Ich hatte Angst gehabt, Angst um Virginia Woolf

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Von London nach Köln
Einst ein Denkmodel für einige wenige Eingeweihte, wurde der Gedanke dann später sehr
volkstümlich und zu einem echten Gemeinplatz: Es kommt auf den Standpunkt an, von dem
aus ich etwas ansehe; oder anders ausgedrückt: es ist alles relativ. So wie man z.B. einen
Gegenstand sieht, den jemand in einem vorbeifahrenden Wagen zu Boden fallen lässt, ich
aber stehe am Strassenrand und starre hinterher. Denn damals fuhren die städtischen
Omnibusse oft mit offenen Türen, vielleicht weil das Schliessen auf den kurzen Strecken
zwischen den eng beieinanderliegenden Haltestellen nicht zu lohnen schien. Junge Leute
lungerten dann herum in der offenen Tür, und als besondere Mutprobe durfte es gelten, wenn
einer sich nicht am Griff festhielt, sondern die Arme vor der Brust verschränkt hatte, den
Rücken angelehnt. Damals war ich selbst noch jung. Ich stand am Strassenrand an diesem
Nachmittag bei warmen Wetter und sah den Bus vorbeifahren. In seinem Innern, unter den
jungen Leuten in der Tür, war einer, der anscheinend gerade ein Buch aus seiner Tasche
hervorgeholt hatte, aus einer Art Aktentasche oder vielleicht auch Schulranzen. Ich fand es
eigentlich erstaunlich, dass einer im Bus ein Buch herauszieht - da kann man sich eh nicht
konzentrieren -, neugierig sah ich hin, und ich beobachtete mit einem gewissen
Einverständnis das Herunterfallen des Buches - denn es fiel in diesem Moment aus der
rechten Hand des jungen Mannes, ich folgte mit den Augen der langgezogenen Bahn, die das
fallende Buch vor dem Hintergrund der Büsche beschrieb, die hinter dem knallroten riesigen
Fahrzeug am Strassenrand im Fahrtwind vorbeifahrender Autos sich mehr oder weniger stark
bewegten - die langgezogene Flugbahn des herunterfallenden Buches, dem der Mensch im
Bus doch ganz einfach reglos mit nach unten geneigtem Kopf nachsah.
Und so geht es mit allem.
Man weiss nicht, was ist. Ich hatte einfach Angst gehabt, Angst um Virginia. Und dann stand
ich in London am Themse-Strand, Victoria Embankment, so heisst dort die Uferpromenade; ein schmales Strässchen führt hinunter zum Fluss - und ich beobachtete kleine Wasserstrudel,
die aus der Tiefe kamen, wie bei einem Gebirgsbach - aber hier war ich mitten in der Stadt.
Ungeheure Kräfte müssen da am Werke sein. Ich stand und sah die Wellen. War das hier
gewesen? Hatte Virginia hier die wellenförmige Klinge ihres Dolches unter ihrem Busen ins
eigene Herz gestossen, bevor sie ins Wasser gegangen war?
Angst hatte ich gehabt um Virginia, hatte um ihr Leben gefürchtet und mich auf den Weg
gemacht per Autostop nach England. Überfahrt damals noch mit der Kanalfähre, Ankunft in
Dover usw, eine ganz normale Reise. In England angekommen machte ich mich auf die
Suche, fuhr viel über Land, sah Landschaft und grüne Hügel, und dazwischen das helle Band
der Strasse, auf der ich rollte im roten Postbus, der allerdings nicht doppelstöckig war wie in
London die städtischen Omnibusse.
Jetzt war ich froh. Ich war unterwegs.
Aufenthalt nahm ich in kleinen Dörfern, wo ich mittags Fish and Chips ass und herumfragte:
Habt ihr was gehört von Virginia? Ein einsamer Biertrinker in einem Pub, Literaturfreund wie
ich, nahm mich beiseite und flüsterte mir zu:
Aber die ist doch schon lange tot.
Also begab ich mich nach London. So kam ich ans Ufer der Themse und stellte mir die Frage:
Ist das hier passiert? Ich sah die Wellen. Das Bild des blitzenden Dolches - vielleicht in aller
Unschuld lange Zeit als Brieföffner benutzt - eine Dolchklinge in Wellenform ging mir im
Kopf herum. Ich wandte mich ab, ich drehte mich um und ging das schmale Strässchen
wieder bergauf, zurück in die Innenstadt.
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Eine Veränderung begann zu dieser Zeit in mir, und schliesslich sah ich es ein: Virginia gibt
es nicht, Virginia ist eine Mystifikation, die gewisse Leute sich gegenseitig erzählen, damit
sie etwas gemeinsam haben. Und es sollen ja auch die Menschen, wenn sie
zusammenkommen, sich gegenseitig Geschichten erzählen, aus ihrem Leben. Was hast du
gemacht, damals, als ich in England war? Oder genauer: Was hast du gedacht? Man weiss
nicht, soll man von all den Unglücksfällen erzählen, die einen im Lauf des Lebens betroffen
haben, oder war früher einfach alles besser? Man erzählt und erfindet beim Erzählen; ein
Leben entsteht so, wenn auch nur ein vergangenes.
Herr Overath hatte das Geschichtenerzählen zu seinem Beruf gemacht. Nach meiner
Rückkehr aus England war ich sein Lehrling geworden, als junger Volontär bei der
"Backblüte" in Köln am Rhein. Eigentlich nicht der Traumberuf für einen literarisch
ambitionierten Menschen, aber man muss sehen, wo man bleibt. Ich glaubte zu diesem
Zeitpunkt noch an die künftige Höherentwicklung meiner Laufbahn, Herr Overath hatte das
schon hinter sich. Tag für Tag kam er morgens um acht ins Büro, schrieb seine Kolumnen
unter dem Titel "Wussten Sie schon?", "Sparen leicht gemacht" oder "Kindermund". Ich
selbst musste mir Witze ausdenken für die Witzseite.
Es war nicht immer leicht.
Die Agentur, in deren engen und abgenutzten Räumen wir geistig schafften, betreute damals
mehrere verschiedene Presse-Erzeugnisse. Oft musste ich Testberichte für die Autoseite
irgendeiner mir unbekannten Zeitung verfassen. Die Autos hatte ich nie gesehen. Zum Glück
gibt es die Fachpresse, aus deren Veröffentlichungen ich mich sachkundig machte. So
werkten wir, versorgten Redaktionen mit Wortbeiträgen, und wenn ich abends im Büro blieb,
um an einem philosophischen Gedichtzylus zu arbeiten, dann sass Herr Overath an seinem
Schreibtisch, um Drehbücher für das Fernsehen zu verfassen, die seine Gattin, auch sie
eigentlich Journalistin, anderntags als ihre eigenen Werke bei einer Drehbuchagentur
einreichte. Damals lief im Fernsehen die erfolgreiche Serie "Familienglück" mit Theodora
Katharina Wesseling in der Hauptrolle als berufstätige Familienmutter. Oft sah ich Herrn
Overath ächzen unter der Last der Arbeit, wenn er, was seine Gattin gestern ihm angetan
hatte, ins neue Drehbuch hineinschrieb, natürlich alles ins Heitere gewendet; wenn er in
Worte goss, was das Publikum zu sehen wünscht: turbulente Abenteuer einer Frau, modern
aber nicht zu modern. Gewöhnlich schreiben diese Leute ja in ihre Drehbücher das hinein,
was sie selbst gerne erlebt hätten, nicht so Herr Overath: Seine Frau reichte ihm seine Werke
zurück, mit Änderungswünschen, wenn sie nicht zufrieden war. Dann sah ich ihn seufzen und
sich von Neuem an die Arbeit machen, ein nicht mehr junger Mann mit Glatze im
dunkelblauen Pullover an der unablässig klappernden Schreibmaschine.
Damals hatte man noch Schreibmaschinen.
Der Aufbau dieser Fernseh-Serie war einfach, im Grunde wurde immer nur eine einzige
Situation variiert. TKW, wie die Wesseling allgemein genannt wurde, aber auch Thea oder
Thealein, fiel bei den Dreharbeiten nur selten aus der Rolle: "Das ist mir egal, wie du dir dein
Leben zurechtlügst - ob zu deinem eigenen Vergnügen oder irgendwie sonst..." Flatternde
Geste der Wesseling mit der linken Hand, anderweitig... Sie spielte in dieser einen Szene, was
sie immer spielte: eine erfolgreiche Journalistin, eine Doppelverdienerin mit Mann und zwei
Kindern, die es ihr nicht immer leichtmachten. Die Wesseling tritt aus der Tür des
Wohnzimmers in die Eingangshalle ihrer kleinen Villa - man sieht einige Türen, Treppe nach
oben, etc. Thea sieht nach der Post. Modern aber nicht zu modern muss eine Rolle heutzutage
angelegt sein. Thea sieht sich die Post an, die gerade gekommen ist: einige Briefe von der
Bank, von der Produktionsfirma, man wird sich das nachher in Ruhe ansehen. Immer glaubt
man ja, ein wichtige Nachricht, eine Botschaft wird einen erreichen, und dann ist es wieder
nur die Post. Modern muss es schon sein, aber man darf auch nicht übertreiben, man macht
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schliesslich keine Kunst, man macht einen Job und zwar mit gesundem Selbstbewusstsein, es
wird ja auch gut bezahlt. Der Mann kommt. Er brummt einen Gruss.
Die Wesseling ist eine unserer beliebtesten Schauspielerinnen, das heisst: Sie spielt im
Fernsehen; ob sie schon mal ein Theater von innen gesehen hat, das weiss man nicht. Sie sitzt
zuhause und studiert das Drehbuch. Sie spielt immer diese Rollen, mit denen wir alle uns
identifizieren können, sollen und wollen: Die praktisch veranlagte doppelverdienende
Hausfrau und Mutter, die im Berufsleben ihren Mann steht. Wie wir alle. Sie spielt was sie ist.
Der Unterschied zwischen Spiel und Leben, er ist nicht ganz einfach zu benennen, aber es gibt
ihn natürlich. Dieser Unterschied wurde damals geleugnet von gewissen Mode-Philosophen,
denn es war das Zeitalter der Post-Moderne. Die Wesseling aber kennt den Unterschied nur zu
genau: Wenn der Film fertig ist, dann kommt er in die Endabnahme, und man macht gleich
den nächsten. Wenn aber das Leben zu Ende geht - man weiss es nicht. Thea war ausserdem
der Ansicht: eine Philosophie, die man nicht versteht (und verstehen heisst immer: genau
verstehen), das ist gar keine. Dieser Ansicht wollen wir uns hier anschliessen. Wie die
meisten Philosophien war die Philosophie der Post-Moderne eine Männer-Philosophie:
Frauen glauben weniger daran. Aber ich bin ein Mann. Trotzdem muss ich gestehen, dass ich
nicht alles ganz genau verstanden habe.
Die Wesseling stand in dieser Szene im Mittelpunkt.
Die anderen Figuren blieben immer etwas blass, so auch jetzt, vor allem der Mann. Immerhin
gab es in dieser Produktion noch einen Mann, später wurde der Mann eingespart, und die Frau
wurde als lustige Witwe präsentiert, irgendwo mussten ja ihre Kinder herkommen. Thea steht
in dieser Szene im Mittelpunkt. Sie steht in der Eingangshalle ihrer bescheidenen kleinen
Villa, ihr Mann ist am Bildrand sichtbar, und man wartet, dass die Tochter endlich nachhause
kommt - den Sohn sah man nur selten.
"Wo Saskia nur wieder bleibt?"
Man hatte Herrn Overath dienstliche Anweisung erteilt: Die Tochter muss Saskia heissen.
Endlose Telefonate führte er, ich weiss nicht mit wem, und manches Mal sah ich in der
Störung durch diese Telefonate den eigentlichen Grund dafür, dass ich mit meinem
Gedichtzyklus gescheitert bin, nur drei Gedichte wurden überhaupt fertig, nur eines davon
konnte ich mir merken, zum auswendig Aufsagen. Nicht endenwollende Telefongespräche
wurden geführt wegen der Frage: Wie soll sie denn heissen? Darf sie nicht auch anders
heissen? Anna? Bettina? Charlotte? Dorothea? Erika? Frizzi? Herr Overath musste selbst
einräumen: seine Vorschläge hatten kein Gewicht, da stand keine tragfähige Idee dahinter.
Die Agentur ihrerseits hatte die Klatschspalten einiger Zeitungen ausgewertet und war zu dem
Ergebnis gekommen: Die Töchter der Reichen und Schönen heissen in dieser Saison Saskia.
Warum auch nicht. Herr Overath wollte das nicht einsehen. So sehr er auch sonst allen
Wünschen willfahrte, im wohlverstandenen Eigeninteresse: er hätte das Zeug sonst
zurückerhalten zum Nacharbeiten - aber hier sah er seine Chance. Gretl? Helene? Ida?
Johanna? Karin? Leonie? Leonie schon eher, das klingt wenigstens ein kleines bisschen
fremdländisch, aber an Saskia kommt es nicht heran.
Also Saskia.
Saskia auf Skiern. Saskia auf dem Rücken der Pferde. Sie ritt. Das ganze Glück der Erde
wurde von Herrn Overath in das Drehbuch eingearbeitet, auch wenns mal Tränen gibt, kurz
vor dem glücklichen Ausgang, kurz vor Schluss, man kennt das.
In dieser Szene warten die Eltern ungeduldig auf das Nachhausekommen der halbwüchsigen
Tochter.
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"Ich weiss nicht, wo sie bleibt", antwortet der Mann, es war viel Typisches in der
Fernsehserie, dem wirklichen Leben abgelauscht. Herr Overath hieb in die Tasten, ich schrieb
meinen Fahrbericht. Wenn ich das gewusst hätte, als ich am Ufer der Themse stand, ich wäre
am Thema Virginia drangeblieben, hätte mich vielleicht später um das Virginia-WoolfStipendium bewerben können.
So aber lebte ich in Köln am Rhein und verfasste Automobil-Testberichte. Ich schrieb aber
keineswegs nur ab aus der Fachpresse, z.B. "leichtgängige Gangschaltung", was ich vage als
unschön empfand, nein, ich steuerte eigene Ideen bei: "butterweich leichtgängige und präzise
Gangschaltung macht Lust auf mehr". Eigentlich kann man sagen, meine Berichte beruhten
hauptsächlich auf meiner eigenen geistigen Leistung.
Köln, dieses trostlose Kaff, in dem immer alle Einwohner sich gegenseitig versichern, wie
schön es bei ihnen ist (und die meinen das ernst). Und dann erst die Dörfer der Umgebung:
Knapsack, Dellbrück, Nippes, Overath, Roggendorf, Witterschlick, Erkelenz, Wesseling,
Andernach, Lahnstein. Und dann heissen die Leute auch noch so wie die Dörfer, aus denen
sie gekommen sind in die grosse Stadt.
Also Köln, erst mal. Ich hatte damals noch die Hoffnung, ich könne eines Tages weggehen,
nach Hamburg, Berlin oder München.
In Köln also, wo die Agentur sass und wo wir arbeiteten, Herr Overath an der
Schreibmaschine, ich mit dem Bleistift in der Hand - ich tippte meine Texte immer schnell
zwischendurch in die Maschine, wenn der Chef Kaffee-Pause machte - in Köln hat die
Bahnhofsgegend den Vorteil, dass man auch sagen kann: am Dom. Unser Büro war am Dom.
Jeden Morgen hastete ich, denn ich war spät dran, zwischen Bahnhofshalle und gotischem
Gemäuer meinem Arbeitsplatz entgegen. Ich sah Penner rechts, Betschwestern links.
Ich hielt mich in der Mitte.
Der Mann weiss auch nicht, wo die Tochter ist, Saskia. Nervosität macht sich breit, usw.
Besonders die Frau macht sich jetzt doch ernsthaft Sorgen, Thea Katharina Wesseling ist
zutiefst besorgt. Die stoische Ruhe des Gatten erbittert sie. Ihre Fragen werden dringlicher.
Sie hat früher auch Gesang studiert, auf der Schauspielschule, jetzt allerdings nimmt ihre
Stimme einen schneidenden Ton an, Thea springt zwei Stufen die Treppe hinauf, damit sie
den Gatten von oben zusammenbrüllen kann:
"Postmodern? Postmodern?"
Jetzt kreischt sie, wie nicht recht gescheit. Sie wirft einen Arm in die Luft, den linken, hält die
Hand über ihrem Kopf, bewegt die gepflegten Finger, in nervös zuckenden Bewegungen:
"Du gehst jetzt an deinen Bücherschrank - in deine Bibliothek - und dann nimmst du alle
Bücher heraus, in denen das Wort Post vorkommt, und dann in den Altpapier-Container
damit!"
"Alles, aber nicht das, Thea!"
"Ja, jetzt bin ich wieder das liebe Thealein - aber wo warst du, als..."
Die Tochter kommt herein, endlich, sie hat wieder was genommen, so wie sie aussieht; und
sie merkt gleich, dass die Alten etwas gemerkt haben, und macht jetzt auch noch, als wäre
nicht alles schon schlimm genug, das Schlechte-Gewissen-Gesicht. Der Vater sucht einen
Ausweg, nach einigen ungeschickten Schritten hin und her verflüchtigt er sich in den HobbyKeller, die Kellertreppe ist kurz zu sehen.
"Spiel schön!" kreischen die Damen hinter ihm her, Mutter und Tochter. Jedoch der Keller hat
einen direkten Zugang zum Garten, und schon bald hört man das Auto des Mannes
davonfahren.
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"Komm, mein Kind, hilf deiner Mutter." Die beiden begeben sich in das Arbeitszimmer des
Alten, treten an den Bücherschrank heran, die Tochter rennt im Tran mit ihrem Kopf gegen
die Ecke des Schranks - macht nichts, die hat eh nichts in der Birne. Die Alte reisst ein Buch
nach dem anderen aus dem Schrank, blättert heftig, jedes zweite Buch reicht sie der Tochter,
"Altpapier-Container!". Die Tochter schwankt hinaus mit einem Buch in der Hand und
kommt nach kurzer Zeit ohne Buch wieder zurück.
Nach vollbrachter Tat setzt Katharina sich auf das Sofa, zieht die Tochter zu sich heran und
nimmt sie in die Arme.
"Rückfall gehabt?"
Die Tochter legt ihr dummes Köpfchen an den schönen Busen der Mutter.
"Na gut. - Lass uns Papas Bücher doch wieder hereinholen."
"Geht nicht"
"Warum nicht?"
"Ich hab draufgekotzt."
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Die Backblüte
Gäben die Götter mir Gunst. Thea Katharina sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer ihrer kleinen
Villa und befasst sich mit einem Drehbuch. Man kann nicht sagen, dass sie ihre Rolle lernt,
denn sie hat da ihre eigenen Methoden. Sie sitzt mit dem Buch in der Hand und meditiert. Sie
spricht den letzten Satz noch einmal ganz langsam. Sie nimmt einen Schluck Cognac. Sie
blickt aus dem Fenster in den Garten ihrer Villa: dicke Baumstämme sind zu sehen, es ist ein
grosser Garten, mit ungewisser Begrenzung, vom Fenster aus gesehen scheint es, der Garten
erstreckt sich endlos. Vielleicht müsste es besser heissen: Dein ist der Anteil der Göttergunst.
Wer soll das wissen. Wer kann das entscheiden. Und wo kam der Satz überhaupt her? Von
Katharina selbst, oder hat sie das irgendwo gelesen? Und wann? Sie überlegt schon seit
einiger Zeit, einen Gedichtband zu schreiben, viele Schauspielerinnen machen das jetzt. Aber
erst muss sie das Drehbuch lesen, schliesslich hat sie einen Job, und sie will wieder alle mit
ihrer sprichwörtlichen Professionalität überraschen. Eigentlich ist es ja keine Überraschung,
aber ihre Professionalität ist wirklich derart frappierend, dass es eben doch immer wieder
überrascht. Dazu ihr berühmtes Lächeln, das sie übrigens auch im Privatleben zeigt, und ihre
Kollegialität. Niemals drängt sie sich vor mit ihrer Erfahrung, ihren Fachkenntnissen, noch
der unfähigste Regisseur wird von ihr mit diesem Lächeln beschenkt, und wenn er ihren Film
versaut, sie hat genug andere gemacht, und das Publikum bemerkt so etwas eh nicht.
Katharina liest das Drehbuch. Sie spielt eine erfolgreiche Journalistin, die allerlei heitere
Missgeschicke mit ihrer turbulenten Familie erlebt: Tochter rauschgiftsüchtig, Sohn geht auf
den Strich, man kennt das. Dazu ein Mann, der nichts bringt. Sie seufzt und trinkt noch ein
Glas. Gaben die Götter mir Gunst - so muss es vielleicht heissen, denn sitzt Katharina nicht
auf einem sehr bequemen Ledersofa in ihrem riesigen Wohnzimmer, und blickt sie nicht aus
dem Fenster in einen Garten, in dem richtig ausgewachsene Bäume stehen, keine
Zierpflanzen, sondern hohe Fichten, soweit man das erkennen kann? Schon beginnt die
Dämmerung. Die Stämme stehen. Sie schweigt. Geben die Götter. Aber welche Götter denn?
Sie schüttelt unwillig den Kopf, steht auf und verlässt das Zimmer um nach der Post zu sehen.
Das Drehbuch bleibt aufgeschlagen auf dem Sofa zurück: weisses Papier auf dunklem Leder.
Morgens, im Sommer, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit von der Rheinbrücke kommend in
Richtung des gotischen Domes hastete, die Sonne stand schon hoch hinter meinem Rücken,
und ihr Licht fiel gerade vor mir auf die Fassade des Kirchenschiffs und die zwei
dahinterliegenden Türme, der Bahnhof lag rechts davon gewissermassen im Schatten - was
gar nicht stimmte, aber es sah so aus, es wirkte so - und wenn ich noch einige Minuten Zeit
hatte (ich kam eh immer zu spät ins Büro), dann umrundete ich noch einmal ganz die für alle
Ewigkeit gebaute Kultstätte, ging bis hinter die Türme, und dort blieb ich stehen und blickte
nach oben in den Himmel. Ich sah die Schatten der zwei spitzen Türme, die sich in der
dunstigen Luft schwach aber doch deutlich sichtbar abzeichneten. Schatten im Dunst, Spuren
von Stein in der Morgenluft. Das gotische Bauwerk als solches ist zu erkennen an seiner
mannigfaltig gekräuselten Oberfläche, der Baukörper stülpt kleinere und grössere
Bestandteile nach aussen, aber nicht wie eine Rüschenbluse. Ich stand mit nach hinten
geneigtem Kopf und liess meinen Blick wandern zwischen dem Schatten der zwei Türme im
Äther und den Türmen selbst, die ihrerseits zu wandern schienen, da etliche Schäfchenwolken
in einiger Höhe über sie hinwegzogen. Diese Auswüchse im Stein erinnerten mich an die
kleinen Wellen, die ich einst in London im Wasser der Themse gesehen hatte. Und jedesmal,
wenn ich dort stand und in die Luft starrte - die Touristen machten vorsichtig einen Bogen um
mich herum, und die Penner erkannten mich wohl für ihresgleichen - jedesmal fiel es mir
wieder ein: dass ich jetzt eben, beim Überqueren der Rheinbrücke, schon wieder vergessen
hatte, im Wasser nach diesen kleinen Wellen Ausschau zu halten, wie ich sie in London im
Wasser der Themse gesehen hatte. Und wieder kam mir der Verdacht, ich hätte irgend etwas
verwechselt, und es sei am Rhein gewesen, dass eine Dichterin mit gewellter Dolchklinge sich
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entleibt hatte. Ich gab mir einen Ruck und riss mich los. Die amüsierten Blicke der mir
entgegenkommenden Passanten erinnerten mich wieder daran, dass ich mir vorgenommen
hatte auf der Strasse keine Selbstgespräche mehr zu führen. So ging ich ins Büro, an der
Vorzimmerdame Maria vorbei, zu Herrn Overath, der mich schon erwartete, bedeutungsvoll
mit seiner pseudo-antiken Taschenuhr herumspielend, seine Glatze reflektierte unschön das
Licht vom Fenster. "Griffige Formulierungen," so begrüsste er mich, "untadelig recherchiert,
zuverlässig in den Fakten: Der Leser muss es lesen" - "Deswegen schreibst du auch hier bei
der Backblüte", antwortete ich, lächelnd, mit unhörbar leiser Stimme. Einige Krähen, schwarz
gegen den blendend hellen Himmel, flogen um die Türme, in ruhigen weiten Bögen.
Thea zieht ihr missratenes Töchterchen jetzt noch enger an ihre auffallend schöne Brust.
