Eine salutogenetische Betrachtung des Autismus zum 30jährigen Bestehen des Autismus-Therapiezentrums Osnabrück am 11. November 2011 im Kreishaus Osnabrück Eckhard Schiffer, Quakenbrück Überarbeitetes Manuskript des Vortrages Meine sehr geehrten Damen und Herren, zunächst den Geburtstagskindern meinen allerherzlichsten Glückwunsch zum 30jährigen Bestehen des Autismus-Therapiezentrums und viele gute Wünsche für ein weiteres Gelingen Ihrer so bedeutsamen und verantwortungsvollen Arbeit ! Zu solch einem Jubiläum gehört sowohl die rückwärts als auch nach vorn gewandte Betrachtung. Es war schon sehr eindrucksvoll, was sich dabei in dem vorausgegangenen Beitrag an Entwicklung und weiteren Perspektiven verdeutlichte.Noch eine kurze Vorbemerkung zu meinem Referat jetzt. Es kann mir nicht darum gehen, „ultimative“ Therapieverfahren bei Autismus zu vermitteln. Es geht mir vielmehr darum, den „roten Faden Salutogenese“ in den ungewöhnlichen und komplexen Begegnungsmustern in der Welt des Autismus aufschimmern zu lassen. Dieser rote Faden verweist auf die provozierende Aussage Antonovskys, dass in jedem Menschen, solange er lebt, noch ein Stück Gesundheit sei, das es zu entdecken gelte. Meinen salutogenetischen Betrachtungen stelle ich - auch mit einem Blick zurück einen kurzen Abriss meiner persönlichen Erfahrungen mit vier Jahrzehnten Konzept- und Therapietheorie-Geschichte im sozio-psycho-somatischen Feld voran. Es geht dabei um die Schlussfolgerungen, die daraus gezogen werden können gerade auch im Umgang mit autistischen Menschen. Das Salutogenesekonzept lässt nach den Bedingungen der Möglichkeit von Gesundheit fragen. Damit wird im Folgenden nach der Möglichkeit von Gesundheit in der Welt des Autismus gefragt. Gesundheit ist allerdings weit mehr noch als Krankheit dem Zugriff despotischer Deutungsansprüche ausgesetzt. Aber: wenn 1 Gesundheit als Schatzsuche verstanden werden mag, dann gilt es zu berücksichtigen, dass der Suchende ganz plötzlich ohne zwingende Vorgaben erkennen kann: „das, was ich jetzt gefunden habe, ist der Schatz.“ Und der Weg, den ich als Suchender beschritten habe gehört zum Schatz mit dazu. Der Blick zurück also als Hilfe, das zumindest optionale Eigenverständnis von Gesundheit als eine notwendige Bedingung von Gesundheit nicht aus den Augen zu verlieren. Ich hoffe, noch verdeutlichen zu können, dass dies insbesondere in der Welt des Autismus von großer Bedeutung ist. Vor vierzig Jahren begann ich mit meiner Fachweiterbildung hier ganz in der Nähe im Westfälischen Landeskrankenhaus Lengerich. Es war die Zeit der sozialpsychiatrischen Aufbruchstimmung. Die Lengericher Klinik gehörte damals schon zu den Vorreitern in diesem Aufbruch. Für die jüngeren Assistenzärztinnen und –ärzte hieß das vor allem: Abschaffung der Hierarchie, Entmächtigung der Institution und Auflösung der „Schlangengruben“. Schlangengruben waren Bettensäle mit bis zu fünfzig Betten. In diesen Sälen verbrachten viele Patienten ihr Leben tagein, tagaus, sofern sie nicht in irgendeiner Form in eine Arbeitstherapie außerhalb dieser Säle eingebunden waren. Der ärztliche Direktor des Landeskrankenhauses ließ zum Entsetzen seiner altgedienten Abteilungsleiter die „Jungen Wilden“ gewähren. Mit unorthodoxen Therapiemethoden und Umgangsformen versuchten wir die verkrusteten Strukturen zu sprengen – einschließlich der Gitter vor den Fenstern. Ich selber organisierte Gesprächsgruppen von Bürgern und Psychiatriebetroffenen. Dies geschah auch zur Vermittlung von einem (durch Laien) „Betreuten Wohnen“ von Patienten - nach deren Entlassung - in gemischten Wohngemeinschaften. Das waren Wohngemeinschaften, in denen engagierte Laien wie auch Patienten zusammen lebten. Ebenso setzte ich nach Absprache mit meiner Frau depressive und suchtkranke Patientinnen als Babysitter für unseren Sohn ein. Als ich nach einem Jahr die Klinik wechselte, um – wie schon vor meinem Eintritt in die Klinik vereinbart – einen der damals noch sehr seltenen Ausbildungsplätze in stationärer Psychotherapie wahrnehmen zu können, sagte mir ein Langzeitpatient sinngemäß: „Sie haben hier für uns soviel getan und jetzt gehen Sie einfach weg und lassen uns allein. Das ist kein guter Umgang mit Patienten.“ Es half mir nicht der Hinweis darauf, dass ich meinte, schon zu Beginn meiner Tätigkeit klargemacht zu haben, in der Klinik nur für ein Jahr zu bleiben. 