Die Gesellschaftliche Konstruktion der Region Benno Werlen Jena Wir leben heute – im letzten Jahr des 20. Jh. – unter Bedingungen, die erstmalig sind in der Menschheitsgeschichte. Wir leben eine sich rasant verändernde Welt, die alle immer wieder verunsichert. Wir leben die Risikogesellschaft. Verunsicherung provoziert in aller Regel die Suche nach Identität. Wer solche versprechen kann, hat unter solchen Bedingungen gute Erfolgschancen. Doch diese spät-moderne Welt eröffnet den meisten Personen auch ein größeres Möglichkeitsfeld der persönlichen Lebensgestaltung als je zuvor. Ungewißheit und Wahlmöglichkeiten sind als Ausdruck und Bedingung desselben Phänomens deutbar: der Globalisierung der Lebensbezüge beinahe aller Menschen. Selbst wenn alle Menschen ihr Alltagsleben körperlich ausschließlich in einem lokalen Kontext verbringen, ist unser Leben in globale Prozesse eingebettet. Man kann von einer Dialektik des Globalen und Regionalen sprechen: Globales hängt von lokalen Handlungen der Subjekte ab und regionale Bedingungen des Handelns sind von globalen Phänomenen durchdrungen. Die Begriffe ”Globalisierung” und ”Regionalisierung” sind in den letzten Jahren zu politischen Schlagworten geworden. Mit ihnen werden die verschiedensten Arten von Verheißungen, Bedrohungen und Forderungen in Verbindung gebracht. Nicht selten sind die widersprüchlichsten Rechtfertigungsmuster politischer Praxis an diese neuen Fahnenwörter gekoppelt. Aber die Häufigkeit ihrer Verwendung vermag nicht über die geringe Geklärtheit hinwegzutäuschen. Was ist eigentlich ”Globalisierung”? Und was kann unter Bedingungen der Globalisierung ”Regionalisierung” heißen? So wie ich das sehe, kann man beispielsweise die politische Forderung nach ”Flexibilisierung” oder ”Deregulierung” als Ruf nach neuen Formen der Regionalisierung – im Rahmen des Globalisierungsprozesses – interpretieren. Bleibt diese Forderung allerdings allein auf die Vorstellung des Primates des Wirtschaftlichen bezogen, dann kommt das erstens einer drastischen Verkennung der sozial-kulturellen Bedingungen des Wirtschaftens gleich. Zweitens aber auch einer Blindheit der –1– ”Kulturalisierung” des Wirtschaftens im Rahmen der Globalisierung. Die Globalisierung unseres Lebens verlangt insgesamt nach einem radikalen Überdenken der Verhältnisse von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dimensionen auf lokaler und regionaler Ebene. Um das besser verständlich zu machen, sind zuerst die drei Hauptbegriffe ”Globalisierung”, ”Identität” und ”Regionalisierung” zu erschließen. Zuerst will ich mich den sozial-kulturellen Voraussetzungen der Globalisierung zuwenden. 1 Entankerungsmechanismen der Gesellschaft Beschäftigt man sich heute auf wissenschaftlicher oder politischer Ebene mit Regionalisierungen, dann wird rasch klar, daß überkommene regionale Ordnungen des Lebens problematisch geworden sind. Das hat insbesondere damit zu tun, daß moderne, im Vergleich zu traditionellen Lebensformen nicht mehr so eng mit den räumlichen Gegebenheiten gekoppelt sind. Traditionelle Formen zeitlicher Stabilität und räumlicher Kammerung des Gesellschaftlichen sind in Auflösung begriffen. Das ist nicht nur eine Konsequenz der Globalisierung. Diese Prozesse sind vielmehr auch an dieselben Bedingungen gebunden, welche auch die Globalisierung ermöglichen. Die Globalisierung wird besser verständlich, wenn man sie umfassend als Konsequenz der Moderne, der Aufklärung also, auffaßt. Prä-moderne Lebensformen waren in räumlicher Hinsicht primär auf den regionalen Maßstab beschränkt und zeitlich äußerst stabil. Begreift man, weshalb prä-moderne Lebensformen primär lokaler Art waren, dann wird auch erkenntlich, was die Besonderheiten moderner und spät-moderner Lebensformen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht sind. Vor diesem Hintergrund möchte ich