Prof. Rolf Wernstedt Präsident der Gottfried- Wilhelm- Leibniz- Gesellschaft Prominenz und Propaganda Vortrag auf der internationalen Arbeitstagung „Leibniz“ in der Zeit des Nationalsozialismus“ 23. – 25. September 2010 im Leibnizhaus in Hannover Gliederung: I. II. III. IV. V. I. Einleitende Bemerkungen zum Prominenzbegriff Zwei Fallbeispiele über den Zusammenhang von Prominenz und Propaganda 1. Der Sport 2. Die Heiligen Dynastische Prominenz und funktionale Excellenz Bürgerliche Prominenz Veränderung des Verhältnisses von Prominenz und Propaganda im 20. Jahrhundert. Sozialismus und Faschismus/Nationalsozialismus a) Marxismus und Propaganda b) Nationalsozialismus und philosophische Dienstleistungen zum Zwecke der Propaganda c) Ein NS- Versuch zu Leibniz Einleitende Bemerkungen zum Prominenzbegriff Das Thema meines Vortrags ist nicht nur der Alliteration in der Überschrift geschuldet. Die Begriffe Prominenz und Propaganda verlangen nach Umschreibung und Abgrenzung, bevor man über ihren systematischen, politischen und historischen Zusammenhang nachdenkt. Zumindest muss man sich im Klaren darüber sein, wie unscharf die Begriffe verwandt werden und wie trüb ihr Zusammenhang ist. Gleichwohl kann man auf sie wohl nicht verzichten. Auf eine ähnliche Unschärfe des Begriffs der „Öffentlichkeit“ hatte vor 50 Jahren bereits Jürgen Habermas hingewiesen. Unter Prominenz versteht man, dass jemand beruflich und gesellschaftlich eine herausragende Stellung einnimmt und in diesem Sinne eine herausragende Persönlichkeit ist, was auch häufig oder gelegentlich kommuniziert wird. Die Gebiete, in denen dieses Prädikat verliehen wird, sind höchst verschieden und auch in unterschiedlichen Zeiten durchaus unterschiedlich. Heute findet man Prominenz unter Schauspielern, Sportlern, Künstlern, Musikern, Wirtschaftsmanagern, von Politikern ganz zu schweigen. Es scheint, als ob Prominenz sich an den Grad der öffentlichen Aufmerksamkeit und der aktuellen Berühmtheit knüpft. 1 Wer sich im Fernsehen (oder Internet) die Sendungen anschaut, erkennt sehr schnell, dass sich Prominenz in Film, Funk und Fernsehen in der Regel an spezifische gesellschaftliche Schichten wendet. Prominenz ist schichtenabhängig. Sportler, ob im Fußball, im Boxen, Radfahren, Eishockey oder Leichtathletik ( oder beliebiger Sportarten) haben eine andere, viel zahlreichere Aufmerksamkeit und Anhängerschaft als Nobelpreisträger. Film- und Fernsehschauspielerinnen sind häufig unabhängig von ihren schauspielerischen Leistungen Gegenstand umfangreicherer Berichterstattung als herausragende Leistungen auf den abendlichen Bühnen. Man muss sich nur die täglichen Klatschspalten und die nachmittäglichen oder spätabendlichen sog. Promi- Sendungen anschauen. Dummheit schützt nicht vor Prominenz. Auch im öffentlichen politischen Raum sind es nicht allein die Inhaber politischer Ämter, die die größte Prominenz besitzen. Mindestens gleichwertig erscheinen die Fernsehmoderatoren, Journalisten und Filmemacher. Politische Prominenz erscheint weniger als Ausfluss politischer Legitimation denn als Ausfluss öffentlicher Darstellungsfähigkeit in Wort und Bild. Neuerdings kann man den Eindruck haben, dass politische Prominenz an besondere Nehmerqualitäten gegenüber fairen und unfairen Angriffen gekoppelt ist. Auch wissenschaftlicher Ruhm, ob vom Nobelpreis oder anderen Auszeichnungen abgeleitet, ist höchst vergänglich. Wer würde aus dem Gedächtnis die Ausgezeichneten des letzten Jahres nennen können? Welche Dichter, Schriftsteller oder Philosophen sind prominent? Wer würde einem heute auf Schillers Bemerkung in Wallensteins Prolog einfallen „Wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten“? Wer gehörte heute zu den Besten? Und wen sollten sie würdigen? Schon anhand dieser unsystematischen Beobachtungen lässt sich sagen, dass der semantische Gehalt des Prominenzbegriffs so groß ist, dass man danach fragen muss, welche Kriterien für welche Leistungen gelten und wer diese nach welchen Interessen festlegt. Ob aktuelle Prominenz auch von Dauer ist, d. h. über die jeweilige Gegenwart hinausreicht, bedarf einer zusätzlichen Überlegung. II. Zwei Fall-Beispiele über den Zusammenhang von Prominenz und Propaganda Ich möchte dies zunächst an zwei Beispielen, die auf den ersten Blick nichts gemeinsam haben, diskutieren: an dem des Sports und dem der Heiligen in den christlichen Kirchen. 1. Der Sport Sportliche Prominenz hat seit der Begründung der neuzeitlichen Olympischen Spiele ihren Anknüpfungspunkt an nationalen Rückkopplungsmöglichkeiten (Man sollte aber nicht vergessen, dass auch in der Antike die Namen von Olympioniken mit der Herkunftspolis verbunden war; anders als bei berühmten Gladiatoren der Römerzeit) . 