2 Mit einem reichlich schlechten Gewissen ging ich also an meine neue Klinik, in der ich mich nach einer Woche gleich heftig mit dem Chef anlegte. Dieser hatte sich in einer Konferenz nach meinem Dafürhalten reichlich abfällig über Gruppentherapie und Verhaltenstherapie geäußert. Genau das waren aber meine therapeutischen Verfahren, die ich in Lengerich gelernt und angewendet hatte. Ich rechnete mit meinem fristlosen Rausschmiss innerhalb der Probezeit, wurde aber zu meiner großen Überraschung als Fachobmann für zukünftige Gruppen- und Verhaltenstherapie eingesetzt. In dieser Zeit erlebte ich dann auch die Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der neu aufgekommenen Verhaltenstherapie und den damals schon eher etablierten analytischen Psychotherapeuten. Als unwissenschaftlich bezeichneten die Verhaltenstherapeuten das Vorgehen ihrer tiefenpsychologisch orientierten Kollegen, diese schlugen wacker zurück und bezichtigten die Verhaltenstherapeuten, nicht den Unterschied zwischen Menschen und Ratten in ihren Therapien zu berücksichtigen. Ich achtete seinerzeit sehr darauf, nicht hintereinanderweg Bücher oder Aufsätze zu lesen, in denen die jeweils gegenteilige Meinung vertreten wurde. Zu oft beschlich mich dann bei der aktuellen Lektüre das Gefühl, dass ich mich zuvor nur mit Blödsinn beschäftigt hätte. Späterhin änderte sich das. Ich versuchte zusammen mit einer Kollegin in einem wissenschaftlichen Aufsatz die Gleichberechtigung sowie auch die mögliche Synergie beider Therapieansätze aufzuzeigen.1 Die von mir eingangs erwähnte Sozialpsychiatrie, die auf eine Veränderung der Herrschaftsstrukturen innerhalb der Psychiatrie bzw. im Umgang mit Psychiatriepatienten zielte, verkam nach dem Urteil ihrer Kritiker zu einer „Sozialtechnologie“. Sozialpsychiater verhielten sich, so die Kritik, eher wie „SozialIngenieure“ oder wie Vermittler beim Arbeitsamt, denen jede politische Dimension fern sei. Zwar gab es auch noch eine kleine politisch aktive Bewegung innerhalb der Sozialpsychiatrie. Diese radikalisierte sich jedoch zunehmend mit ihren Aktionen, die dann, wie bei dem „Sozialistische Patientenkollektiv Heidelberg“, schließlich auch in politisch motivierte Terrorakte einmünden konnten. Politische Willkür- und Terrorakte wurden als heilsam propagiert. „Erst muss die Gesellschaft gesunden, dann können auch die Menschen in ihr gesunden“ lautete die Legitimation dazu. Mit der weiteren Differenzierung und vergleichsweise besseren Verträglichkeit der neueren Psychopharmaka sowie dem zunehmenden Wissen über die 1 Schiffer, E. u. A. Schlarmann-Korte (1980):Überlegungen zur Integration lerntheoretischer und tiefenpsychologischer Therapieformen. Psychther. Psychosom. Medizin. Psychol., 30, 113-120 3 Funktionsweise von Neurotransmittern entwickelte sich die so genannte biologische Psychiatrie. Unterstützung fand diese zusätzlich durch die Visualisierbarkeit von Hirnprozessen über moderne Hirnscanner. Die biologische Psychiatrie ist jetzt wohl die dominierenden Sichtweise innerhalb der Psychiatrie. Deren Kritiker wiederum bemängeln das starre Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen Arzt und Patienten. Es fehle die intersubjektive Beziehungsorientierung bei gleichzeitiger Festschreibung autokratischer Ordnungs- und Verordnungsstrukturen. „Die Einführung des Subjektes in die Biologie“, wie sie Viktor von Weizsäcker schon in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts postulierte, wurde nach meinem Eindruck in den letzten vierzig Jahren immer wieder zur Nebensache. Oder sie war von wissenschaftlichen Entäußerungen im Sinne eines Machtanspruches auf Deutungshoheiten überlagert. Viel zu selten kam da einer – wie mein Patient in Lengerich – der dann fragte: „Was machst du da eigentlich?“ Es war dann Aaron Antonovsky, der in seiner bescheidenen und zurückhaltenden Art mit seinem Salutogenese-Konzept teils implizit die Frage stellte: „Was macht ihr da in der Medizin eigentlich?