Kant und das Kaliningrader Problem Alvydas Jokubaitis Immanuel Kant bewirkte einen der wichtigsten Umstürze im philosophischen Denken der westlichen Welt. In den letzten zwei Jahrhunderten traten viele originelle Verfasser in Erscheinung, doch Bestand neben Platon, Aristotelis, Augustin, Thomas von Aquin und Descartes hat nur Kant allein. Ohne Zweifel war er der sicherlich berühmteste Bürger Königsbergs. Im heutigen Kaliningrad wird leidenschaftlich die Umbennenung dieser Stadt nach dem Namen Kants diskutiert. Im Russischen würde es etwa “Kantograd” heißen. Auf diese Weise steht möglicherweise ein weiteres Experiment mit der an ähnlichen Experimenten überreichen Geschichte der Ortsnamen in Ostpreußen bevor. Kant war stark mit seiner Heimatstadt verwachsen. Im Laufe seines ganzen Lebens entfernte er sich von Königsberg nicht weiter als 120 Kilometer. Hier absolvierte er das Collegium Fridericianum, studierte an der Universität und wurde zum berühmtesten ihrer Professoren. Weltberühmt ist seine Beschreibung des Hauses am Schlossgraben: “Zwei Tische, die gewöhnlich mit Büchern bedeckt waren, ein einfaches Sofa, einige Stühle und eine Kommode bildeten das gesamte Mobiliar des Raumes, dessen einziger Schmuck in einem Bildnis Rousseaus, das an der Wand hing, bestand”1. Den meisten Anhängern Kants ist diese Beschreibung seiner Umgebung bekannt, doch keines der auf Authentik ausgerichteten Museen kann diese heute auferstehen lassen. Die alten Bewohner Königsbergs machten Kant zur Legende. In der Stadt kreiste eine Unmenge von Geschichten über seine Pünktlichkeit, seine Pedanterie, seine Fähigkeit, das eigene Sterbejahr vorauszusehen, über die von ihm initiierten Blitzableiter für Kirchen und über seine Bestattung, die länger als zwei Wochen dauerte. Die akademische Mobilität Kants war gleich Null. Sein gesamtes Leben arbeitete er an derselben Universität. Da seine akademische Laufbahn sich in seiner Heimatstadt nur schleppend entwickelte, erhielt er von anderen Universitäten Preußens Einladungen, die er allerdings höflich ablehnte. In der Begründung erwähnte er jeweils u.a. seine grosse Verbundenheit mit Königsberg. Die Bürger dieser Stadt blieben ihm nichts schuldig – im Jahre 1924 wurden seine sterblichen Überreste in das Stadtzentrum, direkt neben den Königsberger Dom überführt. Ostpreußen und Königsberg gelten oft als Symbole für den preußischen Militarismus, für Chauvinismus und blinden Gehorsam gegenüber der althergebrachten Ordnung. Diese Vorstellung war mitschuldig an ihrem tragischen Schicksal nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch Kant sprengt den Rahmen eines solchen Verständnisses von Königsberg. Seine Philosophie ist heute eine der einflussreichsten Quellen des liberalen philosophischen Gedankengutes. Die 1 Cassirer E. Kants Leben und Lehre. Berlin: Bruno Cassirer, 1921. S. 386. 1 Liberalisten der Generation John Rawls (Robert Nozick, Ronald Dworkin, Bruce Ackermann) werden als Anhänger der Tradition des „Kantischen Liberalismus“2 bezeichnet. Vor hundert Jahren war Kant führend in der Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie. Heute beeinflusst er vor allem die Philosophie der Moral und der Politik. Kant sorgte nicht nur für den „Umsturz der Kopernikanischen Philosophie“. Auf diesen Umsturz folgte eine zuvor niedagewesene Blüte des deutschen philosophischen Gedankengutes, von Bertrand Russell als Anfang der intellektuellen Herrschaft Deutschlands bezeichnet. Zuvor nur Mystikern und Vertretern der Leibniz – Wolff - Schule bekannt, standen die Deutschen bald im Ruf eines “Volkes der Philosophen”. Johann Gottlieb Fichte kam 1791 nach Königsberg mit dem brennenden Wunsche, Kant zu treffen. Dies war der Anfang einer Kette philosophischer