2 Da im Sport prinzipiell Chancengleichheit für alle interessierten Sportlerinnen und Sportler besteht, war es hier immer leicht möglich, die individuellen Träume von persönlicher Leistung, Berühmtheit und nationaler Identifikation zu vereinigen. Alle Olympischen Spiele, Welt- und regionale Meisterschaften, haben in diesem Sinne seit Langem den Doppelcharakter individuellen Ehrgeizes und nationaler Resonanz. Dieser Aspekt hat sich spätestens seit den Olympischen Spielen 1936 in Berlin unrevidierbar mit der Olympischen Idee verkuppelt. Denn in Umkehrung des völkerverbindenden Charakters des Sportes wurde der sportliche Wettbewerbsgedanke auf den nationalen Wettbewerb ausgedehnt und mit Überlegenheitsgedanken verknüpft. Die Zahl der errungenen Medaillen, vor allem der prestigeträchtigen Goldmedaillen, wurde als Ausweis nationalen Rankings verstanden und mit dem Wesensgehalt des entsendenden Staates und seines Selbstverständnisses sowie dem dahinter stehenden Volk gleichgesetzt. Dieser Gedanke produziert den Wunsch, die sportlichen Gewinner als Repräsentanten des Landes zu sehen und dies auch kenntlich zu machen. Dies ist der Ort der Nutzbarmachung von sportlicher Prominenz zur Propaganda. Die Nationalsozialisten haben dies vor, während und nach der Olympiade ausgiebig getan und mit dem Rassegedanken zusätzlich verbunden. Deshalb wurden nach der Olympiade jüdische und farbige Sportler diskriminiert bzw. ignoriert. Bei älteren Menschen sind auch heute noch die Namen deutscher Olympiasieger von 1936 lebendig. Der Gedanke der propagandistischen Nutzung des Sports setzte sich nach dem 2. Weltkrieg zunächst vor allem in den Ländern des sog. sozialistischen Lagers fort, aber auch die anderen Länder blieben davon nicht unberührt. Die Sowjetunion und die DDR haben alle Siege bei allen Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften zu Aussagen über die Überlegenheit ihres politisch- gesellschaftlichen Systems genutzt. Entsprechend war auch immer die Propaganda. Diese sollte Eindruck bei der jeweiligen Bevölkerung machen und diente damit der indirekten politischen Legitimationsbeschaffung. In schöner Offenheit hat dies vor wenigen Tagen der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des DDR- Deutschen Turn- und Sportbundes, Thomas Köhler , in seinen Memoiren getan ( „Zwei Seiten der Medaille“). Gleichzeitig wollte man damit Eindruck auf die Länder machen, die nicht in westlichen Bündnissen verankert waren. Mit der zusätzlichen Kommerzialisierung des Sports, seiner raffinierten Übungsmethoden, der medizinischen, einschließlich der Dopingmöglichkeiten und der damit verbundenen Finanzperspektiven, verschob sich die Handhabung des Sports. Prominenz im Sport dient auch heute noch der nationalen emotionalen Erhöhung. Man ist sich heute aber noch nicht klar darüber, ob diese emotionale Erhöhung in Massenveranstaltungen und neuerdings in Public- Viewing- Zusammenkünften wirklich nationaler Identifikation entspringt. Bei der multikulturellen Zusammensetzung heutiger Fußballmannschaften ist dies auch nicht eindeutig, obwohl es manche angesichts der fröhlichen Präsentation von schwarz-rot-goldenen Fahnen politisch gern so sähen. Viel dominanter ist wahrscheinlich die Event- Emotionalität und vor allem der kommerzielle Aspekt einzuschätzen. Die große raum- und zeitgreifende Berichterstattung über sportliche Wettbewerbe produziert zur Freude der Siegerinnen und Sieger Prominenz. Medien, Sportverbände und nationale politische Repräsentanz sonnen sich darin. 3 Prominenz wiederum bedeutet Wiedererkennungswert und schafft damit Möglichkeiten der Sympathiewerte. Die Nähe zur Sportprominenz oder deren Ermöglichung verschafft nicht nur Propaganda-, sondern zugleich Werbepotential. Auf den Werbeflächen der Stadien und Rennstrecken und Trikots wird für die Produkte geworben, in den VIP- Etagen werben die Politiker für sich. Propaganda wird zur Werbung mit prominenten Namen und Bildern. Nutznießer sind die Sportler und die Firmen. Sportler wissen, dass ihr Ruhm, ihre Prominenz nicht von Dauer ist, sondern dass sie diesen Status möglichst schnell innerhalb weniger Jahre in bare Münze umsetzen müssen. Dauernde Bekanntheit über Jahrzehnte hinweg ( darüber hinaus kann man noch keine Aussagen machen) ist nur wenigen Sportlern, die gleichsam den Status von Legenden erreicht haben, vorbehalten: Max Schmeling etwa, Fritz Walter, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer. Das, was im Sportlichen noch einen gewissen Doppelcharakter hat, scheint im medialkünstlerischen Bereich sich inzwischen eindeutig auf die kommerzielle Seite verlagert zu haben. 