traditionelle und spät-moderne Lebensformen in bezug auf ihre zeitlichen und räumlichen Besonderheiten kurz charakterisieren. Die Stabilität traditioneller Lebensformen in zeitlicher Hinsicht ist in der Dominanz der Traditionen begründet. Traditionen verknüpfen die Vergangenheit mit der Gegenwart und bilden die zentralen Orientierungs- sowie Rechtfertigungsinstanzen traditioneller Alltagspraxis. Sie setzen individuellen Entscheidungen einen engen Rahmen. Soziale Beziehungen sind vorwiegend durch Verwandtschafts-, Stammes- oder Standesverhältnisse geregelt. Je nach Herkunft, Alter und Geschlecht werden den einzelnen Personen klare Positionen zugewiesen. –2– Zeitliche und räumliche Aspekte traditioneller Lebensformen 1 Traditionen verknüpfen Vergangenheit und Zukunft 2 Verwandtschaftsbeziehungen organisieren und stabilisieren soziale Bande in zeitlicher Hinsicht 3 Herkunft, Alter und Geschlecht bestimmen soziale Positionen 4 Face-to-face Situationen prägen die Kommunikation 5 Geringe interregionale Kommunikation 6 Die lokale Dorf bildet den vertrauten Lebenskontext Traditionelle Lebensformen sind räumlich und zeitlich ”verankert” Die räumliche Abgegrenztheit, die Verankerung in räumlicher Hinsicht ergibt sich aus dem technischen Stand der Fortbewegungsmittel und der Kommunikation. Die Vorherrschaft des Fußmarsches und die geringe Bedeutung der Schrift führen zur Beschränkung der kulturellen und sozialen Ausdrucksformen auf den lokalen und regionalen Maßstab. Face-to-face Interaktionen sind die dominierende Kommunikationssituation. Die Wirtschaftsformen sind – aufgrund des technischen Standes der Arbeitsgeräte – an die natürlichen Bedingungen angepaßt. In der Alltagspraxis sind zudem räumliche, zeitliche sowie sozial-kulturelle Komponenten auf engste Weise verknüpft. Gemäß traditioneller Muster ist es nicht nur bedeutsam, gewisse Tätigkeiten zu einer bestimmten Zeit zu verrichten, sondern auch an einem bestimmten Ort und gelegentlich sogar mit einer bestimmten räumlichen Ausrichtung. So werden soziale Regelungen und Orientierungsmuster in ausgeprägtem Maße über raum-zeitliche Festlegungen reproduziert und durchgesetzt. Das beste Beispiel dafür sind wohl religiöse Kultstätten. Dort kann man sogar sagen, wer eine bestimmte Stelle unerlaubterweise betrete, der entweihe den Ort. ”Raum” und ”Zeit” sind derart mit fixen sozial-kulturellen Bedeutungen aufgefüllt. Sie scheinen den Dingen eingeschrieben und im Territorium verankert zu sein. Völkische Blut- und Bodendiskurse postulieren sogar, die sogenannte Volkskultur sei als Ausdruck des Boden zu verstehen: ”Wie die Quelle von dem Boden, auf der sie sich sammelte, Bestantheile (sic.), Wirkungskräfte und Geschmack annimmt: so entsprang der alte Charakter der Völker aus (...) der Himmelsgegend” (Herder, 1877, 84). –3– Diese zeitliche und räumliche Verankerung ist bei spät-modernen Lebensweisen nicht mehr gegeben. Traditionen sind nicht mehr die zentralen Orientierungsinstanzen. Soziale Orientierungen und Handlungspraktiken haben vielmehr diskursiver Begründung und Legitimation standzuhalten. Spät-moderne Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsbereiche sind in räumlicher und zeitlicher Hinsicht entankert. Zeitliche und räumliche Aspekte spät-moderner Lebensformen 1 Alltägliche Routinen erhalten die Seinsgewißheit 2 Global auftretende Generationskulturen, Lebensformen und -stile 3 Produktion und bewertete Leistung bestimmen soziale Positionen 4 Abstrakte Systeme (wie [Plastik-]Geld, Schrift und Expertensysteme) ermöglichen mediatisierte Beziehungen über große Distanzen hinweg 5 Weltweite Kommunikationssysteme 6 Das globale Dorf ist der weitgehend anonyme Erfahrungskontext Spät-moderne Lebensformen sind räumlich und zeitlich ”entankert” In zeitlicher Hinsicht sind spät-moderne Handlungspraktiken nicht durch lokale