Interview - Chance B

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10.01.2006 05:00
Die Jause als Rezept gegen die Unfähigkeit
Aus der Not behinderter Menschen entwickelte sich die Chance B. An ihrem Beispiel spiegelt sich die
Behindertenarbeit der letzten 20 Jahre.
ULLA PATZ
Tagsüber an den Heizkörper angebunden, nachts im Streckbett. Wurde der Zwölfjährige, nennen wir ihn
Martin, losgelassen, schlang er sein Essen in sich hinein und begann danach, alles um sich herum zu
zerstören. Bis er wieder angebunden wurde.
Das war 1986. Martin war schon Jahre lang in der Psychiatrie und seine Eltern verzweifelt. Sie wollten
diesen Zustand nicht länger hinnehmen und wandten sich an die Sonderschule in Gleisdorf. Sie und auch
andere Eltern wollten ihre behinderten Kinder zuhause haben. Das war die Geburtsstunde der Chance B
(B steht für die "zweite" Chance) in Gleisdorf, die heuer seit 20 Jahren arbeitet.
Franz Wolfmayr, heute einer der zwei Geschäftsführer der "Gesellschaft für Arbeit und Bildung der
Chance B GmbH", war von Anfang an mit dabei. Zunächst als Sonderschullehrer, der sich daran wagte,
dieses, sowie zwei andere schwer behinderte Kinder aufzunehmen.
Leben in der Psychiatrie
Die Sonderschule besuchten damals vorwiegend geistig behinderte Kinder oder solche mit
Lernschwächen. Der Großteil der behinderten Kinder aber lebte in der Psychiatrie oder zuhause. "Die
Unterschiede zwischen den Kindern zuhause und in der Psychiatrie waren ursprünglich gar nicht so
groß", sagt Wolfmayr, "erst die Jahre in der geschlossenen Anstalt machten ihn aus."
Eltern hätten damals gar keine anderen Möglichkeiten als die Psychiatrie für ihre Kinder gesehen. Damals
war die "Schulunfähigkeit" noch gesetzlich verankert. "Viele Eltern trauten sich nicht, gegen einen Primar
aufzutreten, wenn dieser sagte: ,Das Kind kommt in die Psychiatrie!' Andere ließen ihre Kinder zuhause.
Sie hatten Angst, wenn sie sich rührten, würde man ihnen die Kinder wegnehmen", erzählt Wolfmayr.
Und plötzlich gab es in der Gleisdorfer Sonderschule eine Chance für diese Kinder. Schule und
Schulbehörde standen hinter diesem Schulversuch. "Wir mussten umdenken", erinnert sich Wolfmayr.
Wir mussten erforschen, wie Kinder lernen." Den Begriff "Schulunfähigkeit" definierten die Gleisdorfer
um: als Unfähigkeit der Schule, mit solchen Kindern zu arbeiten.
Das war die Geburtsstunde der "Jausenpädagogik". Wolfmayr: "Essen war für alle Kinder wichtig und
rund um dieses Thema konnte man viel lernen: Was wird gegessen, wer kocht, kauft ein, wer wird zum
Essen eingeladen, wie wird gekocht, damit es schmeckt. Das zu lernen war für die Kinder selbst wichtig,
denn alle wollten gut essen."
Diese Phase prägte die spätere Arbeit der Chance B in der Problembearbeitung: Beschreibung des
Problemes, Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen, Ausprobieren und sich gesetzlich absichern.
Harter Beginn
Die Anfänge jedoch waren hart. Etwa mit Martin. "Wenn er seine Anfälle hatte, musste ich ihn oft zwei,
drei Stunden lang festhalten, um die anderen Kinder und ihn vor sich selbst zu schützen. Er hat das
akzeptiert, wir haben gewartet, bis er selbst gemeint hat, es gehe nun wieder." Später kamen die Lehrer
dahinter, dass diese "Anfälle" immer etwa zum gleichen Zeitpunkt passierten.
Bis man dahinter kam, dass der Bub müde war. Martin hatte nicht gelernt, mit diesem Bedürfnis
umzugehen. Ein Bett, am Flohmarkt gekauft, schuf Abhilfe. Bald aber stellte sich die Frage: Was tun
diese Kinder nach der Schule? "Daraus hat sich dann der Rest entwickelt", sagt Wolfmayr. Der "Rest"
sind Schulungsangebote und Strategien, behinderte Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Selbstständiges Leben
1990 wurde eine Arbeitsassistenz geschaffen, vom Verein über Kredite finanziert. Man begann mit der
mobilen Therapie, der Frühförderung. Die Philosophie dahinter war und ist, behinderten Menschen und
ihren Familien die Möglichkeit zu schaffen, zuhause zu bleiben und, so möglich, selbstständig zu arbeiten
und zu leben.
2005 feierte Chance B 15 volle Jahre Bestand. Denn auch wenn der Verein schon 1986 gegründet wurde,
"voll gestartet sind wir erst Jahre später", sagt Wolfmayr. Heute ermöglicht die Organisation mehr als
1200 Menschen, zuhause zu leben.
Für Martin kam dies allerdings zu spät. Während er auf einen Wohnplatz wartete, lebte er wieder in der
Psychiatrie. Er starb an Flüssigkeitsmangel
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