zuzuarbeiten und damit ihre
eigene Reputation und Prominenz verraten.
Das allgemeine Streben nach Aufhebung der Gegensätze ist Gegenstand fast aller Philosophie
gewesen, ob in den religiös inspirierten Philosophien oder bis Hegel und Marx und Nietzsche.
Um Leibniz zu verstehen brauchte man keine deutsch- zentrierte Sichtweise.
Zu Propagandazwecken ließ er sich daher nur dann missbrauchen, wenn man den unpräzisen
Wunsch nach Einheit der Weltsicht auch in Leibniz wirken sah, aber zugestehen musste, dass
er nicht zum Durchbruch gelangte.
Auch in der Staatstheorie konnten sich die Philosophen der NS- Zeit nicht wirklich auf
Leibniz berufen. Die nackte Willkür des Führers als Höhepunkt der Rechtsentwicklung zu
deklarieren, wie es Carl Schmitt von 1933 bis 1936 tat, hatte in Leibniz keinen
Anknüpfungspunkt. Man müsste näher untersuchen, wo die Potentiale widerständigen
Denkens bei Leibniz steckten.
Seine Auffassung von der Verpflichtung der Fürsten, für die allgemeine Wohlfahrt aller zu
sorgen, ließ keine Willkürherrschaft zu. Das galt zu Lebzeiten von Leibniz auch für die
absolutistischen Herrscher, das galt in späteren Zeiten für jede Art von Diktatur.
Rassismus und Völkervernichtung ließen sich mit Leibniz schon gar nicht rechtfertigen.
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Im Gegenteil: Leibniz forderte seinen Kurfürsten auf, darauf stolz zu sein, wenn i seinem
Land auch nicht deutsch sprechende Untertanen gebe, wie es im Wendland der Fall sei, wo
damals noch wendslawisch sprechende Menschen gab.
Literaturhinweise:
Jürgen Habermas : „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, 5. Auflage, Neuwied und Berlin
1971,
Hellmuth Plessner: „Die verspätete Nation““, Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen
Geistes, Stuttgart 1959.
Theodor Haering (Hrsg.) „Das Deutsche in der eutschen Philosophie“ Stuttgart und Berlin
1941.
Gerhard Krüger :„Leibniz“, in Th. Haering a. a. O. S. 209-225
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