“ Antonovsky stellte nicht die Erfolge der zeitgenössischen Medizin in Abrede, verwies aber darauf, dass diese mit ihrem Pathogenese-Konzept ausschließlich danach fragte, was den Menschen krank mache. Vergessen werde darüber nachzufragen, was den Menschen denn gesund mache bzw. gesund erhalte. Eben diese Blickrichtung wollte er mit dem Salutogenese-Konzept vermitteln. (salus: lateinisch Gesundheit, Heil; Genese: griech. Entstehung). In dem Salutogenese-Konzept ist das Kohärenzgefühl die entscheidende Grundlage von Gesundheit. Kohärenz kommt aus dem Lateinischen und das bedeutet zunächst Zusammenhang. Im Hinblick auf unser Thema ist damit soviel wie ein Gefühl des Zusammenhaltes zu verstehen: einen eigenen inneren Halt spüren und in anderen einen Halt finden, sich innerlich und/oder äußerlich getragen, gehalten erfahren und dabei sich auch selber innerlich und äußerlich Halt verschaffen können. Das Kohärenzgefühl schließt so auch ein lebensbejahendes Selbstwertgefühl und ein „sich stimmig Fühlen“ mit ein. Ebenso schließt es Vertrauen und lebensbejahende Zuversicht mit ein. Diese gründen darin, dass das Leben als sinnvoll erscheint. Wie Viktor von Weizsäcker verweist Antonovsky jedoch ausdrücklich darauf, dass es im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit notwendig sei, das Bewusstsein vom Tod in das persönliche Lebenskonzept mit einzubeziehen. (Dies auch in Unterscheidung zum 4 Pathogenese-Konzept, in dem der Tod nur als bedauerlicher Betriebsunfall erscheint.) Das Kohärenzgefühl basiert auf den inneren und äußeren Ressourcen, die mobilisiert werden können. Die äußeren Ressourcen können mit viel Geduld und langem Atem auf Dauer teilweise auch verinnerlicht werden. (Das sage ich jetzt schon, damit sie mir nicht gleich bei der weiteren Vorstellung des Kohärenzgefühles ihre Aufmerksamkeit aufkündigen.) Zum Kohärenzgefühl gehört auch ein starkes Hoffnungsmoment. Es ermöglicht eine verminderte Lebensangst und mehr Gelassenheit bei Belastungen. Gemeint ist ein Hoffnungsmoment im Sinne einer impliziten docta spes („belehrte Hoffnung“). Ernst Bloch2 hat diese Hoffnung mit ihrer auf Veränderung zielenden Kraft in Unterscheidung zu Illusion sehr eindrucksvoll beschrieben. Vielleicht haben Sie gerade, als Sie das hörten, den Gedanken gehabt: „Genau damit ist es doch bei autistischen Menschen sehr oft schlecht bestellt – was soll das ganze mit dem Kohärenzgefühl ?!“. Wohl wahr . Denn, wenn wir davon ausgehen, (vermutlich auch ausgehen müssen,) dass die Beeinträchtigungen in den exekutiven Funktionen (komplexe Vorhaben über mehrere Schritte - und auch Hindernisse hinweg - planen und umsetzen) und in der Mentalisierungsfähigkeit ( Gefühle, Gedanken, Absichten, Meinungen usw. bei einem Du voraussetzen und erfassen können, ebenso die Reaktion des Du auf das eigene Verhalten) etwas mit einer organisch unterlegten Störung insbesondere im Präfrontalhirn zu tun haben mögen, dann mag es erst einmal mit dem Kohärenzgefühl schlecht bestellt sein. Die gilt um so mehr, als die zum Kohärenzgefühl dazugehörigen Kognitionen unter den Kategorien Verstehbarkeit meiner Welt, Handhabbarkeit der mir gestellten Aufgaben und Sinnhaftigkeit meines Daseins in dieser Welt subsumiert werden. Jedoch: ich wies eben darauf hin, dass sich in das Kohärenzgefühl auch bedeutsame externe Ressourcen einspeisen können. Hierzu gleich eine kleine hilfreiche Geschichte. In dieser geht es zwar nicht um Autismus, aber um notwendige externe Ressourcen für das Kohärenzgefühl. Huckleberry Finn ist in Mark Twains Geschichten um Tom Sawyer der Bürgerschreck – faul, verwahrlost, ohne festen Wohnsitz; der Vater ein gewalttätiger Säufer, von der Mutter ist schon gar nicht mehr die Rede. Nach unseren heutigen Vorstellungen wäre 2 Bloch, E. (1959/1986): Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 5 demnach Huckleberry Finn hochgradig gefährdet. Offensichtlich kommt der Huck jedoch gut über die Runden. Der Leser sympathisiert mit ihm, die Geschichten laden ein, sich mit Huck zu identifizieren. Bild 1 Auf der Flucht vor seinem eigenen Vater, der ihm nach dem Leben trachtet, trifft Huck den entflohenen Sklaven Jim. Beide müssen um ihr Leben fürchten. Das Floß, das sie finden und mit dem sie auf dem Mississippistrom flussabwärts flüchten, wird zu ihrem Freiraum und Fluchtort. Unser Text knüpft an eine Passage an, innerhalb derer sie an einer geschützten Uferstelle Halt machen, um in einer Höhle auf einem offenen Feuer ihr Mittagessen zu bereiten: „Wir nahmen noch’n paar Fische von den Haken, die inzwischen angebissen hatten und warfen die Angelschnüre wieder aus. Dann machten wir alles zum Mittagessen (in unserer Höhle) fertig (...) Sehr bald wurde es dunkel, und es fing an zu donnern und zu blitzen. (...) Gleich hinterher fing es an zu regnen, und bald goss es wie mit Eimern. Und der Wind heulte, wie ich’s noch nie gehört hatte. Es war ein richtiges Sommergewitter. Es wurde so duster, dass draußen alles wie in Tinte getaucht aussah (...). Und dann ein Blitz... helles, goldenes Licht und man konnte für einen Moment Baumkronen erkennen, die ganz weit weg waren. ‘Jim, ist das nicht schön?’ fragte ich. ‘Ich möchte nirgendwo anders sein als hier. Gib mir noch mal’n Stück Fisch und ‘nen heißen Maiskuchen.’ “ Auf dem Bild zu dieser Textpassage aus dem „Huckleberry Finn“ fühlen sich die beiden offensichtlich wohl. Ihnen schmeckt es ausgezeichnet, obwohl ihr Mahl Fisch und Maiskuchen - verhältnismäßig bescheiden ist und draußen die Welt unterzugehen scheint. Die beiden haben augenscheinlich keine Angst, fühlen sich in ihrer Freundschaft gut aufgehoben und geborgen. Und eben diese Freundschaft ist es, die in ihrem sonst eher einsamen Leben Sinn stiftet. Zusammen fühlen sie sich stark, zusammen meistern sie die Anforderungen, die die Wildnis und der Strom Mississippi mit all den dazugehörigen Gefahren an sie stellen... 6 Huck hat trotz seiner chaotisch-traumatischen Bindungserfahrungen ein ausreichendes Kohärenzgefühl! Er kannte sich in dem Urwald und auf dem Mississippistrom aus, ebenso mit dem Wetter (Verstehbarkeit). Und er wusste, wie man preisgünstig ein Floß organisiert, ein Feuer macht, das nicht zu viel Rauch entwickelt und wie man Fische fängt und brät (Handhabbarkeit). Es war gewissermaßen sein Spezialwissen, das als Ressource in sein Kohärenzgefühl mit einging. Das Wichtigste für Huckleberry Finn war aber die Sinnhaftigkeit, die er in den gegenwärtigen Beziehungen zu seinen Freunden, insbesondere zu seinem Freund Jim erlebte und auf die er existentiell angewiesen war. Ohne seine Freunde und ohne seine gewohnte Umgebung wäre sein Kohärenzgefühl zusammengebrochen. Daher tat er das für sich selbst einzig Sinnvolle, als wohlmeinende Mitmenschen ihn zur Schule brachten. Er sprang nämlich aus dem Schulfenster, um wieder zu den Quellen zu kommen, aus denen sich sein Kohärenzgefühl speiste. Andere Menschen, wie zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, haben im Unterschied zu Huckleberry schon in ihrer frühesten Kindheit viele gute Erfahrungen im Sinne von Lächeldialogen gemacht. Diese Erfahrungen werden zunächst als Urvertrauen verinnerlicht. Als gute, körpernahe Erinnerungen stellen sie auch die inneren Quellen dar, aus denen sich späterhin das Kohärenzgefühl speist. Mit diesen inneren Quellen (Ressourcen) kann das Kohärenzgefühl unter Belastungen auch in der Einsamkeit über einen längeren Zeitraum stabil bleiben. So schrieb Dietrich Bonhoeffer Weihnachten 1943 aus dem Gefängnis Tegel an seine Eltern: „Ich brauche Euch nicht zu sagen, wie groß meine Sehnsucht nach Freiheit und nach Euch allen ist. Aber Ihr habt uns durch Jahrzehnte hindurch so unvergleichlich schöne Weihnachten bereitet, dass die dankbare Erinnerung daran stark genug ist, um auch ein dunkleres Weihnachten zu überstrahlen. In solchen Zeiten erweist es sich eigentlich erst, was es bedeutet, eine Vergangenheit und ein inneres Erbe zu besitzen, das von dem Wandel der Zeiten und Zufälle unabhängig ist.“ 3 Bild 2 3 Leibholz-Bonhoeffer, S. (1971): Weihnachten im Hause Bonhoeffer. Wuppertal-Barmen: Johannes Kiefel. 7 Was Bonhoeffer inneres Erbe nennt, sind die verinnerlichten Kraftquellen oder Ressourcen, aus denen sich sein Kohärenzgefühl speist. Es sind gelungene Beziehungen, aus denen heraus das Kohärenzgefühl vorrangig entsteht. Bei den meisten Menschen speist es sich nun - dies im Unterschied zu Dietrich Bonhoeffers Inhaftierungszeit – sowohl aus verinnerlichten früheren als auch gegenwärtigen, d.h. aktuell noch äußeren, guten Beziehungserfahrungen. Das Kohärenzgefühl ist also nicht auf einen Einzelkämpferstatus abgestellt, sondern schließt menschliche Solidarität mit ein. Allerdings kann Solidarität sich als erschöpfbar erweisen. Insbesondere Zurückweisungen und Kränkungen können diese Hilfsquelle austrocknen lasssen - auch dann, wenn diese Zurückweisungen und Kränkungen für den, der sie realisiert, eine Schutzfunktion haben. Deswegen gilt für alle, die hautnah und auf Dauer mit autistischen Menschen zu tun haben – also insbesondere für