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___________________________________________________________COLLASIUS
Stefan Winkle
Die Cholera mit ihren vielfältigen kulturhistorischen Wechselbeziehungen
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Prof. F. Kauffmann zum 70. Geburtstag gewidmet
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Die Seuchengeschichte ist wie ein vielseitig geschliffener Stein, auf dessen Facetten, je
nachdem von welcher Seite man ihn betrachtet, die mannigfaltigsten Reflexe
aufleuchten können. Auch die Geschichte der Cholera ist nicht nur auf das eigene
Seuchengeschehen begrenzt, sondern greift durch vielfältige Wechselbeziehungen auf
die Bereiche von Magie und Religion, Handel und Verkehr, Krieg und Politik, sowie
Kunst und Wissenschaft über. Dennoch hat man in unserer saturierten und
selbstgefälligen Welt kaum noch eine Ahnung davon, welche Angst diese Seuche, die
heute auch den meisten Ärzten nur aus Lehrbüchern geläufig ist, vor kaum drei
Generationen bei uns auslöste, und daß nicht zuletzt diesen Erschütterungen unsere
wichtigsten städtehygienischen und seuchenprophylaktischen Maßnahmen zu
verdanken sind.
Obwohl das Abendland von der Cholera asiatica erst im 19 Jahrhundert richtig
heimgesucht wurde, so daß man sie vielfach für eine neu entstandene Seuche hielt,
kam diese Krankheit in Indien schon seit jeher vor insbesondere im sumpfigen
malaria-verseuchten Deltagebiet des Ganges und Brahmaputra. Von diesem
endemischen Herd aus ist sie wahrscheinlich schon in früheren, verkehrsärmeren
Jahrhunderten in die benachbarten Gebiete Asiens vorgedrungen und hin und wieder
auch nach Europa und Afrika gelangt. Angaben über das Vorkommen der Cholera In
Indien finden sich schon in den ältesten medizinischen Sanskritschriften So wird von
dem indischen "Hippokrates" CARAKA, der In einem der vorchristlichen Jahrhunderte
lebte eine als ,“Visûcikä" bezeichnete, meist tödlich verlaufende Krankheit erwähnt, die
Brechdurchfälle eingefallene Augen Verlust der Stimme Blauwerden der Lippen und
Nägel und Schwinden des Bewußtseins verursachte Auch auf einem aus der Zeit des
buddhistischen Friedensfürsten ASOKA (3 Ih. v. Chr.) stammenden Monolith in
Vijayanagar In der Provinz Gujerat ist eine Krankheit mit den gleichen Symptomen
vermerkt. Die Cholera muß aber In Indien schon viel früher bekannt und gefürchtet
gewesen sein, denn im Athar-va-Veda, der lange vor CARAKAS Schriften entstanden
ist, befindet sich ein magisches Lied, in welchem die Visucikâ in euphemistischer
Weise personifiziert und wie in einem anderen Lied die Malaria (..Oh, Takman, Gott
des Feurigen .... der du an zwei aufeinanderfolgenden Tagen und am dritten Tage
wiederkehrst ... verschone uns!") um Abwendung des von ihr ausgehenden Unheils
angefleht wird:
“Vlsûcikâ, die du weder dem Tiger noch dem Wolf, weder dem gefiederten Falken noch
dem Löwen etwas zu Leide tust, bewahre uns vor Angst und Not."
In Anbetracht der Reichweite und Verflechtung des antiken Handels ist es denkbar, daß
bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. die Cholera aus Indien nach Griechenland
eingeschleppt wurde. Im 5. und 7. Buche der “Epidemischen Krankheiten", die zwar
HIPPOKRATES zugeschrieben, aber wahrscheinlich erst später in der hellenistischen
Zeit entstanden sind, werden einige Cholerafälle erwähnt und auch die klassischen
Symptome dieser Krankheit mit meisterhafter Klarheit und Prägnanz geschildert:
"In Athen", heißt es im 5. Buch, “befiel einen Mann die Cholera. Er erbrach, hatte
Durchfall und wurde von Schmerzen gequält. Weder das Erbrechen noch der Durchfall
konnten zum Stillstand gebracht werden. Die Stimme versagte fast, er konnte sich nicht
vom Bett erheben. Die Augen waren getrübt und tiefliegend. Krämpfe, die vom Bauch
herkamen, quälten ihn, ebenso vom Darm, auch Schluckauf trat ein. Der Durchfall war
reichlicher als das Erbrechen . . ." (Epid. V. 10).