Einflüsse, die in ihrer Art einzig dastand – Kant, Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Arthur Schopenhauer. Erstmalig wurde eine Provinzstadt in Nordeuropa zum Schauplatz eines für die gesamte westliche Kultur wichtigen Umsturzes im philosophischen Denken. Kant bewies, dass der Geburtsort einer originellen Philosophie nicht unbedingt in einem anerkannten kulturellen Zentrum Europas, sondern durchaus auch in einer Provinzstadt wie Königsberg liegen konnte. Dies hatte einen enormen Einfluss auf das philosophische Leben in den umliegenden Ländern. Die Ideen von Descartes brauchten knappe hundert Jahre, um nach Litauen zu gelangen. Kants Philosophie der kritischen Vernunft dagegen erreichte Vilnius beinahe zeitgleich mit den Universitäten Deutschlands. An der Vilniusser Universität wurde sie ab 1804 von Kants Anhänger und Opponenten Johann Heinrich Abicht3 gelehrt. Das Königsberg zu Ende des 18. Jh. kann nicht als “philosophische Provinz” bezeichnet werden. Dieser Name passt nicht zu einer Stadt, in der Johann Gottfried Herder Kants Vorlesungen hörte und wo Johann Georg Hamann Kants größter Opponent war. Zählte man die philosophischen Schriften Herders und Hamanns zusammen (obwohl der erstere nur kurz in dieser Stadt lebte), kann man die Behauptung aufstellen, dass Königsberg nicht nur an der von Kant vertretenen deutschen Aufklärung, sondern auch an der Entstehung der deutschen Romantismus beteiligt war. Nach Meinung von Isaiah Berlin war Hamann “the first writer in modern days to denounce the Enlightenment and all its works”4. Hinter ihm und den Mitstreitern Kants standen nicht nur persönliche Uneinigkeiten, sondern vielmehr ein Konflikt zweier großer philosophischer Epochen, ein Konflikt zwischen der Aufklärung und dem Romantismus. Unser heutiges kulturelles Selbstverständnis wurde stark von der Polemik Kants und Hamanns beeinflusst. In den Worten von Charles Taylor ausgedrückt: “These two big and manysided cultural transformations, the Enlightment and Romanticism with its accompanying 2 Gray J. Against the New Liberalism / Times Literary Supplement. July 3. 1992. Plečkaitis R. J.H. Abichtas Vilniaus universitete // Problemos [J.H.Abicht an der Universität Vilnius / Probleme, lit.]. 1978. Nr. 22. S.87 4 Berlin I. Three Critics of the Enlightenment: Vico, Hamman, Herder. Ed. By H. Hardy. Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2000. P. 272. 3 2 conception of man, have made us what we are”5. Demnach entstanden in Königsberg Ende des 18. Jh. zwei unterschiedliche Traditionen des philosophischen Denkens, die heute mitunter als “Moderne” und “Postmoderne” bezeichnet werden. Die Verteter des Moderne stehen auf der Seite Kants und verteidigen im Stile von Jürgen Habermas weiterhin die Autorität der Vernunft und des methodischen wissenschaftlichen Denkens. Die Anhänger Hamanns dagegen, darunter Jacques Derrid und Richard Rorty, unterstreichen weiterhin die Bedeutung der Phantasie, der moralischen Empfindungen und des künstlerischen Scharfsinns. Die Litauer haben zwei weitere Gründe, den Verbindungen zwischen Königsberg und Kant nachzugehen. Erstens standen die alten prußischen Volksstämme den Litauern ethnisch am nächsten. Ostpreußen ist im litauischen kulturellen Bewusstsein bis heute als Kleinlitauen („Mažoji Lietuva“) verankert. Dieser Begriff ist keineswegs eine Schöpfung litauischer Nationalisten. Seit dem 16. Jh. wurde er von deutschen Chronisten benutzt, um die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung eines Teils von Ostpreußen zu definieren. Historische Untersuchungen belegen, dass bis in den Anfang des 18. Jh. die Bevölkerung einiger Gebiete Ostpreußens überwiegend aus Litauern bestand. Wer sich mit der