Traditionen fixiert. Vielmehr erhalten alltägliche Routinen das Vertrauen in die Welt. Individuellen Entscheidungen ist ein weiter Rahmen abgesteckt. Soziale Beziehungen sind kaum mehr über Verwandtschaftssysteme geregelt. Vielmehr sind erstmals global auftretende Generationskulturen, Lebensformen und -stile beobachtbar. Soziale Positionen werden in Produktionsprozessen erworben. Sie sind nicht strikte an Alter und sollten, gemäß den Prinzipien der Moderne, nicht an das Geschlecht gebunden sein. In räumlicher Hinsicht sind die engen Kammerungen in vielerlei Hinsicht aufgehoben. Die wichtigsten Entankerungsmechanismen sind Geld, Schrift und technische Artefakte. Fortbewegungsmittel ermöglichen ein Höchstmaß an Mobilität. Individuelle Fortbewegungs- und weiträumige Niederlassungsfreiheit implizieren eine Durchmischung verschiedenster – ehemals lokaler – Kulturen auf engstem Raum. Diese Durchmischung ist gepaart mit globalen Kommunikationssystemen. Sie ermöglichen eine Informationsverbreitung und -lagerung, die nicht an räumliche Anwesenheit gebunden ist. Face-to-face Interaktionen sind – wie Konferenzen, Tagungen usw, zeigen –4– – zwar nicht inexistent. Doch der größte Teil der Kommunikationsanteile ist mediatisiert. Räumliche und zeitliche Dimensionen sind demgemäß von fixen Bedeutungen getrennt. Sie werden in einzelnen Handlungen von den Subjekten immer wieder neu kombiniert und mit spezifischen Bedeutungen verknüpft. Das ”Wann” und ”Wo” sozialer Aktivitäten ist Gegenstand von Absprachen und nicht bereits apriori an feste Tätigkeitsinhalte gebunden. An die Stelle von traditionellen Fixierungen treten rationale, institutionelle Regelungen. Raum- und Regionalplanung sind beispielsweise Ausdruck davon. Räumliche wie zeitliche Dimensionen sind dabei nicht inhaltsbestimmende, sondern nur mehr formale Aspekte menschlicher Tätigkeiten. Das erst ermöglicht die standardisierte Metrisier- und Kalkulierbarkeit der Ausdehnung materieller Gegebenheiten und der Abfolge von Ereignissen. Beide bilden den Kern der Rationalisierung globalisierter Lebenswelten. 2 Globalisierte Lebensformen Globalisierung ist in diesem Sinne zuerst einmal als Konsequenz der Entankerung, als Ausdruck der Entankerungsmechanismen zu verstehen. Diese eröffnen den handelnden Subjekten jene Wahlmöglichkeiten, die eingangs angesprochen wurden. Unter ”Globalisierung” ist aber nicht eine eigene Wirklichkeitsphäre mit bestimmten, dem Hegelschen Weltgeist ähnlichen Handlungsfähigkeiten zu verstehen. Sie ist somit kein Prozeß, der den Subjekten und deren Handeln etwas Äußeres ist. Sie ist auch kein Phänomen, das nur außerhalb der Region angesiedelt ist. ”Globalisierung” ist vielmehr in das Handeln lokal situierter Subjekte eingelassen. Damit ist gemeint, daß unter spätmodernen Lebensverhältnissen die lokalen Bedingungen des Handelns von globalisierten Phänomenen durchdrungen sind. ”Globalisierung” im allgemeineren Sinne bezeichnet das Potential und die Faktizität eines bisher nie erreichten räumlichen und zeitlichen Ausgreifens sozialer Beziehungen, deren Bedingungen und Folgen. Handeln über Distanz und die allgemeine Verfügbarkeit ehemals nur lokal bekannter Wissensbestände sind dabei zwei besonders wichtige Aspekte. Der Kernaspekt von ”Globalisierung” ist dementsprechend in der beinahe ortsunabhängigen Verfügbarmachung von Informationen in sozialer Gleichzeitigkeit zu sehen. Lokales menschliches Handeln ist gleichzeitig durch Handlungsweisen an weitentfernten Orten mitbestimmt. –5– ”Globalisierung” ist in diesem Sinne in der äußerst intensiven und umfassenden Verwiesenheit des Handelns lokal situierter Subjekte über weitentfernte und nur mediatisiert aktuell werdende Bedingungen und Konsequenzen des Handelns begründet. So werden etwa für lokale Produzenten plötzlich Anbieter zu Konkurrenten, die bisher nur auf weitentfernten