Im 7. Buch wird von der Cholera als einer Krankheit gesprochen, die besonders im
Sommer, fast gleichzeitig mit den Wechselfiebern, gehäuft vorkommt. Beachtenswert
ist auch, vor welchen Lebensmitteln im Zusammenhang mit ihr gewarnt wird:
“Cholerazustände entstehen von Fleischgenuß, hauptsächlich von blutigem, d. h. noch
halbrohem Schweinefleisch ... Auch von Tintenfischen, Krabben und Krebsen...
unge-kochtem Sauerampfer, von Backwerk, Honigkuchen, Herbstobst und reifen
Melonen ..." (Epid. VII. 82).
Die hier angeführten Lebensmittel werden auch heute von den Tropenärzten zu den
gefährlichsten Oberträgern von infektiösen Darmkrankheiten gezählt
Aus Indien und China weiß man, daß bald nach der Melonenreife die DarmInfektionen
eine ansteigende Tendenz aufweisen. “Sobald die Melonen billig sind", lautet ein
Hinduspruch, "wird die Cholera bösartig!" Die Gefahr rührt daher, daß in den warmen
Ländern die Melonen zur Frischhaltung oft in jauchige Wassergräben gelegt und
danach aufgeschnitten verkauft werden, wobei es durch unreine Hände oder Fliegen
zur Infektion der Schnittflächen kommen kann.
Ob die Krankheitsbezeichnung “Cholera" von dem griechischen Wort für Darm, Därme
herrührt und einfach Darmleiden bedeutet oder in Anlehnung an die Viersäftelehre aus
den Wötern Galle und Fluß = Gallenfluß zusammengesetzt oder im Hinblick auf die
profusen Diarrhoen mit dem Wort für Dachrinne identifiziert wurde, konnte philologisch
noch nicht endgültig geklärt werden.
Auch nach Rom, aus dem während der Kaiserzeit nach PLINIUS d. A. alljährlich etwa
100 Millionen Sesterzen Gold für kostbare Gewürze. Perlen, Edelsteine und Seide nach
Indien und China abflossen, dürfte die Cholera gelegentlich durch Händler und
Kaufleute eingeschleppt worden sein. Der griechische Arzt ARETAIOS von
Kappadokien, ein Zeitgenosse GALENS, berichtet im 2. Jahrhundert n. Chr. über
schwere Durchfälle, Erbrechen und Bauchkrämpfe, durch die der Kranke rasch
geschwächt wird. Seine klassische Schilderung sei parallel im griechischen Original und
der Übersetzung von Benno v. HAGEN wiedergegeben:
BILD
(griechischer Text)
“Krämpfe stellen sich ein, Kontraktionen der Muskeln an den Waden und Armen. Die
Finger krümmen sich, dem Patienten wird es schwarz vor den Augen, Schluckauf tritt
ein; die Nägel verfärben sich graublau, Kälte verbreitet sich, die Extremitäten werden
eisig, der ganze Körper erstarrt. Im Endstadium bricht der Mensch in Schweiß aus,
schwarze Galle geht nach oben und unten ab. Es besteht Anurie infolge des Krampfes,
es sammelt sich aber auch kein Urin in der Blase an, weil alle Flüssigkeit zum Darm
abgelenkt ist. Die Stimme erlischt, der Puls ist sehr klein und häufig wie bei einer
Synkope (1) "
Im Mittelalter wird die Cholera in Europa nicht erwähnt, da man schwere und
epidemisch auftretende Krankheiten gewöhnlich mit dem Sammelbegriff Pestilenz
bezeichnete. Im Seuchengeschehen Indiens spielt sie dagegen weiterhin eine
verheerende Rolle. So wird in einem Sanskritwerk aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. von
einer als “Nja" bezeichneten mörderischen Epidemie berichtet, die den Flußläufen
folgend viele Menschen durch Brechdurchfälle schnell dahinraffte.