Kulturgeschichte Litauens befasst hat, weiß, dass in Königsberg 1547 Martynas Mažvydas das erste litauische Buch herausbrachte, Daniel Klein die erste litauische Grammatik veröffentlichte, Johann Bretke die Bibel erstmals ins Litauische übersetzte und der bekannteste litauische Schriftsteller Kristijonas Donelaitis sein Universitätsstudium in dieser Stadt abschloss und im ostpreußischen Tolminkehmen (Tolminkiemis) weiterwirkte. Die Kulturgeschichte Litauens ist absolut undenkbar ohne die alte Königsberger Universität. Ludwig Rhesa (Liudvikas Rėza), Rektor dieser Universität, schrieb neben seiner Erforschung der litauischen Dainas (Lieder) auch seine Dissertation über die Philosophie Kants und verfaßte mehrere Widmungen zu dessen Ehren6. Ohne Zweifel kam Kant oft mit Litauern aus Ostpreußen und deren Kultur in Berührung. Einer seiner letzten niedergeschriebenen Texte ist die Nachschrift eines Freundes, die 1800 als Vorwort des litauisch-deutschen und deutschlitauischen Wörterbuches von Christian Gottlieb Mielcke in Königsberg abgedruckt wurde7. In diesem kurzen Vorwort bekräftigt Kant die kulturellen Ansprüche der Preußisch-Litauer, indem er schreibt, daß „der preußische Littauer es sehr verdiene, in der Eigenthümlichkeit seines Charakters“8. Er unterstrich die Bedeutung der litauischen Sprache für die kulturelle Eigenart der Litauer Ostpreussens und für die Geisteswissenschaften in aller Welt. Die Nachschrift eines Freundes sorgte für eine langanhaltende Symphatie der Litauer für Kant. Keiner der westlichen 5 Taylor Ch. Sources of The Self: The Making of Modern Identity. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press, 1989. P. 393. 6 Putinaitė N. Paskutinioji proto revoliucija: Kanto praktinės filosofijos studija [Die letzte Revolution der Vernunft: Studium der praktischen Philosophie Kants, lit.] Vilnius: Aidai, 2004. S. 293. Mielcke Ch. G. Littauisch – deutsches und Deutsch – littauisches Wörter – Buch. Königsberg, 1800. Rickevičiūtė K. I. Kanto požiūris į lietuvių kalbą ir kultūrą // Problemos [Die Einstellung Kants zur litauischen Sprache und Kultur, lit.]. 1968. Nr. 1. S. 63. 7 8 3 Klassiker des philosophischen Gedankens wurde so oft ins Litauische übersetzt wie Kant. Beinahe alle seine Hauptwerke sind auch auf litauisch veröffentlicht. Älter als ein Jahrhundert ist die Diskussion um Kants litauische Abstammung. Seine Verbindungen zur deutschen Kultur sind unbestritten, doch auch die Frage nach der Herkunft seiner Vorfahren wurde inzwischen zum historischen Forschungsobjekt erhoben. In einem Brief an den schwedischen Bischof Jakob Lindblom von 1797 weist Kant auf seine schottische Abstammung hin9. Doch Johannes Sembritzki, ein deutscher Historiker des späten 19. Jh., bekundete Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung. Mit Hilfe der Königsberger Archive versuchte er die Unmöglichkeit der schottischen Herkunft von Kants Großvater Hans zu belegen, da bereits sein Urgroßvater Richard in Ostpreußen gelebt hatte10. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Version durch die Forschungsergebnisse von Hans und Gertrud Mortensen bekräftigt11. Diese Forscher vertraten die Version einer litauischen Herkunft der Familie Kants. Ihrer Ansicht nach stammten Kants Vorfahren aus dem litauischen Dorf Kantwein (Kantvainiai) und sprachen einen dem Litauischen ähnlichen Dialekt. Den militaristischen Assoziationskreis um Ostpreußen und Königsberg konnte auch Kant nicht durchbrechen. Die Hauptteilnehmer der Konferenzen in Teheran, Jalta und Potsdam hielten Königsberg für eines der größten Zentren des preußischen Expansionismus, Chauvinismus und Imperialismus. Winston Churchill wurde nicht müde zu wiederholen, Preußen sei die Hauptquelle allen Übels; sein Kollege Roosevelt verlangte, Deutschland und v.a. Preußen weitmöglichst zu schwächen. Stalin wusste sich diese Einstellung seiner Verhandlungpartner zunutze zu machen. Auf der Teheraner Konferenz formulierte er eine recht konkrete Forderung der Sowjetunion: “Die Russen brauchen die eisfreien Häfen von Königsberg und Memel sowie ein entsprechendes Gebiet Ostpreußens”12. 