2. Die Heiligen Fast zwei Jahrtausende hat das Christentum die Geschichte Europas und seit der Renaissance weiter Teile Amerikas und anderer Kontinente bestimmt. Kirchliche Prominenz war gekoppelt an hohe Würdenträger, deren Einfluss nicht immer klar in weltlich und kirchlich zu trennen war. Dass aber auch weltliche Herrschaft christlichen Normen und den Herrschaftsinteressen kirchlicher Würdenträger zu folgen hatte, war bis zur Reformation im Grundsatz nicht umstritten. Das verhinderte nicht erbitterte Konflikte. Aber die Drohung mit oder der Vollzug der Exkommunikation war für einen mittelalterlichen Menschen, ob Bettler oder Kaiser, nach der Todesstrafe fast die höchste Strafe. Der Säkularisierungsprozess ist bis heute nicht wirklich abgeschlossen. Die Erfindung des Martyriums gehört zu den wirkungsmächtigsten Instrumenten des Glaubens. Den Gläubigen zu sagen, auch ihr qualvoller Tod, wenn er aus Glaubensgründen erlitten wird, habe einen Sinn in der Rettung der Seele vor ewiger Verdammnis, ist der Aufruf zur Unbeugsamkeit gegenüber allen Anfechtungen und Aufforderungen, Überzeugungen und Glaubensinhalte zu revidieren. Diese Haltung führt dazu, dass der Tod als sinnvolle Konsequenz nicht nur für den Getöteten, sondern vor allem für die Überlebenden gesehen wird. Er führt zur Stabilisierung der Glaubens- Gemeinschaft. Ein solcher Märtyrertod dient der Bezeugung und der Verbreitung des Glaubens, er ist nicht notwendigerweise abschreckend. Seine Erscheinung muss in diesem Sinne propagiert werden. Fides propaganda est. Der Märtyrertod führt notwendigerweise zur Prominenz unter den Gleichgesinnten. Prominenz und Propaganda sind begrifflich an kaum einer anderen Stelle so eng verknüpft wie hier. Denn die über alle Zeiten hinweg bezeugte Standhaftigkeit im Glauben verschafft den Märtyrern eine namentliche Identität, die durch den Glaubensbezug gleichsam alle individuellen Eigenschaften verliert. 4 Umgekehrt führt das Märtyrertum zu einem verstärkten Zusammenhalt der Glaubensgemeinschaft und verschafft ihr erhöhte Legitimation und damit Herrschaftssicherung und Strukturerhalt im Innern und nach außen. Dies ist, unbeschadet aller Glaubensdimension und- überzeugung, ein hoch politischer Wirkungszusammenhang, der über Jahrhunderte angehalten hat und noch nicht zu Ende ist. Wenn es gelingt, die prominenten Namen in den religiösen und weltlichen Alltag zu transformieren, ist der Gipfel der Identifikation erreicht. Mit den Namenstagen, den beruflichen Zuordnungen, der Bennennung von Kirchen und Einrichtungen ist dies in nahezu paradigmatischer Weise gelungen. Die Berufung auf positive Prominenz kann eigene Bedeutungserhöhung verschaffen. Die Anbetung der Heiligen ist eine ewig andauernde Propaganda des Glaubens. III. Dynastische Prominenz und funktionale Excellenz Der Typus dieses Zusammenhangs zwischen Propaganda und Prominenz ist natürlich nicht auf den religiös- kirchlichen Raum beschränkt. In der hierarchisch gegliederten feudalen Welt und ihren dynastischen Strukturen bedurfte es keiner gesonderten Propaganda für Prominenz. Das schloss natürlich nicht aus, dass sich Herrscher oder Herrscherhäuser Geschichtsschreiber verpflichteten, die den Auftrag hatten, die Taten und Geschehnisse möglichst lichtvoll darzustellen. Das war eine Tradition, die seit der Antike immer wieder festzustellen ist. Die Prominenz war ausnahmslos in der Geschlechterfolge der jeweiligen Dynastie vorhanden und wurde so in der gesellschaftlichen und politischen Kommunikation ( später sogar unter Einschluss der Schulbücher) behandelt. Das schloss wiederum Rivalitätskämpfe mit allen zeitbedingten Publikationsmöglichkeiten nicht aus. (Doppelkönigtum, Ketzervorwürfe etc.) In den Ländern des Protestantismus galt dies sogar gegenüber den Landeskirchen. Das ging in Deutschland bis 1918 so. Aber dennoch haben sich seit Jahrhunderten die europäischen Potentaten der excellenten Fähigkeiten von Künstlern, Technikern, Architekten, Militärs oder Politmanagern bedient. Lorenzo di Medici machte Florenz zum Zentrum herausragender Künstler, Leonardo da Vinci diente italienischen und französischen Monarchen, Colleonis militärisches Talent kennt man noch heute, Macchiavellis Dienste am Florentiner Hof und Thomas Morus´ Wirken in London werden noch heute gerühmt, selbst wenn beide in Ungnade gefallen waren und Morus sogar hingerichtet wurde. Brunelleschis Architektur bleibt unzerstörbar prominent. Namen, die schon bekannt waren oder durch ihre Berufung erst bekannt wurden, vergrößerten den Ruhm adeliger Herrscherhäuser und dienten insofern auch hier dem Tüchtigkeitsnachweis der Herrschaft. Es war aber immer Prominenz der zweiten Reihe. Das sollte sich im Kern bis in die Aufklärung so fortsetzen. Am gesellschaftlichen Ranking änderte das nichts. Richelieu in Paris, Europäische Wissenschaftler am Hofe Peters des Großen in Russland, Leibniz in Hannover, Voltaire in Sanssouci, Goethe in Weimar, sind solche Beispiele. 