Angehörige und Helfer - dass genauso auch deren Kohärenzgefühl einer Pflege bedarf. Das kann funktionieren, wenn das Gruppenkohärenzgefühl der Familie oder des Helferteams auf einem guten Niveau stabil bleibt. (Ich werde gleich darauf noch einmal zurückkommen.) Auch für die Verarbeitung starker Affekte bei sexuellen oder sexuell anmutenden Impulsen gegenüber Angehörigen und Mitarbeitern kann eine kohärente Gruppe sehr hilreich sein und eine Rückkehr zur Gelassenheit fördern. Gerade weil Sexualität auch in ihrer autistischen Ausprägung eine intrinsische Ressource darstellen kann, ist Gelassenheit bei den Vermittlungsbemühungen zu einer „BasisMentalisierung“ so bedeutsam. „Nicht-Gelassenheit“ im Sinne häufiger heftiger Reaktion bei abröckeldem Kohärenzgefühl des Helfers verfestigt Beschämungserfahrungen und blockiert mögliche zaghafte Mentalisierungsansätze beim autistischen Menschen. Das Kohärenz gefühl ist in der Regel am Ende der Adoleszenz eine verhältnismäßig konstante Größe, sofern es sich aus inneren und zumindest leidlich konstanten äußeren Ressourcen speist. Es kann aber bei anhaltender Belastung abbröckeln. Bei einer Untersuchung mittels Fragebögen von Studenten der Med. Hochschule Hannover zeigte sich im Verlauf ihres sechsjährigen Studiums eine deutliche Verminderung ihres Kohärenzgefühles..4 4 Sack, Martin 2004, mündliche Mitteilung 8 Das individuelle Kohärenzgefühl der Helfer wie auch das der Angehörigen von autistischen Menschen kann durch Förderung des Gruppenkohärenzgefühles stabilisiert werden bzw. sogar noch weiter wachsen. Nennen möchte ich zwei erprobte und mir sehr am Herzen liegende Herangehensweisen: 1.) Die Prismatische Balintgruppe5 In der Prismatischen Balintgruppe beschreiben die Teilnehmer- innen ihre inneren Bilder und die damit verknüpften Gefühle, die sich zu einer Frage bzw. Falldarstellung bei ihnen zeigen. Hierüber kann zu einer produktiven Affektverarbeitung kommen. Der Vorteil gegenüber der „klassischen“ Balint-Gruppenarbeit ist der, dass man über die Darstellung der eigenen inneren Bilder in dem Team, in dem man arbeitet, weniger verletztbar ist, als über eine explizite Darstellung von problematischen Momenten. 2.)Gemeinschaftliche schöpferische Aktivitäten wie z. B.die Produktion eines größeren Gemeinschaftbildes oder Singen als Chor. Das Kohärenzgefühl, das sich dabei weiter entfaltet, spiegelt sich in den Gesichtern – in diesem Fall der Schulkinder – deutlich wieder. Bild 3: Kohärenzgefühl in der Gruppe Das Bild zeigt eine bildnerische Gemeinschaftsproduktion eines zweiten Schuljahres, innerhalb derer die Kinder auf einer 1 x 1 Meter großen Leinwand jeweils eine Blume malen konnten. Keine Blume wurde übermalt. Die Kinder entdeckten, dass ihre Blume zusammen mit den anderen viel schöner aussah, als wenn sie alleine auf der Leinwand zu sehen gewesen wäre …Jede Blume hatte ihren Platz und galt so, wie sie vom Kind auf die Leinwand gebracht worden war! Keine 5 Drees, Alfred 1995: Freies Phantasieren. In der Psychotherapie und in Balintgruppen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 9 Blume wurde übermalt. Es gab in dem Kunstunterricht keine entwertenden Noten. Und keiner wurde – oberstes Gebot! – für sein Bild ausgelacht. Bild 4: Und hier wird keiner aus einem pädagogischen Team ausgelacht 2011 wurde in Niedersachsen mit der Aktion Klasse! Wir Singen erstmalig in allen Schulen in breitem Umfange Unterrichtszeit zum Liedereinüben für landesweite Singfeste vorgehalten. Es wurden dabei kein Superstar gesucht, sondern die gemeinsame Freude am Singen! In etlichen Städten Niedersachsens mit entsprechenden Hallen kamen jeweils weit über Tausend Kinder zusammen, die miteinander sangen und sich dabei auch tänzerisch-rhythmisch entfalteten. Sogar die Eltern und Großeltern sangen mit.6 Bild 5: 6 www.klasse-wir-singen.de Klasse! Wir singen“ geht auf die Initiative des engagierten Kirchenmusikers Gerd-Peter Münden zurück, der schon 2007 in seiner Heimatstadt Braunschweig mit dem gleichen Konzept 28.000 Kinder zum Singen brachte. Träger der Aktion ist der gemeinnützige Verein Singen e.V., der bei den Aktionen in Niedersachsen in enger Abstimmung mit der Staatskanzlei, dem Kultusministerium und der Landesschulbehörde zusammenarbeitete. 