"Mein Kind...",
Heimlich beneidet sie die Rauschgiftsüchtigen, von denen sie in ihrem Beruf schon viele
kennengelernt hat: Wenigstens haben die etwas Konkretes, an das sie sich halten können, den
Stoff, wie man so schön sagt, und nicht nichts, wie die anderen Menschen.
"Mama?"
"Ja, meine Kleine."
"Kannst du mir noch mal hundert geben?"
"Aber so viel habe ich nicht mehr."
"Mama!"
"Ehrlich nicht"
"Mama, wenn du mir das Geld nicht gibst, dann verkaufe ich eine Niere."
"Aber mein Kind, du kannst auf keine einzige Niere verzichten, du brauchst sie alle beide, bei
deinem Konsum."
Sie tätschelt der Tochter die Hand, die weich und gelblich aussieht.
"Kann ich wohl!"
"Und wer soll auch eine aids-verseuchte Junkie-Niere kaufen, du bist ja lustig"
"Gar nicht aids-verseucht."
Die Tochter zieht einen Zettel aus ihrer Hosentasche, den sie entfaltet und nach oben hält, vor
das Gesicht der ratlosen Mutter. Ein rosa Schein. Und tatsächlich, da steht es: Kein Befund.
"Mein Kind, dann ist ja noch Hoffnung..."
"Mama!"
"Alles wird gut." Thea zeigt ihr berühmtes Lächeln, das alle so sehr schätzen, nur die Tochter
schaut nicht hin.
"Ich habe Schulden bei meinem Dealer. Wenn ich den nicht bezahle, der bringt mich um."
Der Tod mein Kind, der Tod dein Freund, begib dich nun, und ungesäumt, in seine schlanken
Arme.
"Und wenn ich tot bin, dann gehen meine beiden Nieren für umsonst weg."
Die Tochter, Saskia, nestelt wieder an ihrer Hosentasche herum und hält dann der Mutter ein
kleines Kärtchen vor die Nase; es ist ein Organspende-Ausweis.
"Ja soll ich denn selbst eine Niere verkaufen?"
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Da richtet sich die Tochter auf, und blickt der Mutter mit ganz unbeteiligtem Ausdruck ins
Gesicht.
Woher ich das alles weiss? Ich will es dem geneigten Leser sagen: ich habe alles selbst aus
nächster Nähe miterlebt, als Lehrling sieht man ja immer alles, weil man nicht für voll
genommen wird, und die anderen keinen Anlass sehen, sich zu verstellen. Ich habe alles ganz
genau gesehen. Und weil ich als Volontär bei der Textagentur sowieso den ganzen Tag
schreiben musste, mein Lieblingssatz war: macht Lust auf mehr, fiel es nicht weiter auf, wenn
ich mir Notizen machte über das, was ich sah. Jawohl, meine Lieben, ich hätte meinen Artikel
über die Trilobiten in der Tat schon einen Tag früher druckfertig haben können, aber ich
machte mir stattdessen Notizen, private Aufzeichnungen, die mir heute, Jahre später, bei der
Abfassung des hier vorliegenden Berichts nicht wenig nützen. Die Trilobiten, das waren
kleine, bereits ausgestorbene Tiere, die damals in den Blick der Öffentlichkeit gerieten,
nachdem das Interesse für Dinosaurier abgeflaut war. Die Saurier waren eine Zeitlang sehr
populär gewesen, unsere Agentur hat viel Geld mit ihnen verdient - aber irgendwann wollten
die Leute nichts mehr über sie lesen. Ein Blick in das Naturkunde-Lexikon, Abteilung
Stammbaum der Arten/Entwicklung des Lebens belehrt einen: Vor den Dinosauriern waren
die Trilobiten dran. Und abgesehen davon: Es war ausgemacht und von allen Beteiligten
anerkannt, dass ich nach Dienstschluss im Büro bleiben durfte, um an meinem Gedichtzyklus
zu arbeiten, Plato in der Höhle. Ich besass damals nämlich keine eigene Schreibmaschine.
Immer besteht ja der Höhepunkt der Lächerlichkeit darin, dass der lächerliche Mensch alles
ernst nimmt, vor allem sich selbst.
Man denkt, man träumt, man sieht eine Landschaft vor sich, grüne Wiesen, sanfte Hügel, im
Hintergrund ganz dunkel ein Wald, ein Haus, über dessen weissen Mauern am blauen Himmel
ein Vogel fliegt, schwarz. Und obwohl die Landschaft menschenleer wirkt, hören kann man
die Leute immer, ihre Autos, Flugzeuge, Eisenbahnen. Ein roter Postbus kommt heran. Er
hält, ich steige ein.
Abends, wenn ich das Büro verliess, bei Sonnenuntergang, stand manchmal der Mond
zwischen den Türmen des Doms, Vollmond. Sind wir allein im Weltall? Ich fürchte: ja, und
nicht nur das, es ist schlimmer: Ich bin es, ich bin allein, die Geliebte ist lang schon fort. Es
gibt keine Menschen, Handwerker sah ich, nur noch Rollen im freien Spiel der Kräfte. Diese
Kräfte, es sind die Kräfte des Marktes, und das letzte noch verbliebene Gefühl ist die Gier,
und die Angst natürlich. Die Illusionen sind aufgebraucht, und insofern bin ich in einer
komfortablen Situation, der Blick ist jetzt frei. Wenn nämlich alle Illusionen durchschaut sind
- aber wann ist es soweit, wann ist wirklich die letzte Illusion erreicht - dann ist es an der Zeit
sich zum Hauptbahnhof zu begeben, unter den Pennern zu leben, und ihnen die Botschaft zu
verkünden:
Du bist der neue Mensch.
Verspätet um das akademischen Viertel, auf das ich ein wohlbegründetes Recht zu haben
meinte, betrat ich das Büro. Herr Overath sass vor seiner Schreibmaschine und hielt wie
immer seine protzige, pseudo-antike Taschenuhr in der Hand, als diskreten Hinweis an mich.
Aber er sagte nie ein Wort zu meinem Zuspätkommen. Stattdessen stellte er mir gerne eine
fachliche Fachfrage: "Sagen Sie, junger Mann, wie heisst das: Da ist etwas, und man weiss
nicht, was es ist und wo es herkommt?" - "Unterschwellige Strömung", antwortete ich, oder
"Machtvolle Welle". Ich setzte mich an meinen Platz. Die Korrekturbogen mit meinen letzten
Textungen lagen da. "Macht Lust auf Meer", las ich da, Meer mit zwei E, denn der Hersteller
des Automobils hatte ein Foto zum Abdruck bereitgestellt, auf dem das fragliche Fahrzeug an
einem Strand unter einer Palme zu sehen war. Solche Änderungen an meinen Texten, ich
hatte sie hinzunehmen, das stand in meinem Vertrag. Aber ich war auf das Äusserste
verbittert, und umso mehr fühlte ich mich berechtigt, während der Bürostunden an meinem
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philosophischen Lehrgedicht zu schreiben oder Notizen über Herrn Overath und sein Umfeld
zu machen.
Die Tochter kommt ins Büro, nach seiner Reaktion zu schliessen unangemeldet. Hübsch,
schlank, blond. Allerdings schlechte Klamotten. Sind das Einstiche in ihrem Arm? Ist das ein
Ekzem, der riesige rote Fleck an ihrem Bein? Schwer zu sagen, da ich sie fast ausschliesslich
von hinten sehe. Aber ich hörte genau, was sie sagte:
"Kannst du mir was geben?"
"Wie - was geben? Was meinst du?"
"Hundert."
"Wozu - zum Teufel..."
"Na mach schon. Sonst sag ich, wozu."
Ein Blick aus ihren blauen Augen streifte mich. Ich hielt den Kopf gesenkt und schrieb weiter
alles mit.
"Hundert. Das ist eine Menge Geld."
"Weiss ich doch. Das ist ja das Problem."
Herr Overath stand auf, ging zum Garderobenständer, zog die Brieftasche aus der Innentasche
seines Jackets. Die beiden, Vater und Tochter, verschwanden aus meinem Blickfeld.
"Danke Paps", hörte ich. Und während die Schritte der Tochter in den allerdings
geschmacklosen Stöckelschuhen sich im hallenden Flur schon entfernten, erklang seltsam
schwächlich die Stimme des Vaters:
"Hast du deinen Bruder gesehen?"
Nach einer kleinen Weile, die äussere Tür war bereits laut krachend ins Schloss gefallen:
"Oder hast du wenigstens etwas gehört?"
Er kam wieder in mein Blickfeld, steckte die Brieftasche zurück in die Innentasche seines
Jackets. Er setzte sich an seinen Platz, griff zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.
"Hallo, ich bins", er sprach also mit seiner Frau, "Saskia war gerade hier". Er warf mir einen
bedeutsamen Blick zu, so dass ich mich in die Mittagspause verabschiedete. Ich war
zuversichtlich, dass er mir nachmittags alles erzählen würde.
Herr Overath, er war mein Mentor. Man liebt seinen Mentor nicht, denn er hat die Aufgabe,
seinem Schützling das Lernen aus den eigenen Fehlern zu ermöglichen. Sein Vorteil,
andererseits: Man ist freiwillig zusammen. Man könnte ihn verlassen, sich einen anderen
Lehrmeister suchen - denn lernen muss man etwas, wenn man kein Einkommen hat, das
einem ohne Arbeit zur Verfügung steht, was mir allerdings angenehmer wäre. Ich musste also
ein Handwerk lernen, - und als Schreiberling, so bildete ich mir ein, war ich immerhin in einer
gewissen Nähe zu meinen literarischen und philosophischen Ambitionen ("Macht Lust auf
mehr"). Der Mentor war also fürs Erste gefunden - es war Herr Overath. Ich bezog sogar ein
kleines Gehalt, das mir ein bescheidenes Überleben ermöglichte. Herrn Overaths Tochter
hatte ich bereits kennengelernt, mit seiner Frau am Telefon gesprochen. Das Sohn war und
blieb unsichtbar. Hing es damit zusammen, mit diesem abwesenden Sohn, dass ich eine
gewisse Nähe zu Herrn Overath verspürte, die mir nicht immer angenehm war? Wie gesagt,
man liebt seinen Mentor nicht.
Aber mehr als einmal war es bereits vorgekommen, dass er mich in seine kleine Villa nach
Junkersdorf einbestellt hatte, endlose Fahrt mit der Strassenbahn, dass er mir Texte zur
Schlussredaktion übergab - es wäre natürlich seine Aufgabe gewesen, das selbst zu tun, als
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Chef - dass ich also auf dem Sofa Platz nehmen musste, eine Tasse Kaffee trinken musste, die
Tochter schwankte irgendwo im Hintergrund des Wohnzimmers vorbei, des Salons, so dachte
ich damals, die Frau des Hauses reichte mir die Hand. Und ich wunderte mich, dass der
Overath eine so schöne Frau hat. Sie war selbst auch Journalistin, allerdings nicht beim
Stadtanzeiger, sondern bei irgendeinem Revolverblatt, und abends schrieb sie Drehbücher für
das Fernsehen. Die Miete für die kleine Villa war wohl nicht ganz billig. Ich sass auf dem
Sofa, blickte an Herrn Overath vorbei in den Garten; man sah richtig ausgewachsene Bäume
da draussen, keine Douglas-Tannen, sondern richtige Fichten, wie im Wald, wenn auch nicht
so viele. Die Dämmerung fiel, der Garten hatte eine ganz ungewisse Ausdehnung, Herr
Overath knipste die Stehlampe an. "Wir Journalisten" sagte er gerade, und jetzt war ich doch
froh, dass ich mich einbezogen fühlen durfte in das Wir. Wir Männer des Wortes. Die Tochter
schlich wieder hinter mir vorbei, hatte einen Jungen im Schlepptau, ich sah das Spiegelbild
der zwei Personen im Fenster. Ich beneidete den Jungen. "Wir sagen doch dem Leser, wo es
lang geht." "Macht Lust auf Meer", dachte ich, und meine gekränkte Eigenliebe bäumte sich
kurz und schmerzhaft auf. "Und wir sichern uns ja auch ab, - Leserumfragen und so." Herr
Overath zeigte jetzt einen sehr zufriedenen Gesichtsausdruck. Er ging zum Schrank, holte
Cognac und zwei Gläser. "Na kommen Sie, junger Mann." Ich musste, ob ich wollte oder
nicht. Die Gattin hatte wohl das dezente Klingen der Gläser gehört. "Prostata!" Sie setzte sich
auf einen Sessel mir gegenüber, jenseits des niedrigen Mahagoni-Tisches, sie forderte und
bekam ihr Glas, ein Gläschen, und so sassen wir in gemütlicher Runde, auch wenn ich nichts
zu sagen wusste, die Alte quasselte für zwei. Auf meine schüchterne Art verehrte ich sie, die
damals wohl doppelt so alt war wie ich, aber gut erhalten, wie ich fand, gross war sie,
vielleicht etwas kräftig im Vergleich zu den magersüchtigen Mädeln, die ich sonst kannte,
elegant gekleidet selbst zuhause, blond mit Dauerwelle. Die Dauerwelle gefiel mir nicht so
gut, damals. Verstohlen lugte ich unter ihren Rock, aber sie hielt die
übereinandergeschlagenen Beine fest geschlossen. Sie sprach dem Getränk wacker zu, und ich
schwankte beträchtlich, als ich mich verabschiedete, einige Blätter Papier unter den Arm
geklemmt. "Morgen um zehn müssen wir zum Druck", wurde ich noch ermahnt, und ich
lallte: "Geht klar, Chef!" An diesem Abend fand ich ihn doch ganz nett.
Saskia erzählte mir später, wie es in der kleinen Villa weitergegangen war, während ich in der
Strassenbahn sass und auf meinem Sitzplatz einschlief. Als ich erwachte, waren die Papiere
zu Boden gefallen, und die Passagiere trampelten darauf herum. Saskia hatte ihren jungen
Freund verabschiedet und wollte sich still und leise zurück in ihr Zimmer schleichen um sich
noch einen Schuss zu machen, wie man so sagt, als sie hörte, wie die Mutter dem Vater
mitteilte: "Saskia will eine Niere verkaufen." Saskia blieb stehen und lauschte. Sie hörte keine
Reaktion. Sie hörte nur das Entkorken der Cognac-Flasche und das Geräusch des Eingiessens.
Saskia sagte: da habe sie beschlossen wegzugehen. "Aber Saskia!" rief ich aus, "Du kümmerst
dich doch auch nicht um die Sorgen und Nöte deiner Eltern. Warum sollen sie sich um deine
kümmern. Sei froh, dass deine Eltern nicht verhütet haben, als..." - "Dafür sind die doch viel
zu blöd", platzte Saskia heraus, aber diesen Einwand wollte ich nicht gelten lassen. Ich hätte
schon gewusst mein Leben zu geniessen, wenn meine Eltern eine kleine Villa in Junkersdorf
gehabt hätten, und sei es auch nur zur Miete. Saskia aber wollte diese Dinge nicht hören. Ich
hatte nur selten mit Saskia zu tun, aber meist stellte sich zwischen uns eine gewisse
Vertrautheit ein, die vielleicht darauf beruhte, dass Saskia sich einbildete, ich sei als Lehrling
ihres Vaters in einer ähnlichen Situation wie sie selbst. Ich meinerseits war damals so
schüchtern, dass ich mich mit jeder Frau intim fühlte, die überhaupt nur ein Wort mit mir
sprach. Nur vor dem Geschlechtsverkehr mit Saskia schreckte ich zurück; der Gedanke, ich
könnte der Vater von Herrn Overaths Enkelkind werden, er verursachte mir Kopfschmerzen
und Übelkeit, und demzufolge Impotenz.
Ein ganz delikates Thema. Ich werde nicht darauf zurückkommen.
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Frau Overath wartete auf eine Reaktion ihres Mannes. Wenn das Kind eine Niere hergibt.
Wenn Saskia eine Niere hingibt. Aber Herr Overath äusserte sich nicht zum Thema. Also
stand seine Frau auf, um sich an ihren Schreibtisch zu setzen und ein neues Drehbuch zu
beginnen. Die Cognacflasche nahm sie mit.
"Wir sagen den Leuten doch, was zu tun ist", so hatte Herr Overath zu mir gesagt. Ich kroch
über den Fussboden der Strassenbahn, um die verstreuten Blätter wieder einzusammeln. Die
Strassenbahn fuhr gerade am Ballhaus vorbei. Man hörte Walzerklänge: eins, zwei, drei eins, zwei, drei. Aber nicht immer, wenn man eins, zwei, drei hört, ist es ein Walzer. Es kann
auch die Mondscheinsonate von Luigi sein, Opus 27 Nummer 2. Die Frage stellt sich
bekanntlich immer gleich: Warum tun die Leute, was sie tun? Vielleicht ist auch die Antwort
immer gleich: aus Angst (Dummheit, Bosheit). Ich blickte aus dem Bürofenster. Der Betrieb
der belebten Bahnhofsgegend war auch bei geschlossenen Fenstern gut zu hören. Die enge
Strasse im Schatten des Doms, eine belebte Geschäftsgegend, auf beiden Seiten eingefasst
von Läden: Elektroartikel, Fernsehgeräte, Uhren, eine Schlosserei, Apotheken, ausserdem
Kneipen und Sexshops. Direkt unter meinem Fenster der Taxistand. Ich beugte mich vor um
die dicke Frau zu sehen, die wie jeden Nachmittag kurz vor zwei Uhr in ein Taxi stieg, um
sich zum Hauptbahnhof fahren zu lassen, die Frau aus dem Goldenen Anker, möglicherweise
die Kellnerin. Wegen der Einbahnstrassen musste das Taxi einen weiten Umweg fahren, man
wäre zu Fuss viel schneller am Hauptbahnhof gewesen. Vom Dom hörte man die Sirene eines
Rettungswagens, ein Selbstmörder war wohl von der Aussichtsplattform des Turmes
gesprungen. Die Menschen sind in einem gewissen Alter von Natur aus Selbstmörder. Oder
muss es heissen: Junge Männer sind in einem gewissen Alter von Natur aus Selbstmörder.
Vielleicht werden Frauen erst in einem vorgerückten Alter zu Selbstmörderinnen, wenn sie
von allen Seiten gesagt bekommen: Jetzt bist du alt, hässlich, überflüssig. Der Selbstmord
wird aus Angst begangen. Angst vor dem Tod kann zum Selbstmord führen. Nur selten
geschieht es, dass eine junge Frau - obwohl: wenn man es recht bedenkt, dann gibt es das
auch bei jungen Frauen: Bulimie, exzessive Rauschgiftsucht, oder das ganz und gar lustige
Phänomen, dass gewisse Zuhälter ihre Damen zum Schönheits-Chirurgen schicken, so dass
ihnen sogar noch das eigene Aussehen genommen wird, bevor sie auf den Strich gehen, wie
man so sagt, denn nach meiner Beobachtung gehen sie nicht, sondern sie stehen auf dem
Strich, und sie waren offensichtlich alle beim selben Schönheitschirurgen. Bei Saskia lag der
Fall denn doch anders: Das Kind plante - 19 Jahre war sie damals alt - eine Niere zu
verkaufen. Nun weiss ich nicht genau, ob bei Junkie-Nieren eine Wertminderung in Anschlag
zu bringen ist, oder ob man das dem Kunden eh verschweigt, wo die Niere jetzt genau
herkommt, fest steht, dass die Wesseling, dass TKW ab diesem Zeitpunkt eine Sorge mehr
hatte. Immer wenn sie die Tochter sah, packte sie das Kind, in aller Freundschaft, und besah
sich den Rücken der Tochter um zu prüfen, ob da eine verräterische Narbe zu sehen sei.
Vorläufig nicht.
Saskia, die Süchtigen sind schlau und verschlagen, machte sich diesen Mechanismus im
Mutterhirn zu nutze. Ganz harmlos fing sie an:
"Hast du noch eine Schachtel Zigaretten für mich, Maman?", die Franzosen hängen an dieses
Wort noch ein N an, damit man es besser näseln kann.
Die Mutter, natürlich ganz geschockt: "Wie? Sogar Zigaretten hast du keine mehr? Wo du
jeden Tag Hunderte für Stoff ausgibst?"
Die Tochter zieht bedauernd die Schultern hoch, presst die Lippen aufeinander und schneidet
eine Grimasse, die Hilflosigkeit andeuten soll und auch tatsächlich andeutet, nämlich von der
Mutter so verstanden wird. Also Handtasche hervorgekramt und nach Geld gesucht, etc. Es
hatte sich der höchst bedauerliche Zustand der Tochter im beruflichen Umfeld der Wesseling
bereits herumgesprochen, und TKW, die sich bisher immer nur geräkelt hatte in der wohlig
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wärmenden Strahlung des Neides, bekam jetzt doch öfter Schadenfreude zu spüren und
hämisches Feixen zu sehen. Nur gut, dass die Tochter hier nicht auf den Strich gehen kann,
die sind nämlich alle andersrum. Obwohl: Weiss mans? Und vielleicht verhilft ja das
Bewusstsein, der verehrten Kollegin ein Herzeleid zufügen zu können, so manchem Schwanz
zu einem unverhofften Aufschwung? Die TKW ist nicht zu beneiden in diesen Tagen, und
dazu ist sie mit einem Mann geschlagen, der nichts bringt, und von dem man kaum etwas
berichten kann.
Saskia selbst wusste anscheinend gar nicht, dass ihre schöne Mutter in grosser Sorge lebte.
Saskia war - den Umständen entsprechend - bei guter Laune und lag den halben Tag in der
Badewanne, in einem duftenden Schaumbad. Sie strampelt mit den Beinen und singt laut mit
ihrer piepsenden Kinderstimme:
Bedenkenlos, was liegt daran; Verkauf ich eine Niere; Denn weil ich dies Organ (haha); Doch
gar nicht spüre. Und ausserdem; Ich hab ja zwei; Zwei Nieren hab ich; Wunderschön. Drum
gräm dich nicht; Egal; Was auch passiert. Mit einer Niere; Lebt sichs; Gänzlich ungeniert.
Das ist noch gar nichts. Ich (also ich jetzt wieder) verkaufe meine Gene, davon habe ich
Tausende.
Ach was. Arbeiten sollst du, und Maul halten. Der Oberbäcker-Innungsmeister, Herr
Roggendorff, war eingetreten, auf Besuch in unserer Redaktionsstube, ich hatte ihn nicht
bemerkt, weil ich mich beim Schreiben meines letzten Gedichts zu sehr aufgeregt hatte. Herr
Overath grinste schadenfroh, als der Meister über meine Schulter hinweg nach einem Blatt
Papier auf meinem Schreibtisch griff. Er rückte seine Kassenbrille zurecht und las laut: "Plato
in der Höhle". Er hielt inne und sprach die Worte noch einmal, brüllte sie heraus wie nicht
recht gescheit. Jetzt erschrak Herr Overath doch ein wenig; er sprang auf. "Warum nicht Plato
in der Höhe?" schrie Herr Roggendorff mit höhnischem Tonfall. Er knallte das Blatt zurück
auf meinen Schreibtisch. "Herr Obermeister!", Herr Overath wandte sich gleichsam Hände
ringend an unseren obersten Geldgeber, "Der Kleine soll eine neue Serie entwickeln:
Backwaren, die wir im Urlaub essen, z.B. in Griechenland." - "Ach was," schrie da der
Innungsmeister, "die Leute sollen unsere guten Brezeln essen." Ich rechnete es Herrn Overath
hoch an, dass er wenigstens nicht Das Kleine gesagt hatte. Trotzdem fühlte ich mich sehr
betroffen. Ich sank über meinem Schreibtisch zusammen; meine Stirn berührte Papier. Dies
war leider ein ganz und gar typischer Vorgang gewesen, ich hatte zunehmend immer mehr
Probleme mit Fahrberichten und mit der Witzseite, die Arbeit ging mir nicht leicht genug von
der Hand, ich gewann hier keinesfalls die Freiheit, die ich mir erhofft hatte, um an meinem
philosophischen Gedichtzyklus zu schreiben, - im Gegenteil, die Arbeit in der Agentur frass
mich förmlich auf, und ich schaffte noch nicht einmal mein Pensum. Es verging mir auch
immer mehr die Lust, Notizen über Herrn Overath anzufertigen, weil ich mir sagen musste:
Kuck dich doch selber an. Vor allem meine Nervenschwäche, meine Neigung zu haltlosem
Weinen, dann wieder Wutausbrüche, kalte Arroganz, Hohngelächter, etc.