5 Wissenschaftliche oder kulturelle Excellenz wurde von der Logik und den Interessen der Herrschaftssicherung und –mehrung in Dienst genommen. Sie war funktionale Excellenz und nicht selbständige Prominenz. Die Beteiligten wussten dies und verhielten sich auch so. Dies galt auch unabhängig von Aufträgen. Eine besondere Karriere in dieser Konstruktion machte im 19. Jahrhundert die militärische Prominenz. Sie wurde, zumal in Deutschland zum tonangebenden und im Ranking führenden gesellschaftlichen Part, gleich nach der Geblütsprominenz. Noch im Jahre 1914 musste Reichskanzler Bethmann- Hollweg an der kaiserlichen Tafel hinter den militärisch höherrangigen Titelträgern am Ende des Tisches sitzen. Namen wie Blücher, Roon oder Moltke übertrugen durch ihr militärisches Ansehen Kraft und gefühlte Legitimation auf die herrschenden Häuser. Das unheilvolle Wetterleuchten dieser Tradition war die zunächst hoch gelobte, dann schäbige Rolle Ludendorffs und Hindenburgs im und nach dem ersten Weltkrieg. An ihnen lässt sich der verhängnisvolle Weg überbetonten militärischen Denkens in einer Gesellschaft beobachten. Im Zweiten Weltkrieg kann man die deutsche Generalität nur als normativ entkernt bezeichnen. Selbst der einzige General mit vorzeigbarer Prominenz, Erwin Rommel, hat nach einer Gehorsamsverweigerung Selbstmord begehen müssen. Auch seine Prominenz hat ihn nur ein paar Monate geschützt, weil die NaziPropaganda seinen Namen noch brauchte. IV. Bürgerliche Prominenz Gleichwohl haben sich seit der Französischen Revolution im politischen Raum und mit dem Beginn der naturwissenschaftlich- technisch basierten industriellen Revolution im gesellschaftlich- wirtschaftlichen Raum die Geltung und Stärke der dynastischen Prominenz verringert. Die alte Prominenz konnte sich gegenüber den Ansprüchen eines auf geistiger Leistung, Effizienz, wirtschaftlicher Kraft und kapitalistischer Verwertung basierten Ansehens der heranwachsenden bürgerlichen Schicht nicht behaupten. Ihre Herrschaftsansprüche wurden zunehmend als hohl und überholt wahrgenommen. Die intellektuelle Substanz des Adels war mit Ausnahme weniger herausragender Gestalten (Peter I. und Katharina in Russland, Friedrich II. in Preußen ) ohnehin nie über eine Durchschnittsleistungsfähigkeit hinausgelangt, wenn überhaupt. Die Welfen in Hannover kennt man ja hier. Die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftsweise vergrößerte den Bedarf an intellektueller Breite. Techniker, Naturwissenschaftler, Ökonomen, Unternehmer, Mediziner, Juristen, Pädagogen, Künstler wurden objektiv bedeutender als die alte Nomenklatura. Ihre Bedeutsamkeit für die Erhaltung und Weiterentwicklung der Gesellschaft wurde überdeutlich. Diese bürgerliche funktionale Elite gehörte zum Arsenal der sich dem Fortschritt verschreibenden Gesellschaft. Die damit verbundene Denkweise war in ihrem Kern bürgerlich demokratisch und bewusst oder unbewusst gegen die Geblütsprominenz gerichtet.. Sie war brauchte die alte Prominenz gar nicht mehr, ließ sie aber gewähren,, solange die 6 schwächer werdenden adeligen Ansprüche den ökonomischen Ausweitungsdrang nicht behinderte. Dies ins Bewusstsein zu heben, d. h. zu propagieren, war die Aufgabe der liberalen und sozialen Freiheitsbewegungen. Dies ist die Geburtszeit der eigentlichen politischen Prominenz. Die Parlamente sind die Arena dafür, nicht allein die exekutive Regierungsprominenz. Ein Mann wie Goethe war noch unprominenter weimarischer „Ministerpräsident“, seine Prominenz hatte ihre Quelle in seinem literarischen und dichterischen Ansehen. Noch sicherten Kleinadelige wie Metternich oder W. v. Humboldt, Frh. vom Stein oder Graf Hardenberg die Regierungshäuser. Ihre Fähigkeiten werden aber im Laufe des 19. Jahrhunderts zusehends durch Bürgerliche ersetzt. In Frankreich, England und Italien war diese Entwicklung am Weitesten, während sich in Deutschland noch lange adelige gebildete Angehörige das politische und gesellschaftliche Sagen haben. Der Aufstieg der bürgerlichen politischen Prominenz geschah im Medium der neu entstandenen Öffentlichkeit und ihrer Diskursfreiheiten. Zeitungen, Journale, politische Versammlungen, Vorträge, Bankette, Salons und alle möglichen Formen moderner Kommunikation wurden eingesetzt, bevor der Rundfunk eine völlig neue Vermehrung der Informationen und der Propagierung der Handlungen von politischer Prominenz erlaubte. V. Veränderung des Verhältnisses von Prominenz und Propaganda im 20. Jahrhundert ( Sozialismus und Faschismus/Nationalsozialismus) Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Zeit, in