10 Gemeinsame schöpferische Aktivitäten eignen sich also insbesondere zu Stärkung des Kohärenzgefühles in Familien, in denen ein Mitglied vom Autismus betroffen ist. In diesem Zusammenhang einige Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte des Konzeptes vom Kohärenzgefühl: Im Jahre 1970 führte Aaron Antonovsky (1923 bis 1994) in Israel eine Befragung zur Gesundheit von Frauen durch, die den Schrecken und das Entsetzen von Verfolgung, Inhaftierung und Konzentrationslagern überlebt hatten. Bild 6 Diese Frauen waren im Kindes- und Jugendalter schwersten Traumatisierungen ausgesetzt gewesen; 71 % berichteten als Folge dessen über deutliche seelische und körperliche Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit. Dies war auch zu erwarten gewesen und daher nicht weiter verwunderlich. Was Antonovsky vielmehr beschäftigte, war die Frage, warum 29 % der Frauen trotz der massiven Belastungen dennoch bei relativ guter Gesundheit waren. Diesen Wechsel in der Perspektive bezeichnete er rückblickend als die entscheidende Wende in seiner Arbeit, aus der heraus er dann auch sein Salutogenese-Konzept entwickeln konnte. Im Zusammenhang mit den eben genannten schöpferischen Gruppenaktivitäten zum Erhalt des Kohärenzgefühles sei daran erinnert, dass für viele KZ-Häftlinge die schöpferische Entfaltung - soweit jeweils möglich – für die Kraft überleben zu wollen existentiell bedeutsam war. Gefragt wird nun in dem Salutogenese-Modell – in Unterscheidung zum Pathogenese-Modell - nach dem, was gesund macht beziehungsweise gesund erhält. So gesehen vollzieht sich eine Abkehr von der Sicht auf den Patienten als bloßen Defizitträger oder Sonderling. Das gilt grundsätzlich auch für den Autismus. 11 Beide Konzept können sich aber auch ergänzen. U.a. in der Synergie von Prävention und Salutogenese im Sinne der Gesundheitsförderung. So, um einige Beispiele zu nennen, bei der Sucht- oder Aidsbekämpfung. Das gleiche gilt für die unabdingbare Bewegungsfreude im Hinblick auf die Probleme, die uns Adipositas, Diabetes mellitus und Herzkreislaufkrankheiten bereiten. Was ich jetzt allerdings weitgehend unterschlage, ist eine kritische Reflexion des Gesundheitsbegriffes. Ich möchte Sie gleich nur anhand zweier Beispiele auf die Problematik aufmerksam machen, wenn wir von der Gesundheit sprechen. Antonovsky selbst verwendet für Gesundheit das eher düstere Bild vom Schwimmen, das uns im reißenden Fluss über Wasser hält. Am Ende des Flusses ist aber der Wasserfall, wo das Schwimmen aufhört. Indem Antonovsky ausdrücklich den Tod in sein salutogenetisches Konzept einbezieht, bekommt die Sinndimension als Teilkomponente des Kohärenzgefühles ein besonders Gewicht. Als Quelle für seine Sinnorientierung gab Antonovsky explizit die Schriften Viktor Frankls an.- Für die jeweilige soziokulturelle Einbettung von Gesundheit nun die angekündigten zwei Beispiele (Bild 7 a und b) : Der barocke Leib als Festung gegen Schwindsucht und Hungersnot, der heutige schlanke Leib als Ideal, durchtrainiert und triebkontrolliert. Beide Manifestationsformen aber immer wieder auch sehr nahe an der Krankheit: hier der Herzinfarkt, da die Essstörung. Es gibt immer nur Gesundheit als individuellen Dialog-Weg im soziokulturellen Kontext. 12 Bild 7 a und b . Allerdings ist diese Formulierung immer noch etwas naiv. Denn sie unterstellt eine allgemein lesbare Landkarte zum Auffinden dieses individuellen Weges im soziokulturellen Kontext. Gerade das Phänomen Autismus verdeutlicht die Problematik dessen aber mit aller Schärfe. Hierzu eine kleine Fantasiegeschichte: Stellen Sie sich vor, Sie machen wie der Kleine Prinz eine Rundreise zu den unterschiedlichsten Sternen. Auf einem fernen Stern mit ganz viel Eis und Schnee wird Ihr Raumschiff bei der Landung leider etwas beschädigt. Sie müssen sich darauf einrichten, für einige Zeit gezwungenermaßen auf diesem Stern zu bleiben, bis Sie abgeholt werden können. Gleich nach der Landung werden Sie von freundlichen Wesen umringt, die genauso wie Menschen aussehen und tatsächlich auch die gleichen Worte wie Sie, der oder die Raumschiffbrüchige, benutzen. Mit Erstaunen hören Sie, was diese Wesen über Sie reden: „Guck dir mal das Raumschiff an, das ist ja ganz verbeult. Sicherlich hat er sich wehgetan. Vielleicht hat er auch einen Schock. Kommt, wir wollen ihm helfen und ihm was Gutes tun …“ Die freundlichen Sternenbewohner fordern Sie auf mit ihnen zu gehen. Sie kommen zu einem Fluss mit schönem klarem Wasser. Trotz der herrschenden Kälte ist der Fluss nicht zugefroren. Die Sternenbewohner springen vor Vergnügen kreischend in das Wasser und fordern Sie auf, das Gleiche zu tun. Da Sie dieser Einladung nicht sofort folgen, kommen die freundlichen Sternenbewohner lachend auf Sie zu, packen Sie bei den Armen und schmeißen Sie lachend in das Wasser. Entsetzt, prustend und schreiend kämpfen Sie sich an das Flussufer zurück. Mit Händen und Füßen wehren sich dagegen, nochmals in Wasser geworfen zu werden. „Frierst Du?