Märkten aktiv waren. Das verändert die lokalen Produktionsbedingungen an beiden Standorten. Damit hängt beispielsweise die Kulturalisierung des Wirtschaftens zusammen. Denn die subjektiv konstituierten spät-modernen Lebensformen, als Ausdruck subjektiver Entscheidungen, haben global differenzierenden Einfluß auf die Nachfrage. Um erfolgreich sein zu können, bleibt lokal situierten Produzenten nichts anderes übrig, auf globalisierte kulturelle Ausdruckformen der subjektiven Lebensstile einzugehen. ”Globalisierung” ist aber nicht nur ökonomischer Art, sondern immer multidimensional zu verstehen. Sie umfaßt die verschiedensten Bereiche des Handelns und die verschiedensten Wirklichkeitsdimensionen. Die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche und -dimensionen des Handelns treten dabei auch in neue Beziehungsverhältnisse. Die wichtigsten neu abzustimmenden Bereiche sind wohl Ökonomie, Territorialkontrolle und Kultur. 3 Identität, Regionalismus und regionale Identität Unter der Globalisierung der Lebensbedingungen gewinnt ”Identität” an Bedeutung. Man kann davon ausgehen, daß die Entankerungsmechanismen, welche den Spielraum der persönlichen Wahlmöglichkeiten wesentlich erhöhen, auf persönlicher Ebene gleichzeitig zu Verunsicherungen führen können. Und genau unter diesen Bedingungen werden in bestimmten Kreisen wieder erfolgreich stabilisierende Identitäten im Stile von regionalen oder nationalen Identitäten propagiert. Diese These dürfte verständlicher werde, wenn ich kurz erörtere, was man unter Identität verstehen kann. Der Satz der Identität lautet gemäß der traditionellen Formel ”A=A”. Der Unterschied von ”Identität” zur bloßen Tautologie besteht darin, daß von ”Identität” dann gesprochen werden kann, wenn prinzipiell die Möglichkeit zur Differenz besteht. ”Identität” bezieht sich demzufolge auf mindestens zwei Gegebenheiten, die grundsätzlich verschieden sein könnten aber nicht verschieden sind. –6– Dementsprechend wird Identität ohne potentielle Differenz kaum wahrgenommen. Erst mit zunehmender Möglichkeit der Differenz ist Identität erkennbar. Deshalb wird ”Identität” erst in modernen Gesellschaften und Kulturen thematisiert, nicht aber in traditionellen. Da ”Identität” erst mit wachsender Differenz wahrnehmbar ist, wird auch verständlich, weshalb unter der Bedingung der Globalisierung Identitätsfragen besonders oft gestellt werden. Echte ”Identität” ist aber nur zwischen ontologisch gleichartigen Gegebenheiten möglich. Das bringen die differenzierenden Formulierungen wie ”persönliche”, ”soziale” oder ”kulturelle Identität” zum Ausdruck. Solange im Sinne traditioneller Lebensformen Gesellschaften und Kulturen klare regionale Kammerungen aufweisen, können ”soziale”, ”kulturelle” und ”regionale Identität” durchgehende Parallelitäten aufweisen. Sobald aber Entankerungsmechanismen wirksam werden, sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Demgemäß wird es unter spät-modernen Lebensbedingungen im Prinzip immer fragwürdiger, nach Identitäten zwischen physisch-materiell begrenzten Regionen und kulturellen oder emotionalen Gegebenheiten Ausschau zu halten. Trotzdem gibt es zahlreiche Handlungs- und Argumentationsweisen, die diese Unterscheidungen mißachten. Der Regionalismus ist eine Form davon, in der diese Mißachtung sogar strategisch eingesetzt wird. Die identitätsstiftende Komponente regionalistischer und (völkisch-)nationalistischer Argumentation ist in der holistischen Ausrichtung ”Volk” begründet. In der holistischen Konstruktion ”Volk” verschwinden einerseits soziale Unterschiede weitgehend und andererseits wird eine Zugehörigkeit vorgetäuscht. Und diese soziale ”Einebnung” hat damit zu tun, daß nicht soziale Kategorien zur Charakterisierung von Regionen und Territorien verwendet werden, sondern umgekehrt: Räumliche Kategorien werden zur