der sich nach dem Desaster des 1. Weltkrieges und den ungelösten sozialen Problemen des Kapitalismus Großideologien Gehör verschafften und sich in einzelnen Ländern durchsetzten. Sozialismus und Faschismus/Nationalsozialismus. Beide versuchten von unterschiedlichen Seiten her die ungelösten Probleme wirtschaftlicher, politischer und geistiger (ideologischer) Art zu lösen. Ihre Ansätze sind nicht vergleichbar. Aber Sozialismus und Faschismus sind für ihre politischen Ansprüche trotz aller gewaltsamen Methoden ihrer Etablierung und Herrschaftssicherung auf die Zustimmung der Bevölkerung angewiesen. Der Legitimationsbedarf für diese politischen Regime ist enorm. Beide behaupten von sich, für die Lösung aller sozialen, geistigen, wirtschaftlichen und politischen Probleme nicht nur die richtigen aktuellen Instrumente zu haben, wozu auch die gewaltsame Durchsetzung ihrer Ziele zählten, sondern auch die dauernden richtigen und damit gültigen Gesamtvorstellungen zu besitzen. Für beide rechtfertigen die Ziele alle Maßnahmen, und zwar rücksichtslos. Geschichtstheoretische Überzeugungen wie im historischen Materialismus oder rassentypologische Verallgemeinerungen bilden den Hintergrund für konkrete politische Tagesentscheidungen. 7 Für eine solche Grundauffassung, die für die Vertreter erhebliches Ungeduldspotential und damit Aggression beinhaltete und für die Skeptiker oder nicht Überzeugten Verfolgungsgefahr bedeutete, brauchte es stete Neubegründung und Rechtfertigung. a. Marxismus und Propaganda Unter unserer Fragestellung „Prominenz und Propaganda“ gewinnt die Herrschaft dieser Systeme in Verbindung mit modernen Massenmedien eine neue Dimension. In Russland und der Sowjetunion und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in allen sog. realsozialistischen Ländern haben die theoretischen Begründer des Sozialismus, Karl Marx und Friedrich Engels absoluten Promistatus und sind in der praktischen Selbstauffassung kommunistischer Staaten gleichsam wissenschaftliche Heilige. Prominenz, als wissenschaftlicher Anspruch der Richtigkeit ihrer Analyse war allein durch die Nennung Propaganda. In unterschiedlichen Phasen gehören dazu dann Lenin und/oder Stalin in der Sowjetunion oder in China Mao Tse Tung, in Vietnam Ho Chi Minh, in Kuba Fidel Castro, in Nordkorea die Kims. Der Personenkult, wie es seit Chruschtschow system- selbstkritisch formuliert wurde, trieb groteske Blüten. Wissenschaftliche Theorie wurde als Herrschaftsmittel den unmittelbaren nationalen politischen Interessen verwandt und in Verbindung mit den gültigen Interpreten als kombiniertes Propagandasystem entfaltet. Eine gigantische, geradezu monströse mediale und administrative Dauerpropaganda in weltpolitischer Eschatologie ergoss sich über die Bevölkerung. Da der Marxismus auf die modernen, naturwissenschaftlich basierten Wissenschaften besonders großen Wert legte, wurden alle wissenschaftlichen und künstlerischen Namen der Vergangenheit zu Vorläufern eines unaufhaltsamen Fortschritts erklärt, in dessen Tradition man stehe. Die Berufung auf sie geriet zum unhinterfragbaren Auroritätsmerkmal und wurde damit in das Propagandasystem integriert, das der Legitimation der Herrschaft diente. In der DDR hatte dies schließlich sogar die Auswirkung, dass auch russische Gelehrte und Dichter des 18.- 20. Jahrhunderts als besonders avantgardistisch dargestellt wurden und als Vorbilder in den Schulbüchern, Lexika und populärwissenschaftlichen Zeitungen gepriesen wurden ( Lomonossow, Puschkin, Gorki, Mitschurin, Weltraumpioniere etc.). Wissenschaftlernamen wurde auf diese Weise in das tief gestaffelte IndoktrinationsNetzwerk eingebaut. b) Nationalsozialismus und philosophische Dienstleistungen zum Zwecke der Propaganda Die sog. nationalsozialistische Bewegung in Deutschland ( zu sehen auch im Kontext der autoritären faschistischen Regime in Italien, Spanien, Mittelosteuropa) , stellte als ideologischen Hintergrund ein wenig konsistentes Gemisch aus nationalistischen Ressentiments, rassentheoretischen Setzungen, völkerpsychologischen Abgrenzungsbemühungen und antijüdischen Wahnvorstellungen dar. Aber diese geistige Grundhaltung konnte die weit verbreitete Ablehnung des Versailler Friedensvertrages, die ungelösten wirtschaftlichen und Arbeitsmarktprobleme sowie die populäre antidemokratische Einstellung der deutschen Eliten und weiter Massen der Bevölkerung für ihre politischen Ziele mobilisieren. Ihr wurde am 30. Januar 1933 mit der Übertragung der 8 Reichskanzlerschaft durch den Reichspräsidenten v. Hindenburg auf Adolf Hitler die Macht übergeben. Es fanden sich viele deutsche Wissenschaftler, die aus autoritären