Die schwarzen Vögel, wenn man sie von unten sieht, wenn sie nämlich auf einem erhöhten
Punkt landen, spreizen ihre Flügelspitzen, als ob sie mit Fingern in die Luft fassen. Jedoch: es
gibt mehr weisse Vögel hier als schwarze. Die weissen Vögel haben ganz glatt zulaufende
Flügel-Spitzen, und das bleibt auch so bei der Landung. Eher neigen diese Vögel dazu, im
letzten Moment des Fliegens beiläufig mit ihrem ganzen Körper einen uns unsichtbaren
Auftrieb in der Luft auszunutzen, oder auszulösen, so dass sie, bevor sie aufsetzen, noch ein
kleines Stück nach oben getragen werden. Ich überquerte die Rheinbrücke, um nachhause zu
gehen. Der Mond war am Horizont schon aufgegangen, blass und weiss stand er im
Abendhimmel der untergehenden Sonne gegenüber. Ich dachte an Luigi, Opus 27, Nummer 2.
Hier also war es gewesen. Ich blieb stehen mitten auf der Brücke und stützte die Ellenbogen
auf das Geländer. Ich starrte in das schmutzige Wasser des Rheins. Schiffe fuhren unter mir
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vorbei, als ob sie mich nicht bemerkten, stromaufwärts langsam, abwärts recht schnell. Hier
hat also wahrscheinlich vor 300 Millionen Jahren ein Trilobit gesessen und hat sich dieselbe
Sonne auf den Pelz scheinen lassen. Ich blinzelte nach oben, die Sonne würde gleich hinter
der Skyline von Köln verschwinden. Aber die Trilobiten hatten gar keine Pelze, sie waren
unbehaart.
"Wissen Sie, junger Mann", Herr Overath hatte wieder diesen selbstgefälligen
Gesichtsausdruck gehabt, "Wir leben im Zeitalter der Postmoderne: Literatur wird aus
Literatur gemacht." Er wies mit einer bedeutsamen Geste auf die Fachzeitschrift, aus der ich
gewisse Anregungen herauszog für den Artikel, den ich gerade in Arbeit hatte: Fahrbericht für
irgendein neues Fahrzeug. Aber was heisst hier Postmoderne, wenn schon die Moderne
hauptsächlich darin bestand, dass man für Kunstsammlungen Museen baute, die geformt
waren wie die spiralig gewundene Auffahrt zu einem Parkhaus. "Wissen Sie"; sprach er
weiter, "Das sind postmoderne Zeiten. Wir simulieren eher, als dass wir etwas täten." Ich fuhr
auf, beleidigt und gekränkt. "Ist das etwa nichts, was ich hier tue?" - "Doch, doch, durchaus.
Und beeilen Sie sich bitte, ich habe etwas Neues für Sie: Gentechnik, ganz neu."
Naja, dachte ich. Obwohl, anderseits, warum nicht, - weiss mans? Vielleicht ist da doch was
Wahres dran: Autos, Parkhäuser und Philosophie. Und mit frischer Kraft, in Windeseile
schrieb ich meinen Fahrbericht, fabulierte von der butterweichen und präzisen Gangschaltung,
stolz wies ich auf das sauber getippte Schriftstück, als Herr Overath aus der Kaffeepause
zurückkam, eine angebissene Brezel in der Hand. Er las und brummte gutmütig.
"Hier, sehen Sie mal, junger Mann". Er reichte mir einen Stapel Papiere, hauptsächlich
Zeitungsausschnitte. "Neues Thema, ganz neu, Gentechnik, da können Sie sich profilieren, da
gibts noch nichts." Ich war aufgesprungen, um den Packen Papiere von Herrn Overath
entgegenzunehmen, und schon wenige Stunden später war meine erste Textung zu diesem
Zukunftsthema, wie man damals meinte, fertig:
Sehr geehrter Nutzer,
man würde sich natürlich ärgern, wenn man feststellen müsste, dass die Gattin uns ein Kind
untergejubelt hätte, das gar nicht von uns selbst gemacht wäre. Aber das hätte auch seine
Vorteile: Denn ein Kind, das die eigenen Fehler und Schwächen aufwiese, und zwar Tag für
Tag, das wäre wahrlich auch kein Vergnügen. Jeden Tag, den der Herrgott werden lässt, die
eigenen Fehler und Schwächen beim leiblichen Sohn deutlicher hervortreten zu sehen, immer
mehr konfrontiert zu werden, und der Herr Sohn ahnt es noch nicht mal, woher soll er das
auch wissen: Da ist der Sprachfehler des Grossvaters, da der Tick des Onkels, da der
Manierismus des Vetters aus Dingsda, und das da ist ohne Zweifel die eigene Feigheit. Auf
die eigene Feigheit läuft es hinaus.
Frauen scheinen sich an diesem Phänomen nicht zu stören, vielleicht gibt es das bei Frauen
gar nicht. Wenn die Wesseling mit ihrem missratenen Töchterchen auf dem Sofa sass, dann
machten die beiden Damen einen ganz harmonischen Eindruck. Verstohlen hatte ich hinüber
zu Herrn Overath gelugt. Hoffentlich nimmt er das jetzt nicht persönlich. Ich wusste ja, oder
glaubte zu wissen, dass Saskia sein eigen Fleisch und Blut war. Eine gewisse Art, unter dem
Schreibtisch mit den Beinen zu zappeln, meinte ich ganz ähnlich auch schon bei ihr gesehen
zu haben, dazu noch die blauen Augen usw. Aber wusste Herr Overath das auch? War er sich
da ganz sicher? Oder sollte ich ihm gar eine Neigung unterstellen, sich von seinem Kind
distanzieren zu wollen?
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Mondscheinsonate
Immerhin, fand ich am Abend, bei Feierabend, war dieser Tag nun doch einigermassen
glimpflich verlaufen, und ich hatte sogar ein neues Thema für mich entdeckt. Leidlich
zufrieden, wenn auch sehr erschöpft, schlich ich nachhause, hinter mir die untergehende
Sonne, vor mir der aufgehende Mond. Unter der Brücke floss trübe der Rhein, und in der Tat
sah die Wasseroberfläche nicht ganz glatt aus, aber um Genaueres sagen zu können, hätte man
sich das aus der Nähe ansehen müssen. Ich stand oben am Brückengeländer. Ich verscheuchte
den Gedanken an den Trilobiten, der hier in der Sonne gesessen hatte, vielleicht war das
sowieso ein Stück weiter weg gewesen, wir werden es nicht erfahren. Die Sonne war
inzwischen untergegangen, der Mond schon ein Stück höher gestiegen. Auf dem Meer musste
sich jetzt, wie immer, der Flutberg befinden, der von der Anziehungskraft des Mondes
herrührt, an Land merkt man es nicht so. Der Flutberg befindet sich in jedem Moment genau
unter dem Mond und kreist immer um die Erdkugel herum, soweit sie von Meer bedeckt ist.
An den Küsten steigt die Flut, dann fällt der Wasserstand wieder. Der Tag hatte mich doch
sehr angestrengt, zumal heute ein neues Thema auf mich zugekommen war, das mich nicht
wenig beschäftigte. Mit hängenden Schultern kam ich in meine Wohnung, eigentlich nur ein
kleines Zimmerchen.
Ich nahm die Schallplatte mit Luigis Mondscheinsonate aus ihrer Hülle, Opus 27 Nummer 2,
und legte sie auf den Plattenspieler. Ich startete das Gerät und senkte die Nadel in die Rille.
Ich legte mich auf mein Bett und lauschte. Zuerst hört man nur das Rauschen des Apparats,
und da weiss man schon: die Musik kommt, sie kommt. Cis-moll, eigentlich ungewöhnlich,
aber er spielt den cis-moll-Akkord auch gar nicht, er löst ihn auf, wie man so sagt, er spielt die
drei Töne einzeln hintereinander, und er steigt von unten in den Akkord ein, nicht mit dem
Grundton, sondern mit der Quinte beginnt er, erst kommen zwei schwarze Tasten, dann oben
eine weisse. Also, in langsam getragenen Tempo, adagio sostenuto: eins, zwei, drei - eins,
zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei, und dann gleich nochmal.
Schade, dass der Mond, der jetzt hoch am Himmel stehen muss, nicht in mein Fenster
hineinscheint, und ich bin zu schwach um aufzustehen und hinauszusehen. Und da kommen
die 2 mal 4 mal 3 Töne schon wieder, diesmal von Akkorden begleitet, die abwärts führen. Ja
- so ist das mit unserem Luigi: erst geht es bergauf, und dann, fast gleichzeitig, schon wieder
hinunter.
Ich schloss die Augen; ich musste jetzt ganz fest die Augen schliessen.
Ich bin ja nun nichts weiter als ein Organismus, eine biologische Funktionseinheit, ich habe
einen Blutkreislauf, ich habe ein Genom, wie ein Trilobit, der vor einer Milliarde Jahren just
hier an meiner Stelle sass und sich die Sonne auf den wohlgefüllten Bauch scheinen liess,
oder vielmehr den Mond, denn Haare hatten die Trilobiten keine, und ich, ich kann die
Mondscheinsonate hören: eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei,
dann etwas tiefer nochmal: eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei,
drei, und dann kommt er an den Ausgangspunkt seiner kleinen Melodie, drei Töne nur, alle
auf gleicher Tonhöhe, eine monotone Melodie: bamm, ba, bamm, während das eins, zwei,
drei der aufgelösten Akkorde im Untergrund weiterwirkt. Der Mond, scheinbar riesengross
vor der Silhouette des nächtlichen Doms, die Türme sind jetzt schwarz, vereinzelte Wolken
ziehen mit grosser Geschwindigkeit über die Szene hinweg, und da ist die seltsam eintönige
Melodie schon wieder: bamm, ba, bamm.
An dieser Stelle musste ich den Plattenspieler immer ausmachen, mit zitternden Händen
steckte ich die Schallplatte in ihre Hülle zurück, ich machte Licht im Zimmer, ich fürchtete
mich. An dieser Stelle zieht Luigi jetzt die Melodie hoch, in die Höhe, eine Wolke segelt in
diesem Moment direkt am rechten Turm hinterm Dom vorbei, der Mond zeigt dunkle
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Flecken, Krater sind das, Gebirge so hoch wie die Alpen, endlose Weiten der lunaren
Landschaft durchschritt ich, der Sauerstoffmangel machte mir zu schaffen, das Vakuum
eigentlich weniger, denn ich bin eh nur eine leere Hülle, das Vakuum füllt mich ganz aus.
Aber Hülle für was? Ich hatte Angst. Ich fürchtete mich.
Die Melodie geht weiter, ist jetzt oben, hört auch nicht mehr auf, ich hatte versucht
aufzustehen, aber ich falle zurück aufs Bett, ein langgezogener Schrei kreischt durch meinen
Kopf, wahrscheinlich habe ich allen Grund mich zu fürchten, eins, zwei, drei - eins, zwei, drei
- eins, zwei, drei - eins, zwei, drei, und jetzt etwas tiefer, und daher umso wirkungsvoller:
eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei - eins, zwei, drei. Ich kann die Schallplatte
genau so gut wieder auf den Plattenspieler legen, es macht keinen Unterschied, die
Mondscheinsonate ist nun in der Welt, und um sie wieder wegzubekommen, müsste man
schon die ganze Menschheit entfernen, Trilobiten gibts ja auch keine mehr. Dann kommt die
Melodie an diese fatale Stelle mit dem Lauf nach unten, den fast alle Pianisten fast immer
rhythmisch oder metrisch falsch spielen, die Stelle ist ausserordentlich subtil, die Sonate
täuschend einfach, es täuscht. Ich wälzte mich auf dem Bett herum, ich rutschte über den
Bettrand, ich falle sehr schmerzhaft zu Boden. Hoffentlich ist die Kniescheibe nicht
gebrochen.
Am nächsten Morgen (bamm, ba, bamm) kam ich erkältet zum Dienst, ich hatte die ganze
Nacht ohne Bettdecke auf dem Fussboden geschlafen, zum Glück war ich gleich
eingeschlafen, ich hatte mir einen Katarrh zugezogen. Saskia war schon wieder da, sie sass an
meinem Schreibtisch auf meinem Platz. Sie sah so verheult aus, dass mir jeder Gedanke an
die Freuden der Rauschgiftsucht auf einmal ganz deplaziert vorkam, ich bekam nachgerade
ein schlechtes Gewissen beim Anblick der weinenden Saskia. "Gehen Sie frisches Farbband
kaufen!", sagte Herr Overath sehr knapp zu mir. Ich war ihm dafür dankbar, ich setzte mich
für einige Stunden in das Café unten im Haus. Ich sass zwischen den Taxifahrern, die hier
schnell eine Tasse Kaffee trinken, ich trank als einziger ein Bier. Ich dachte kurz daran, die
Zeit (eins, zwei, drei - eins, zwei, drei) zu nutzen, um an meinem platonischen Lehrgedicht zu
feilen, aber ich liess es bleiben - die Taxifahrer hätten mich ausgelacht. So sass ich und das
Bild der weinenden Saskia ging mir nicht aus dem Sinn.
Heute morgen noch hatte Saskia gelacht. Sie hatte gelacht und mit den Beinen gestrampelt,
als ihre schöne Mutter sie packte, und ihr das Hemdchen hochzog um die Nierenkontrolle
durchzuführen. Noch alles da, zum Glück. Das Weltall expandiert, vermutlich driftet es
auseinander. Irgendwann werden alle Moleküle soweit voneinander entfernt sein, dass
keinerlei Kommunikation mehr möglich sein wird. Allerdings kann sich dann auch niemand
mehr daran stören. Von der Wirklichkeit verstehen wir nichts. Von den Theorien verstehen
wir manches, was dann schnell veraltet. Unsere Zivilisation ist vielleicht gar nicht für immer,
und der erwartete Zuwachs von Wissen und Weisheit wird schon allein aus diesem Grund
nicht stattfinden. Unsere Nachfolger werden sich vielleicht überhaupt nicht für uns
interessieren. Und so übermässig segensreich ist unser Wirken ja auch nicht. Alles das, was
wir als bedauerliche Begleiterscheinung ansehen - wo gehobelt wird, da fallen Späne - sind
vielleicht Hauptprobleme. Eine alte Lüge der Alten Griechen und ihrer selbsternannten
Philosophen: die Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebendingen. Und es gibt selbst im
Rahmen unseres Weltbildes keine ewigen Wahrheiten, gar nichts gibt es.
Dick ist es ja, das Buch.
Die Objektivität der Verhältnisse, sie heisst nur so, und doch geschieht genau das, was
geschehen muss. Die Menschen sind nur Erfüllungsgehilfen, trotzdem tragen sie die
Verantwortung. Man könnte fast sagen, das Sein bestimmt das Bewusstsein, wenn es denn so
etwas gäbe, aber dieses Wort ist zu hoch gegriffen, die Verhältnisse bilden sich auf
geheimnisvolle Weise ab im Innern der Organismen - mehr oder weniger deutlich, meist
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weniger, denn die Menschen haben Anführer, die ihnen irgendwelche vorgefertigten Bilder
aufzwingen. Man kann sich gegen diesen Schwindel nur schwer zur Wehr setzen, weil ja
niemand etwas Wirkliches weiss. Ein Organ dieser Indoktrination war damals die Backblüte,
und ich gestaltete die Witzseite, ein Posten mit Verantwortung, denn je unauffälliger die
Manipulation daherkommt, umso wirkungvoller ist sie. Mein Hauptaugenmerk lag also auf
gewissen sogenannten Tatsachen, wie z.B.: Frauen sind dumm, dafür haben wir die
Blondinenwitze, und gern bediente ich mich der Einleitung: "Klein-Susi". Das schafft auch
gleich eine Verbindung zu den Kinderwitzen, denn nach herrschender Auffassung sind Kinder
dumm, selbst wenn sie männlichen Geschlechts sind: "Klein-Fritzchen".
Ich sah die Wellen. Ich schrieb die Wörter.
Das einzelne Wort bedeutet erst mal gar nichts, oder fast nichts: Strasse, Haus, Hof - Baum,
Haus Wiese, Hof - es ist der Zusammenhang, der es macht: Strasse, Stadt, Land, Meer,
Himmel, Luft. Ein Vogel. Ein Vogel fliegt. Einen Adler wünschen sich die Menschen, aber es
ist eine Krähe. Meer, Himmel, eine Krähe. Fliegt. Dazu vielleicht grüne Abhänge, hinunter
zum blauen Wasser, ein schmaler heller Saum von Sand oder Kies dazwischen. Oben fliegt
der schwarze Vogel und lässt sich vom Wind treiben. Ein Organ zu haben für diesen Wind,
sich treiben zu lassen und doch anzukommen, irgendwann. Man weiss nicht, was wird (Man
weiss ja auch nicht, was ist). Die beste Absicht vermag nichts vor der Realität, die
Wirklichkeit entsteht von selbst und wird nicht von uns gemacht. Was später daraus wird,
man weiss es nicht, und wenn man es wüsste, man könnte es noch lange nicht verstehen. Man
versteht im Übrigen sowieso nichts. Die Dinge nicht und die Gedanken auch nicht. Auch das
Selbstgemachte versteht man nicht, es entwickelt seine eigene Gesetzmässigkeit, es macht
sich selbständig, und nachher gelingt es nicht mehr, die Sache zu verstehen, sie ist zu
kompliziert geworden, nachrückende Fachleute drängen den Erfinder zur Seite, der lächelnd
resigniert. Der Vogel ist immer noch in der Luft, jetzt als Pünktchen am Himmel
anzuschauen, dann wieder sieht man seine Unterseite, die Flügel, die gespreizten
Flügelspitzen, wenn er in den Wind hineingreift. Er ist weit abgetrieben von seiner
ursprünglichen Richtung und wird doch zu seinem Nest kommen, später. Trotzdem hatte die
Vollmondnacht mit Luigi mir gutgetan; ich sah meine Lage jetzt doch deutlicher und wusste,
was zu tun war: Disziplin - ich würde meine Kräfte in der Arbeit einfach effektiver einsetzen,
da gibt es nämlich Mittel und Methoden, und ich würde mir eine Frau nehmen; für einen
jungen Mann ist es vollkommen in der Ordnung, eine Frau zu haben. Frauen kann man z.B.
folgendermassen ansprechen:
Sehr geehrte Nutzerin,
was bringt es mir eigentlich ganz persönlich, in meinem ureigensten Bauch ein Klonkind
auszutragen? Uns so weiter, und so fort. Das neue Thema amüsierte mich köstlich, und die
Arbeit ging mir schon aus diesem Grund viel leichter von der Hand als bisher. Oft kam es vor,
dass ich am Abend mehrere Seiten Textung vorzuweisen hatte, und ich wusste dabei gar nicht
so genau, wo all die Seiten überhaupt hergekommen waren, so leicht war es gegangen.
Damals gab es in der Öffentlichkeit noch kaum ein diesbezügliches Fachwissen, ich schrieb
also einfach, was mir gerade in den Sinn kam. Und es ist ja wirklich so, dass Frauen ihrem
Nachwuchs gegenüber toleranter sind als Männer. Wenn Frau Overath mit ihrer
rauschgiftsüchtigen Tochter auf dem Sofa sitzt, scheint sie ganz frei von Vorwürfen oder
Ähnlichem, von Schuldgefühlen zum Beispiel. Herr Overath sass den beiden Damen
gegenüber. Die beiden, Mutter und Tochter, machten einen vollkommen harmonischen
Eindruck, obwohl schon wieder ein Rückfall der Tochter zu konstatieren gewesen war, und
die Mutter gerade noch geheult und gezetert hatte. Jedoch, die Tochter schien es nicht
bemerkt zu haben, und da hatte die Mutter das Heulen und Zetern wieder aufgehört. Herr
Overath hatte eh nichts gesagt, sondern nur erschrocken die Augen aufgerissen. Hatten sie
nicht alles aufgeboten, all die Jahre, für die Tochter: das Haus, den Garten, den man jetzt
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durch das breite Fenster sieht, richtig dicke Baumstämme vor sattem Grün, die Ledergarnitur
mit Sofa und Sesseln am Mahagoni-Tisch, auf dem fremdländische Magazine glänzen, jedoch
die Tochter hat noch nicht mal richtig Englisch gelernt.
Vom Sohn ganz zu schweigen. In einem gewissen Alter sind die jungen Männer eh suizidal,
und die Alten machen sich das zunutze, bilden eine Regierung, einen Generalstab etc, und
schicken die verhassten Jungen in den Krieg, ein Gegner findet sich immer. Die Jungen
ziehen in den Krieg, und nicht alle sterben. Manche überleben.
Die aber kommen im Rollstuhl zurück.
Als junger Mensch wusste ich auch gar nicht, was schlimmer ist: wenn man als Betschwester
verdämmert, oder wenn man durch einen beherzten Sprung vom Turm in fünf Sekunden alles
hinter sich bringt. Und mancher Penner braucht 30 Jahre, bis er sich endlich zu Tode gesoffen
hat. Aber die Zeit gibt es eigentlich gar nicht: wenn die Gelegenheit verpasst ist, dann ist sie
vorbei und kommt auch nicht wieder - das ist alles. Einen Unterschied gibt es aber doch:
wenn er erst einmal losgesprungen ist von der Aussichtsplattform des weltberühmten Turms,
dann gibt es kein Zurück, während der besoffene Penner 30 Jahre Zeit hat, es sich nochmal zu
überlegen. Allerdings: die Penner haben anderes zu tun als nachzudenken, der Kampf ums
Dasein erfordert in diesem Milieu den ganzen Mann.
Der Kölner Dom gilt übrigens als die älteste Baustelle Deutschlands. Seit 1000 Jahren wird
schon gebaut, Reparaturmassnahmen eingeschlossen.
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Spiralen
Als ich gegen Abend noch mal kurz hinauf ins Büro ging, um mich in den Feierabend zu
verabschieden, war Saskia nicht mehr da, und Herr Overath schrieb an einem Drehbuch.
Dieses Drehbuch gab er später seiner Frau, Margarethe mit der blond gefärbten Dauerwelle,
und die reichte es ein bei einer Drehbuch-Agentur. So gelangte es zu Theodora Katharina
Wesseling, die dann auf ihrem Sofa sass und las: Ich bin die Christl von der Post; Ich bring
die Brieferln Tag für Tag; Da kann ich mich nicht kümmern drum; Obs dir grad passt. TKW
runzelt die Stirn. Sie steht auf vom Sofa und sieht in der Eingangshalle nach der Post. Sie hat
schon lange die Angewohnheit angenommen Dialoge zu improvisieren. Deshalb wirkt sie so
spontan und authentisch. Sie hält sich allerdings immer sehr genau an die Situation, wie sie im
Drehbuch beschrieben wird: Vater, Mutter, zwei Kinder, man kennt das. TKW kannte das aus
eigenem Erleben. Herr Overath kannte das auch nur allzugut. Abend für Abend blieb er nun
im Büro, und ich hatte den Verdacht, er arbeitet so viel, damit er nicht nachhause gehen muss.
Ich wusste nämlich, oder glaubte zu wissen, dass die Verhältnisse in der kleinen Villa immer
unerträglicher wurden. Eine Bande von Rauschgifthändlern hatte das Haus umstellt und
forderte die Begleichung von Saskias Schulden. Wenn man die Polizei rief, waren die jungen
Männer wie von Erdboden verschluckt, um gleich danach wieder aufzutauchen. Herr und
Frau Overath waren ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs, hatten sich sowieso
schon lange nichts mehr zu sagen, und jetzt auch noch sowas.
Herr Overath arbeitet aber auch wirklich gern. Er war sich stets der grossen Bedeutung seines
Tuns für den Fortbestand unseres Wertekanons bewusst. Er sah sich als Speerspitze der
Freiheit. "Wenn wir es nicht sagen, wer dann?", fragte er mich gelegentlich, und ich straffte
meine Schultern und rief: "Der Leser muss es lesen!" Dann brummte Herr Overath gutmütig
und beugte sein Haupt wieder über seine Schreibmaschine. Unsere Werte: Arbeit, Autofahren
und gutes Essen. Arbeit, in diesem Wort liegt alles beschlossen, was für uns von Bedeutung
ist. Nämlich: Brutalisierung durch Ökonomisierung. Das hat mit Vernichtung durch Arbeit
nichts zu tun. Die Befreiung der Marktkräfte, Arbeit macht frei, frei für und frei von. Dass die
Wirtschaft sich anheischig macht, die ganze Welt zu beherrschen, und dabei in Wirklichkeit
noch nicht mal die eigenen Bilanzierungsrichtlinien im Griff hat. Die Politik wehrt sich
tapfer: das letzte Refugium des Staates ist das Führen von Kriegen, und irgendein debiler
Diktator, irgendein grössenwahnsinniger peinlicher Westentaschen-Napoleon findet sich
immer, der die Macht herausfordert. Und so ein Krieg tut auch den Bilanzen gut: die
Befreiung der Marktkräfte ist nicht gleichzusetzen mit der Befreiung des Menschen, allenfalls
mit seiner Freisetzung. Die Jungen ziehen in den Krieg und kommen im Rollstuhl zurück.