1945 wurde diesem Wunsch der Sowjetunion Folge geleistet: die Potsdamer Konferenz beschloss den “transfer to the Soviet Union of the city of Königsberg and the area adjacent to it”. Doch ein Satz des Schlussprotokolls derselben Konferenz gibt heute noch Anlass zu Streitigkeiten und lässt die Endgültigkeit der Entscheidung bezweifeln: Die Teilnehmer der Konferenz beschlossen die Übergabe Königsbergs an die Sowjetunion “pending the final determination of territorial questions of peace settlement”13. 9 Immanuel Kants Werke. Hrsg. V. E. Cassirer. Bd. X. Berlin: B.Cassirer, 1922. S. 326. 10 Sembritzki J. Neue Nachrichten über Kants Großvater // Altpreußische Monatschrift. Bd. 37. Königsberg, 1900. S. 139 – 141. 11 Mortensen H., Mortensen G. Kants väterliche Ahnen und ihre Umwelt / Jahrbuch der Albertus Universität zu Königsberg. Pr., Kitzingen / Main: Holzner – Verlag, Bd. 3. 1953. S. 25 – 57. Tegeranskaja konferencija rukovoditelej trech sojuznich deržav – SSSR, SŠA i Velikobritanii: Sbornik dokumentov. Moskva: Izdatelstvo političeskoj literaturi, 1979. S. 167. 12 13 The Berlin (Potsdam) Conference, July 17 – August 2, 1945. http//yale.edu/lawweb/avalon/decade/decade 17.htm 4 Seit 1946 führt Kants Geburtsstadt einen doppelten Namen: „Königsberg (heute Kaliningrad)“ oder „Kaliningrad (früher Königsberg)“. Es ist wahrhaftig eine Ironie der Geschichte, dass Kant auch mit seinem Werk Zum ewigen Frieden zur Berühmtheit seiner Stadt beigetragen hatte, dessen zweiter Präliminarartikel folgendes aussagte: “Es soll kein für sich bestehender Staat (klein oder groß, das gilt hier gleichviel) von einem anderen Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben werden können”14. Man kann wohl behaupten, dass Königsberg nach dem Zweiten Weltkrieg die Folgen der Missachtung dieses Prinzips auf die schmerzhafteste Weise zu spüren bekommen hat. Kein anderes Gebiet in Europa hat so dramatisch die Auswirkungen der politischen Beschlüsse der Potsdamer Konferenz erfahren wie das heutige Kaliningrader Gebiet. Den heutigen Zustand Kaliningrads bezeichnen die Russen selbst als geradezu trostlos: “Knapp fünfzig Jahre lang nach dem Zweiten Weltkrieg war das Kaliningrader Gebiet für Europa unzugänglich. Als die Grenzen sich öffneten, offenbarte sich im Vergleich zu den Nachbarländern die Armut und der besonders niedrige Lebensstandard der Bevölkerung dieses Gebietes”³. Noch größere Verluste erfuhr das alte Erbe Ostpreußens, von dem im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Trümmer übrig blieben. Man kann behaupten, dass Königsberg und das umliegende Gebiet nach dem Zweiten Weltkrieg von der kulturellen Landkarte Europas getilgt wurden. Ab 1945 wurde die Geburtsstadt Kants zum Schauplatz eines einzigartigen historischen Experiments. Die dortige Obrigkeit versuchte zu beweisen, dass die aus der Sowjetunion zugereisten neuen Bewohner des Kaliningrader Gebietes auch ohne Hinweise auf die alte Geschichte Ostpreußens leben könnten. Jede positive Andeutung auf die alte Kultur Ostpreußens und Königsbergs war verboten. Wenig Beachtung findet bis heute die Tatsache, dass ein bedeutender Beitrag zur Wiederbelebung des lahmgelegten historischen Gedächtnisses der Stadt gerade Kant zuzuschreiben ist.. Trotz der künstlichen Tilgung des historischen Gedächtnisses wurde den Bewohnern des sowjetischen Kaliningrad erlaubt, sich mit einzelnen Episoden aus dem Leben Kants in Königsberg zu befassen. 