Ende des 10. und Anfang des 11. Jahrhunderts n. Chr. drang der Islam nach
Nordindien ein und Mahmud (997-1030), der erste mohammedanische Herrscher aus
dem Geschlecht der Ghasnaviden, dehnte sein Reich über Delhi, die Halbinsel Gujerat
und den Panjab aus. Zu jener Zeit wurden von dem arabisch-persischen Arzt IBN SINA
(Avicenna) (980-1037), der bereits auf die Bedeutung des Bodens und Trinkwassers
bei der Verbreitung von Krankheiten hingewiesen hatte, choleraartige Krankheitsfälle
geschildert. Für die Seuche gebrauchte er, ebenso wie fast 100 Jahre später IBN
ROSCHD (Averroes), die Bezeichnung “Haiza", die auch heute noch im
Hindostani-Idiom gebräuchlich ist und von der auch der türkische Name “Haida"
herrühren dürfte. Von einer besonders schweren Choleraepidemie wurden 1325 die
Mohammedaner von Delhi nach dem Fest des Fastenbrechens (“id alfitr") heimgesucht,
bei dem sich die Feiernden mit Süßigkeiten zu beschenken pflegen. Auch in der Türkei
zog dieses Fest am Ende des Ramadans, das dort “Scheker bairam" (Zuckerfest) heißt
und viel Gelegenheit zu Schmierinfektionen bietet, im vergangenen Jahrhundert nicht
selten Typhus-, Kuhrund Choleraausbrüche nach sich.
Die ersten europäischen Ankömmlinge in Indien fanden dort Tempel einer
Cholera-Göttin vor. Ihren Zorn, dem die Seuche zugeschrieben wurde, versuchten die
Eingeborenen durch Opfer und Gebete zu besänftigen. Aus dem 16., 17. und 18.
Jahrhundert liegen von Portugiesen, Holländern, Franzosen und Engländern
einwandfreie Aufzeichnungen über Choleraausbrüche in den verschiedensten
Gegenden Indiens vor, so in Goa (1543), auf Java (1629), in Pondicherry (1768),
Kalkutta (1781), Madras (1782) und in dem Pilgerort Hardwar (1783), wo damals
binnen weniger Tage 20 000 Menschen starben.
Abb.1
Benares
Alltägliches Bild am linken Ufer des Ganges (das rechte gilt als unheilbringend).
Pilger verrichten im heiligen Wasser stehend ihre Gebete und rituellen Waschungen.
Links vorne ist eine Pilgerin im Begriff, von dem Wasser, das sie mit den hohlen
Händen aus dem Fluß geschöpft hat, zu trinken.
(Reproduktion aus “Vorderindien"
[Geographisch - Kulturelle Gesellschaft im Kunstkreis], Freudenstadt.)
Abb. 2
Benares
Eine alltagliche Szene am Manikarnikâ-Ghat.
Verhüllte Leichen werden von den Angehörigen auf den Ufertreppen niedergelegt, um
sie vor der Verbrennung noch einmal in das sündentilgende Wasser einzutauchen.
Ehefrauen haben rote Leichentücher, alle ubrigen Toten weiße.
Links auf der Plattform liegt eine roteingehüllte Leiche auf offenem Scheuerhaufen.
Auf den untersten Stufen des Ghats, vom Wasser bespült, türmen sich die verkohlten
Reste von den Einäscherungen
(Reproduktion aus “Die großen Religionen der Welt"
erschienen bei Droemersche Verlagsanstalt Th KNAUR Nachf, München )
Wie erklärt es sich, daß die Cholera in Indien nicht zum Erloschen kommt, sondern von
Jahr zu Jahr weiterglimmt und vor allem in Bengalen gefährliche Dauerherde bildet?