Ich bin dein Todesengerl klein; Komm dich zu holen; Gib fein acht; Es ist doch wurscht; Sieh
das nur ein; Ob du dich jetzt noch wichtig machst. Theodora Katharina Wesseling würde
diesen Text niemals sprechen. Sie würde an der Stelle irgendetwas improvisieren. Trotzdem
soll man ihr so etwas nicht ins Drehbuch hineinschreiben. TKW greift zum Telefonhörer um
mit Margarethe Overath ein ernstes Wort zu reden.
Ich bin der Tod; Die grosse Null; Die schwarze Frau; Die alles frisst; Du kommst jetzt mit; Es
ist vollbracht; Es ist genug; Das war die Frist. Das geht schon eher. TKW ruft gleich nochmal
bei Margarethe an und spricht einige versöhnliche Worte.
Du bist nicht mehr Person, komm her; Kein Ich; Kein Du, Kein Mann, kein Weib; Zu handeln
gibt es jetzt nichts mehr; Nicht Tat, nicht Leid, nicht Gunst, nicht Neid; Die Rückkehr ins
Refugium; Das Ende des Individuums; Im Allgemeinen ist der Tod; Das Ende ganz für Lust
und Not.
In der Backblüte kann man so ein Gedicht kaum bringen; vielleicht im Metzgerblättchen.
Wenn nur die vegetarisch orientierte Leserschaft sich nicht beschwert. Man muss so
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aufpassen. An einem Nachmittag wie diesem war es gewesen, dass der Trilobit genau hier
gesessen hatte, und in aller Ruhe wartete, bis die bewusste Trilobitendame vobeikam; er hatte
nämlich das Bedürfnis, sein Genom an die nächste Generation weiterzugeben, genauer gesagt:
sein halbes Genom. Er sitzt und glotzt mit seinen Facettenaugen. Da kommt sie ja. Er beginnt
sofort ohne weiteres Nachdenken mit dem Tanz. Der geht so: Das Weibchen erscheint. Das
Männchen vollführt den Zick-Zack-Tanzschritt. Das Weibchen wirbt. Er führt. Sie folgt. Er
zeigt den Eingang eines Nestes, das er in den letzten Tagen kunstvoll angelegt hat. Sie betritt
das Nest, sieht sich um und befindet für gut. Das Männchen zittert jetzt. Das Weibchen laicht
und das Männchen besamt. Auf diese Weise entsteht der typische Nachwuchs. Am Abend
dieses Tages hatte der Trilobit allen Grund, die Hände zufrieden in den Schoss zu legen; er
hatte seinen Beitrag zum Fortbestand der Art geleistet - bis zum nächsten
Meteoriteneinschlag.
Der Tod also, mit Sense und Kutte. Wenn man ihm sowieso nicht entgeht, sollte man sich
vielleicht besser mit ihm anfreunden, und dabei hilft Lachen. Lili Puder, auch eine sehr
populäre Schauspielerin, kommt in einem kurzen Filmausschnitt herausgerannt aus der Tür
ihres Hauses in Alpenkulisse. Sie bleibt stehen, sie sieht sich um, sie macht einen Luftsprung
und zappelt in der Höhe schwebend mit den Beinen, dann landet sie elegant auf der grünen
Wiese. Sie lässt ihr silberhelles perlendes Lachen hören, kein Gelächter sondern richtiges
Lachen, hörst du? Thea hört es, abschätzend wiegt sie ihren schönen Kopf auf den schönen
Schultern, das berühmte Lächeln ist jetzt nicht zu sehen, es geht um eine wichtige Frage: Soll
TKW zusätzlich zu ihrem schönen Lächeln, das ihr Markenzeichen ist, noch dieses Lachen
einführen? Sie ist skeptisch, ihr Management ist unbedingt dafür. Man müsste mal mit den
Damen von der TKW-Agentur ein Probe-Lachen veranstalten, alle TKW-Darstellerinnen
müssten in Reih und Glied antreten und versuchsweise ein silberhelles perlendes Lachen
lachen.
Reih und Glied, so sieht es doch aus.
Überhaupt: das Fernsehen; man kann nicht sagen: moralische Anstalt, man sagt: öffentlichrechtliche; ausserdem gibt es nun schon seit Jahren auch private Fernsehanstalten. Das ganze
Leben wird im Fernsehen noch einmal gelebt, und Herr Overath war ein ziemlich ranghoher
Handlanger dieses Systems. Manchmal kam er nachhause, und im Fernsehgerät lief gerade
eine Folge von Familienglück, die er selbst geschrieben hatte. Dann konnte er direkt
vergleichen: sein Leben in der kleinen Villa, und die Darstellung des Lebens in der FernsehVilla. Das passt schon ganz gut zusammen. Millionen anderer Zuschauer sahen es auch und
fanden ebenfalls: Das passt.
Kurz und gut:
Es waren unerträgliche Verhältnisse in der Villa Overath . Kein Wunder, dass die Tochter
Rauschgift nahm. Kein Wunder, dass der Sohn abgehauen war. Und auch Herr Overath ging
nicht mehr gerne nachhause. Eines Abends, ich hatte mich aus dem Büro verabschiedet und
mich noch auf ein Bier in die Kneipe zu den Taxifahrern gesetzt, auf meinen Stammplatz am
Fenster, sah ich Herrn Overath , wie er aus dem Büro kam, aber er stieg keineswegs in sein
geschmacklos protziges Automobil, um nachhause zu fahren, ich beobachtete vielmehr, wie
er einige Häuser weiter in der Bar zur Roten Lola verschwand, der Türsteher begrüsste ihn
wie einen Stammgast. Ich schnappte nach Luft. Die Taxifahrer an den anderen Tischen
warfen mir einen schnellen Blick zu und wandten sich sofort wieder ab. Aber man muss das
verstehen, der Overath hatte es auch nicht immer leicht.
Das sind Krähen, die manchmal Dinge aus der Luft fallen lassen. Ich habe das selbst
beobachtet, damals in Berlin-Adlershof. Ich eilte gerade zu meiner Arbeitsstätte und hörte
etwas fallen neben mir. Gleich darauf konnte ich eine Krähe bemerken, die im Gelände
herumlief und den Blick gesenkt hielt, als ob sie etwas suchte, mit einem gewissermassen
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kurzsichtigen Gesichtsausdruck. Aber das kann nicht sein: Vögel, die in der Luft
herumfliegen, können nicht kurzsichtig sein. Herr Overath hatte sich behaglich in seinem
Chef-Sessel zurückgelehnt und die Spitzen seiner Finger zusammengelegt, die Ellenbogen auf
die Armlehnen gestützt: Dieses Gedicht kann man in der Backblüte nicht bringen - das waren
seine Worte gewesen, und jetzt war er in der Roten Lola verschwunden, durch das Spalier der
Strichjungen hindurch, als wäre das gar nichts. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und
betrat wie von ungefähr die Bar zur Roten Lola. Da sitzt Herr Overath und hat seinen Blick
auf das Hinterteil einer ganz jungen Kellnerin geheftet.
Nun ist es ja so:
Da sitzt der gutbürgerliche Herr, der Kunde, in einer Schlupfbude, in einer zweifelhaften Bar
im Bahnhofsviertel, die Gattin hockt derweilen zuhause und macht sich vielleicht Sorgen.
Dabei ist Herr Overath sich gar nicht sicher, ob man die Damen hier überhaupt. Ob es hier nur
was zu kucken gibt, ob also das famose Hinterteil dieser Lolita, oder wie sie heisst, die sich
jetzt umdreht und vor ihm mit süssem Lächeln eine Tasse Kaffee hinstellt auf den Tresen der
Bar, an der er auf einem hohen Barhocker hockt. "Zucker?" fragt Lolita, und er ruft freudig
"Ja!", aber das klärt die Frage auch nicht, was man in dieser Bar so treibt, denn Lolita stellt
Herrn Overath den Zuckerstreuer neben die Kaffeetasse und macht ein ganz unbeteiligtes
Gesicht dabei.
Später durfte er dann doch: "Aber mach schnell!"
Herr Overath liegt auf der kleinen Lolita und weiss nicht, ob er den Tag verfluchen soll,
seitdem sie es ihm umsonst macht. Es geht dann wirklich ganz schnell. Nachher sitzt er dann
allein bei einer Tasse Kaffee und denkt an Margarethe, was die jetzt wohl macht. Aber zum
Teufel, was sie jetzt wohl macht. Irgendwas wird sie jetzt schon machen. Sich mit der Tochter
herumärgern wahrscheinlich, den Sohn hat man lange nicht gesehen. Herr Overath kann froh
sein, wenn die Tochter nicht hier aufkreuzt, um in der Bar ein bisschen zu arbeiten. Aber die
Tochter ist so verwöhnt, die arbeitet nicht. Vielleicht hat die kleine Lolita sich einfach nach
dem Etablissement genannt, in dem sie arbeitet, der Roten Lola. Herr Overath kriegt es ja jetzt
umsonst, trotzdem ist er nicht ganz glücklich. Er schaut sich um: Die schönsten Frauen der
Stadt sitzen hier und warten auf den Beginn ihres Dienstes, oder sind gerade fertig und trinken
noch einen Kaffee. Alles schöne junge Frauen, und die älteren Frauen sind erst recht schön.
Aber Herr Overath ist nicht ganz zufrieden, je mehr er es sich vornimmt, umso weniger will
es gelingen. Aber ich bin ein Mann, ich denke und empfinde wie ein Mann... der Gangster hat
das zu dem Popstar gesagt in dem Film, und dann wurde ganz dreckig gelacht, damit noch der
dümmste Zuschauer im Kinosaal merken soll: Hier stimmt doch was nicht. Der Film war ein
Vorläufer der Postmoderne, aber die ist lange vorbei. Damals war das, als man sich von
diesen Leuten einreden liess: Es ist doch alles nur eine Inszenierung, es ist doch alles nicht so
ernst gemeint, reg dich nicht auf, es ist nur ein Film - da sind wir heute weiter.
TKW und ihre Tochter stehen im Garten und blicken ratlos in den Altpapier-Container. Die
schönen Bücher, sie sind zum Teil vollkommen verdorben, einige konnte man retten. Jedoch,
was soll man mit Büchern, in denen von der Postmoderne geschwafelt wird, wo schon die
Moderne nichts anderes gebracht hat als spiralig gewundene Auffahrten zu den Parkhäusern
der Automobile. Zuvor hatte man gerade Auffahrten gehabt, parallel zur Fassade des
Parkhauses, einfache Rampen, auf denen die Fahrzeuge in die einzelnen Stockwerke
hinaufzufahren hatten, mit einem scharfen Knick zum Einbiegen ins jeweils gewünschte
Stockwerk; die Unfallanfälligkeit dieser Konstruktion kann man sich vorstellen. Oder auch
die Kongolesen, Amazonas-Indianer etc. Jetzt können sie sich kaum der europäischen
Kannibalisierungsversuche erwehren, aber wenn unsere sogenannte Zivilisation erst an ihr
natürliches Ende gekommen sein wird, dann gehen sie herrlichen Zeiten entgegen. Sie werden
ganz einfach leben.
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Die Tochter blickt die Mutter fragend an. Die lächelt ihr berühmtes Lächeln, sagt "Ach was",
und die Damen gehen zurück ins Haus. TKW muss noch das neue Drehbuch studieren, die
Rolle dieser Journalistin usw. Die Tochter wird noch schnell ins Bett gelegt, soll sich
ausschlafen. Die Tochter liegt im Bett in ihrem alten Kinderzimmer und betrachtet die Parade
der Plüschbären, die hier seit Jahren die Stellung halten. Der eine Bär hat hinten ein Loch.
Darin liegt die eiserne Ration der Tochter. Sie macht sich einen Schuss und schläft dann
wirklich, wie von der Mutter befohlen. Die Tochter löst sich auf, wird zu einer Million
Töchtern, die überall auf der Welt herumlaufen und einer Million Müttern viel Freude
bereiten. Sie haben ebensoviele Verlobte und kommen unter dementsprechend viele Hauben.
Da sind die Mütter froh, denn es sind gute Schwiegersöhne, man muss zufrieden sein. Ruhig
schläft da die Saskia, liegt ganz friedlich in ihrem Bettchen mit einem kindlichen Lächeln im
Gesicht, als die Mutter nach ihr sieht. TKW geht die Treppe wieder hinunter in den Living
Room, lebender Raum. Die Rolle der Journalistin, sie wird sie diesmal selbst spielen, die
Damen von der Agentur sind eh beschäftigt und produzieren eine Fernsehserie, die nächstes
Jahr ausgestrahlt werden soll, falls es diesen Sender dann noch gibt. Postmodern. TKW ärgert
sich jetzt doch, dass sie nie kapiert hat, was das sein soll, Postmodern, und jetzt, wo es das
nicht mehr gibt, wird man es auch nicht mehr erfahren. TKW ist neugierig. Sie verfügt über
einen wachen Geist, der ständig mit frischen Informationen gefüttert werden muss; aber wenn
solche nicht zur Verfügung stehen, dürfen es auch Fiktionen sein. TKW nimmt das neue
Drehbuch zur Hand.
Sehr interessant.
21
Anfang
Irgendwann musste Herr Overath natürlich doch nachhause. Er tritt in die Eingangshalle der
kleinen Villa, und da hört er schon den Ton des Fernsehgeräts aus dem Wohnzimmer:
"Wo Saskia nur wieder bleibt?"
"Dass wir ihr auch diesen Namen geben mussten."
"Sie hörts ja nicht, sie schläft."
"Wo ist sie überhaupt?"
"Sie liegt oben in ihrem Zimmer. Sie schläft."
Frau Overath weiss im Übrigen längst Bescheid. Sie ist ja nicht blöd.
"Warst du wieder bei der kleinen Hure?"
"Herrgott Margarethe, sie ist keine Hure!"
"Jetzt verteidigst du sie auch noch..."
Frau Overath sagt hier natürlich nur das, was in dieser Situation alle sagen würden, man
könnte es nachgerade in ein Drehbuch hineinschreiben. Also ist es nicht individueller Geist,
was die Leute haben, sondern nur ein Anteil am Geist. Das heisst: es gibt Geist. Aber wo war
der Geist, damals, als die Trilobiten die Erde beherrschten, wie man so sagt, lange vor dem
ersten Auftreten der Dinosaurier, riesige Silberfischchen mit staubkorngrossen Hirnen? Und
wo geht er hin, später, wenn erst die Menschen vom Erdboden verschwunden sein werden?
Mit Margarethe war es nun folgendermassen: wenn sie erst einmal in Fahrt war, dann gab es
für sie kein Halten mehr, und genau diese Situation ist jetzt eingetreten:
"Was gibst du ihm immer diese Textungen mit?" - Gemeint war ich, der Volontär. "Die
werden eh nicht mehr gedruckt. Du fliegst nämlich."
"Gar nicht!"
"Halts Maul! Ich habe mit Roggendorff gesprochen. In drei Wochen, zum Quartalsende, bist
du draussen."
"Roggendorff redet mit dir?"
"Mit mir schon, mein Bester. Also: Was willst du tun?"
So kam es, dass die Verhältnisse in der kleinen Villa immer noch schwieriger wurden, und
Herr Overath schliesslich einen Koffer voll Klamotten packte und den gemeinsamen Haushalt
verliess. Er hatte da schon längst angefangen, sich mit der kleinen Lolita, 23 Jahre war sie
damals alt, anzufreunden, ein sehr hübsches und liebes Mädchen, das in der Table-Dance-Bar
arbeitete, drei Häuser entfernt von unserer Redaktionsstube. Herr Overath hatte mich einige
Male mitgenommen in die Bar, wenn wir bis spät in die Nacht gearbeitet hatten. Ich hatte den
Eindruck, er wollte mir die kleine Lolita vorführen, die auch wirklich ganz reizend war. Was
sie ihrerseits an dem Alten fand, blieb mir immer unbegreiflich. Herr Overath steckte ihr
öfters grössere Geldscheine zu - das hatte ihm immer Spass gemacht, mit seinem angeblichen
Reichtum zu protzen, aber Reichtum ist etwas Relatives, und nicht umsonst brauchte er für
seine Angeberei einen völlig mittellosen Lehrling, nämlich mich, und die ebenso arme Lolita.
Vielleicht imponierte es der Lolita auch, dass Herr Overath ihr immer den Vorzug vor ihren
Kolleginnen gab, die sich bei Gelegenheit an ihn herandrängten. Von ihm hörte man in so
einem Fall immer die Worte:
"Wo ist meine kleine Lolita?"
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Lolita und Herr Overath waren also ein Herz und eine Seele, wenn sie auch vom äusseren
Erscheinungsbild nicht allzugut zusammenpassten. Herr Overath , der seriöse, ältliche Herr,
immer mit seinem blauen Pullover, in seinem Jacket, das wahrscheinlich englischer Lebensart
nachempfunden war, mit einem dezenten Halstuch, er trug nie Krawatten, als Journalist
repräsentierte er eine gewissermassen freischaffende Lebenskunst, dieses Halstüchlein des
pseudo-coolen Spiessers, wie ich damals fand, oft hatte er dunkle, manchmal sogar braune
Cordhosen an, dazu Halbschuhe, die wieder ein gewisses englisches Landedelmann-Image
oder zumindest -Aussehen ausstrahlten: Herr Overath war alt und hässlich. Mit seinem runden
Kopf, mit der Halbglatze, die aber kaum zu sehen war, weil er die restlichen, noch
vorhandenen Haare ganz kurz geschnitten oder manchmal sogar abrasiert hatte, mit seiner
blassen schlaffen Gesichtshaut, den blassblauen Augen sah er aus, dass man denken konnte:
wenn er jetzt noch einen Schnurrbart hätte, dann würde man sagen: ein Seehund. Herr
Overath hatte keinen Schnurrbart. Er war mein Chef und Mentor - und man liebt seinen
Mentor nicht. Man arrangiert sich. Nachts schleppte er mich mit in diese Bar. Auf dem Tisch
tanzte Lolita im Kreise ihrer Kolleginnen. Drei Frauen wirbelten um eine Stange herum, die
zwischen Tisch und Zimmerdecke offenbar zu genau diesem Zweck angebracht war.
Schlagermusik dröhnte aus den Lautsprechern. Das Lokal war nicht gut besucht, eine
mürrische Kellnerin versah ihren Dienst hinter dem Tresen der Bar, wo ich sass mit meinem
Chef.
Dann ging alles ganz schnell:
Als nämlich Maria, unsere Vorzimmerdame, auf ihrem Weg nachhause über die Rheinbrücke
ging, die aus der Altstadt in das Wohnviertel führt, in dem sie damals ihre Wohnung hatte,
denn sie wohnt dort jetzt nicht mehr, in diesem Moment fasste sie den Entschluss ihren Job
aufzugeben. Als sie über die Brücke ging, da wurde ihr zum ersten Mal bewusst, dass alles
auch ganz anders sein könnte. Seltsame Erkenntnis für eine Person, die Tag für Tag jeden
Morgen zur Arbeit geht und nichts anderes will, als ein unentbehrlicher Mitarbeiter zu sein.
Die Firma, das sind wir.
Arbeiten muss man sowieso, also lasst es uns mit Überzeugung tun. Wir sind die Firma. Und
wenn die Leute in meiner Abteilung nachlässig werden, dann genügt meistens schon der
Hinweis: ich bin morgens vor euch da, und ich bin abends noch hier, wenn ihr schon längst
nachhause gegangen seid.
Jedoch am Samstag war Maria in der Kneipe gewesen, sie hatte sich die Erzählungen
angehört, die ihre Bekannten zum Besten gegeben hatten, in aufgelöstester Bierlaune, aus dem
Arbeitsleben der Bekannten von Maria - und da war ihr bewusst geworden, was sie eigentlich
immer schon gewusst hatte:
Das alles ist kein Spass.
Das ist der Ernstfall. Wenn die Termine drängen, wenn der Chef an einen herantritt und jetzt
doch die Anweisung erteilt, auf die man die ganze Zeit vergeblich gewartet hat - der Chef
also, Herr Overath. Eigentlich kein starker Typ, niemand weiss, wie der auf seinen Posten
gekommen ist: Leitender Redakteur. Die Gattin soll ja auch Journalistin sein, freiberuflich.
Herr Overath bleibt bis Mitternacht im Büro, alle denken, er arbeitet, dabei schreibt er in
Wirklichkeit die Geschichten, die seine Gattin dann verkauft, sie als Freiberuflerin.
Am Sonntag blieb Maria zuhause, keiner bekam sie zu Gesicht. Am Montag, ihrem freien
Tag, erhielt sie früh am Morgen Besuch: der Briefträger brachte einen eingeschriebenen Brief.
Ich bin die Christl von der Post; Maria hielt die Kündigung in Händen. Sie brauchte nicht
mehr selbst zu kündigen, Herr Overath hatte das für sie erledigt, als eine seiner letzten
Amtshandlungen, denn auch er selbst war am letzten Freitag rausgeflogen - und jetzt weiss er
nicht, wie er es seiner Frau sagen soll. Erst mal sagt er gar nichts. Geht morgens vor acht aus
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dem Haus, fährt in die Stadt und besucht seine alten Kumpels in den Agenturen und
Redaktionsstuben. "Haste mal nen Job für mich?" Aber die Jungs winken ab, haben selbst
nichts zu tun und warten auf die eigene Entlassung. Da muss Herr Overath unverrichteter
Dinge wieder abziehen. Er setzt sich in das nächstbeste Café, Schildergasse hinterm
Hauptbahnhof, und ist fassungslos. Jahrelang war das sein Thema gewesen: Herzensanliegen
eines konservativen Journalisten, Chefredakteur der Backblüte, des Apotheken-Blättchens, ja
sogar der Postille des Automobil-Clubs - Millionen lasen regelmässig seine Kolumne: Arbeit,
in diesem Wort liegt alles beschlossen, was unseren Wertekanon begründet. Herr Overath
rührt in der Kaffeetasse - jetzt nur nicht zu schnell austrinken, sonst muss er eine neue Tasse
bestellen. Er denkt an seine Tochter, die taube Nuss, die wahrscheinlich noch nie in ihrem
Leben gearbeitet hat, er ist sich da jetzt nicht so sicher. Der lästige Streit mit Margarethe,
unnötig und albern. Er kann sich ja kaum noch an den Anlass des Konflikts erinnern.
Trotzdem: wenn das nicht wieder gut wird, dann geht er, das nimmt er sich vor. Und seine
Angst vor der Armut, ganz unnötig: noch hat er die Taschen voller Geld. Er steht auf, zahlt
seinen Kaffee und wechselt auf die andere Strassenseite, in die Bar.
Ins Büro kam Herr Overath nicht mehr nach Quartalsende. Ein anderer kam, examinierte mich
kurz und entliess mich, das war seine erste Amtshandlung. Ich fand schnell einen anderen Job,
sogar in derselben Strasse, wo mehrere Verlage und Textagenturen ansässig waren. So kam
es, dass ich auch weiterhin, wenn auch unregelmässig Kontakt hatte zu Herrn Overath und zu
Lolita. Sie hatte werktäglich Dienst in der Bar, und wenn wir uns nach Feierabend auf der
Strasse begegneten, dann gingen wir oft ein Stück zusammen bis zur Rheinbrücke. Sie bog
dann links ab, und ich ging geradeaus über die Hängebrücke. Lolita blieb an jedem
Schaufenster stehen um die Auslagen in Augenschein zu nehmen, selbst noch an der
Musikalienhandlung blieb sie stehen um die Umschläge der Notenhefte zu begutachten und
die Gipsbüsten der alten Meister zu bewundern.
"Wer ist das?"
"Beethoven."
"Stimmt. Steht ja auch unten dran am Sockel. Ist der gut?"
Darauf wusste ich nichts zu antworten, und Lolita lachte mich aus. Aber ich hatte jetzt keine
Angst mehr. Ich hatte vorher Angst gehabt, das ist wahr, um Virginia. Denn das konnte nicht
gutgehen, das Leben, das sie führte. Also war ich nach England gefahren - damals war ich
Student und hatte Zeit - um nach dem Rechten zu sehen, und als ich mich zu ihr durchgefragt
hatte, sie ist in England nicht so bekannt, wie man hier meinen könnte, da sagt man mir: Sie
ist tot. Die Heldin meines Film-Drehbuchs, die ich befragen wollte wegen einiger Details zu
ihrer Biographie, sie ist nicht mehr bei uns, war es damals schon nicht mehr gewesen, als ich
noch ein junger Mann war. Das Leben lag noch unbenutzt vor mir, eine unermessliche
Landschaft schien sich zu dehnen, wenn auch keine unendliche, das wusste ich wohl. Aber
der Tod der anderen Menschen war damals noch ein Phänomen, das ich nicht in eine direkte
Verbindung mit mir selbst brachte. Es schien genug Optionen zu geben, Möglichkeiten, nur
die eine nicht, dass man genau so gut auch tot sein kann, wie Virginia, allerdings kann man
dann nicht mehr "man" sagen.