1974 wurde aus Anlass seines 250. Geburtstages in der Staatlichen Universität Kaliningrad ein Museumskabinett zum Gedächtnis an Kant eröffnet, das viel zum Studium der alten Geschichte Ostpreußens und zur Kant-Forschung beigetragen hat. In der Sowjetzeit wirkte Kant als Retter der Geschichte seiner Geburtsstadt. Eine Standard-Interpretation des sowjetischen Marxismus betrachtet die deutsche klassische Philosophie als eine der Quellen des Marxismus. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass Kant u.a. in Karl Marx und Wladimir Lenin recht einflussreiche Fürsprecher fand. Die Sowjetideologen waren gezwungen, sich um das im Stadtzentrum liegende Grab Kants zu kümmern. So entgingen auch die unmittelbar angrenzenden Ruinen des alten Königsberger Doms der Zerstörung. Obwohl das kulturelle Erbe Ostpreußens den Sowjetbürokraten völlig gleichgültig war, mussten sie doch Marx‘ und Lenins anerkennenden (wenn auch kritischen) 14 5 Worten über Kant Beachtung schenken. Dies ebnete einer zunehmenden Diskussion über die Geschichte Königsbergs den Weg. Jede größere Anspielung auf Kant wurde unweigerlich zum Verweis auf die Geschichte des alten Königsberg. Die Sowjetregierung ahnte nicht die Ausmaße der Probleme, die sie sich mit Kants Autorität in der Welt eingehandelt hatte. Die Anerkennung der Verdienste dieses Philosophen zog zwangsläufig auch die Ermöglichung der Erforschung der Geschichte Königsbergs nach sich. Kant selbst war nicht besonders sensibel für Geschichtsfragen. Doch paradoxerweise ermöglichte eben seine Autorität zur Sowjetzeit das Wiederaufleben der Stadtgeschichte Königsbergs. Kaum ein anderer hat so viel zum heutigen Image Kaliningrads beigetragen wie Kant. In der postkommunistischen Zeit erfuhr er eine sogar bis 1939 unbekannte Gunstbezeigung von Seiten der Stadt, die ihm zu Ehren im alten Königsberger Dom ein Museum einrichtete. Hierbei handelte es sich allerdings weniger um einen Ausdruck von Wertschätzung als vielmehr um einen Versuch der Wiedergutmachung derer, die seine Geburtsstadt zertrümmert und verwüstet hatten. Spricht man von der Beziehung zwischen Kant und Königsberg, stößt man zwangsläufig auf historisch–philosophische Themen. Bei der Betrachtung des heutigen Kaliningrad stellt sich unvermeidlich die Frage nach den Gründen für das tragische Schicksal Königsbergs. Kant schrieb gerne zu historisch-philosophischen Fragen, doch war er dabei immer viel vorsichtiger als Hegel, Marx oder Oswald Spengler. Mit Vorliebe behandelte er Themen wie das Ziel der Geschichte und der Natur, den menschlichen Fortschritt und den ewigen Frieden, mied aber jeglichen deutlicheren Hinweis auf Interpretationen konkreter historischer Ereignisse. Seine kritische Philosophie brachte eine allgemeine Vorsicht mit sich: über nichts weiter reden, als die eindeutig erkannte reine Vernunft und Erfahrung erlaubt. Aufgrund der Zurückhaltung Kants als Philosoph könnte man meinen, dass dieser Klassiker besser nicht in unseren heutigen Disput über die Zukunft des Kaliningrader Gebiets hineingezogen werden sollte; Herder und Hegel könnten uns zu dieser Frage mehr sagen. Herder empfand sehr klar die Einzigartigkeit jeder Kultur und Zivilisation; Hegel hatte ein besonderes Talent, allgemeine Tendenzen der historischen Entwicklung in einzelnen Ereignissen aufzuspüren. Die transzendentale Philosophie Kants eignete sich wenig zur Betrachtung der kulturellen Welt. Seine Philosophie entstand aus der Position der “ewigen” reinen Vernunft. Kant interessierten weder Herders Nationalismus noch Hegels Volksgeist. Die Kultur und die Politik betrachtete er mit den Augen eines einfachen Bürgers. Doch hat Kant