Außer der Bevölkerungsdichte und der geoepidemiologischen Situation des sumpfigen
Gangesdeltas sind daran vor allem das unvorstellbare Massenelend und besondere
religiöse Gebräuche der brahmanischen Inder schuld. Der Ganges, der nach einem
Mythos aus den Haarlocken Sivas entsprungen ist, gilt den Hindus als heiliger Fluß,
dessen Wasser eine heilende, läuternde und sündentilgende Wirkung haben soll.
Alljährlich strömen endlose Pilgerzüge aus ganz Indien in den vielen Wallfahrtsorten
am Ganges (Hardwar, Allahabad, Benares etc.) zusammen, um in den Fluten des
heiligen Stromes die rituellen Waschungen und Gebete zu verrichten. Allein Benares,
das Zentrum der brahmanischen Gelehrsamkeit, das ursprünglich “Avimukta", d. h. Ort
der Erlösung hieß, wird jährlich von mehr als einer Million Gläubigen aufgesucht. Mit
Stolz nennt es der Hindu .Varânasi", d. h. “im Besitz des besten Wassers" Es sei aber
keinem Menschen geraten, dieses beste aller Wasser zu trinken, in dem sich der
gesamte Schmutz und Unrat von Benares ansammelt. Auf den zahlreichen Treppen
oder Ghats, die sich am linken Ufer kilometerweit aneinanderreihen und als steinerne
Symbole des Hinabsteigens vom Irdisch-Unreinen und Vergänglichen in das
entsühnende ewige Element des Wassers gelten, drängen sich in Lumpen oder Seide
gehüllte oder fast völlig entblößte Pilger, um die vorgeschriebenen Waschungen
vorzunehmen Wer hier in der Obhut der Brahmanen stirbt, heißt es, dem flüstert Diva
eine geheimnisvolle Silbe ins Ohr, die ihn für immer vom “Sarnsara", dem Kreislauf aller
weiteren Wiedergeburten und Leiden erlöst, wodurch er den ewigen Frieden und die
glückselige Verschmelzung mit der Gottheit erlangt. Daher ist Benares auch die Stadt
der Siechen und Toten geworden. Viele Gebrechliche und Kranke schleppen sich
dorthin oder lassen sich hinbringen, weniger in der Erwartung, geheilt zu werden als
vielmehr in der Hoffnung, angesichts des heiligen Stromes entsühnt sterben zu können
Unter den zahlreichen Ghats gibt es einen mit dem merkwürdigen Namen Manikarnikâ,
d. h. Juwelenohrschmuck (des Diva). Hier werden diejenigen, denen die Gnade zuteil
geworden war, in Benares zu sterben, auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nachher wirft
man ihre Asche oder - wenn das Geld für die nötige Holzmenge nicht ausreichte - ihre
angesengten Leichen in den Fluß
Die Ansammlung der ungeheuren Pilgermassen auf relativ engem Raum unter äußerst
unhygienischen Bedingungen muß zwangsläufig zu Infektionen, vor allem infektiösen
Darmerkrankungen der verschiedensten Art führen. Da sich die Kranken erst recht zu
dem heiligen Wasser drängen, in dem zwecks Läuterung und Entsühnung sogar die
Leichen
der
Verstorbenen
vor
der
Verbrennung
gewaschen
werden,
gelangen - abgesehen von den Abwassern - auch auf diesem Wege Darmbakterien,
darunter nicht selten Choleravibrionen, in das langsam dahinstromende Flußwasser
Dieses wird von den übrigen Pilgern - in dem unerschütterlichen Glauben, daß es heilig
und daher auch rein sei - bedenkenlos aus der hohlen Hand getrunken oder zum
Mitnehmen in Kannen und Krüge geschöpft. Gutes Trinkwasser, wie es manche
Wallfahrtsorte besitzen, wird von den frommen Pilgern verschmäht, wenn sie das
heilige Wasser des Flusses trinken können Heißt es doch in einem magischen Spruch
des Atharva-Veda:
“Das Wasser heilt alles, es vertreibt jede Krankheit, es heilt jedes Leiden Möge es auch
für dich ein Heilmittel sein!"