Möglichkeiten gab es also genug, und ich entschloss mich dann einfach, einige Wochen
Urlaub in Englands regenreicher Landschaft zu machen. Grüne Hügel, zwischen denen das
weisse Band der Strasse hindurchführte, auf der ich fuhr im knallroten Postbus, kein
Doppeldecker wie die Busse in London. Dann das Mittagessen, Fish and Chips in ländlichen
Imbisshallen, damals hatten die englischen Dörfer alle eine Imbisshalle wie die Städte.
Zurück in London, vor meiner Rückreise nach Köln, ich war per Autostop unterwegs, aber
wie war das gleich wieder? Ich weiss nur noch: London war anders als ich es mir vorgestellt
hatte, nämlich verschlafen und langweilig, allerdings gross, unvorstellbar gross, obwohl ich
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selbst aus einer Grossstadt kam. Das kleine abschüssige Strässchen, das hinunter zum Fluss
führte mehrere Kilometer lang, oder vielleicht sogar Meilen, die Themse, ein erstaunlich
breiter Fluss, und kleine heftige Wasserstrudel waren an der Oberfläche zu sehen, ähnlich wie
bei einem Bergbach, aber das hier war mitten in der Stadt, unermessliche Kräfte müssen da
am Werke sein. War das an dieser Stelle gewesen, dass Virginia sich ersäuft hatte, nachdem
sie den Dolch unter ihrem Busen ins eigene Herz gestossen hatte? Aber ich wusste gar nicht,
wie Virginia gestorben war, hatte vergessen, die Leute, die mich von ihrem Ableben in
Kenntnis gesetzt hatten, zu fragen: Wie ist es denn passiert? Aber dass es Selbstmord gewesen
sein musste, das schien mir nach der Lektüre eines ihrer Bücher ganz zweifelsfrei
festzustehen.
Die Wellen.
Ich stand am Ufer der Themse und hielt Ausschau nach der anderen Seite. Endlose
Häuserzeilen aus roten Ziegeln ziehen sich über sanfte Hügel; die Landschaft liegt sichtbar
unter der Stadt, sie wird irgendwann wieder auftauchen.
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Der Jagdhund
Ach dass wir alle Trilobiten wären; Geformt wie Silberfischchen, flink + schlau; Die Welt
gehörte uns zur freien Auswahl; Wir spielten Fangen, grinsten frech und scherzten keck mit
Nachbars Frau.
Ich brach ab. Dieses Wandeln in den Spuren alter Meister - es bringt nichts. Ich hatte
glücklicherweise bald einen neuen Job gefunden, zwei Häuser weiter, beim "Jagdhund". Ich
schrieb dort hauptsächlich Fahrberichte für Geländewagen, unter besonderer
Berücksichtigung des waidmännischen Gesichtspunkts. Ich liebe Hunde. Allerdings ganz von
fern. Je näher mir der Hund kommt, umso eher muss ich, komischerweise hatte ich das vorher
gar nicht gewusst, ich hatte nie einen einzigen Gedanken an einen Hund verschwendet, je
näher also der Hund kommt, umso mehr weiche ich zurück. Das verleiht mir die nötige
Distanz für eine möglichst objektive Berichterstattung. Das neue Fahrzeug, über dessen
Vorzüge ich gerade schrieb, hatte beispielsweise eine geradezu butterweiche und präzise
Gangschaltung, die Lust auf mehr machte. Und, wichtiger noch, es gab da eine
schlechterdings riesige Ladefläche, auf der man notfalls auch zwei Jagdhunde mitnehmen
konnte, auf dem Weg zur Pirsch am frühen Morgen. Mein eigener Weg führte mich also
weiter allmorgendlich über die Rheinbrücke, jetzt im Sommer mit der aufgehenden Sonne im
Rücken, in das gute alte Domviertel, wo ich arbeitete, und mehr als einmal begegnete ich
Lolita.
Vielleicht sollte man doch beim Dichten den Zugang eher durch das persönliche Erleben
suchen: Des Morgens beim Rasieren schon/ Ist die Substanz wie ausgeglüht.
Aber welche Substanz denn, dachte ich - es wollte mir einfach kein Gedicht gelingen. Der
Jagdhund, so überlegte ich, ahnungslos ist er, sinnt auf nichts anderes als die Jagd, vielleicht
ist er deshalb so fröhlich und munter. Er weiss nämlich nicht, dass vor den Säugetieren, zu
welcher Spezies er ja gehört, dass vor den Säugetieren die Saurier die Erde beherrscht haben,
wie man so sagt, und vor diesen die Trilobiten, kleine schleimige Ungeheuer, von denen
glücklicherweise nur Versteinerungen übriggeblieben sind. Diese Trilobiten, die so stark im
Bestehen sich wähnten, die gar nicht an ihr bevorstehendes Ende dachten, weil sie meines
Erachtens überhaupt nicht dachten, - es wird dem Menschen genauso gehen, weil er eigentlich
auch nicht denkt, höchstens ans Autofahren. Ich wusste um die Vergeblichkeit meines Tuns
beim Jagdhund, aber ich meinte damals noch: Lehrjahre sind keine Herrenjahre, man muss
mit den Wölfen heulen, wenn man es zu etwas bringen will. Diese Dinge sind ja unendlich
interpretationsfähig, z.B. wird in einer Million Jahren, wenn die Menschheit längst
verschwunden ist, irgendein Ameisenvolk vielleicht eine Partitur der Mondscheinsonate
finden, die Tiere werden über die Notenschrift hinweg eine Ameisenstrasse führen, ohne
irgendetwas zu bemerken oder auch nur zu vermuten, und Ameisen haben ja auch gar keine
Ohren, nicht soviel ich weiss. Vielleicht scheint dann der Mond vom Himmel. Insofern hatte
ich Lolita gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt, als ich bemerkte: sie kennt Beethoven
im Grunde gar nicht, denn ich hatte den Verdacht: wahrscheinlich hat sie Recht, und ich, der
Kenner, bin derjenige, der sich rechtfertigen muss, wie der Adept irgendeiner finsteren
Perversion.
Manchmal, wenn ich abends aus dem Büro kam, müde von Jagdhunden, Geländewagen und
Schrotflinten - ich verabscheue jede Art von Bewaffnung, ich bin Pazifist - dann lauerte ich
auf eine Begegnung, und ich lungerte in der Strasse vor der Roten Lola herum; der Türsteher
versuchte mich anzulocken, aber ich wartete, bis Herr Overath, Lolita oder eine der anderen
Damen, die ich inzwischen auch schon kannte, herauskamen, mich bei der Hand nahmen, und
mich an den Tresen in der Roten Lola setzten. Der Türsteher, Arni war sein Name, machte
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sich oft einen Spass daraus, die ganze Strasse entlang zu spazieren und dann wieder zurück,
und unterwegs gab er jedem einzelnen der Strichjungen, die dort standen, eine Ohrfeige. Das
macht dem Arni nämlich Spass, und vermutlich hat er sich nicht allzu genau überlegt, warum
ihm das so viel Freude bereitet. Die Strichjungen durften nämlich nicht in die Bar hinein, und
spielen deswegen hier auch keine Rolle. Da sass ich nun neben meinem alten Chef. Er hatte
mir das Du angeboten mit kernigem Gesichtsausdruck und fester Stimme:
"Ich heisse Fritz."
Dankbar schlug ich ein. Auf eine sentimentale Weise vermisste ich ihn im Büro. Bereits jetzt
war mir klar geworden, dass der Neue es nicht so gut mit mir meinte wie Fritz Overath. Vor
allem die lustigen Dialoge fehlten mir sehr, die wir immer veranstaltet hatten, wenn ich
morgens zu spät kam (Jetzt kam ich meistens pünktlich.)
"Heinrich oder Thommi?" würde mein alter Vorgesetzter dann fragen, als fachliche
Fangfrage, und beherzt würde ich antworten:
"Thommi!"
Dann würde Fritz gutmütig brummen und seine Taschenuhr wieder wegstecken. Obwohl,
eigentlich ist das ungerecht, es gibt nämlich auch von Heini ein recht gutes Buch, Heinrich
der Vierte heisst es, und die Geschichte geht so: Heinrich, - also: das sind alles Prinzen und
Könige in dem Buch, Heinrich hat Anspruch auf den Thron, - aber da fällt mir auf: Heinrich4
und Heini - das sind doch eigentlich recht ähnliche Namen - sollte das eine verkappte
Autobiografie sein? Der böse Bruder im Buch heisst Karl der Neunte, und wenn man vom
Buchstaben K aus um neun Buchstaben weiterzählt, dann kommt man zum T, also ist
Thommi der böse Bruder, und im Buch hat der böse Bruder die falsche Religion, ein Schelm,
wer Böses dabei denkt, Hoho.
"Herr Unrath?"
Jetzt hatte ich Overath auch noch mit einem ganz falschen Namen angesprochen, aber er
lachte nur gutmütig und schien sich nichts dabei zu denken. Also setzte ich mich an meinen
Platz und fabulierte weiter von der butterweichen Schaltung, usw.
Aber diese Zeiten waren vorbei. Jetzt sassen wir nur noch am Tresen zusammen.
In der Bar gaben sogenannte Steinsalz-Lampen ein schummriges Licht, wenn nicht gerade auf
dem Tisch getanzt wurde, dann allerdings blitzten grelle Disko-Scheinwerfer, und grell
blitzende Stroboskop-Lampen verursachten mir heftige Übelkeit, so dass ich aus der Bar
flüchten musste. Aber diese Steinsalz-Lampen, es handelt sich da um ein handliches Stück
Salz aus einem Salzbergwerk, gerade gross genug, dass man es aushöhlen und eine Glühbirne
darin unterbringen kann, diese Lampen erfreuten sich bei den Damen in der Bar einer grossen
Beliebtheit, es sollten geradezu heilsame Wirkungen von dem rötlichen, blass lachsfarbenen
Licht ausgehen. Die meisten der Damen waren an Fragen der Esotherik stark interessiert,
ständig steckten sie ihre Köpfe über irgendeinem Horoskop zusammen, diskutierten die
Eigentümlichkeiten der heutigen Lage etc. Ich wusste zu dem Thema nichts beizutragen, und
auch die Kraft der Steine habe ich vielleicht nicht vollständig erfasst. Schön und gut: am
Grunde der Meere setzt sich Materie ab, die sich im Lauf der Jahrmillionen zu Felsgestein
verfestigt, das dann in weiteren Jahrmillionen von Wind und Wetter zu Sand verarbeitet wird,
in welchem kleine Versteinerungen gefunden werden, vor allem in Marokko, in der Sahara.
Trilobiten sind es, Vorfahren unserer jetzt lebenden Schalentiere, mit einem dreiteiligen
Körperbau. Die drei Teile aber sind die folgenden: Kopf, Brust und Schwanz, jeweils bedeckt
von einem Chitinpanzer, sonst hätte man jetzt nicht diese überaus deutlichen und detaillierten
Versteinerungen. Lolita gab mir den versteinerten Trilobiten in die Hand: länglich und gerade
so gross, dass ich ihn ganz umfassen konnte. Das war er also, der ehemalige Beherrscher der
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Welt, versteinert, dreiteilig, mit einigen Beinen unter dem Bruststück und am Kopf sogar mit
Augen. Dieses Biest war vermutlich am Meeresboden herumgekrochen, hatte sich dort alles
angeschaut und auch manches aufgefressen. Deshalb war es ein solches Prachtexemplar
geworden. Und doch war alles vergeblich gewesen, ich liess den Kopf hängen. Die Musik
setzte ein, drei Damen sprangen auf den Tisch um zu tanzen, die Beleuchtung blitzte los, ich
schloss die Augen. Marita, eine der Kolleginnen, nahm mich bei der Hand und führte mich ins
Separée, wo mir die Lichtverhältnisse bekömmlicher waren.
"Hier kannst du warten, bis es vorbei ist", sagte sie zu mir, nachdem sie mich auf das Sofa
gesetzt hatte. Aber es geht hier nicht um mich. Herr Overath, der die blitzende Beleuchtung
ganz ausgezeichnet vertrug, sass an der Bar und verfolgte mit blödem Grinsen, wie schön
seine Lolita heute wieder tanzte, wie talentiert und beweglich, vor allem um die Leibesmitte.
Dieser alte Trottel war der Ansicht, es ehrt ihn, wenn er als älterer Mann mit einer jungen
Tänzerin liiert ist.
Denn er geht jetzt immer öfter zu Lolita, er verbringt dort bald täglich seine viele freie Zeit ,
er wird von Lolita immer mehr in ihr Leben hineingezogen, oder er drängt sich immer weiter
in ihr Leben hinein. Er muss sich eines Tages die Frage stellen, ob er zu ihr gehört, und die
Villa mit Weib und Kind verlassen soll, da er sich das grossbürgerliche Leben sowieso nicht
mehr leisten kann.
Wenn man entdeckt, dass man ein Penner ist.
Er sitzt an der Bar und ist jetzt doch froh. Er ist der Kleinbürger-Hölle samt der missratenen
Kinder entkommen. Das ist erstmal die Hauptsache. Die kleine Lolita kommt auf ihn zu, sie
hat schon eine Runde gearbeitet und hat gute Laune. Alle haben jetzt gute Laune.
"Na, mein Alterchen."
Das Corps der Roten Lola betrachtet den Tresen als sein Wohnzimmer, hereinkommende
Gäste werden wie mehr oder minder willkommene Eindringlinge, mit Ironie, behandelt. Das
sind Kunden. In der Roten Lola verfügt man über eine eindeutige Kundenorientierung. Herr
Overath, der seine Geschäftsinstinkte nie ganz abschütteln kann, bewundert diese glasklare
Orientierung. Ein Mann kommt herein, wird an einen Tisch plaziert. Herr Overath zieht sein
Schreibheft heraus, die geschäftliche Verbindung mit seiner Frau ist nicht abgebrochen, und
er beginnt die Story zu schreiben, die Margarethe für TKW braucht, für die Fernsehserie. Ein
Gangster und ein Popstar also, das Publikum verlangt nach dieser Kombination, das hat sich
in Meinungsumfragen bestätigt. Allerdings: Die Dialoge dürfen nicht ins Psychologische
abrutschen. Herr Overath streicht jetzt alles durch, was er dem Gangster und dem Popstar in
den Mund gelegt hat. Man muss auch die Frauengestalten mehr nach vorne bringen. Da sitzt
er und schreibt. Anfangs war es etwas peinlich in der Bar zu schreiben, aber als die Damen
gehört haben, dass er Redakteur ist, haben sie es akzeptiert. Sie stellen ihre Kaffeetassen ganz
leise auf die Untertassen zurück, damit er nicht vom Geklapper gestört wird. Vermeiden es
sogar, ihn anzuschauen, weil Lolita gesagt hat, das irritiert ihn - was wahrscheinlich nicht
stimmt, Lolita war nur wieder eifersüchtig. Eine Million Mütter und Töchter schreibt er jetzt
in das Heft, und streicht es gleich wieder durch, eine Million ist zu viel. Lolita kommt heran
und reibt ihr Bein an seinem. Ihr Bein steckt im schwarzen Nylonstrumpf, was man von
seinem nicht behaupten kann. Eine Million ist zu viel. Vielleicht kann man aber die
Grundidee retten. Wie wärs mit Hunderttausend? Das ist auch zu viel. Mutige Einschnitte sind
hier gefragt. Zehntausend, das geht schon eher, usw, bis man endlich bei einer Person plus
Umfeld angelangt ist. Früher, - es ist schon ein wenig zur Melancholie stimmend - früher
hätte man die grosse Zahl als Symbol bringen können, für irgendwas, egal was. Man sollte
einmal zuhause an den Bücherschrank herangehen, und die ganzen pseudo-philosophischen
Schwarten rausschmeissen, ich habe da eh nie ein Wort verstanden, eigentlich seltsam, ich bin
doch sonst nicht blöd, zumindest nicht besonders. Also schreibt man möglichst auf die
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reaktionäre Tour, das ist jetzt modern: Frau mit Kind - Mann mit Hund. Genau so etwas
braucht Herr Overath für seine Geschichte, die er für seine Frau braucht. Zum anderen ist zu
fragen, ob dieses geschäftliche Arrangement mit seiner Frau überhaupt noch gültig ist, ob sie
sich nicht lieber andere Schreiberlinge sucht. Was soll aus ihm werden, wenn er seine Zeit
nicht mehr mit diesen heiteren Geschichten verbringen kann. Er notiert: Frau mit Kind (das
kann man abhaken). Mann mit Hund, da müssen wir noch was dran tun. Er hasst Hunde, aber
er schreibt ja nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Er macht einen dicken Strich unter die
Seite und wendet sich zu Lolita:
"Na, mein Kind."
Sie mag diese Anrede nicht, aber der Altersunterschied lässt sich nicht leugnen. Blond ist sie,
jetzt zumindest, das Gesicht schon etwas abgemagert, was man auch bei guter Schminke
manchmal bemerken kann, wenn nämlich so wie in diesem Moment das Licht einer Lampe
genau senkrecht von oben auf ihre Backen fällt und eine gewisse Höhlung in ihrem Gesicht
im Schatten liegt. Aber eigentlich ist sie jung, blond, sieht aus wie einer dieser synthetischen
Sängerinnen im Fernsehen, gut aussehen tun die ja schon. So sitzt sie neben Herrn Overath,
der als Mann in den besten Jahren vergleichsweise doch schon alt aussieht. Vor allem die
Haare, das heisst die Glatze, das wirkt nicht gerade jugendlich. Sonst: blauer Pullover,
undefinierbare Hose, das geht eigentlich. Er fühlt sich auch viel jünger, seitdem er nicht mehr
bei den Seinen ist. Cool. Findet er selbst. Lolita hat sich da noch nicht so ganz entschieden,
aber so ein alter Knacker, das gibt natürlich Sicherheit. Gerade in ihrem Beruf findet Lolita
das wichtig. Sie betrachtet sich im Spiegel hinter dem Tresen. Dreht den Kopf etwas, damit
der Schatten nicht in die ausgehöhlte Backe fällt. Schatten unter den Jochbeinen: das ist schon
besser. Dass man am Kopf Beine hat. Sie fällt ihrem Schatz um den Hals. "Warum hat man
am Kopf Beine?"
"Mein Kind, das sind die Gebeine."
Es sind die Frauen, die die Männer aussuchen, allerdings nach Gesichtspunkten, die schwer
zu begreifen sind. Mitleid scheint eine Rolle zu spielen, aber auch das Bedürfnis nach
sogenannter Sicherheit. Daher haben alte Männer bei jungen Frauen ganz gute Aussichten.
Ich habe mich nie getraut, Lolita zu fragen, was findest du an dem alten Sack. Auf dem
Nachhauseweg verschwand Lolita nach links, ich ging geradeaus und überquerte die Brücke.
Strahlend blauer Spätnachmittagshimmel, bei solchem Wetter sieht auch das Wasser des
Rheins fast blau aus. Ein Frachter dampfte flussaufwärts, die Ladeluken offen.
Herr Overath hat sich angewöhnt, den ganzen Tag in der Bar zur Roten Lola zu sitzen und
Bier zu trinken. Er ist ein mässiger Trinker, aber wenn man den ganzen Tag dort sitzt und
trinkt, da kommt schon was zusammen. Die Rote Lola hinterm Hauptbahnhof, also am Dom.
Bewährtes Etablissement im Vergnügungsviertel der grossen alten Stadt, traditionsreiches
Amüsierlokal, möglicherweise ältestes Gewerbe der Welt. Die Mädchen (man nennt die
Frauen, die hier arbeiten, Mädchen, und andere Frauen gibt es hier eh nicht) tanzen auf dem
Tisch, an dem zu diesem Zweck eine Stange angebracht ist, die bis zur Zimmerdecke reicht
und an der die Mädchen sich festhalten. An diesem Tisch sitzen einige einsame Zecher und
blicken auf zu den Tänzerinnen. Sektkübel stehen auf dem Tisch, die Mädchen tanzen
aussenherum. Herr Overath hat an einem anderen Tisch Platz genommen und betrachtet das
fröhliche Treiben aus der Ferne. Er hat hier den Status als Stammgast, und manchmal,
zwischendurch, wenn die anderen Gäste gegangen sind (die Brieftaschen leer, die Gefühle
zwiespältig), dann stoppt die Schlagermusik, und er darf die Mondscheinsonate hören. Dann
setzt sich eine der Damen zu ihm an den Tisch. "Mensch Alterchen, bist du traurig? Lolita!
Komm doch mal!" Aber Lolita kennt das schon. Herr Overath ist eben ein alter Mann, mit
seiner Glatze und seiner braunen Cordhose, was will man da erwarten. Die anderen Mädchen
sind immer ganz gerührt, dass er seiner Lolita so treu ergeben ist. Sie soll sich den nur
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warmhalten, so einen kriegt sie nicht nochmal. Lolita tritt von hinten an Herrn Overath heran,
stützt einen Ellenbogen auf seine Schulter, streichelt mit der freien Hand seine Wange, die
auch schon mal besser rasiert war.
"Alles klar, Alterchen?"
"Na klar. Trinkst du einen Kaffee mit?"
"Marita! Zwei Tassen Kaffee für unsere Süssen!"
"Na klar. Ich schreibs auf den Deckel."
Ein Stuhl wird herangerückt, Lolita setzt sich. Der Kaffee wird gebracht. Einträchtig schlürft
man das dampfende Getränk, während die Zigaretten qualmen. Kein zahlender Kunde in der
Bar. Die Krise. Aber das hat auch sein Gutes: Man hat Zeit in Ruhe Fernsehen zu kucken.
Jetzt kommt "Familienglück". Alle schauen auf den Bildschirm hinterm Tresen.
"Wo ist Saskia?"
"Schon wieder diese blöde Saskia", schreien die Mädchen im Chor. Aber Herr Overath ist
durchaus interessiert. Das ist nicht mehr eine der Folgen, die er noch selbst geschrieben hat.
Seine Gattin muss die geschrieben haben (oder hat einen anderen Dummen gefunden).
Mangels Masse hat sie für diese Folge einfach die besten Szenen aus den vergangenen
Sendungen zusammengeschrieben.
"Wo ist Saskia?"
Welche Mutter einer halbwüchsigen Tochter könnte diese Frage nicht nachvollziehen,
welcher Vater stünde nicht hilflos und vertrottelt daneben. Allein die Mädchen erinnern sich
noch allzu lebhaft an Abende, an denen sie selbst reichlich spät nachhause gekommen sind
und gefragt wurden:
"Wo kommst du jetzt her, um diese Zeit?"
"Ich weiss nicht."
"Aber irgendwo muss sie doch sein!"
"Na, irgendwo wird sie schon sein."
"Ach... du!"
Herr Overath wendet sich zu Lolita um, will ihr den Aufbau der Szene erklären, aber ihr
vollkommen desinteressierter Gesichtsausdruck hindert ihn daran. Warum schauen die Leute
sich das an, wenn es sie nicht interessiert, fragt er sich. Er seinerseits ist sehr interessiert.
Vielleicht erfährt man hier etwas über das Leben der eigenen Frau, wenn man es versteht,
zwischen den Zeilen zu lesen.
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Maul halten
Später steigt Lolita vom Tisch herunter, der letzte Gast ist gerade gegangen. Herr Overath
blickt sehr lebhaft von seinem Bierglas auf, aber er hat sich zu früh gefreut. Dass Lolita jetzt
nicht tanzt, heisst noch lange nicht, dass sie nun Zeit hat für ihr Alterchen. Sie geht nach oben
in den Personalraum, vertauscht ihre Dienstkleidung gegen ein Alltagsgewand, nimmt sich
einen Stapel Werbekarten, und stellt sich in die Fussgängerzone. Alleinstehende Männer
kuckt sie sich aus, denen sie eine Karte in die Hand drückt: Table-Dance in der Roten Lola,
auf der Karte ist auch ein hübsches Foto abgedruckt. Man sieht Kolleginnen von Lolita, die
schon lange verschollen sind und sich gegen die Verbreitung des Fotos nicht mehr wehren
können. Es ist eine schnelllebige Zeit. Gleich muss Lolita zurück in die Bar und noch eine
Runde tanzen. Dann erst hat sie Feierabend und kann sich ihrem Alterchen widmen, ihrem
Fritz. Wahrscheinlich wird sie heute wieder sehr müde sein und dementsprechend launisch,
aber Herr Overath hat sonst niemanden, was bleibt ihm übrig.