sozialen Typisierung und der Konstruktion einer gesellschaftlichen Totalität verwendet. Diese Raum-Gesellschafts-Kombination läßt eine regionale Bevölkerung als ein Individuum mit klar begrenzbarem Korpus (Territorium, Region) erscheinen. Das Materielle wird zur identitätsstiftenden Instanz. Was im allgemeinen mit ”regionale Identität” bezeichnet wird, ist in gewisser Hinsicht eine Voraussetzung dafür, daß Personen auf regionalistische Argumentationsmuster ansprechen. Regionalistische Argumentationsmuster selbst können aber auch dazu beitragen, daß das Verlangen nach ”Identität” mit ”Region” zusammengebracht wird. –7– Die Frage ist dann aber, welche Art von Identität damit gemeint sein kann und worauf diese sich richtet. Der Ausdruck ”regionale Identität” weist meist darauf hin, daß man sich mit der Herkunftsregion oder dem aktuellen regionalen Lebenskontext ”identifiziert”. Dabei fällt auf, daß der Referenzgegenstand der Identität oder Identifikation recht vage bis völlig unbestimmt bleibt. Erst bei genauerer Betrachtung wird offensichtlich, daß sich ”Identität” nicht auf eine ”Region” per se – d.h. auf eine rein erdoberflächliche Gegebenheit – beziehen kann. Dieses Problem wird in der Alltagssprache und in territorial-politischen Diskursen damit überwunden, daß man ”Region”/”Raum” vergegenständlicht und so verwendet, als ob es sich dabei um eine klar identifizierbare Gegebenheit handeln würde: Man wird Teil eines räumlichen oder regionalen Korpus. Trotz dieser Basis bleibt der Hinweis auf eine regionale Identität in mehrfacher Hinsicht diffus. Denn es bleibt ungeklärt, mit welchen Aspekten von ”Region” man überhaupt Identität aufweisen kann. Strenggenommen können nur rein materielle Gegebenheiten erdoberflächlich regionalisiert werden, nicht aber symbolische subjektive oder sozialkulturelle Gegebenheiten. Entscheidend ist nun aber, daß alle Bedeutungen materieller ”Vehikel” bedürfen, die sie symbolisieren. Dieses Verhältnis zwischen Bedeutung und materiellen Bedeutungsträgern wird aber im regionalistischen Kontext meist mittels der angesprochenen Vergegenständlichungen überspielt. Diese Überspielbemühungen führen zu der oft beobachteten ”dunstigen Klarheit” im Bedeutungsfeld von ”regionaler Identität”: alle Aspekte subjektiver und sozial-kultureller Wirklichkeiten werden dabei für gleichmäßig erdräumlich abbildbar gehalten. Die unmittelbare und deterministische Kombination von ”Raum”, ”Region”, ”Gesellschaft” und ”Identität” ist jedenfalls – wie der Balkankonflikt der letzten Jahre zeigte und aktuell im Kosovo wieder zeigt – höchst problematisch. Der Kernpunkt der Problematik liegt bei genauerer Betrachtung in der Gleichsetzung von ”Bedeutung” und ”Vehikel”. Man hält das Vehikel der Bedeutungsrepräsentation für die Bedeutung selbst. Häufig wird die symbolische Bedeutung nicht bloß für eine materielle Entität gehalten, sondern es wird darüber hinaus (zumindest auf implizite Weise) sogar behauptet, daß die wahre ”materialisierte” symbolische Bedeutung und Identität, wesentlich durch die materielle Grundlage selbst produziert wird. Diese Konstruktion hat bestenfalls im Rahmen eines Weltbildes traditioneller Lebensformen eine gewisse Plausibilität. –8– Genauer betrachtet ist aber ”regionale Identität” keinesfalls ein territorial lokalisierbares und verteidigungsbares Phänomen, sondern vieleher eine Bewußtseinstatsache. Sie bezieht sich auf die Vorstellung und das Wissen um jene sozial-kulturellen Eigenschaften, über die einzelne Personen jener regionalen Lebensgemeinschaft verfügen, als deren Mitglied sie sich (mindestens zu bestimmten Zeitpunkten und im Hinblick auf bestimmte Interessen) fühlen. Man kann somit sagen, daß es sich ihr um eine regional differenzierte ”kollektive Identität” handelt. Selbst wenn bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer regional