Da besonders das Gangeswasser von Benares als Allheilmittel bei den
verschiedensten Krankheiten gilt, darf es in keinem Haus eines gläubigen Hindu fehlen.
Daher trifft man im Innern des Landes oft lange Züge heimkehrender Pilger mit der
kostbaren Last auf dem Haupte. Denn daheim kann man das Wasser samt der Keime
für teures Geld auch an andere verkaufen. Auf diese Weise können die Erreger
infektiöser Darmkrankheiten über weite Strecken sogar in die entlegensten Bergdörfer,
verschleppt werden.
Nach dem siebenjährigen Krieg (1756-63) gelang es der Britisch-Ostindischen
Kompanie, die bis dahin nur vereinzelte Handelsniederlassungen und Stützpunkte an
der Küste Indiens besaß, mit Hilfe der englischen Flotte den französischen Einfluß auch
an diesem Teil der Erde auszuschalten und unter Ausnutzung der Zwistigkeiten
zwischen den einheimischen Fürsten die reichste Provinz Indiens - Bengalen - zu
erobern. Bei den Kämpfen um Pondicherry wurden sowohl die französischen als auch
die englischen Truppen von der Cholera schwer mitgenommen. Die Krankheit soll
zunächst bei heim gekehrten Pilgern aufgetreten sein. Der Hinduname “Mordechim" (2)
(=rascher Tod) wurde damals von den Franzosen falsch verstanden und zu dem
Ausdruck “mort de chien" verballhornt. Als, nach Robert Clive, 1774 Warren Hastings
Gouverneur von Bengalen wurde, dehnte er den Machtbereich der Kompanie weit über
den Wallfahrtsort Benares nach Nordwesten aus, von wo das große Stromnetz
ausgezeichnete Verbindungs-möglichkeiten mit Hindustan bietet. Ferner schuf er, um
den lukrativen Opiumexport nach China völlig in die Hand zu bekommen, 1773 das
Opiummonopol der Britisch-Ostindischen Kompanie und zwang die bengalischen
Bauern mit brutaler Gewalt, wider ihren Willen Mohn anzubauen. Diese
Willkürmaßnahmen, die Mißernten, Hungersnöte und dauernde Unruhen zur Folge
hatten, beeinflußten die allgemeine Seuchenlage in Bengalen sehr ungünstig, bis es
1781 zu einer schweren Choleraepidemie kam, mit dem Hauptherd um Kalkutta
Schon die Vorgänger der Briten, die von Nord-Westen her eingedrungenen
moham-medanischen Mongolen, hielten das Mündungsgebet des Ganges und
Brahmaputra - trotz seiner Fruchtbarkeit - für äußerst ungesund. “Dozakh" (d.h.
“höllischeRegion"), “Heimat der Seuche" oder “Haus desTodes" waren die üblichen,
wenig schmeichelhaften Epitheta. Wenn ein hoher Würdenträger am Hofe der
Moghulen in Ungnade fiel, wurde er kurzerhand nach Bengalen verbannt, was einem
sicheren Todesurteil gleichkam. Der indische Arzt Mola Taifur (von dem es übrigens im
Rijksmuseum zu Amsterdam eine sehr schöne indo-islamische Miniatur aus dem 17
Jahrhundert gibt) meinte:
“Man betrachtete Luft und Wasser in Bengalen für so schädlich, daß man überzeugt
war, sie würden zum sicheren Tode des Frevlers führen."