Da sitzt er noch immer, als Lolita nach einige Zeit in die Bar zurückkommt. Sie eilt die
Treppe hinauf, legt die übriggebliebenen Karten zurück auf den Stapel, und wirft sich in ihre
Dienstkleidung: Bikini und hohe Stiefel. Man sollte meinen: das passt nicht zusammen, aber
die Kunden wollen es so. Also bekommt der Kunde, was er will, den Damen ist es egal. Herrn
Overath ist es auch egal. Anfangs war er stolz gewesen, dass seine kleine Freundin so gut
aussieht, jetzt nimmt er sie gar nicht mehr wahr, erst wenn sie fertig angezogen und zum
Abmarsch bereit vor ihm steht, reagiert er wieder auf sie. Meistens überredet er sie dann, in
der Bar noch etwas zu trinken, denn wo sollen sie sonst hin. Zu zweit wohnen sie in Lolitas
Absteige, ein winziges möbliertes Zimmer, in dem man es nur aushalten kann, wenn man
schlafend im Bett liegt. Fritz bleibt morgens meistens noch etwas liegen, wenn Lolita zum
Dienst geht.
Er liegt dann und macht hin und wieder die Augen auf, um nach dem Telefon zu blinzeln. Er
hat sich vorgenommen seine Frau anzurufen, Margarethe. Diesen Anruf verschiebt er noch
einige Tage. Dann aber:
"Margarethe? Ich bins. Wo ist Saskia?"
"Wo ist Saskia! Du könntest erst mal Guten Tag sagen!"
"Guten Tag."
"Du könntest erst mal fragen, wie es mir geht!"
"Wie geht es dir?"
"Halts Maul! Und wo soll Saskia schon sein. Wo sie immer ist!"
"Ja wo denn?"
"Das Maul sollst du halten! Ist dir eigentlich bewusst, dass unser Sohn..."
"Wo ist der eigentlich?"
"Maul halten!"
Margarethe legt ohne weiteres den Hörer auf, und ihr Gatte ist eigentlich ganz froh darüber.
Er bleibt noch eine Stunde ins Bett. Nachher geht er in die Bar um Lolita abzuholen.
Dieses Zimmer, in dem die beiden wohnen, kann einen krank machen, vor allem, wenn man
bis dato in einer kleinen Villa in Junkersdorf gewohnt hat. Herr Overath starrt an die
Zimmerdecke, die sehr überschaubar ist, ungefähr zwei mal vier Meter, würde man schätzen.
An der schmalen Wand, über dem fest eingebauten Tisch ein quadratisches Fenster, an der
gegenüberliegenden Wand die Tür. Das Zimmer wird fast vollständig vom Bett ausgefüllt,
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man sollte es nicht für möglich halten. Mit Margarethe hatte er zuerst eine Zwei-ZimmerWohnung, und als dann die Kinder gekommen waren und sich erste berufliche Erfolge
eingestellt hatten, waren sie in die Villa nach Junkersdorf gezogen. Obwohl, Herr Overath
dreht sich jetzt zur Wand, die Villa ihnen nicht unbedingt Glück gebracht hat. Sie hatten
zusätzliche Jobs annehmen müssen um die wahnwitzig teure Miete zu bezahlen. Margarethe
war dann bald in einer Drehbuch-Agentur untergekommen. Fritz schaltet das Fernsehgerät
ein, das auf dem fest eingebauten Tisch steht. Man sieht Familienglück. Da ist sie ja, die
Saskia. Die Wesseling sitzt auf dem Sofa und hat die Tochter übers Knie gelegt um die
Nierenkontrolle durchzuführen.
"Schön, mein Kind. Was hast du gemacht die letzten Tage? Wo warst du?"
Herr Overath hasst es, dass sein Privatleben dergestalt ausgeschlachtet wird. Andererseits:
Was heisst hier schon privat? Und er wohnt ja nicht mehr in der Villa. Und er hofft aus dem
Fernsehen einige Details über seine Familie zu erfahren. Wenn Saskia so eine Job hätte wie
Lolita. Aber nein, Saskia ist ja so verwöhnt.
Da sass ich also im Separée auf dem Sofa und starrte vor mich hin. Es war mir selbst nicht
ganz klar, was ich hier sollte - warum hatte ich die Bar nicht einfach verlassen, als das
Stroboskop-Licht eingeschaltet wurde, warum war ich nicht nachhause gegangen? Ich
fürchtete mich wohl vor dem Stapel unfertiger Gedichte, für deren Vollendung ich kaum noch
Hoffnung hatte.
O Mensch; Gib acht; Des Morgens; Beim Rasiern.
Marita setzte sich neben mich auf das Sofa, griff zur Fernbedienung des Fernsehgeräts. Es
wurde eine neue Folge des Familienglücks gegeben.
In der Eingangshalle einer kleinen Villa steht die Wesseling und ihr Gatte. Gerade heben sie
wie bedauernd die Schultern, wobei sie die Arme leicht ausbreiten und gleich wieder sinken
lassen. Der Mann trägt wie immer einen blauen Pullover, die Frau zeigt sich in einem ganz
reizenden Twinset aus dunkelgrauem Samt, das in der nun folgenden Werbepause ausführlich
angepriesen wird. Die Zuschauerinnen können das jetzt telefonisch bestellen. Gleich geht der
Film weiter. Die Wesseling und der Mann treten durch die Tür ins Wohnzimmer, wobei der
Mann ihr galant den Vortritt lässt. Sie zeigt ihr berühmtes Lächeln und setzt sich auf das rote
Ledersofa, ihr Mann nimmt in einem Sessel Platz. "Du Schatz, wir müssen reden." - "Ja." Der
Mann steht auf und holt aus dem schweren Mahagonischrank zwei Gläser und eine Flasche
Cognac. Das Etikett der Flasche ist deutlich zu sehen.
"Möchtest du was trinken?" fragt Marita, aber ich möchte nicht.
"Wir trinken nachher was an der Bar", antworte ich, obwohl ich nicht unbedingt die Absicht
habe. Im Fernsehen wird der Film unterbrochen: eine Werbeeinblendung für kostbaren
französischen Cognac, unwillig greift Marita nach der Fernbedienung und schaltet das Gerät
aus. Unten hat die Disko-Musik aufgehört; wir verlassen das Separée. Wir setzten uns an die
Bar neben Herrn Overath, der gespannt das Familienglück verfolgt im Fernsehgerät hinterm
Tresen. Die Gäste sind gerade gegangen, die diensthabende Kellnerin macht schon die
Abrechnung. Lolita kommt herbeigerannt mit einer kindlichen Pantomime von Rennen und
setzt sich neben ihren Freund. Da sassen wir also zu viert: Links Lolita, dann Herr Overath,
ich und Marita. Sehr verfängliche Situation, wie ich fand, aus Verlegenheit griff ich nach dem
versteinerten Trilobiten, der immer noch auf dem Tresen lag. Bei näherer Betrachtung, bei
genauerer Überlegung war es gar nicht der Trilobit persönlich, sondern nur sein versteinerter
Abdruck, der Trilobit war lang schon fort.
"Hast du die Folge selbst geschrieben?" fragte Lolita und legte ihr Köpfchen dabei auf Herrn
Overaths rechte Schulter, ihre blonden Haare leuchteten auf dunkelblauer Wolle.
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"Nein. Sei still." Er beobachtete mit offensichtlich atemloser Spannung, wie im Fernsehen
zwei Gläser Cognac gelehrt wurden.
"Was trinkt ihr?" fragte die Diensthabende.
"Cognac!" bestellte Herr Overath.
"Hausmarke?" fragte sie zurück.
"Ja." Er wedelte ungeduldig mit der Hand, weil ihm die Sicht auf das Fernsehgerät versperrt
war. Jetzt sah man Saskia auf dem Sofa in ihrem Zimmer liegen, sie blättert in einer
Illustrierten. Die schöne Mutter streckt ihren Kopf zur Tür herein.
"Hast du deinen Bruder gesehen?"
"Nein."
"Ach", entfährt es Herrn Overath, und er kippt den Cognac, der ihm gerade serviert wird, in
einem Zug hinunter.
"Noch einer!" bestellt er.
"Einen?" fragt die Diensthabende.
"Sie hat den Bruder nicht gesehen."
"Wie heisst der Bruder überhaupt?" fragt Lolita.
"Seit dreizehn Folgen ist der nicht mehr aufgetaucht", murmelt Herr Overath. Ein Cognac
wird vor ihn hingestellt. Er hebt das Glas:
"Na denn Prost."
"Prösterchen", kräht Lolita, aber die anderen bleiben ernst und nehmen stumm den ersten
Schluck. Das sieht man doch, dass Fritz Overath eine ganz besondere Beziehung zu der
Familie in Familienglück hat. Also der Bruder von Saskia, wie hiess er noch, ist auch in der
neuen Folge wieder nicht aufgetaucht. Man sieht im weiteren Fortgang der Sendung TKW in
allerlei heiteren Verwicklungen, und man ist so gelangweilt, dass man am Schluss vergisst im
Abspann mitzulesen, ob der Sohn überhaupt noch in der Sendung drin ist. Ausserdem: Herr
Overath soll froh sein, wenn seine Tochter nicht hier auf dem Tisch tanzt, mehr kann er nicht
verlangen. Herr Overath zahlt und geht mit Lolita nachhause. Im Mondschein überqueren sie
zu Fuss die Rheinbrücke. Unten strömt Wasser. Es ist jetzt sehr ruhig in der Stadt.
O Mensch gib acht, sei auf der Wacht; Des Morgens beim Rasiern; Es ist geschehn, eh du
gedacht; Des Morgens beim Rasiern. Der Dr. Benn in tiefer Nacht; Mit ausgeglühter Stirn; Er
hat es zu Papier gebracht; Mit seinem starken Hirn. Stärkere Hirne; Brauchen; Stärkere
Alkaloide. Stärkere Charaktere; Machen Sich; Ihr Schicksal selber.
Stimmt auch wieder nicht. Es muss heissen: Ausgeglühte Substanz. Aber dann reimt es sich
nicht, ganz abgesehen vom Inhalt.
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Ich hatte Marita dann doch mitgenommen zu mir nachhause. Fassungslos stand sie vor
meinem Regal, in dem einige wenige Bücher lagen.
"Hast du die alle gelesen?"
Damals wechselte ich oft die Wohnung, und ich hatte meine Bücherkiste noch nicht
ausgepackt.
"Nein, nein", antwortete ich, denn einige der Bücher hatte ich gerade erst gekauft. Ich liess
einen Stapel unvollendeter Gedichte in der Schublade meines Schreibtisches verschwinden.
"Herr Overath...", begann ich.
"Ist das dein Chef?"
"Gewesen. Aber wie ist der an Lolita gekommen?"
"Du meinst: Wie ist Lolita an Overath gekommen."
Marita wusste aber gar nicht, wie die beiden zusammengekommen waren. Dafür wusste sie so
manches andere zu berichten. Ich unterbrach andauernd ihre Erzählung, damals war ich
besessen von naturhistorischen Themen: Schalentiere, dreiteilige, also Kopf mit Augen,
Fühlern und Fresswerkzeugen, Brust mit wimmelnden Beinchen unten dran und Hinterteil mit
allem, was dazugehört, also innen Darm, Nervensystem und Geschlechtsapparat, aussen die
Schalen, die sich später beim Versteinern sehr bewährt haben. Beim Menschen ist es
umgekehrt: er trägt die harten Teile unsichtbar im Inneren seines Körpers, daher hält er sich
für etwas Besseres. Allerdings ist er den Beweis hierfür bis dato noch schuldig geblieben. Es
sind zwei: Ein Trilobiten-Männchen und ein Weibchen. Gerne beschrieb ich immer wieder
den Hochzeitstanz dieser Tiere. Am Abend hatte der Trilobit dann allen Grund zur
Zufriedenheit gehabt, er hatte sein Schicksal beherzt in die eigenen Hände genommen. Er
hatte den Fortbestand seines Genoms (seines halben Genoms) gesichert, bis zum nächsten
Meteoriteneinschlag. Eine seltsame Idee: das Genom. Auf so etwas kann man nur kommen,
wenn man in einer monarchisch verfassten Gesellschaft lebt. Wie dem auch sei: Fünfhundert
Tausend Jahre später, an der selben Stelle, kniete ich vor Marita, die auf der Kante meines
Bettes sass, und knöpfte ihr die Bluse auf. Allerdings lag mir der Gedanke an den Fortbestand
meines halben Genoms sehr fern; ich bin bis heute kinderlos geblieben und empfehle das
ausdrücklich.
"Lolita", sagte Marita, "war sehr einsam, als sie den Overath kennengelernt hat."
"Hoho!" rief ich aus.
"Wir wünschen ihr alle so sehr, dass sie es diesmal, mit Herrn Overath, besser getroffen hat.
"Natürlich", murmelte ich.
Der muss einfach froh sein, wenn er irgendwo schlafen kann. Den Wagen hat er inzwischen
verkauft, von dem Geld kann er einige Jahre lang die Miete für Lolitas Zimmer bezahlen.
Die Fortpflanzung bei den Ameisen ist nicht so individuell geregelt: Es gibt dort eine
Königin, die alle Nachkommen im Staat erzeugt. Manchmal gibt es auch mehrere
Königinnen, die einträchtig nebeneinander sitzen.
Herr Overath besucht Frau Overath in der Villa: "Du, wir müssen reden." Zwei hübsche junge
Männer empfehlen ihm, ganz schnell zu verschwinden. Ihre Liebhaber? Eher sind es zwei
Vertreter der Drehbuch-Agentur, die ihr einen neuen Stil nahelegen wollen: Mehr Werbung.
Früher schickten die hässlichen alten Männer die jungen frechen Männer ganz einfach in den
Krieg. Der junge Mann, ein selbstmörderischer Tölpel, marschiert auf den Feind zu. Da
bekommt er einen Kopfschuss: vorne Einschussloch, hinten Austrittsöffnung, wie bei einem
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Ei, an dem man zwei Löcher anbringt um es auszublasen. Dieses Erzeugen zweier Löcher am
menschlichen Schädel erzeugt einen solch hohen Druck, dass das diesbezügliche Gehirn des
betreffenden jungen Mannes durch die Austrittsöffnung nach hinten austritt, der Hintermann,
völlig perplex, mag es auffangen oder es rutscht ihm durch die Finger und fällt zu Boden. Das
tritt sich fest. Ist das Hirn wirklich wunderbarer als ein Ameisenstaat mit seiner ganzen
Organisation? Man mag es glauben oder nicht; es glauben aber nur Hirnbesitzer daran, nicht
ganz uneigennützig.
Herr Overath bleibt noch in der Bar mit Lolita, nachdem Marita und ich schon gegangen sind,
vielleicht ein neues Paar. Egal: Eine Kohorte Soldaten, oder wie man das nennt, rückt in der
nächtlichen Dunkelheit gegen den sogenannten Feind vor. Alle, die in der ersten Reihe
marschieren, bekommen nach der eben beschriebenen Methode das Hirn entfernt. Die
Soldaten der zweiten Reihe kommen so in die erste Reihe, wo es ihnen nicht anders ergeht,
etc. Zum Schluss steht nur noch ein bronzenes Denkmal, eine Portraitbüste, im Kugelhagel,
ausgeglüht die Stirn. Aber mit leichtem Infanteriegeschütz ist das Denkmal nicht
kaputtzukriegen, leider. Herr Overath kann genausogut bei Lolita in dem winzigen
Zimmerchen wohnen. In seiner Villa hat er es auch nur ausgehalten, wenn er betrunken war;
die Getränke waren allerdings besser, aber man gewöhnt sich. Und wenn er morgens
aufwacht, dann springt Lolita im Zimmer herum, lacht und singt und probiert alle ihre Kleider
aus, bevor sie dann, wie immer, Jeans und Pullover anzieht. Herr Overath hat sich verbessern
können. Frau Overath auch, nur dass sie jetzt mehr Drehbücher abliefern muss, damit sie das
Geld für die Miete zusammenbekommt. Notfalls könnte sie noch das Auto verkaufen.
Fritz ist also zufrieden. Margarethe ist auch zufrieden, was bleibt ihr übrig. Sie nimmt sich
vor, demnächst einmal bei Gelegenheit die Wesseling anzurufen, um sie zu fragen, ob sie
auch zufrieden ist, oder ob sie die Rolle nicht fraulicher haben möchte, mit ein paar netten
Klamotten usw. Herr Overath steht der Fernseh-Serie Familienglück jetzt eher passiv
gegenüber. Er schaut sich das manchmal an. Er fühlt sich zwar noch betroffen, wenn auf dem
Bildschirm seine Geschichte verhandelt wird. Aber es ist eine sehr allgemeine und
undeutliche Betroffenheit. Es ist ja auch eine ganz gewöhnliche Geschichte: Der Vati fühlt
sich nicht mehr wohl, er will weg, und er geht weg. Und sein Anhang, dieses diffuse Nichts jetzt ist das Nichts nicht mehr da. Früher hätte man das anders gehandhabt: Der Alte hätte sich
zusammengetan mit Gleichgesinnten, mit anderen alten hässlichen Männern, zusammen hätte
man einen Generalstab gebildet. Damit wäre schon mal das erste Problem gelöst gewesen:
Wohin mit der Frau. Zuhause wäre sie geblieben, mag sie sich immerhin die Augen aus dem
Kopf heulen. Die verhassten Söhne hätte man hinaus ins Feld der Ehre geschickt; das hat
noch keinem geschadet. Nur die Tochter, das ist und bleibt ein Problem. Herr Overath sitzt
vor seinem Glas, Lolita drängt zum Aufbruch.
Aber da ist es schon wieder Morgen. Lolita springt im Zimmer umher und lacht ihren Freund
an.
"Guten Morgen, mein Alterchen. Was soll ich anziehen?"
Lolita hat ein schwarzes Abendkleid an.
"Was sagst du dazu? Oder soll ich das rote anziehen?"
Sie rennt zum Schrank, reisst ein rotes Kleid vom Bügel, einige andere Kleider fallen zu
Boden. Herr Overath hat die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen, seine Augen folgen
Lolitas Bewegungen. Jetzt zieht er die Decke einige Zentimeter nach unten und hebt den
Kopf:
"Warum ziehst du nicht Jeans und Pullover an?"
Lolita zieht Jeans und Pullover an. Sie macht sich fertig zum Dienst.
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"Holst du mich heut abend ab?"
Weg ist sie. Er schläft noch ein wenig. Lolita stiefelt durch die Altstadt, es ist ein schöner
Sommertag, noch früh, man würde sagen, eine Studentin. Aber was macht eine Studentin in
der Roten Lola, um diese Vormittagsstunde. Lolita begrüsst die Kolleginnen. Noch nichts los.
Also erst Kaffe trinken, Tageshoroskop lesen. Der Postbote kommt, Christian von der Post
bringt ein paar Rechnungen.
"Danke, Süsser!"
Einige Touristen kommen herein, grinsen blöde, schwanken unsicher. Die Diensthabende
bugsiert die Männer an einen Tisch, Lolita und zwei Kolleginnen verschwinden diskret um
sich umzuziehen. Sie kommen wieder in Bikini und Stiefeln, die Musik setzt ein, drei Damen
springen auf den Tisch mit der Metallstange.
"Aber warum muss ich denn immer arbeiten?", seufzt Lolita ihrem Overath ins Ohr.
"Arbeiten nennst du das?"
"Aber ich bekomme doch Geld dafür!"
Herr Overath, der froh ist, dass seine Tochter diesen Job nicht macht, wiegt bedenklich das
Haupt.
"Freilich, das Geld..."
"Eben! Das Geld!" schreit Lolita.
"Willst du denn das Geld einfach so bekommen?"
"Ja!" kreischt Lolita mit einem weinerlichen kleinkindhaften Tonfall.
"Auch wieder wahr", murmelt er. Jahrelang hat er als Zeitungsredakteur in bewegenden
Worten seiner wertkonservative Grundhaltung Ausdruck verliehen, zum Wohle des
Unternehmerverbandes, und jetzt, kaum ist er einige Monate ausser Dienst, fällt ihm schon
nichts mehr ein.
"Du weißt es auch nicht, siehst du!"
"Ich bin aus der Übung", raunt er. Das versteht Lolita, sie ist ein braves Mädchen.
"Ach, mein Alterchen!" Lolita ist in einen gewissen Redefluss hineingeraten, aus dem sie nur
sehr schwer wieder herauszuholen sein wird.
"Warum muss ich denn immer arbeiten..."
Herr Overath hatte gedacht, das Thema sei erledigt, ihm ist inzwischen auch wieder
eingefallen, warum alle Menschen, und daher auch Lolita arbeiten müssen. Gerade will er es
ihr erklären, aber da redet sie schon weiter:
"Mensch, das ist ungerecht.
"Lolita, Mäuschen..."
"Jawohl! Ich verkaufe eine Niere. Dann hab ich genug Geld."
Herr Overath, der gerade erfolgreich den Gedanken an seine Tochter unterdrückt hat, fährt
auf:
"Wieviele Nieren hast du denn?"
"Zwei!"
"Und wenn die alle verkauft sind?"
"Dann werde ich Leihmutter."
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Er wendet sich ab, Lolita bekommt es mit der Angst zu tun, sie fasst mit einem Arm um
seinen Hals und legt ihren Kopf auf seine rechte Schulter. Zusammen starren sie ins blass
rosafarbene Licht der Steinsalzlampe.
"Und du? Du musst doch auch irgendwann wieder arbeiten."
"Wer gibt mir denn jetzt noch einen Job?" er schnaubt verächtlich durch die Nase, allerdings
wird nicht ganz deutlich, wen oder was er jetzt verachtet.
"Was war denn da überhaupt mit deinem Job?" fragt Lolita, aber er will nicht recht.
"Und dein Lehrling, ist der auch geflogen?"
"Natürlich ist der auch geflogen. Aber der ist jung. Der hat gleich wieder was gehabt, beim
Jagdhund."
"Ich will auch einen Hund", seufzt Lolita da.
"In deinem Zimmer?"
"Du hast doch diese Villa." Herr Overath lacht gequält auf, Lolita mault: "Schmeiss doch
deine Frau raus und dann ziehen wir da ein mit dem Hund."
"Das geht nicht - die Kinder..."
"Wie? Ist dein Sohn wieder da?"
"Nein. Ich meinte doch: die Tochter, Saskia."
"Warum bist du da überhaupt abgehauen? Ich meine: zwanzig Jahre hattest du doch schon
geschafft."
Herr Overath stellt sich auch manchmal diese Frage. "Ja. Warum", murmelt er. Seit Tagen ist
er nervös und reizbar.
"Unsere Flitterwochen sind vorbei", sagt Lolita zu Marita. Besonders, seitdem er versucht hat,
mit der Gattin ein Gespräch zu führen und die zwei jungen Männer dazwischengekommen
sind, ist er sich seiner Entbehrlichkeit bewusst geworden. Und kaum hat er etwas verloren,
schon will er es wiederhaben. Am besten wäre es ja, wenn er Margarethe und dazu noch
Lolita haben könnte, seinen Job allerdings bekommt er nicht wieder, da ist er Realist. Jetzt
will die Gattin nicht mehr, und schon befürchtet er, dass er auch Lolita verlieren könnte. Aus
dieser Angst heraus hält er an Lolita fest.
"Ist Schluss?" fragt Marita, aber soweit ist es noch nicht:
"Der weiss doch gar nicht, wo er hin soll", jedoch da findet sich immer etwas.
Vorläufig sitzt Herr Overath noch an der Bar und verhält sich ruhig. War früher ein
Sprachrohr der freien Marktwirtschaft ("Ich bin aktiv den ganzen Tag") und hat ganz plötzlich
seine Tätigkeit eingestellt - musste er ja; aber dass er auch gar nichts mehr von dem tut, was
ihm früher so wichtig war: die Zeitungen lesen, Notizen anfertigen, Leute belehren und
bekehren; nur Fernsehen kuckt er manchmal noch, wenn nämlich Familienglück gegeben
wird, und den blauen Pullover trägt er immer noch.
"Neulich, da war er bei seiner Alten gewesen in der Villa, seitdem stimmt was nicht mit ihm."
Herr Overath hatte tatsächlich versucht, eine sogenannte Aussprache herbeizuführen,
allerdings weiss man nicht, ob er sich vorher genau genug überlegt hat, was er überhaupt
sagen will. Endlose Fahrt mit der Strassenbahn hinaus nach Junkersdorf, wenn man die
Strecke mit dem Auto fährt, dann sieht das alles anders aus. Herr Overath starrt aus dem
Wagenfenster, anstatt sich zu überlegen, was er sagen will. Seltsam, wenn man an der eigenen
Haustür klingeln muss. Es ist nicht mehr die eigene. Margarethe öffnet ihrem Gatten die Tür.
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"Ach du bist es. Komm rein."
Margarethe hat ein dunkelgraues Twinset an, das sie ausnehmend gut kleidet, direkt
verführerisch sieht sie aus. Fritz betritt die Eingangshalle, er zieht das Jacket mit den
Ärmelflicken aus; Margarethe nimmt es ihm ab und hängt es an die Garderobe. Beide betreten
das Wohnzimmer. Er blickt sich um, als ob er es nicht seit Jahren kennt. Aber er ist jetzt
anderes gewohnt.