differenzierten kollektiven Identität Denkmäler, historische Schauplätze als Zeugen einer gemeinsamen Geschichte, Ortsbezeichnungen usw. als Vehikel des gemeinsamen Erinnerns usw. eine wichtige Rolle spielen können, ist dies aber nicht Grund genug, um auf undifferenzierte Weise von einer ”Zugehörigkeit zu einem bestimmten Raum” (Blotevogel et al, 1986, 104) zu sprechen, die dann letztlich sogar als Legitimation des Ausschlusses oder gar der Vertreibung anderer verwendet werden kann. 4 Region und alltägliche Regionalisierung Sowie die kollektive regionale Identität unter entankerten Lebensbedingungen im Testfall kaum auffindbar ist, werden auch die allumfassenden wissenschaftlichen und politischen Regionalisierungen problematisch. Die territoriale Organisation der Nationalstaaten ist stark mit der Sozialontologie des 19. Jahrhunderts verbunden. Solange die traditionellen Verankerungen noch in hohem Maße wirksam waren, blieb auch die durchgängige territoriale Organisation des Gesellschaftlichen wirkungsvoll. Im Rahmen globalisierter Lebensverhältnisse ist ”Regionalisierung” zu einer der großen Herausforderungen der Gegenwart geworden. Da die verschiedenen gesellschaftlichen Wirklichkeitsdimensionen nicht mehr räumlich und zeitlich verankert sind, stellt sich die zentrale Frage nach dem territorialen Verhältnis von wirtschaftlichen, politischen und informativen Bereichen. Dabei geht es um eine Abstimmung in dem Sinne, daß eine optimale Kompatibilität der verschiedenen Lebens- und Handlungsbereiche derart erzielt wird, daß sie ein möglichst geringes Konfliktpotential aufweisen. Es geht hier nicht darum, hier einen konkreten Abstimmungsvorschlag zu wagen. Vielmehr möchte ich abschließend andeuten, welche Wirklichkeitsdimensionen wie betrachtet werden könnten. dieser Vorschlag impliziert vor allem ein neues Verständnis –9– von ”Regionalisierung”. Besteht die Kernidee traditioneller Auffassungen von ”Regionalisierung” in der räumlichen Ordnung oder Organisation der Gesellschaft durch Wissenschaftler oder im Rahmen administrativer Entscheidungen, dann drängt sich für entankerte Lebensbedingungen eine andere Perspektive auf. Hier stehen nicht mehr die räumlichen Kategorien im Vordergrund, sondern spezifische Lebensformen. Es geht also nicht primär um die Geographie der Dinge und deren räumlichen Ordnung, sondern es geht darum, zu fragen, wie die Subjekte unter entankerten Bedingungen alltäglich ”Geographie” machen. Zu fragen ist demzufolge, wie die Subjekte die Welt regionalisierend auf sich beziehen. Dabei können – im Sinne der alltagspraktischen Hierarchie und in der Reihenfolge abnehmender Koplexitätsstufen – folgende Typen alltäglicher Regionalisierungen unterschieden werden: Haupttypen und Unterbereiche alltäglicher Regionalisierungen HAUPTTYPEN UNTERBEREICHE ______________________________________________________________________ Geographien der Information INFORMATIV – SIGNIFIKATIV Geographien symbolischer Aneignung Geographien der normativen Aneignung NORMATIV – POLITISCH Geographien politischerKontrolle Geographien der Produktion PRODUKTIV – KONSUMTIV Geographien der Konsumtion ______________________________________________________________________ Ohne hier die auf vielfältigen gegenseitigen Bestimmungsverhältnisse eingehen zu können, aus denen sich schließlich komplexe Abstimmungsprobleme ergeben, will ich abschließend vielmehr einen Überblick über die genannten Bereiche vermitteln. Die Grundidee ist dabei, daß unter globalisierten Bedingungen zuerst wissenschaftlich zu erforschen ist, wie die Subjekte selbst die Welt regionalisierend auf sich beziehen, – 10 – bevor neue politische und administrative Territorialisierungen vorgeschlagen werden sollen. – 11 – Informativ-signifikative Regionalisierungen der Lebenswelt Der erste Haupttypus alltagsweltlicher Regionalisierung