wirklich nichts zu unserer heutigen Diskussion “Streitfrage Kaliningrad”³ beizutragen? Es scheint kaum glaublich, daß der berühmte Autor der Überlegungen zu internationalen Beziehungen (“Zum ewigen Frieden), sich im Angesicht der Diskussion zum Schicksal seiner Geburtsstadt als völlig hilflos erweisen sollte. Glaubwürdiger erscheint das Gegenteil, nämlich daß Kant einen gleichberechtigter Diskussionspartner zum Thema der Zukunft des Kaliningrader Gebiets abgibt. Seine philosophischen Schriften sind der Schlüssel zum Verständnis einiger wichtige Aspekte der heutigen “Streitfrage Kaliningrad”. 6 Die Verquickung der beiden Themen “Kant” und “Streitfrage Kaliningrad” ist eine spannende Idee. Doch ihrer Verwirklichung steht ein großes Problem im Wege. Kant konnte von sehr vielen Details des heutigen Schicksals seiner Stadt nichts wissen, deswegen kann die Auslegung seiner Meinung zu diesem Thema zu kaum haltbaren Interpretationen führen. Die Aufgabe ist jedoch durchaus lösbar. Die Diskussion muss nur auf prinzipiellem Niveau stattfinden und sich nicht auf die Ebene der Kant unbekannten historischen Details begeben. Ähnlich wie die zwei Jahrhunderte alte Verfassung der Vereinigten Staaten eine Vielzahl neuer Rechtsprobleme lösen hilft, die nach der Verabschiedung der Verfassung auftraten, kann auch Kants politische Philosophie dem Verständnis einer neuen Wirklichkeit dienen, die Kant nicht mehr kennengelernt hat. Das heutige Kaliningrader Gebiet ist ein einzigartiges Phänomen auf der politischen Landkarte Europas. Die Einzigartigkeit wird durch drei Faktoren bedingt. Erstens ist das Kaliningrader Gebiet ein unikales juristisch-politisches Gebilde, das viele Diskussionen über die internationale Anerkennung seiner Zugehörigkeit zur Russischen Föderation aufkommen lässt. Zweitens wurde das Kaliningrader Gebiet nach dem Zerfall der Sowjetunion zur Exklave Russlands (ähnlich wie Ostpreußen durch dem Versailler Vertrag von Deutschland abgetrennt wurde), durch mehrere hundert Kilometer vom russischen “Festland” / Mutterland getrennt. Drittens muss das Kaliningrader Gebiet als Subjekt der Russischen Föderation ständig seinen Sonderstatus gegenüber den anderen Gebieten Russlands behaupten. So entstehen viele Spannungsherde zwischen dem Kaliningrader Gebiet und der Zentralregierung. Heute erwartet man von Philosophen keine wesentlichen Beiträge zum Thema internationale Beziehungen. Man vertraut eher den soziologisch orientierten Politikwissenschaften. Dies dürfte eine der größten Veränderungen im Vergleich zu Kants Zeiten sein. Kant betonte unaufhörlich den Vorrang der philosophischen Fakultät gegenüber den anderen Fakultäten. Im Vorwort zur Kritik der reinen Vernunft führt er in aller Deutlichkeit aus, die Philosophie diene als das oberste Gericht zur Unterscheidung der rechtmäßigen von den unrechtmäßigen Forderungen der Vernunft. Kant wird oft als Urheber der idealistischen Theorie von internationalen Beziehungen bezeichnet. Seine Abhandlung Zum ewigen Frieden gilt als klassisches Musterbeispiel dieses theoretischen Paradigmas. Doch Kant wäre mit einer eine solchen Charakterisierung seines Werkes nicht allzu glücklich, denn sie widerspricht den grundlegenden Absichten seiner kritischen Philosophie. Kants Ziel war die Synthese von Empirismus und Rationalismus, die klare Abgrenzung der Vernunft von der Erfahrung, aber nicht die Aufstellung einer idealistischen Theorie. Ihn interessierte nicht nur das transzendent Ideale, sondern auch das empirisch Reale. Zur heutigen “Kaliningrader Streitfrage” würde Kant zunächst einmal die irrige Annahme zurückweisen, es handele sich um ein rein empirisches Problem. Seiner Meinung nach .lassen sich internationale Beziehungen nicht im Rahmen