Kennzeichnenderweise erhielt Kalkutta eigentlich Kâlighatta seinen Namen nach der
vierarmigen Choleragattin Kali, Sivas schwarzer Gattin, die dort an den Ufertreppen
(Ghat) ihren berühmten Tempel (“Kâli-Ghat") besaß, in dem ihr auch heute noch
Ziegen geschlachtet werden, um durch das Blutopfer vorbeugend ihre Grausamkeit und
Mordlust zu besänftigen. - Als Warren Hastings 1785 vor dem Unterhaus wegen
Amtsmißbrauches, Erpressung und tyrannischer Willkür gegenüber den Eingeborenen
angeklagt wurde und seine Unschuld damit beweisen wollte, daß die Inder ihm sogar
Tempel errichtet hatten, entgegnete Edmund Burke als Wortführer der Whigs mit
sarkastischer Schärfe:
“Ich bezweifle nicht, was Hastings gesagt hat. Ich weiß aber, daß die Inder auch bösen
Gottheiten zur Abwehr vom Unheil Tempel errichteten. Und daher stehen am Ganges
die Tempel von Warren Hastings mitten zwischen denen von Pocken und Cholera!"
Abb. 3
Mekka
nach einem Kupferstich von L'Espinasse aus dem Jahre 1790.
In der Mitte des großen Moscheehofes die Kaaba, in deren Südwestecke der schwarze
Meteoritstein eingelassen ist. Nach altem Ritus müssen die Pilger siebenmal die Kaaba
umschreiten und jedesmal den schwarzen Stein küssen oder - wenn das Gedränge zu
groß ist - ihn mindestens mit der Hand oder dem Pilgerstock berühren.
Vor der Stadt sieht man Pilgerzüge, von denen sich der eine wie eine Riesenschlange
links um Mekka windet, um dann in der Ferne - Richtung Arafat - zu entschwinden.
Abb. 4
Die Ebene von Arafat (etwa 40 Kilometer östlich von Mekka),
gesehen vom .Berge der Gnade" aus, der von den Pilgern in sengender Sonnenglut
barhäuptig erklommen werden muß So weit das Auge in dem Oden Wustenstrich
sehen kann, reiht sich ein Zelt an das andere.
Bis zu 70 000 Gläubige verharren da am 9. Tage der Pilgerfahrt von Mittag bis
Sonnenuntergang ,.vor Allahs Antlitz
(Reproduktion aus “Die großen Religionen der Welt" erschienen bei Droemersche
Verlagsanstalt Th. KNAUR Nachf, München)
Durch die Ostindische Kompanie wurde der Choleraherd Bengalen in ein weltweites
Handelsnetz einbezogen. Infolge des immer reger und schneller werdenden
Seeverkehrs erhöhte sich auch die potentielle Gefahr einer Choleraverschleppung,
insbesondere an die relativ nahen Küsten der arabischen Halbinsel, wo sich die
wichtigsten Wallfahrtsorte des Islams befinden.
Nach dem Religionsgesetz sollte wenigstens einmal im Leben jeder Moslem die
heiligen Stätten besucht haben, in denen Mohammed geweilt hat. Alljährlich strömen
daher aus aller Herren Ländern, in denen Mohammedaner leben, Hunderttausende von
Pilgern nach Mekka und Medina. Auch Alte und Kranke finden sich unter ihnen, die vor
dem nahen Tode noch das Gebot erfüllen möchten. Viele sterben bereits auf der
langen und mühsamen Fahrt. Auch aus Indien, der Heimat von Pest und Cholera,
kommen zahlreiche Gläubige. Für die ungeheuren Menschenmassen, die unter
hygienisch unzulänglichen Bedingungen, ohne ausreichende Möglichkeit zur
Beseitigung der Dejekte, zusammengedrängt werden, besteht in Anbetracht der
ungewöhnlichen Strapazen, mit denen die vorgeschriebenen Riten verbunden sind,
eine sehr große Infektionsgefahr (3). Was nützten die Vorschriften des Korans (5. Sure)
bezüglich der regelmäßigen Waschungen, die ein Moslem des öfteren am Tage
vorzunehmen hat, wenn infolge des enormen Pilgerzustromes nicht einmal genügend
Wasser zum Trinken da war? Wie oft hat die nicht ausreichende Wasserversorgung,
die auch heute noch zu den schwerwiegendsten Problemen Arabiens gehört, in der
heiligen Stadt, vor allem aber während der sogenannten “Großen Pilgerfahrt" zum Berg
der Gnade in der Ebene von Arafat (etwa 40 Kilometer östlich von Mekka), unter den
unübersehbaren Pilgermassen zu dramatischen Massentumulten geführt, bei denen
man begierig von jedem noch so unsauberen Wasser trank oder getrunken hätte? Die
alte Legende von Hagars verzweifelter Wassersuche in der Wüste schien sich hier in
eine grauenhaft vervielfältigte Realität umzuwandeln. Die Infektionsgefahr erhöht sich
dann noch, wenn auf dem Rückwege von Arafat nach Mekka im Rahmen eines großen
Opferfestes (arabisch: “id aladhha"; türkisch: “Kurban bairam"), in Erinnerung an
Abrahams Opfer, Zehntausende von Schafen geschlachtet werden.