betrifft – gemäß dem Ordnungsprinzip ”abnehmende Komplexität” – informativ- signifikative Regionalisierungen der Lebenswelt. Der erste Unterbereich, der Analysebereich der ”alltäglichen Geographien der Informationsverbreitung”, betrifft die Generierung und Steuerung der potentiellen Informationsaneignung als Basis sinnhafter Deutungen der Wirklichkeit, die Voraussetzungen der Bedeutungskonstitutionen. Wie die phänomenologische Philosophie und die interpretativen Sozialwissenschaften eindrücklich zeigen können, sind die Arten der Bedeutungskonstitution vom jeweils verfügbaren Wissen abhängig. Was uns Dinge bedeuten, hängt von dem Wissen ab, über das wir verfügen, dem verfügbaren Wissensvorrat. Die Steuerung der Informations- und Wissensaneignung erfolgt mittels verschiedener Informationsmedien und -kanäle. Sie stellen hypothetisch wichtige Formen der informativen Regionalisierung der Lebenswelten dar. Der eine Steuerungstypus betrifft die schriftliche Form der Informationsverbreitung, mittels Bücher und verschiedener Presseerzeugnisse. Als zweiter Typus können Radio und Fernsehen und als dritter schließlich das Internet identifiziert werden. Dabei sollen vor allem die Verbreitungskreise, aber auch die allokativen und autoritativen Vermögensgrade der Kontrolle der verbreiteten Informationen im Zentrum stehen. Der zweite, der signifikative Bereich, betrifft die subjektiven Bedeutungszuweisungen zu bestimmten alltagsweltlichen Ausschnitten, häufig in Form emotionaler Bezüge. ”Heimatgefühl” und die bereits angesprochenen emotional aufgeladenen Formen von Regionalbewußtsein sowie nationalistische Interpretationen von territorialen Ausschnitten sind wohl die offensichtlichsten Formen derartiger Regionalisierungen. Doch auch zahlreiche anderen Formen sind für lebensweltliche Alltagspraxis von zentraler Bedeutung. Dafür möchte ich die Bezeichnung ”alltägliche Geographien symbolischer Aneignung” vorschlagen. Politisch-normative Regionalisierungen der Lebenswelt Zur Erforschung des normativen Bereichs alltagsweltlicher Regionalisierungen wird das Verhältnis von Normorientierung und Regionalisierung wichtig. Dabei handelt es sich um präskriptive, vorschreibende Regionalisierungen auf staatlicher wie auf privater – 12 – Ebene. Damit sind die zwei Subbereiche ”politisch-normativer Regionalisierungen” angedeutet. Politisch–normative Regionalisierungen der Lebenswelt implizieren präskriptive Regionalisierungen auf staatlicher, kommunaler wie privater Ebene. Der erste Unterbereich ist – im Sinne der Strukturationstheorie von Anthony Giddens (1988) – Ausdruck allokativer Ressourcen wie Eigentumsrechte. Sie sind auf die regionalisierende Festschreibung von Nutzungen materieller Gegebenheiten gerichtet, mit denen auch wirtschaftliche Ausschließungen verbunden sind. Diesen erste Teil nenne ich ”alltägliche Geographien der Allokation”. Ein wichtiger Themenbereich bildet hier das Verhältnis vom sogenannten öffentlichen Raum und den privaten Verfügungsbereichen. Die zweite ist politischer Art und ist auf die Regelung der Herrschaft über Personen ausgerichtet, den autoritativen Ressourcen. Damit verbundene soziale Ausschluß- und Einschließungsformen werden über territorial differenzierte soziale Definitionen von Handlungskontexten vollzogen. Geschlechtsspezifische Regionalisierungen der Alltagswelt sind Ausdruck und Bestandteil autoritativer Ressourcen des Handelns. Die wichtigste Form ist aber wohl die politische Regionalisierung im Sinne der nationalstaatlichen Organisation der Gesellschaft. Aber auch Untergliederungen auf unteren Ebenen wie Bundesländer und Gemeinden sind nicht zu vergessen. Dieser Programmteil heißt ”alltägliche Geographien autoritativer Kontrolle”. Kernthemen sind territoriale Überwachung der Mittel der Gewaltanwendung und Machtkontrolle sowie Territorialisierungen zur