empirischer Inhalte wie die Verfolgung eigener Interessen, militärische und wirtschaftliche Macht beschreiben. Viel mehr Wert legt Kant 7 auf die Einhaltung moralischer und rechtlicher Prinzipien. Die von Rawls eingeführte Abgrenzung zwischen Politikern und Staatsmännern spiegelt die grundlegenden Ziele der politischen Philosophie Kants sehr gut wider: „The politician looks to the next election, the statesman to the next generation”15. Politiker werden erst dann zu Staatsmännern, wenn sie in der Lage sind, die der gesamten Völkergemeinschaft wichtigen rechtlichen und politischen Prinzipien der Zusammenarbeit praktisch umzusetzen. Kants Überzeugung nach kann ein wahrer Staatsmann nicht die Veränderung der politischen Weltkarte anstreben. Seine Aufgabe ist wesentlich bescheidener und ehrenvoller. Er muss die neutralen Prinzipien der politischen Gerechtigkeit pflegen, die die Voraussetzung für einen langanhaltenden Frieden unter den Menschen bilden. Demzufolge behauptet Rawls als Anhänger Kants, Otto von Bismarck, Napoleon und Adolf Hitler seien keine Staatsmänner gewesen. Sie hätten zwar Einfluss auf die Geschichte der Menschheit gehabt, aber keine moralischen oder rechtlichen Bedingungen für einen dauerhaften Frieden geschaffen. In diesem Sinne kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass bei der Lösung der Königsberger Frage die wichtigsten Akteure der Konferenzen in Teheran, Jalta und Potsdam nur Politiker und keine Staatsmänner waren. Die Einstellung Kants zu den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz, die seine Heimatstadt betrafen, ist leicht herauslesbar. In der Abhandlung Zum ewigen Frieden macht er zweifelsfrei deutlich, ein siegreicher Krieg könne keine Probleme der Gerechtigkeit lösen. Im gleichen Text findet man auch ein anderes, oben schon zitiertes Prinzip der internationalen Beziehungen. Es besagt, dass kein Staat sich einen anderen Staat einverleiben kann – weder durch Vererbung noch durch Tausch oder Schenkung. Kant wäre ein strenger Kritiker der Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, denn diese hätten seinem Verständnis der internationalen Beziehungen widersprochen. Doch die politische Philosophie Kants erlaubt nicht nur die Kritik der ungerechten Beschlüsse einer internationalen Friedenskonferenz, sondern zeigt auch da einen Ausweg aus komplizierten Situationen auf, wo die Folgen ungerechter politischer Entscheidungen inzwischen zur Norm des täglichen Lebens gehören. Die Kant-Forschung übersieht oft die Wichtigkeit der von Kant vorgeschlagenen Art der Umsetzung des Präliminarartikels für die Lösung der umstrittenen Probleme der internationalen Politik. Kants Meinung nach müssen /dürfen die Artikel, die die feindliche Besetzung eines Staates und den Krieg verbieten, nicht unmittelbar nach ihrer Verletzung umgeschrieben werden. Zur Umsetzung der Präliminarartikel zum ewigen Frieden schreibt er: „Obgleich die angeführte Gesetze objectiv, d.i. in der Intention der Machthabenden, lauter Verbotgesetze (leges prohibitivae) sind, so sind doch einige derselben von der strengen, ohne Unterschied der Umstände geltenden Art (leges strictae), die sofort auf Abschaffung Rawls J. The Law of Peoples with „The Idea of Public Reason Revisited“. Cambridge, Massachusetts; London, England, 1999. P. 97. 