Staatsvorstellungen, chauvinistischer Grundeinstellung und antisemitischen Überzeugungen dem Regime ihre Dienste anboten, auch wenn sich nicht alle explizit als Nationalsozialisten empfanden. Es muss hier nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit private Überlegungen auf Karrierehoffnungen oder Einflussmöglichkeiten eine Rolle spielten ( Carl Schmitt, Martin Heidegger u. a.). In der Regel hatten sie gegen das Führerprinzip, das allen demokratischen Kriterien und rationalen neuzeitlichen Erwägungen zuwiderlief, nichts einzuwenden. Auch gegen die willkürliche Entlassung hoch verdienter und international angesehener jüdischer Kollegen gab es keinen nennenswerten Protest. Gleichwohl war auch die nationalsozialistische Herrschaft auf einen breiteren Begründungszusammenhang ihrer Herrschaft angewiesen. Hinter dem gigantischen und energischen Leerlauf der propagandistischen Inszenierungen war es selbst klügeren Nazis nicht verborgen geblieben, dass es besserer geistiger Begründungen bedürfte, wenn man die Ansprüche einer auf tausend Jahre gedachten Herrschaft als Herrenvolk sichern wollte. In unserem Zusammenhang möchte ich nur einen kleinen Aspekt vorstellen, der mit der Rolle einiger Philosophen und ihrer geistigen Zuarbeit für die Nazi- Führung zu tun hat. Der Tübinger Philosoph Theodor Haering (1884-1964) hatte es 1940/41 übernommen, einen Sammelband unter der Fragestellung „Das Deutsche in der Deutschen Philosophie“ (Stuttgart 1941) herauszugeben. Die Idee war, prominente Namen der Philosophiegeschichte unter dem Gesichtspunkt ihres spezifischen Deutschseins herauszuheben und ihr Werk so zu interpretieren. Im weiteren Sinne sollte es wohl dem „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“, wie es damals hieß, dienen. Es wurden folgende Namen als deutsche Philosophen identifiziert: Albert der Deutsche, Meister Eckart, Nicolaus von Cues, Paracelsus, Jacob Böhme, Johannes Kepler, Leibniz, Christian Wolff und die deutsche Aufklärung, Immanuel Kant, Herder, Goethe, Schiller, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Nietzsche. Zu jedem von ihnen gab es einen besonderen Artikel. Beteiligt waren neben Haering Wilhelm Grebe, Joachim Ritter, Ferdinand Weinhandl, August Faust, Max Caspar, Gerhard Krüger, Max Wundt, Hinrich Knittermeyer, Benno von Wiese, Hermann Glockner, Cay von Brockdorff und Günther Lutz. Das erkenntnisleitende Interesse hat Haering in seinem zusammenfassenden Vorwort schnörkellos genannt. „Nie ist den Völkern Europas eindringlicher als heute, zumal in dieser Kriegszeit, die Besinnung auf ihre Eigenart und den eigentümlichen Beitrag zur Pflicht gemacht worden, den sie mit dieser ihrer Besonderheit zu dem lebendigen Völkerorganismus zu leisten haben-: zu diesem Idealziel, wie es sich immer mehr, an Stelle einer gleichmacherischen und darum unlebendigen und lebensunkräftigen, verwaschenen Menschheitsutopie siegreich durchzusetzen beginnt.“ (a. a. O. S. V) Dies gelte ganz besonders für die Philosophien der Völker. Deshalb sei es unabweisbar, der Frage nachzugehen, was an und in der deutschen Philosophie im besonderen Sinne deutsch war. 9 An den größten deutschen Denkern sei daher geprüft worden, was denn vor allem in ihrem Unterschied und Gegensatz zu den großen Philosophen des Westens, der Franzosen und Engländer, spezifisch deutsch sei. Dabei schälen sich nach Haering drei Merkmale heraus: Zum Ersten sei es eine durchgehend „größere Universalität der deutschen Weltschau“, die durch alle Gegensätze hindurch zu einer „lebendigen Einheitsschau“ dränge. Dies wird einer „instinktiven Abneigung“ zugeschrieben, die „die ganze Wirklichkeit, ihr Sein wie ihr Sollen, allzu rasch und gewaltsam dogmatisch nur auf einen Leisten zu spannen und so zu vereinseitigen und- zu verarmen“ drohe. Haering schließt daran sogar die Frage, ob es nicht die Aufgabe des deutschen Geistes sein könne, auch „innerlich Europas lebendig bestimmende Mitte zu werden“ und „durch diese besondere philosophische Veranlagung und Bestimmtheit dazu berufen sein könnte, die einseitigeren Denkformen und Geister der anderen Völker….ohne Gewaltsamkeit sogar in sich aufzunehmen, ja durch solche Ergänzung erst zu ihrer Vollendung bringen und somit einander versöhnen zu können“ (a. a. O. S. VI). Er schließt mit der Erwägung, „ob nicht gerade der deutsche Geist imstande sein könnte, die auch in jenen anderen schlummernden und nur vereinseitigten verwandten Anlagen wieder voll und ganz zu wecken, die im deutschen Geiste sich nur allseitiger entfaltet haben“. ( a.a. O. S. VI/VII). Zum Zweiten sei es ein durchgängiges Merkmal deutscher Philosophie, dass sie „ vor allem den geistigen Realitäten, in ihrer Eigenart gegenüber den anderen Realitäten mehr