“ fragen die Sternenbewohner. Kaum haben Sie mit dem Kopf 13 genickt, werden Sie an eine dicke Brust gedrückt und massiert, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht. Nur unter Aufbietung aller Ihrer Kräfte können Sie sich frei strampeln. Ratlos schauen sich die Sternenbewohner an. Sie beraten sich und telefonieren dann. Kurze Zeit später kommt ein Lieferwagen von der Art „Essen auf Rädern“. Freudig laufen die Sternenbewohner auf das Auto zu, öffnen die hintere Klappe und holen einen großen Topf mit einer dampfenden Suppe. Sie kriegen einen Teller und einen Löffel in die Hand gedrückt. Die anderen setzen sich neben Sie auf den Boden, ebenfalls mit Teller und Löffel ausgerüstet. Alle Teller werden gefüllt, auch der Ihrige. Die Sternenbewohner fangen sofort an zu essen. Sie selber probieren vorsichtig und bekommen einen Würgereiz. Erschrocken schauen die Sternenbewohner Sie an. „Er mag aber auch gar nichts Gesundes“, rufen sie. Sie versuchen den Sternenbewohnern zu erklären, dass Sie jetzt lieber zu ihrem Raumschiff wieder zurück möchten, wo Sie eine Liege zum Schlafen haben und noch Essensvorräte für einige Wochen. Die Sternenbewohner schütteln den Kopf: „Im kaputten Raumschiff schlafen - das kann doch gar nicht gesund sein!“ „Doch“, sagen Sie, „das ist für mich gesund …“ Ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen, entfernen Sie sich von den freundlichen Sternenbewohnern, machen sich auf den Weg zu ihrem Raumschiff und signalisieren den enttäuschten Sternenbewohnern, dass Sie jetzt erst mal keine weitere Gesellschaft wünschen. Soweit unsere Fantasiegeschichte. Diese soll weniger die Welt des Autismus narrativ erschließen als vielmehr auf die Stolpersteine bei einer salutogenen PerspektivenVerschränkung verweisen. Der Dialog-Weg im soziokulturellen Kontext auf der Suche nach Gesundheit oder gesundheitsförderlichen Momenten kann schwierig werden, wenn ich zunächst mit meinen konstitutionellen Gegebenheiten aus diesem soziokulturellen Kontext herausfalle. Auf einem fiktiven anderen Stern bin ich dann plötzlich jemand mit autismusähnlichen Verhaltensmustern.7 Die salutogenetische Suche wird doppelt schwierig. Denn ich muss nicht nur für mich selber klären, was mir in dieser Situation gut tut. Ich muss auch den anderen, die mir in freundlicher Selbstverständlichkeit, 7 Der fiktive raumschiffbrüchige Gast hat allerdings auch auf dem fremden Stern - in Unterscheidung zum Autisten - eine aus einer relativen Autonomie und Selbstwirksamkeitserfahrung heraus gestaltete Identität jenseits von Rückzug und Verweigerung. Diese Identität als Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ ermöglicht bei Rückkehr zum Heimatstern in der Regel wieder eine ausreichende und autonom gestaltete Hinwendung zu Mitmenschen und Umwelt. Zugleich ist diese Identität eine wesentliche Ressource für ein starkes Kohärenzgefüh, das das pötzliche Ausgeliefertsein in der Fremde besser ertragen lässt. 14 eher noch freundlicher Naivität, etwas aufdrücken wollen, eben meine konstitutionellen Eigenheiten und Empfindlichkeiten „irgendwie“, jenseits von bloßer Verweigerung, verdeutlichen. Um dann darauf zu hoffen, dass diese nachvollzogen werden können und kontextuell ihren Ort, d.h. ihre ökologische Nische finden. Damit ist aber nicht nur schützendes Reservat gemeint, sondern auch ein Ort für die Möglichkeit einer begleiteten8 Autonomieentfaltung - dies auch im Sinne einer Selbstorganisation - soweit als möglich. Von daher ist in der Welt des Autismus der salutogenetische Dialog-Weg insbesondere ein Weg im und zum Eigen-Sinn 9 – dies auch als Bedingung der Möglichkeit zu einer basalen Horizontverschränkung. Beim Asperger- und High functioning - Autismus kann es auch ein verbaler Dialog sein. Ansonsten ist es wohl eher ein Handlungsdialog. Auf