Aufrechterhaltung nationalen Rechts und politischer Ordnung. Produktive/konsumtive Regionalisierungen der Lebenswelt Der dritte Hauptbereich der alltagsweltlichen Regionalisierung des globalen Dorfes betrifft Produktion und Konsumtion. Die Regionalisierungen, die über den produktiven Bereich vollzogen werden, äußern sich am offensichtlichsten anhand von Standortentscheidungen und deren Verwirklichung als Produktions- und Verkehrseinrichtungen, den damit verbundenen Festlegungen der Aktionsräume und der Warenströme. Jede aktuelle Form des Geographie-Machens ist dabei immer mitbestimmt von früheren Standortentscheidungen anderer. Diesen ersten Programmteil nenne ich ”zweckrationale Geographien der Produktion”. – 13 – Aber nicht nur die Produzenten machen Geographie, sondern auch die Konsumenten. Diese Formen sind allerdings weit weniger offensichtlich. Doch mit dem Bedeutungsgewinn spät-moderner Entankerungsmechanismen steigt auch das Gestaltungs- und Regionalisierungspotential der Wirtschaftsgeographien durch die Konsumtion. Sie wird für die Strukturation weltwirtschaftlicher Tauschbeziehungen entscheidend. Lokaler Konsum hat Einfluß auf die lokalen Geographien der in die Produktion involvierten Subjekte an weit entfernten Orten. Dies ist Ausdruck der individuell gestalteten und in globale Prozesse eingebetteten Lebensstile. Dieser Aspekt soll ”Analysebereich alltäglicher Geographien der Konsumtion” heißen und ist auf die differenzierenden Einflüsse der verschiedenen Lebensstile auf die Warenströme zu zentrieren. Schluß Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch eine abschließende Bemerkung. Eine rationale Regionalisierungs- und Regionalpolitik, die auf die Verbesserung der Handlungschance der Subjekte und der regionalen Lebensbedingungen abzielt, bleibt auch unter globalisierten Bedingungen eine äußerst wichtige politische Aufgabe. Doch die regionalen Bedingungen haben sich über die Globalisierung verändert. Das muß jede Regionalisierungs- und Regionalpolitik der Zukunft zur Kenntnis nehmen. So wie es im Sinne von Julia Kristeva (1993) Nationen ohne demagogischen Nationalismus geben kann, soll auch eine rational-diskursive Regionalpolitik möglich sein. Ob dafür aber die Förderung des sogenannten Regionalbewußtseins sinnvoll und notwendig ist, scheint im Rahmen zunehmender Globalisierung eher fragwürdig zu sein. – 14 – Literatur Beck, U.: Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986 Blotevogel, H. H./Heinritz, G./Popp, H.: Regionalbewußtsein. Bemerkungen zum Leitbegriff einer Tagung. In: Berichte zur deutschen Landeskunde, 60. Jg., Heft 1, 1986, 103–114 Giddens, A.: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a. M. 1988 Giddens, A.: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a. M. 1995 Herder, J. G.: Sämtliche Werke, Bd. 5. Berlin 1877 Kristeva, J.: Nations without Nationalism. New York 1993 Werlen, B.: Kulturelle Identität zwischen Individualismus und Holismus. In: Sosoe, K.S. (Hrsg.): Identität: Evolution oder Differenz?/Identité: Evolution ou Différence? Fribourg 1989, 21–54 Werlen, B.: Identität und Raum – Regionalismus und Nationalismus. In: «Soziographie», Bd. 6, 1993c, S. 37–70 Werlen, B.: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Stuttgart 1995 Werlen, B.: Regionalismus: Eine anti-moderne Antwort auf die Konsequenzen der Moderne? In: Renner, E. (Hrsg.): Regionalismus. FWR-Publikationen, Bd. 30. St. Gallen 1996, 11–24 Werlen, B.: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 2: Globalisierung, Region und Regionalisierung. Stuttgart 1997a Werlen, B.: Gesellschaft, Handlung und Raum. Stuttgart 1997b (3. Auflage) Werlen, B.: «Regionalismus» in Wissenschaft und Alltag. In: Eisel, U./Schultz, H. D. (Hrsg.): Räumliche Anschauung und gesellschaftliche Wirklichkeit. Urbs et Regio, Bd. 75. Kassel 1997c, 299–328 – 15 –