gerecht geworden“ sei. Dies sei das „wahrhaft idealistische aller deutschen Philosophie“. Darin sei nun auch als Drittes inbegriffen eine „selbstverständlich dynamisch-aktivistische Note im Unterschied zu einer mehr statisch quietistischen Art der Weltbetrachtung“. Immer sei schließlich das Werden dem Sein überlegen gewesen, Tat und Wille sei beim Menschen über die unveränderliche, statische Ruhe der ratio, zu stellen, genauso „freie Verantwortung über bloße schicksalhafte Naturnotwendigkeit“. Darin gründe schließlich auch die Besonderheit der deutschen Philosophie, dass sie eine „Geschichte der Persönlichkeit, nicht nur der Sachen allein gewesen“ sei. Bei dieser programmatischen Einleitung fällt der sprachliche Duktus auf, der sich an die damalige gängige propagandistische Wortwahl anlehnt. Begriffe wie „vereinseitigen“ „Gleichmacherei“, „verarmen“, Überfremdung“, Lebendigkeit versus Statik“ u. a. sind nach dem zweiten Weltkrieg als aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammend identifiziert worden. Sie gehören zur ideologisch- propagandistischen Spracherziehung des dritten Reiches- und konnten in der Bundesrepublik noch lange als sprachliches Reservoir auch für andere politische Intentionen benutzt werden. Sie waren etabliert und darum wirksam. Hellmuth Plessner nannte so etwas 1959 „gebrauchsfertige Abtötungstechniken“ gegen Kritik und Selbstkritik. Und der Gdanke, dass sich die Philosophie der westlichen Völker erst in der deutschen Philosophie vollende, ist nicht weit weg vom deutschen Wesen, an dem die Welt genesen sollte. Es ist der klassische Fall der gedanklichen und sprachlichen Anbiederung der Intellektuellen an die Macht. Sie ist selbst nicht im herkömmlichen Sinne nationalsozialistisch, sie enthält 10 aber für einfachere Gemüter der Politik und ihrer Legitimationsbedürfnisse alles Potential, um sich gerechtfertigt zu fühlen und das propagandistisch auszuschlachten. In einem der Philosophie gewidmeten Buch im Jahre 1941im Namen eines imaginären universellen idealistischen und lebendigen deutschen Geistes gegen die „unlebendige, lebensunkräftige, verwaschene Menschheitsutopie“ zu polemisieren ist die definitive Absage an den politischen Humanismus, der in der Gemeinsamkeit des Rationalismus, der Demokratie und der Aufklärung sich im Westen entwickelt hatte. Dafür sollten Philosophen, die man unhistorisch als deutsche reklamierte, als prominente Zeugen propagandistisch in Anspruch genommen werden. Nichtsdestoweniger wurde Haering zwar nach 1945 nicht sofort wieder ordentlicher Philosophieprofessor, sondern erst mit seiner Emeritierung, durfte aber seit 1948 wieder lehren und wurde 1957 sogar Tübinger Ehrenbürger. c) Ein NS- Versuch zu Leibniz Gerhard Krüger ( 1902- 1972), Philosoph in Münster und nach dem Krieg in Frankfurt hoch geachtet, hatte es übernommen, in dem genannten Sammelband über Leibniz zu schreiben. (a. a. O. S. 209- 225). Krüger versucht, Leibniz in die Zeit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einzuordnen, die nach den Erfahrungen der Religionskriege kosmopolitische Perspektiven gehabt habe. Aber Leibniz sei der Begründer der deutschen Aufklärung, bei dem alle Erscheinungen ihren logischen Horizont haben sollten. Deshalb versuche er auch, die Welt mit Hilfe rationaler Argumente zu verstehen. Das bedinge die Mathematisierung des Denkens. Deutsch sei nun das genaue Gegenteil dieses Rationalismus. Und so sehr Leibniz dem Rationalismus angehöre, so sehr bezeuge sich seine deutsche Eigenart dadurch, dass er sich eine „auffallende Offenheit für das geheimnisvolle Eigenwesen der Natur bewahrt habe, deren Kräfte in uns und außer uns eine unberechenbare Lebendigkeit“ hätten. Das Deutsche an Leibniz liege darin, wie er sich zu den Gefahren verhält, die vom aufgeklärten Denken ausgehe. Die Vernünftigkeit, so Krüger, führe zur Vereinzelung des Menschen, weil sie die hergebrachten Autoritäten des Glaubens und andere bezweifle und nur an der Instanz der Vernunft hänge und seinem Urteil unterwerfe. So habe auch Leibniz feste Bindungen gescheut. „Trotz unzähliger Beziehungen war er im wesentlichen einsam.