“Das überall verströmte Blut, die wahllos weggeworfenen Eingeweide wie auch die
Ausscheidungen der Pilger führen in kürzester Zeit zu einer unvorstellbaren
Verschmutzung des Geländes, so daß man kaum noch eine Handvoll reinen Sandes
finden kann, mit der man sich nach dem Gebot des Propheten die Hände abreiben
sollte, wenn kein Wasser zum Waschen da Ist", schrieb Sir Richard Francis Burton, der
1853 als Moslem verkleidet die heiligen Stätten von Mekka und Medina besucht hatte.
Wenn man weiß, daß die Pilger bei dem darauffolgenden Festmahl das Fleisch
gewöhnlich “mit Ihren unsauberen Fingern zerkleinern und zum Munde führen", und
daß die Inkubationszeit der Cholera oft nur 1-2 Tage, zuweilen sogar nur 5-6 Stunden
beträgt, dann versteht man, warum es im vergangenen Jahrhundert gerade nach der
“Großen Pilgerfahrt" während des drei Tage dauernden Kurban-bairam-Festes oder
kurz danach so oft zu schweren Explosivepidemien unter den Pilgermassen gekommen
war. Das Entsetzen, welches die Seuche durch ihr plötzliches Erscheinen und
Umsichgreifen hervorrief, spiegelt sich auch in den Namen, die ihr die Araber gegeben
haben: “EI hawá" (“Sturm") oder “Hawà asfar" (“gelber Wind"). Den heißen
Wüstenwind, der durch Verdursten schnell zum letalen Ende führt, verglichen die
Wüstensöhne auch schon deshalb mit der Cholera, “weil er" - wie BURTON
schreibt - ”das so gefürchtete Verdunsten des Trinkwassers in den Schläuchen bewirkt
und sie daher an die mumienhafte Austrocknung der Cholerakranken infolge des
enormen Wasserverlustes erinnert". Trotz der Worte des Propheten: - “Wenn ihr hört,
daß in einem Land eine Seuche ausgebrochen sei, so sollt ihr euch nicht hinbegeben,
und wenn ihr dort seid, so sollt ihr es nicht verlassen!" (Hadith) - löste die Cholera in
Mekka jedesmal eine panische Flucht nach alten Himmelsrichtungen aus, wobei die
Seuche von den aus den Balkan-Ländern, Anatolien und Nordafrika stammenden und
in ihre Heimat zurückstrebenden Pilgern gewöhnlich zunächst nach Ägypten
verschleppt wurde, von wo aus sie sich dann, infolge des lebhaften Mittelmeerverkehrs,
schnell weiterverbreitete. Vor dem 19. Jh. spielte die .,Haddsch" in der
Choleraepidemiologie deshalb keine besondere Rolle, weil sich damals die Mekkapilger
aus Indien, Afghanistan und Persien meist des beschwerlichen Landweges bedienten,
der nicht nur über gefährliche Gebirgsregionen, sondern auch durch ausgedehnte
Wüstengebiete führte. Durch Zurücklassen von Kranken und Schwachen schuf man
zwar unterwegs überall neue Choleraherde, für die welterziehende Karawane
verringerten sich aber dadurch die Infektionsmöglichkeiten immer mehr Auch wurde bei
dem anstrengenden Zuge durch die Wüste im Laufe von zwei bis drei Wochen selbst
der letzte Kranke dahingerafft oder zurückgelassen, so daß die meisten Karawanen
cholerafrei in Mekka anlangten. Erfolgte dennoch eine Einschleppung, so hielt die
Seuche unter jenen Pilgern, die in panischer Angst durch die Wüste in Richtung Medina