"Setz dich doch. Möchtest du was trinken?"
Der kostbare alte Cognac. Er trinkt einen Schluck.
"Wie geht’s?" fragt Margarethe.
"Wir müssen reden!"
Margarethe lacht laut auf. "Aber über was willst du denn reden? Sei froh, wenn du nichts von
mir hörst!"
Fritz sitzt fest. Er hat sich festgefahren. So etwas hat er nicht erwartet. So war es nicht
gemeint gewesen, aber das kann er nicht sagen, so schlau ist er noch. Er sitzt still und glotzt
blöde vor sich hin. Margarethe sitzt schweigend und macht ein ganz freundliches Gesicht.
Zwei junge Männer kommen herein (Wer hat die hereingelassen?). Fritz steht auf und geht.
"Warum bist du da abgehauen?" fragt Lolita, und er antwortet: "Du hast recht." Zusammen
gehen sie nachhause in das kleine Zimmer.
Theodora Katharina Wesseling ist eigentlich gar nicht glücklich darüber, dass der Mann aus
der Serie herausgekippt wird.
"Aber Frau Wesseling! Er wird nicht herausgekippt. Wir verfrachten ihn ins Rotlicht-Millieu,
damit mehr Action in die Sendung reinkommt."
"Action, die ich nicht will", schreit die Aktrice da.
"Wir schreiben Ihnen eine Folge, in der Sie ihn suchen, in allen Bars, in Grossaufnahme."
"Ich will aber nicht gefilmt werden in diesem Licht...", sie fuchtelt mit der linken Hand über
ihrem Kopf, "...in diesem Rotlicht!"
Aber das Publikum will so etwas sehen, da ist nun nichts zu machen. Ausserdem: TKW als
alleinstehende Frau bietet ein ganz enormes Identifikationspotential, gerade auch für die
weiblichen Zuschauerinnen. Frau Overath wird der TKW ganz wunderbare Szenen auf den
Leib schreiben.
Lolita will es aber jetzt genau wissen: "Früher hast du doch diese Drehbücher geschrieben."
"Na ja. Nach ihren Vorgaben. Das ist egal, wer die schreibt; die müssen so sein, die
Kundschaft will es so."
"Und dann habt ihr euch getrennt?"
"Das mit der Trennung, das war so: Ich komme von der Arbeit nachhause..."
"Also damals hast du noch gearbeitet?"
"Halts Maul! Sonst erzähle ich nicht!"
"Ist ja gut. Ist ja gut"
"Ich... meine Bücher..."
"Deine Bücher?"
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"Einige Bücher... ein paar Bücher haben gefehlt. Es waren Lücken im Regal. Man konnte es
sofort sehen, wenn man reinkam."
Doktor Benjamin, mit gefurchter Stirn, ein ausgeglühter Penner, ausgeglüht im Ringen um
schlackenfreie Prosa (man muss das mit heftigst rollendem Zungen-R sprechen), hat ja später
eine Zahnärztin geheiratet, die dann allerdings nicht mehr praktizieren konnte, weil der
Doktor ihr die ganzen Äthervorräte wegtrank, bevor er sich jeweils abends in die Weinstube
verfügte, um noch ein wenig zu dichten. Fussnote: Doktor Benjamin lebt übrigens weiter als
Doctor Benway in den Romanen von Doc Burroughs, oder ist der gar kein Doktor, wenigstens
Ehrendoktor? Bei Doktor Benjamin war alles Dichtung, selbst noch das Praxisschild aus
schwarzem Glas mit klaren Goldbuchstaben, nein - ich weiss schon, was ich an der englischsprachigen Literatur habe und ihrem Doctor Benway. Gerade auch bei diesem EnglandAufenthalt, von dem ich schon berichtet habe, als ich feststellte, die Person, die ich gesucht
hatte, war gar nicht mehr da - und doch war sie da, denn wenn etwas einmal in der Welt ist,
dann ist es nicht mehr wegzubringen. Die Wellen, ich sah sie im Wasser der Themse, aber im
Rhein sah ich sie nie auf dem Weg zur Arbeit, die Brücke war zu hoch über dem Fluss, und
niemals bin ich die Uferböschung hinabgestiegen, so etwas tut man nur als Tourist.
Ich dachte an Marita. Zwischen ihren angenehm muskulösen und weit gespreizten
Oberschenkeln hatte ich gekniet, während ich ihr die Bluse aufknöpfte - das macht man so, es
ist dies eine Konvention, obwohl ich es eigentlich lieber habe, die Frau zieht sich selbst aus.
Ich unterhielt mich dabei mit ihr, und es fiel mir wieder einmal auf: die Leute mit dem
schlechten Sozialprestige sind genau so wie wir, sie sind gross, stark, schön, und klug sind sie
auch, man könnte so eine Frau zur Chefin eines Betriebes machen oder zur Präsidentin oder
zur Äbtissin, alles wäre sehr gut.
"An was denkst du?"
"Ich dachte gerade: Was hast du eigentlich früher gearbeitet?"
Marita lachte mich aus.
"Und was hat Lolita früher gearbeitet?"
"Glaubst du, ich bin hergekommen, um mit dir Berufsberatung zu spielen?"
"Ja, lass uns spielen", bettelte ich, und Marita schien nachzudenken.
"Also Lolita...War die nicht früher Krankenschwester? Oder auf dem Finanzamt?"
Marita wusste es also auch nicht so genau, und vielleicht war es damals nur eine Marotte von
mir, immer alles genau wissen zu wollen, weil ich mich für einen Journalisten hielt. Später
bin ich Taxifahrer geworden, da wird einem auch immer viel erzählt.
Ich kniete und blickte auf zu meiner Königin, zu meiner seinerzeitigen. Mein Gerede hatte sie
abgelenkt vom Zweck unseres Zusammenseins. Mit gerunzelter Stirn griff sie nach einer
Zigarette und zündete sie an, damals haben noch alle Leute geraucht. Ich beobachtet von
unten, wie sie den Rauch einzog - so muss ein Ertrinkender nach Luft schnappen - und wieder
ausblies, das dazu passende pustende Geräusch war deutlich zu hören. Ich starrte auf ihre
Brüste und stellt mir vor, dass wenige Zentimeter dahinter Rauch sich ansammelt und schnell
wieder ausgeatmet wird. Ich packte Marita an den Waden, die ich hochhob, so dass sie im
Bett auf den Rücken fiel. Sie lachte und kreischte unverständliche Worte. Ich zog den
Reissverschluss ihres rechten Stiefels nach unten. Sie legte die Zigarette im Aschenbecher ab,
und es wurde sehr still in meinem Zimmer.
Girlanden von Girls versuchten in meinem Kopf Aufmerksamkeit zu erringen, aber da hatte
Marita mich schon gepackt, und mein Hirn stellte jede Tätigkeit ein, ein sehr wohltuender
Zustand. Mir machte Marita es immer umsonst, und ich liebte sie dafür. Ich frage mich
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manchmal, was aus ihr geworden ist. Ich hoffe, sie hat einen guten Mann gefunden, der ihr
ein Reihenhaus in Ober-Böblingen bieten kann, sie war in diesen Dingen sehr konservativ.
Damals dachten wir nicht an solche Dinge. Ich erwachte am nächsten Morgen, als Marita sich
zum Weggehen fertigmachte.
"Ich geh zum Dienst", rief sie mir zu.
"Frohes Schaffen", murmelte ich. Auch ich musste los, zur Arbeit in die Redaktion. Am
Schreibtisch angekommen - ich hatte unterwegs beim Bäcker eine Brezel gekauft, die der
Hund des Chefredakteurs gebieterisch beanspruchte und auch bekam, gerade einmal konnte
ich noch abbeissen, bevor das Tier zuschnappte, aber ich konnte kaum schlucken, so sehr sind
mir Hunde zuwider. Ich legte letzte Hand an der Fahrbericht zu einem neuen Geländewagen,
der sich damals bei Jägern einer grossen Beliebtheit erfreute. Der Hersteller hatte uns
freundlicherweise einige Argumentationshilfen zukommen lassen, die ich abschrieb, während
ich mir einbildete: ich recherchiere.
Abends ging ich in die Bar. Ich wusste, Marita darf das von mir erwarten. Und ich würde dort
Fritz Overath treffen.
"Hallo!"
Ich setzte mich neben Herrn Overath. Links von ihm sass Lolita, Marita setzte sich an meine
rechte Seite, das musste ich nun schon in Kauf nehmen. Lolita war gerade dabei, ihren Freund
auszufragen, warum er aus der Villa ausgezogen sei.
"Die Bücher...", begann er, und ich begriff zunächst nicht, um welche Bücher es sich
handelte.
"Wenn ich stürbe...", die Damen verdrehten in gespielter Verzweiflung die Augen, "würden
sich wohl kaum zwei Menschen an meinem Sterbebett versammeln."
"Aber mein Alterchen!"
"Aber nicht doch!"
"Aber Herr Overath!"
"Sie sollen leben!"
"Zum Wohl!"
"Prosit!"
"Wenn ich sterbe, dann bleibt von mir nichts übrig..."
"Wieso denn übrigbleiben?" murmelte Marita und blickte sich gewissermassen hilfesuchend
um.
"...nichts übrig als meine Bibliothek."
"Die man auf dem Flohmarkt verscheuern wird", platzte ich heraus.
"Und vielleicht einige Gedichte!" Jetzt war Herr Overath wieder froh. Er begann mit
singender Stimme zu rezitieren:
"O dass wir unsre UrUrEnkel kennten; Gespuckter Schleim, gespuckt auf eine Schiene; Sie
haben keinen Mumm, sie haben keine Meinung; Sind schwach, sie weinen, greinen und sind
dumm. O dass wir alle ihre Leiden litten; Uns opferten, uns brächten dar dem Feind; Und
alles, alles gäben, was wir hätten..."
Ich sprang auf. Ich packte ihn am Kragen, ich schrie und kreischte vor Wut. Dichten will er!
Aber dichten darf nur ich. Keiner sonst darf das. Ich schüttelte den alten Sack, ich beutelte ihn
wie nicht recht gescheit. Mein Barhocker fiel um mit lautem Knall, Herr Overath hielt das
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Maul offen wie ein Karpfen, dem man gerade - "Ist ja gut. Ist ja gut." Die Damen waren
aufgesprungen, Lolita hielt mich am Arm fest, Marita umarmte Herrn Overath und küsste ihn
mehrmals auf den Mund, den er inzwischen wieder geschlossen hatte. Die Diensthabende
kam hinter dem Tresen hervor und stellte meinen Barhocker wieder auf.
Ich war wütend, im Grunde seit damals, als er mir die Formulierung mit der butterweichen
Schaltung untergeschoben hatte, damals, als ich betrunken auf dem Sofa sass, in seiner Villa,
der gemieteten, die Tochter schlich im Hintergrund des Zimmers vorbei - ein Gespenst in
einem weissen Unterhemd mit nackten mageren Beinen. Dass die nicht friert. Er hatte erzählt,
von vergangenen, und von geplanten Heldentaten: Eine Liste unternehmerfreundlicher Worte
schwebte ihm vor, die er herausgeben und allen Zeitungen zum Kauf anbieten wollte. Die
Gattin lächelte nachsichtig. Ich sah mich um nach dem Klavier, als er schwieg um die Gläser
nachzufüllen. Hier einmal die Mondscheinsonate zu spielen, man müsste nur das Instrument
aus der Ecke ans Fenster schieben - dafür hat es Rollen, auch wenn die auf dem Teppich nicht
allzu gut rollen dürften, wenn zwei Mann mit anpacken, dann wird es schon gehen. Das
Klavier steht im nächtlich dunklen Raum am Fenster, und die schöne Frau Overath hebt an
den berühmten cis-moll Akkord zu intonieren. Ganz langsam, wie es sich gehört für den
Mond. Denn der Mond, so klein er manchmal auch aussehen mag, wenn er hoch am Himmel
steht, aber wenn er aufgeht, wenn er zwischen den schwarzen Baumstämmen ganz langsam
seine Bahn zieht, vor dem blau-schwarzen Nachthimmel, Krater auf der weissen Oberfläche,
dann empfindet man es: der Mond ist ein sehr bedeutender Himmelskörper, Ebbe und Flut
hängen von ihm ab, und wer weiss, was sonst noch alles, ohne unseren Mond wüssten wir gar
nicht, was aus uns werden soll. Und da kommt er schon, von der rechten Hand der schönen
Frau gespielt, der dreimal wiederkehrende Ton der berühmten monotonen Melodie, ich stehe
hinter der grossen schönen starken Frau, ganz zart lege ich meine Hände auf ihre Schultern,
die warm sind, und ein Atmen, ein sehnsüchtiges Seufzen, ein Nachgeben, und da kommen
die drei Töne gleich nochmal, und ich sitze auf dem Sofa und antworte dem Herrn Overath:
Nein, ich kann nicht Klavier spielen. Er hat selbst als Kind noch Klavierspielen gelernt, kann
es aber jetzt nicht mehr. Seine Mutter, die Generalin, wie sie mit andeutungsvollem
Augenzwinkern zwischen den beiden Eheleuten genannt wird, hat darauf bestanden, dass ihre
Kinder das lernen - ob sie wollten oder nicht. In der elterlichen Villa (seinen Vater hat er
allerdings kaum gekannt, der war im Kriegseinsatz) sass der kleine Fritz und verzweifelte an
Czerny, Mozart und später auch an Beethoven. Für Elise konnten wir ja alle mal spielen.
Selbst später noch, in der Bar, wenn die Damen fertig getanzt hatten, konnte er noch
manchmal fragen:
"Kinder, warum habt ihr denn kein Klavier? Früher hatten alle Bars ein Klavier."
"Früher war alles besser, mein Alterchen."
"Man müsste Klavier spielen können", wer Klavier spielt, hat Glück bei den Fraun.
"Ist das nicht eher was für Frauen? Höhere Töchter usw?"
Ich hatte mich immer geärgert, weil ich nur Geige spielen konnte. Ich wollte mich bei
Gelegenheit dafür rächen, indem ich mit Frau Overath ein Duett spielte, die Kreutzersonate.
"Das ist schon richtig", er gab mir meistens Recht, seitdem ich nicht mehr sein Lehrling war,
"Meine Frau hat früher viel gespielt, deswegen hatten wir ja auch das Klavier. - Hast du
übrigens meine Frau gesehen?"
"Ich sehe deine Frau jede Woche, wenn sie neue Dialoge bei mir bestellt."
"Ach ja, richtig."
Ich fand, allmählich hätte er sich daran gewöhnen können, dass ich seine Frau einmal die
Woche sah. Mein Vergnügen daran war keineswegs so lebhaft, wie zu vermuten schien, und
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jetzt machte er mir auch noch Konkurrenz beim Dichten. Allerdings, seitdem ich den Job
beim Jagdhund hatte und meine Abende mit Marita verbrachte, hatte ich kaum noch Zeit zum
Dichten. Ebenso schnell, wie sie gekommen war, legte sich meine Wut wieder. Herr Overath
konnte ja nichts für mein berufliches Missgeschick, und er hatte im Übrigen auch genug
eigene Sorgen. Ich entschuldigte mich bei ihm, und er reichte mir die Hand, männlich und
fest, aber ich war froh, dass ich unbeschädigt aus der Situation wieder herauskam, und so
sassen wir wieder friedlich an der Bar.
"Also deine Bibliothek...", säuselte Lolita und drängte sich schmeichelnd an Herrn Overath.
"Na ja... einige Bücher... Margarethe und Saskia haben ein paar Bücher in den AltpapierContainer geschmissen. Da haben wir uns gestritten."
"Ja, denen hätte ich was erzählt. Na warte!" Marita ist ganz aufgeregt. Sie beugt sich vor, um
an mir vorbei auf die beiden einzureden. Offenbar hat sie im Familienglück einen ganz
ähnlichen Vorfall gesehen. Und da fiel mir noch ein Grund ein, warum ich wütend auf Herrn
Overath geworden war: Nie hatte er mich ein Drehbuch schreiben lassen.
Marita erzählt:
"Da kommt dieser Typ..., wie heisst er noch gleich?"
"Fritz", antworten die anderen.
"Dieser Fritz kommt nachhause, und seine Frau, seine Frau..."
"Theodora Katharina Wesseling."
"Genau, die sitzt mit Saskia - das ist die Tochter - auf dem Sofa, und sie haben die Bücher
von ihm, ziemlich viele Bücher weggeschmissen."
"Warum das denn?" frage ich, ahnungslos, und das Argument fällt mir wieder ein, mit dem
man mich vom lukrativen Geschäft mit den Drehbüchern ferngehalten hatte: Ich besass
keinen Fernseher und war also nicht auf dem Laufenden.
"Die haben die Bücher rausgeschmissen, die der TKW nicht gefallen haben."
Herr Overath greift ein, unterbricht Maritas Erzählung und erklärt uns, was die Gattin an den
Büchern auszusetzen gehabt hatte. Je länger er redete, umso unverständlicher wurde die
Angelegenheit. Anscheinend ging es um irgendwelchen konkurrierenden Strömungen in der
zeitgenössischen Philosophie.
"Kann man denn über sowas streiten?"
"Natürlich nicht, eigentlich nicht."
Es entstand eine Pause, man hörte leise Stimmen im Raum, Gläserklirren, neue Getränke
wurden gebracht. Marita fasste mich am Arm und stellte mir ganz leise eine Frage: "Warum
bist du denn so aggressiv geworden?"
"Ich konnte nicht anders."
Doc Burroughs, nämlich er selbst, behauptete ja immer, seine Werke seien durch die
sogenannte Cut-Up-Technik, also praktisch durch Zufall entstanden. Waren in Wirklichkeit
natürlich sorgsam komponiert, und doch ist etwas Wahres dran an dieser kleinen Flunkerei:
Kunstwerke entstehen von selbst. Dieses dachte ich, als ich damals an der Bar sass, und
konnte deshalb nicht genau verfolgen, ob es Herr Overath war, der seine eigene Geschichte
erzählte oder Marita, die erzählte, was sie im Fernsehen gesehen hatte. Der Unterschied ist gar
nicht so gross, die meisten Menschen leben genau so, wie man es von ihnen erwarten darf,
und ich brauche keine postmoderne Medientheorie um zu wissen: das Fernsehen zeigt das
Leben so, wie es ist, und doch auch wieder nicht. Ob das Fernseh-Programm dem Leben der
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Menschen nachgebaut ist, oder ob die Menschen sich bemühen den Vorbildern aus dem
Fernsehen zu entsprechen, ist herzlich egal; das kommt auf dasselbe heraus.
"Nicht wahr?"
Ich war angesprochen, aus meiner Träumerei gerissen antwortete ich ohne zu überlegen: "Na
klar!", also bekam ich wie alle andern noch ein Getränk. Aber Herr Overath und seine Frau,
der Streit usw, jetzt merkte ich, dass mich das doch interessierte, also doch. Hat mich sowieso
immer interessiert, meldete sich jetzt noch eine Stimme in meinem Kopf. Es ist eh ungerecht
sich über andere Leute lustig zu machen; wer weiss, wie ich mich bewähren würde in
derselben Situation. Allerdings: Intelligenz ist die Fähigkeit, Situationen selbst zu definieren.
Nur manchmal wird die Situation so plötzlich eine ganz andere, dass auch die beste
Intelligenz nicht mehr weiterhilft, z.B. nach einem Meteoriteneinschlag.
Man zappelt im Netz und bemerkt das Netz nicht.
Wir beendeten unsere Drinks und Marita packte mich am Arm um mich nachhause zu führen.
Kurz bevor ich einschlief, kam mir die Frage in den Sinn, ob Marita jetzt einfach so in
meinem Bett schläft ohne mich um Erlaubnis zu fragen. Seltsam: gestern noch war ich
darüber hochbeglückt gewesen, heute schon wollte ich Rechenschaft verlangen, doch ich
schlief sofort ein. Doctor Benway kam mir in den Sinn und das ärztliche Ethos: keinen
Schaden anrichten; aber meistens ist der Schaden schon angerichtet. Endlose Ströme sinnloser
Worte liefen durch mein Hirn während ich schlief; nur manchmal, wenn in diesem Strom
Wörter auftauchten wie Schade, Schädel, Scheck, Schiedsgericht, chic, Schock, Schunkel,
dann wurde meine Ich-Funktion aktiv und bildete sich ein, sie träumt. Besonders das Wort
Schunkel, schliesslich lebten wir in Köln, und in wenigen Monaten musste der Karneval
ausbrechen und uns zwingen, wochenlang zuhause zu bleiben, abgesehen von der Zeit, die
man mit Arbeit im Büro verbringt. Aber vormittags, wenn man ins Büro eilt und am frühen
Abend, wenn man über die Rheinbrücke zurückkommt, gerade zu diesen Zeiten schlafen die
Karnevalisten, und man bleibt, umsichtiges Verhalten vorausgesetzt, eigentlich unbehelligt.
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Eine Verwechslung
Es ist immer ein grausiges Schauspiel zu beobachten, wie ein ganz und gar schöner Mensch
wie Lolita sich an einen hässlichen alten und verbitterten Mann wie Herrn Overath
verschwenden muss, nur weil in unserer Welt Frauen weniger gelten als Männer. Ich kniete
zwischen den Schenkeln der Marita, die auf der Kante meines Bettes sass und lachend auf
mich herunterblickte; den rechten Stiefel hatte ich ihr schon ausgezogen. "Du spinnst", rief
sie, und ich dachte: Und wenn sie jetzt Recht hat? Sie zündete sich eine neue Zigarette an.
"Was war denn das für ein Job gewesen?" fragte ich, absichtlich offen lassend, ob ich mich
nach Maritas früherer Berufstätigkeit erkundigte oder ob ich damit die Frage wieder aufnahm,
die mir eigentlich wichtig war: Was hat Lolita früher gemacht?
"Lolita", sagte Marita und blies mir eine Portion Zigarettenrauch ins Gesicht, "Lolita ist früher
medizinisch technische Assistentin gewesen."
"Was für eine Assistentin?"
"Medizinisch technische - im Labor: Blut, Schleim und Sperma - MTA ist sie gewesen."
"Ach so!" sagte ich, da mir dieser Beruf nun ganz unbedeutend vorkam, "Und wie ist sie an
den Overath geraten?"
"Eine Verwechslung."
Es ist ja auch egal, was Lolita früher gemacht hat, selbst dass Herr Overath jetzt dichtete, es
war nicht wichtig für mich. Nur mit dem Wort Ururenkel aus seinem Gedicht hatte ich
gewisse Schwierigkeiten, ich bin immer schon aus Überzeugung kinderlos gewesen, und
"Enkel...", versuchte er zu erklären.
"Wo ist er denn, der Sohn?" fragte von hinten eine Stimme, und es wurde dreckig gelacht.
"Und die Tochter kriegt ja auch nur ein implantiertes Leih-Kind, oder wie das jetzt heisst.
Zählen die Kinder dieser Kinder eigentlich als Enkel? Oder nur als Erben?"
Die Heiterkeit nahm beängstigende Züge an. Glücklicherweise betraten einige Kunden die
Bar, ängstlich blickende Gestalten, wahrscheinlich Touristen, und laute Musik setzte ein. Das
Stroboskop-Licht donnerte los, ich flüchtete mich in den Flur, der zu den Toiletten führt.
Durch den Türrahmen sah ich drei Damen den Tanztisch erklimmen, und sie begannen sofort
im Takt der Musik zu tanzen. Herr Overath kam hinter mir hergerannt und packte mich am
Kragen, "Enkel", schrie er. Er drückte mich in die Ecke, meine Schulter rammte schmerzhaft
den Zigarettenautomaten. Dann liess er mich los und verschwand im Bar-Raum. Ich blieb
stehen, um das Ende der Darbietung abzuwarten, die ich jetzt wieder durch den Türrahmen
sehen konnte. Die Wellen im Wasser der Themse, kleine aggressive Ausbrüche einer
unsichtbaren Kraft, waren mir bedrohlich erschienen. Selbst ein guter Schwimmer wie ich
würde sich in diesem Fluss nicht lange über Wasser halten können. Ich habe dann auch gar
nicht versucht in der Themse zu schwimmen. Die Anzeichen dieser bedrohlichen Kraft
genügten mir, und es sind auch schon Leute in diesem Wasser verschwunden:
Die Natur, wovon es herkommt, nimmts auch wieder.
Abstrakt, sehr abstrakt - denn eigentlich hätte ich es verstanden, wenn Herr Overath mir aufs
Maul gehauen hätte - ich war darauf vorbereitet zurückzuschlagen. Jetzt aber stand ich allein
im Flur zur Toilette und traute mich nicht heraus, weil ich Angst vor dem blitzenden Licht
hatte. Im Türrahmen sah ich die unteren Hälften der drei Damen, die auf dem Tisch tanzten.