15 8 dringen (wie Nr. 1, 5, 6), andere aber (wie Nr. 2, 3, 4), die zwar nicht als Ausnahmen von der Rechtsregel, aber doch in Rücksicht auf die Ausübung derselben, durch die Umstände, subjektiv für die Befugniß erweiternd (leges latae), und Erlaubnisse enthalten, die Vollführung aufzuschieben, ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren, der diesen Aufschub, z. B. der Wiedererstattung der gewissen Staaten, nach Nr. 2, entzogenen Freiheit, nicht auf den Nimmertag (wie August zu versprechen pflegte, ad calendas graecas) auszusetzen, mithin die Nichterstattung, sondern nur, damit sie nicht übereilt und so der Absicht selbst zuwider geschehe, die Verzögerung erlaubt. Denn das Verbot betrifft hier nur die Erwerbungsart, die fernerhin nicht gelten soll, aber nicht den Besitzstand, der, ob er zwar nicht den erforderlichen Rechtstitel hat, doch zu seiner Zeit (der putativen Erwerbung), nach der damaligen öffentlichen Meynung, von allen Staaten für rechtmäßig gehalten wurde.“16 Es ist offensichtlich, dass Kant keine schnelle Lösung des Kaliningrader Problems verlangen würde. Er wäre damit einverstanden, die Umsetzung der Friedensartikel aufzuschieben, und würde wie ein echter Konservativer auf die Berücksichtigung der Umstände bestehen. Dies ist die achtenswerte Anpassungsfähigkeit der Realpolitiker. Andererseits hatte Kant nicht den leisesten Zweifel an der Notwendigkeit der Wiedergutmachung des Unrechts aufgrund falscher politischer Entscheidungen. Seiner Meinung nach kann die Wiederherstellung der Gerechtigkeit nicht auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Unter Berufung auf die in der Abhandlung Zum ewigen Frieden formulierte Idee des Friedensbundes (foedus pacificum) wird Kant manchmal als philosophischer Stammvater der Europäischen Union vorgestellt. Dies wäre jedoch eine ziemlich fragwürdige Interpretation seiner Ansichten handelt. Kant wollte viel weniger als die Gründerväter der heutigen Europäischen Union. Sein Angebot bestand in einem Staatenbund, der heutigen Organisation der Vereinten Nationen ähnlicher als der Europäischen Union. Die letztere hielte er für eine zu große Belastungsprobe für die Souveränität der einzelnen Staaten. In dieser Hinsicht muss man Habermas zustimmen, der meint, dass die Idee der staatlichen Souveränität für Kant unantastbar war und er nur einen Staatenbund im Sinn hatte, doch keinesfalls ein politisches Bündnis mit größeren Vollmachten. Der Zerfall der Sowjetunion schuf eine neue Situation. Das bis 1991 gesperrte Kaliningrader Gebiet wird inzwischen mit dem von Kant so genannten Weltbürgerrecht konfrontiert, „da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“17. Kaliningrad liegt nun zwischen zwei kulturellen und politischen Räumen, die sich in einem sehr unterschiedlich schnell verlaufenden Modernisierungsprozess befinden – der Russischen Föderation und der Europäischen Union. Ohne Zweifel würde sich Kant für den europäischen Weg der Modernisierung aussprechen. Doch die Frage, ob das von Samuel Huntington6 einer anderen Zivilisation als Kaliningrads Nachbarländer zugeordnete Russland denselben Weg einschlagen will, bleibt bisher unbeantwortet. 16 17 Kant I. Zum ewigen Frieden. S. 7 – 8. Kant I. Zum ewigen Frieden. S. 12. 9 Im Sinne des ewigen Friedens forderte Kant: “Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein”6. Dies ist jedoch unvereinbar mit dem konsequenten Liberalismus. Ein echter Liberaler kann nicht von der ganzen Welt verlangen, nach seinem Verständnis der Moral und der Politik zu leben. Doch die meisten heutigen Länder der Europäischen Union teilen eine solche Einstellung. Daher lässt sich absehen, dass die europäische Zukunft des Kaliningrader Gebiets ebenfalls in erster Linie von der Fähigkeit seiner Bewohner abhängt, die politischen Prinzipien Kants umzusetzen, als da sind: Freiheit der Bürger, Rechtsstaatlichkeit und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz. Dies ist wahrscheinlich die bedeutendste Lehre Kants für die heutigen Bürger seiner Geburtsstadt. Die Herausbildung einer stabilen bürgerlichen Gesellschaft ist das Hauptelement zur Lösung des heutigen “Kaliningrader Rätsels”. 10