flohen, eine furchtbare Ernte. Auf der weiteren Flucht in nördlicher Richtung fielen ihr
dann auch die letzten Kranken zum Opfer, so daß es der Cholera niemals gelang, auf
dieser Route die Wüste zu verlassen und Damaskus zu erreichen. Sie verlief praktisch
im Sande. Ganz anders lagen die Verhältnisse bei jenen Pilgerscharen, die aus Mekka
in das nahe gelegene Dschidda flohen, um sich dort einzuschiffen. “Es gibt nur ein
Mekka", lautet ein arabischer Spruch in Anlehnung an das islamische
Glaubensbekenntnis - “und Dschidda ist sein Hafen." Dschidda war aber auch oft der
“Hafen des Todes", aus dem verseuchte Schiffe ausliefen. Während der Seereise, bei
der die Kranken zwangsläufig mitgenommen und bis zu ihrer Genesung oder ihrem
Ableben gepflegt wurden, ließen sich bei den beengten und primitiven
Unterkunftsbedingungen weitere Infektionen nicht vermeiden, so daß die Kette der
Erkrankungen bis zur Landung nicht mehr abriß und die Seuche so meist in die
angelaufenen Häfen verschleppt wurde. Daraus erklärt es sich, warum die “Haddsch",
die alljährlich Hunderttausende von Pilgern in Bewegung setzt, erst durch die
Intensivierung des Seeverkehrs von Indien in das Rote Meer eine immer gefährlichere
Rolle bei der pandemischen Ausbreitung der Cholera zu spielen begann. Nicht mit
Unrecht hatte man daher um die Mitte des 19. Jahrhunderts Mekka als die
“Relaisstation der Cholera zwischen Bengalen und Europa" bezeichnet.
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Anmerkungen
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(1)
Unter
Synkope verstand man in der Medizin das plötzliche Schwinden des
Bewußtseins, Beim Eintreten dieser Erscheinung pflegten die alten Ärzte den so häufig
angewendeten Aderlaß zu unterbrechen.
(2)
Der Name stammt eigentlich aus dem Persischen und lautet mord-e khim
(3)
Eine große Gefahrenquelle in Mekka stellte der Zamzam-Brunnen dar, dessen
Ursprung die isiamische Uberlieferung mit Hagars verzweifeltem Suchen nach Wasser
für ihren in der Wüste verschmachtenden Sohn ismael in Verbindung bringt. Nach der
rituellen Umschreitung der Kaaba pflegen nämlich die Pilger einen Schluck aus dem
danebenliegenden wundertatigen Brunnen zu trinken. Er konnte leicht infiziert werden,
da er bis vor kurzem ganz offen war und das Wasser aus ihm mit Eimern geschöpft
wurde Viele Pilger bringen ihr Leichenhemd mit, um es in das heilige Wasser
einzutauchen. Das höchste Lob, das man von einem Araber nach einem labenden
Trank hören kann, ist ..Es war fast so köstlich wie Zamzaml" Viele lassen sich kleine
Flaschen vollfüllen, um sie Freunden, Kranken und Verwandten in der Heimat
mitzubringen. Früher wurden auf diese Weise pathogene Darmbakterien weithin
verschleppt. Wie in Benares entwickelte sich auch in Mekka der Handel mit dem
heiligen Wasser, an dessen entsuhnende und heilende Kraft auch der fromme Moslem
glaubt, zu einem weniger heiligen Erwerbszweig.
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