Sie machten rhythmische Bewegungen, sie schmissen die Beine, die in Stiefeln steckten. "Die
zieh ich dir nachher aus", dachte ich, denn die angebliche Erotik von Damenbeinen in Stiefeln
habe ich nie zu würdigen vermocht. Für mich ist es eine Erleichterung, wenn die Stiefel weg
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sind und zartes Menschenfleisch in Erscheinung tritt. Die drei Damen umkreisten jetzt die
vertikale Stange, kreiselten mit kleinen Trippelschritten aussen herum, und ich stellte mir vor,
wie die oberen Hälften der Damen sich mit jeweils einer Hand an der Stange hielten und den
freien Arm in die Luft streckten. Dann hörte die Bewegung auf, vom Tonband kam Stille.
Zwei der Damen gingen in die Knie, erschienen dergestalt komplett im Ausschnitt des
Türrahmens, wandten mir den Rücken zu und grüssten jetzt hinüber zu dem Tisch, wo die
traurigen Touristen sassen, und von wo dünner und doch frenetisch übertriebener Beifall
erscholl. Die Musik setzte wieder ein, und ich sah wieder nur Beine, sechs Beine. Ich war im
scheinbar dunklen Flur dem Stroboskop-Licht immer noch zu stark ausgesetzt, und jetzt kam,
genau in dem Moment, da meine Schwäche am grössten war, schon wieder Herr Overath auf
mich zu, und ich war auf nichts vorbereitet, sondern mein ganzes ZNS, so schien es mir,
zuckte im rücksichtslosen Rhythmus des Lichts.
"ZNS heisst zentrales Nervensystem", sagte ich zu ihm, verzagt piepsend. Er sah mich an und
brummte gutmütig, "Ressentiment und Raisonnement", antwortete er und nickte bedeutend
mit dem Kopf.
Ich schloss die Augen, und sofort ging es mir besser.
"Woher kennen Sie eigentlich Lolita?"
"Ich sah sie am Bahnhof. Ich sah sie zunächst nur von hinten und hielt sie für meine Tochter eine Verwechslung."
Ich riss die Augen auf, denn eine so klare Auskunft hatte ich nicht erwartet. Ich musste die
Augen allerdings gleich wieder schliessen.
"Ich war wiederum unterwegs gewesen, um nach Saskia zu suchen."
Wiederum.
"Das Kind verkauft sonst eine Niere", hatte Margarethe zu ihm gesagt, und da musste er sich
gleich auf die Suche machen. Nachdem er durch die Kneipen der Altstadt gezogen war, wo er
sich manche Grobheit anhören musste, war er schliesslich am Hauptbahnhof gelandet, und da
sah er sie von hinten, als sie gerade den Bahnsteig elf betrat. "Saskia, Kind!" hatte er gesagt,
und die so angesprochene Lolita hatte sich umgedreht, hatte wohl nicht genau verstanden,
denn im Umdrehen lächelte sie.
"Ja?"
Lolita hatte ihn angesehen, als ob sie auf etwas wartete.
"Wollten Sie mit dieser Bahn fahren?
"Kann schon sein."
"Jetzt haben Sie sie wegen mir verpasst."
"Es wird schon irgendwann mal eine andere fahren."
"Darf ich Sie jetzt zum Essen einladen?"
"Wenn Sie das möchten, warum nicht."
So war Herr Overath an diesem Abend mit Lolita zum Essen gegangen anstatt weiter seine
Tochter zu suchen, und er hatte auch die Nacht nicht bei Margarethe in der kleinen Villa
verbracht.
Dorietta kam vorbei, eine der Tänzerinnen: "Na, ihr beiden Hübschen." sprach sie und
zwängte sich im engen Flur an uns vorbei. "Zwei Sekt!" antwortete Herr Overath , denn die
Tänzerinnen, wenn sie nicht gerade tanzten, mussten auch kellnern. So stand ich ihm also mit
einem Glas Sekt in der Hand gegenüber, während er mir von seiner ersten Nacht mit Lolita
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erzählte, Bier wäre mir lieber gewesen. Aber es kam dann gleich darauf Marita zu mir und
trank mein Glas leer. Obgleich er nicht mehr mein Chef war, hatte er immer noch die
Angewohnheit mir Ratschläge zu erteilen. "Bei mir lernst du Sachen, die du sonst nicht
lernst." Mir war es recht, man liebt zwar seinen Mentor nicht, aber von seinem Wissen
profitiert man gerne.
"Ich habe etwas ganz ähnliches in der Sendung Familienglück gesehen. Schreiben Sie da rein,
was Sie selbst erlebt haben?"
"Ach was: selbst erlebt. Heutzutage erlebt kein Mensch mehr was, die Zeiten sind vorbei. Wir
erleben das, was alle erleben, steigen in ein Auto wie die Dame aus der Auto-Werbung,
trinken einen Kaffee wie die Dame aus der Kaffee-Werbung, gründen eine Familie und bauen
ein Haus wie der Mann aus der Werbung der Bausparkasse. "
"Auch wieder wahr", antwortete ich, da ich ihm nicht glaubte; denn ich hielt mich damals für
die allerindividuellste Individualität. Lolita kam hinzu und trank das Sektglas von Herrn
Overath aus, meins war ja schon leer.
"Wie gesagt", begann er wieder zu sprechen, brach aber gleich darauf ab, da Lolita sich auf
die Zehenspitzen stellte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. "Aber ja. mein Kind", antwortete er
und liess sich von ihr wegführen. Er drehte sich im Gehen noch einmal zu mir um und rief mir
zu: "Wir sind Zweit-Verwerter, allemal Zweit-Verwerter".
Ich nahm mir vor das zu notieren.
Overath hat Lolita am Bahnhof kennengelernt. Weiss ich doch, maulte Marita. Er hat sie dann
gleich zum Essen eingeladen. (Ach ja? Das hatte Marita noch nicht gewusst.) Lolita hatte
Hunger gehabt. Sie hatte den Job als Tänzerin da gerade erst angefangen gehabt. Vorher war
sie Laborgehilfin gewesen, wie man weiss. Marita fasst mich am Arm. Zwei leere Sektgläser
standen auf dem gelblich beigen Zigarettenautomaten. Der Flur war schwach beleuchtet.
Damen, Herren, Privat. Wir gingen durch die Tür, durch deren Rahmen ich gerade noch die
Tänzerinnen gesehen hatte. Marita hatte jetzt eine Jacke und eine Hose an, die Stiefel trug sie
auch in ihrer Freizeit. Während wir durch die Tür den Raum betraten, Marita hatte mich am
Arm gefasst, sah ich die trübsinnigen Touristen an ihrem Tische sitzen, vor ihren fast
geleerten Gläsern. Niemand kümmerte sich um sie, die diensthabende Kellnerin hatte
wahrscheinlich bemerkt, aus diesen geduckten Gestalten ist kein Geld mehr herauszuholen.
Die Getränkepreise waren hier ganz beachtlich, ein Aushang, der als Getränkekarte
bezeichnet wurde, wies draussen am Eingang darauf hin. Oder kann es sein, dachte ich, dass
Marita mich so am Arm hält, um ihren Besitzanspruch anzudeuten? Ich weiss noch etwas über
Lolita, sagte sie da, und so musste ich sie wieder mit zu mir nachhause nehmen.
Die Frau Overath hat mal eine Aussprache mit Lolita gehabt.
"Glauben Sie denn, Kindchen, ich will den wiederhaben? Glauben Sie denn, ich beneide Sie
darum, dass Sie jetzt mit dem Fritz zusammen sind? Ich kenne ihn doch. Ich weiss doch, wie
er ist. Was er für Sachen sagt, wenn der Tag lang ist, deswegen ist er doch als Journalist
immer drittklassig geblieben: Unser christliches Menschenbild, Leistung muss sich wieder
lohnen, Esst Brezeln...", Margarethe lacht schrill. Sie ist jetzt sehr erregt, und die kleine Lolita
ist viel zu sehr eingeschüchtert um zu bemerken, dass Margarethe ihren Fritz sehr wohl
wiederhaben möchte, was ja auch ihr gutes Recht ist. Sie hat viel verloren in der letzten Zeit:
der Sohn ist weg, die Tochter verschwindet Stück für Stück, und jetzt ist auch noch der Mann
weg, eigentlich ein Nichts, aber wenn er weg ist, dann fehlt er eben doch. Sie fuchtelt mit der
linken Hand über ihrem Kopf herum, wie sie es bei TKW gesehen hat. Lolita heult: "Aber
Frau Overath. Es war doch nicht so gemeint!"
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"Nicht so gemeint!" kreischt da die Overath, aber weil Lolita so herzzereissend weint,
verstummt sie gleich wieder. "Wir Frauen müssen jetzt zusammenhalten", sagt sie dann ganz
sinnlos, und die kleine Lolita nickt eifrig mit dem Kopf, schnieft durch die Nase und sagt brav
"Ja".
Die kleine Hure, aber Frau Overath verbietet sich diesen Gedanken sofort. Wir haben es
damals eben leichter gehabt. Wir hatten es nicht nötig, und wir hatten ja auch gar nicht die
Gelegenheit. Und Fritz hat sich doch sogar mit Haut und Haaren an die Bäcker-Innung
verkauft. Jetzt soll er ja rausgeflogen sein, so etwas spricht sich unter den Kollegen schnell
herum. Ist ausgeschrieben, der Overath, so sagt man, ist ausgequetscht wie eine alte Zitrone
und hat jetzt den goldenen Handschlag erhalten. (Obwohl: so einen vorteilhaften Vertrag hatte
der nicht; die sind den billig losgeworden.)
Margarethe steht auf. "Nur den Mut nicht verlieren, Kindchen."
"Ja, Frau Overath" antwortet die junge Frau. In diesem Momente mag es gewesen sein, dass
Margarethe beschlossen hat, dem Fritz doch noch Gelegenheit zu einer Aussprache zu geben,
falls er sie anruft. Weiss man, wer es ist, der handelt? Man weiss es nicht. Der Mann mit der
auffallend jungen Begleiterin, die Frau aus der Villa, mehr weiss man nicht - und sehr viel
mehr wissen die Leute oft selbst nicht. Das Projekt, die Menschen von ihren eigenen
Gedanken und Gefühlen zu trennen, es ist erfolgreich. Man setzt die Leute vor das
Fernsehgerät, da können sie Geist und Herz mit fremden Geschichten und Gefühlen im
Leerlauf beschäftigen. Es sind nicht nur die Jugendlichen, es sind auch die Erwachsenen, die
denken: So müsste es sein, so müsste man sein, wie in der Sendung, das Leben wäre leicht
und heiter. Und wenn es doch mal Tränen gibt, wir schaffen das. Wir kriegen das in den Griff.
Theodora Katharina Wesseling denkt sowieso, sie ist was sie spielt, und vielleicht ist sie das.
Vielleicht ist es das, was ihr ihre berühmte Aura von Authentizität verleiht, die sie so berühmt
gemacht hat. Dazu kommt jetzt noch ein kleines Augenzwinkern: Ganz so wie im Film ist es
natürlich doch nicht. So bekommt das Publikum Gelegenheit sich zu sagen: Ganz so wie im
Film ist es natürlich doch nicht, wir sind ja nicht blöd. Das Fernsehen ist keineswegs nur
deshalb interessant, weil es so geistlos ist. Es ist auch deshalb so beliebt, weil es diesen
wohltuenden Stillstand des Geistes erzeugt, um den sich viele Meditationssysteme,
Wunderheiler und Doktoren vergeblich bemühen. Es verbindet das Angenehme mit dem
Nützlichen. Es infiltriert die Köpfe mit der von oben angeordneten Ideologie, und es sorgt
dafür, dass die Leute zuhause bleiben, anstatt auf den Strassen für Unruhe zu sorgen. Alle die
breiten Strassen und voluminösen Plätze in den Städten, die man als Aufmarschgebiet und
Bereitstellungsraum für Polizei und Militär angelegt hat, sie werden nicht mehr gebraucht.
Das Fernsehen reguliert jetzt die Menschen: Alle bleiben sie abends zuhause, viele Millionen
versammeln sich zu ein und demselben Zweck, sekundengenau gleichgeschaltet, alle mit
denselben Gedanken, atmen sie alle im gleichen Rhythmus - gewaltige geistige Energien
werden hier gebündelt.
So sind alle sehr zufrieden, weil niemand ganz bei sich selbst ist, und vielleicht sind wir auch
einfach zu viele Menschen, als dass jeder seine eigene Individualität haben könnte. Wir leben
im Zeitalter der Statistik, das gilt selbst noch für eine seriöse Wissenschaft wie die Physik.
Die Menschen sind auch nur Tiere, einzig die angeborene Lebensfreude hält sie aufrecht.
Dass das Hirn dabei nach Sinn verlangt, hat damit nichts zu tun. Nur die Geschichten haben
Sinn.
Als Beispiel folgende kleine Geschichte:
Es waren einmal drei Freunde, drei Masseinheiten, nennen wir sie Meter, Kilogramm und
Sekunde. Zusammen machten sie sich anheischig, die Gesetzmässigkeiten der unbelebten
Natur zu erforschen, zu messen, zahlenmässig zu erfassen und auszuwerten, und dadurch in
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gewisser Weise auch zu erklären. Lange Zeit konnte man sich nicht einigen, ob ihre
gemeinsame Geschichte die Überschrift Chemie oder Physik tragen sollte.
Die Geschichten erzeugen Sinn, und sie erzeugen Gruppen von Menschen -: man gehört dazu
oder man gehört nicht dazu.
Margarethe war sehr nachdenklich nach ihrer Unterredung mit Lolita. Millionen von FernsehZuschauerinnen und Zuschauern konnten es einige Wochen später in einer Folge der FernsehSerie Familienglück bemerken, die von der Kritik einhellig als nachdenklich bezeichnet
wurde. "Darf ich denn von meinem Fritz verlangen, dass er auf sein Lebensglück mit Lolita
verzichtet? Er leidet so unter seiner Entlassung. Die ewigen Geschichten mit den Kindern, es
ist alles meine Schuld." Unsere Welt ist nämlich so organisiert, dass immer die Männchen
sich wohlfühlen sollen. Seltsamerweise sind die aber besonders unglücklich.
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Die Fabrik
Und auch Margarethe, wenn sie die Drehbücher schreibt, allein, da der Gatte nicht mehr bei
ihr ist, denkt sich wahrscheinlich: im Grunde schreibe ich nur auf, was ich selbst erlebe, was
TKW erlebt (man müsste sich endlich einmal auf eine Tasse Kaffee treffen und sich mal so
richtig aussprechen), was nämlich alle Frauen einer gewissen Gesellschaftsschicht erleben:
modern aber nicht zu modern. Wenn z.B. die Tochter einen Job als Leihmutter annehmen
wollte, dann müsste man es ihr verbieten. Wenn der eigene Mann mit einer jungen Tänzerin
ankommen würde, dann müsste man ihn rausschmeissen. Hier zögert sie beim Schreiben: Es
ist wahr, den Fritz hat sie rausgeschmissen und bereut es schon, aber die Tochter hat sie nicht
gut im Griff, und das wird sie auch noch bereuen. Überhaupt: Das ganze Drehbuchschreiben
ist für eine einzelne Person zu viel, und so kam Margarethe auf den Gedanken eine
Drehbuchfabrik zu eröffnen. Sie selbst schrieb die grossen Linien der Familiengeschichte, und
sie bezahlte eine Anzahl Schreiberlinge, welche dann die Details ausführten. So kam es, dass
sie an mich herantrat, und ich einen Nebenjob begann: Ich schrieb die Skripte für die
Aussenaufnahmen, Dialoge im fahrenden Auto. Sie kannte mich ja noch aus der Zeit, als ich
bei ihrem Gatten in der Backblüte gearbeitet hatte, und sie wusste nichts von meiner überaus
kritischen Distanz zum Fernsehen.
"Schreiben Sie bitte so, dass der Zuschauer sich wiedererkennt."
"Jawohl, Frau Overath."
"Kennen Sie übrigens meine Tochter?
"Saskia? Eigentlich nur flüchtig. Sie war ein paar mal in der Redaktion."
Ich wartete, ob sich daraus eine dienstliche Anweisung bezüglich des zu schreibenden Dialogs
ergeben würde, aber sie schwieg, und ich zog mich zurück.
Innerlich frohlockte ich. Jetzt konnte ich nicht nur Fritz aushorchen sondern auch seine Frau.
Ich verheimlichte ihm daher meinen neuen Job, als wir uns einige Tage später in der Bar zur
Roten Lola trafen. Er sah verändert aus. Zwar trug er noch den blauen Pullover und die
braunen Cordhosen, aber er war nicht rasiert. Ich dachte: Der langsame Zusammenbruch der
Persönlichkeit hat begonnen und ist in vollem Gange. Wenn er an der Bar sass und brav
wartete, dass Lolita ihn nach ihrem Dienst auf dem Table-Dance-Tisch mit nachhause nimmt,
wenn er noch das eine oder andere Bier trank, wenn er auf das Fernsehgerät starrte wie das
Kaninchen auf die Schlange, falls nämlich Familienglück gegeben wurde, dann konnte ich es
mir kaum noch vorstellen, dass das einst mein allmächtiger Chef bei der Backblüte gewesen
war, mein geistiger Führer, der mich sogar vor den Angriffen des Bäcker-Innungs-Meisters zu
schützen vermocht hatte. Nun nurmehr ein Schatten seiner selbst, ein Bier nach dem anderen.
Früher hatte ich ihn anders gekannt. Ich und die ganze Branche, denn so etwas spricht sich
rum, dafür ist man Journalist. Eigentlich war er ein angenehmer Chef gewesen, aber das fiel
mir erst später auf, nachdem ich andere Chefs gekannt hatte. So wie er mich jetzt immer mit
hineinzog in die Bar zu Lolita und Marita, hatte er mich früher auch mehrmals mit genommen
in die Villa zu Frau und Tochter, auch wenn nicht alle Aufenthalte für mich angenehm
verlaufen waren. Beim Chef auf dem Sofa sitzen zu müssen, kann auch als Belastung
empfunden werden. Das Sofa war altdeutsch geformt, ebenso der Schrank, dem die Getränke
entnommen wurden, und das ganze Mobiliar: ein kleines rundes Tischchen mit Leselampe,
ein Klavier, auf dem geschlossenen Deckel stapelten sich die Zeitungen. Durch eine breite
Doppeltür sah man das Arbeitszimmer, ein Bücherschrank nahm die ganze Wand ein. Ich
starrte verlegen auf den Perserteppich, und wusste nicht, was soll ich sagen zum Chef, bin ich
hier im Dienst, oder bin ich hier privat? Nach einigen Glas Cognac, die mir grosszügig
eingeschenkt wurden, beschloss ich, ich bin hier als Privatmann. Später kam die Gattin hinzu,
Margarethe.
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"Margarethe, das ist mein Volontär."
"Ich habe schon viel von Ihnen gehört."
"Hoffentlich nur Gutes."
Die Gattin wirkte eleganter als er. Er hatte für gewöhnlich einen blauen Pullover und eine
braune Cordhose an, wollte vielleicht dergestalt andeuten, dass er beruflich so weit
aufgestiegen war, er war ja jetzt Chefredakteur, dass er sich um die Kleidervorschriften nicht
mehr zu kümmern brauchte.
"Wissen Sie", sagte er mir im dezenten Abendlicht, das aus dem Garten hereinleuchtete, "wir
schreiben für den Leser. Uns selbst muss es ja nicht gefallen." Die Gattin war da anderer
Ansicht. Sie schrieb in ihre Drehbücher genau das hinein, was sie selbst gern erlebt hätte.
"Ich schreibe nur, was ich gut finde."
Oft schrieb sie gar nicht selbst, sie liess schreiben, Herr Overath sass dann den ganzen Abend
im Büro und ich konnte nicht an die Schreibmaschine.
"Wissen Sie", sagte er zu mir, er duzte mich neuerdings meistens, aber nicht immer, und ich
hatte mich an dieses Phänomen schnell gewöhnt, "Der Leser muss es lesen."
"Wer sonst?" Ich hatte mir nun einmal vorgenommen die Geschichte der Familie Overath
aufzuzeichnen, weil sie mir typisch erschien für den Zustand unserer Gesellschaft.
Geschichten, die typisch sind, gibt es viele.
Manchmal wenn ich glaube; Ich habe Cantors Diagonalverfahren verstanden; Und ich mache
mir klar; Alles das ist willkürlich gemacht. Es hat mit der Wirklichkeit einzig deshalb zu tun;
Weil wir auch sie nur mit unserem Geist erfassen; Und ist es denn unser Geist; Oder ist es
Geist, an dem wir Anteil haben. Und nicht einmal das; Der Cantor; Zeigt doch. Es ist ganz
anders; Als man denkt.
Marita lachte unbändig und strampelte mit den Beinen. Endlich hatte ich ihr beide Stiefel
ausgezogen.
"Bist du Masochist?"
"Nein."
"Bist du Fetischist?"
"Nein."
"Bist du Sadist?"
"Ja."
"Dann komm."
Ich kam, und Marita kam auch, oder zumindest kam es mir damals so vor. Schwer zu
beurteilen. Eigentlich, wenn ich ganz ehrlich gewesen wäre, wovor ich mich aber wohl hütete,
beneidete ich Fritz um Lolita. Sie, weil für mich unerreichbar, war mein Idol. Marita hingegen
konnte sehr anstrengend sein.
"An was denkst du?"
"An Lolita."
"Warum?"
"Wegen Herrn Overath."
"Was geht’s dich an?"
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"Nichts"
"Na also?"
"Er ist immer mein berufliches Vorbild gewesen. Und wenn er jetzt so scheitert, so
...ruhmlos... Was soll dann erst aus mir werden?"
Marita nahm zwei Zigaretten aus der Schachtel, eine bekam ich, damals haben noch alle
Menschen geraucht. Ich lag auf dem Rücken und rauchte. Ich sagte:
"Ich habe jetzt einen Nebenjob."
"So so", Maritas Stimme klang jetzt sehr laut und deutlich, "Kannst den Kanal nicht
vollkriegen. Je mehr Jobs du hast," sie verstellt ihre Stimme zu einem verzagten Piepsen,
"Was soll aus mir werden? Wenn schon Overath seinen Job verliert... einbüsst, wie soll ich
sagen." Sie machte eine Geste über ihrem Kopf, so wie sie es im Fernsehen gesehen hatte. Sie
stützte sich auf die Ellenbogen, Kinn in den Händen, und schob sich ein Stück näher an mich
heran.
"Vielleicht ist es ja genau der Job von dem Overath, den du jetzt hast?"
Ich richtete mich auf, drehte Marita auf den Rücken und berührte mit dem Zeigefinger ihre
Nasenspitze.
"Es ist sein Job."
"Aber das ist doch wunderbar", Marita schüttelte mich ab, lief zum Kühlschrank und kam mit
einer Flasche Sekt zurück.
"Prösterchen!"
"Na ja - Prosit. Übrigens wollte ich dich bitten, das nicht weiter zu erzählen.
"Na klar, Schatzi."
Als ich am nächsten Abend in die Bar kam, nach schwerem und aufreibenden Dienst, wusste
Herr Overath es schon. Er gratulierte mir und gab mir einige wertvolle Ratschläge.
"Wo kommt denn der Sekt her?" hatte ich Marita gefragt, Bier wäre mir lieber gewesen.
"Den habe ich mitgebracht für besondere Anlässe."
Herr Overath drehte sich auf seinem Barhocker zu mir herum und fasste mich streng ins
Auge:
"Vor allem, denk immer daran: Der Leser muss es lesen."
"Aber Herr Overath , es sind Drehbücher. Die Schauspieler müssen es lesen, der Regisseur
muss es lesen, der Produzent muss es lesen."
"Der Produzent, das ist dein Leser. Denk immer an den Produzenten."
"Tu ich ja."
Eine Erinnerung kam mir in den Sinn: Marita hatte in den Stiefeln keine Strümpfe angehabt.
Ich nahm mir vor sie zu fragen, ob das nicht unbequem ist.
"Die Produzenten - immer haben sie Sonderwünsche, immer wollen sie Produktionskosten
einsparen." Er gab mir noch einige Tips, die ich zu beherzigen versprach.
An diesem Tag hatte ich im Dienst, - denn ein gutes Tabu erkennt man daran, dass es gar
nicht als solches erkannt wird. Ich hatte mich Marita gegenüber nur deshalb als Sadisten
bezeichnet, weil mir schien, als Sadist hat man immer noch das beste Ansehen unter allen
Perversen. Abgesehen davon ist es mir immer so vorgekommen, als wäre jede echte
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Perversion ein Einzelfall. Aber das bildet man sich ja gerne ein. An diesen Tag hatte ich im
Dienst nicht viel Freude gehabt.
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