“ Aber er habe doch das Bedürfnis gehabt, praktisch zu wirken, „ und zwar ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt der nationalen Wohlfahrt“. So sehr sei Leibniz auf die Politik fixiert gewesen, dass sein „wissenschaftliches Lebenswerk ein literarisches Trümmerfeld von Bausteinen geblieben“ sei. Krüger versucht, Leibniz zu einem Denker zu stilisieren, dem die national Wohlfahrt Deutschlands ein Anliegen gewesen sei, der „die Überfremdung der deutschen Kultur durch die französische“ bekämpfte. Dies sei nach Krüger der Zug seiner Persönlichkeit an dem sein „bewusstes Deutschtum schon immer unverkennbar in Erscheinung trat“. Leibnizens Beobachtung über die „Nachdrücklichkeit und den Reichtum der deutschen Sprache muss nach Krüger als besonderes deutsches Bewusstsein interpretiert werden. Leibnizens Bemerkung, dass „Ursprung und Quell des europäischen Wesens großen Theils“ bei den Deutschen zu suchen sei, wird hervorgehoben. Dies ist nach Krüger der Beweis, dass Leibniz damit „die Gefahr des Kosmopolitismus“ gebannt habe. Als dritte Gefahr des Rationalismus neben der Vereinzelung und der Unlebendigkeit wird von Krüger genannt, dass alle religiöse Bindung in Gefahr gerate. Das sei die Gefahr, dass man in die Illusion verfallen könne, es „ gebe ein menschliches Leben ohne die entschiedene moralische Stellungnahme“. Dagegen habe Leibniz eigentümlich deutsch reagiert, nämlich durch „ tief empfundenes Bewusstsein einer religiösen Verpflichtung“ im Gegensatz zum 11 „aufgeklärten Atheismus und Immoralismus, den die moderne Vernunft in der Staatslehre von Macchiavelli, Hobbes und Spinoza zeitigte. Leibnizens Versuch „souveräne Selbständigkeit und religiösen Respekt“ zusammen zu denken „ ist ein deutscher Zug“, resümiert Krüger. Auch sei der Wunsch, jenseits der Widersprüchlichkeit von Rationalität und Religion eine höhere Wahrheit zu suchen, typisch deutsch. Krüger sucht fast verzweifelt danach, Leibniz irgendwie eine besondere nationale Note zu geben. Die völkische Variante, die Haering in der deutschen Philosophie suchte, hat Krüger Leibniz nicht unterstellt. Fast resignierend klingt deshalb sein Satz „ Der Individualismus des Zeitalters ließ Leibniz nicht dazu kommen, der Erkenntnis der nationalen Eigenart, die er so deutlich besaß, auch metaphysisch Raum zu geben“. Der Begriff des Volksgeistes sei zwar erst später erfunden worden, aber auch von Leibniz Monadenlehre führe ein Weg zur „nationalen Eigenart“, weil anerkannt werde, dass der Mensch in seinem universalen Erkenntnisdrang „durch sein Wesen an seine Heimatstelle gebunden sei“. Man sieht an diesen Gedankengängen, wie schwer sich Krüger tut, den erwarteten Erkenntnisertrag zu erbringen, dass Leibniz umstandslos als deutscher Philosoph im Sinne einer deutschen Besonderheit in Anspruch genommen werden kann. Je intensiver er sich mit Leibnizens Gedanken beschäftigt, desto konstruierter wirken die Gedankengänge und Verknüpfungen. Krüger gehört zu denen, die verkrampft versucht haben, irgendeine Symbiose Leibnizscher Gedanken und deutsch-zentrierter völkischer Denkweise zu konstruieren. Leibnizens wissenschaftliche und historische Prominenz war zu verlockend, ihn als irgendeinen Ahnherren der eigenen Denkweise zu reklamieren und somit Propaganda zu betreiben. Ohne Verfälschung war dies allerdings nicht möglich. So haben sich eine Reihe von Philosophen bereit erklärt, dem „Wissens- Kriegs- Dienst“ zuzuarbeiten und damit ihre eigene Reputation und Prominenz verraten. Das allgemeine Streben nach Aufhebung der Gegensätze ist Gegenstand fast aller Philosophie gewesen, ob in den religiös inspirierten Philosophien oder bis Hegel und Marx und Nietzsche. Um Leibniz zu verstehen brauchte man keine deutsch- zentrierte Sichtweise. Zu Propagandazwecken ließ er sich daher nur dann missbrauchen, wenn man den unpräzisen Wunsch nach Einheit der Weltsicht auch in Leibniz wirken sah, aber zugestehen musste, dass er nicht zum Durchbruch gelangte. Auch in der Staatstheorie konnten sich die Philosophen der NS- Zeit nicht wirklich auf Leibniz berufen. Die nackte Willkür des Führers als Höhepunkt der Rechtsentwicklung zu deklarieren, wie es Carl Schmitt von 1933 bis 1936 tat, hatte in Leibniz keinen Anknüpfungspunkt. Man müsste näher untersuchen, wo die Potentiale widerständigen Denkens bei Leibniz steckten. Seine Auffassung von der Verpflichtung der Fürsten, für die allgemeine Wohlfahrt aller zu sorgen, ließ keine Willkürherrschaft zu. Das galt zu Lebzeiten von Leibniz auch für die absolutistischen Herrscher, das galt in späteren Zeiten für jede Art von Diktatur. Rassismus und Völkervernichtung ließen sich mit Leibniz schon gar nicht rechtfertigen. 12 Im Gegenteil: Leibniz forderte seinen Kurfürsten auf, darauf stolz zu sein, wenn i seinem Land auch nicht deutsch sprechende Untertanen gebe, wie es im Wendland der Fall sei, wo damals noch wendslawisch sprechende Menschen gab. Literaturhinweise: Jürgen Habermas : „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, 5. Auflage, Neuwied und Berlin 1971, Hellmuth Plessner: „Die verspätete Nation““, Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959. Theodor Haering (Hrsg.) „Das Deutsche in der eutschen Philosophie“ Stuttgart und Berlin 1941. Gerhard Krüger :„Leibniz“, in Th. Haering a. a. O. S. 209-225 13