alle Fälle ist es nicht eine bloße Unterwerfung unter dialogreduziert umgesetzte Konzepte wie eingangs geschildert. Saltogenetisch bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die dialoginduzierenden Selbstzeugnisse von Betroffenen, d. h. vorwiegend von Menschen mit einem Asperger-Autismus. Diese Selbstzeugnisse haben nach außen gerichtet eine aufklärerische Funktion im Sinne einer Identitätsdarstellung. Nach innen gerichtet dienen sie im Sinne einer Selbsthilfegruppe der Identitätsfindung. Zu unterscheiden sind diese salutogenetisch bedeutsamen Publikationen von den oftmals eher destruktiven Internet-Aktivitäten z.B. anorektischer Patienten. In einer Übersicht haben Andreas Eckert und Jessica Stieler10 aus zehn ausgewählten Autobiografien und Ratgebern erwachsener Menschen mit Autismus aus deren Selbstverständnis heraus acht heilsame Kategorien zur Selbststabilisierung herausgefiltert: 1 Routinen und Vorhersehbarkeit 2 Orte der Ruhe und Sicherheit 3 Unterstützendes familiäres Netzwerk 8 Manchmal steckt auch in dem freundlichen Begleiten eine situativ unvermeidbare Nötigung als Paradoxon zur angestrebten Autonomieentfaltung. Das gilt es zumindest zu reflektieren und nicht unter den Teppich zu kehren 9Damit ist keine Selbsteinkerkerung in starren Ritualen gemeint, sondern eine Stabilisierung des Kohärenzgefühles als Bedingung der Möglichkeit die Kerker bei Bedarf zu verlassen. 10 http://www.aspergia.de/cms/download.php?cat=50_Downloads&file=Eckert2008.pdf; 31.10.2011 15 4 Strategien zum Spannungsabbau in Situationen der Überlastung und Überforderung 5 Spezialinteressen nutzen 6 „Konkrete" Lernanregungen 7 Kontakt zu Gleichbetroffenen 8 Aktive Auseinandersetzung mit den eigenen Besonderheiten Hier nun einige Textbeispiele zu den genannten Punkten: 4 Strategien zum Spannungsabbau in Situationen der Überlastung und Überforderung „ Wenn ich mich gestresst fühlte, fing ich an, die Potenzen von zwei zu zählen. [...] Die Zahlen bildeten visuelle Muster in meinem Kopf, die mich beruhigten. " (Tammet 2007, S. 95) „ Ich glaube, dass ich bei Überlastung einfach irgendein Ventil brauche. Eine Zeit lang habe ich mir in entsprechenden Situationen harte, äußerliche Reize zugefügt. Ich habe es auch ausprobiert, ganz laut zu schreien, so lange, bis mir der Hals wehtat und ich kaum noch krächzen konnte. Heiße Sachen trinken hilft auch, nur müssen sie schon sehr heiß sein, da meine Schmerzschwelle für Hitzereize hoch ist. Den Fernseher oder das Radio laut zu stellen, erscheint mir da im Moment als die bekömmlichste Lösung. " (Schuster 2008, S. 21) 5 Spezialinteressen nutzen: „Ich suchte mir unter sämtlichen Lehrberufen, die es in Deutschland gab, die Ausbildung zum Feinoptiker aus, die man nur in wenigen Städten absolvieren kann. Während ich in einem dicken Buch vom Arbeitsamt über all diese Berufe las, gab ein Traum den Ausschlag: Ich träumte von herrlich glänzenden Glassplittern, die auf einen Haufen von Glaskugeln herabrieselten. Ich habe ja eine Vorliebe für runde Dinge, besonders für solche, die Lichtreflexe aufweisen. Nachdem ich über die Feinoptiker-Ausbildung und die Techniken zur Glasbearbeitung gelesen hatte, wusste ich, dass dies mein Beruf werden sollte. Linsen sind so hübsch (optische Linsen, keine Ess-Linsen)!" (Schäfer 2006, S. 96) „An mir selbst erlebe ich eine therapeutische Wirkung meines Spezialinteresses Schreiben.. Ein Leben, ohne mich schreibend mitteilen zu können, wäre für mich ein unermesslicher Verlust. Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, Botschaften aus meinem autistischen Käfig senden zu können, was mir durch direkte wörtliche Rede nicht immer gelingt. Auf dem Papier finden meine Gedanken ihren Ausdruck - im direkten Gespräch bin ich hingegen oft „sprachlos". " (Schuster 2007, S. 241 /28l) 16 „ Was bei mir als Fixierung anfing, hat sich zu einer lebenslangen Tätigkeit im Dienst einer verbesserten Behandlung von Nutzvieh entwickelt. [...] Meine Neigung, mich auf bestimmte Dinge zu fixieren, war in diesem Zusammenhang ausnahmsweise von Vorteil, denn ich bezog daraus genügend Motivation, um meine Interessen durchzusetzen. [...] Um ein Ziel zu erreichen, ist ein bestimmtes Maß an Fixierung erforderlich. " (Grandin 1994, S. 142) 6 „Konkrete" Lernanregungen: "´Ich werd es dir zeigen' sagte sie, nahm meine Hände und brachte mir schrittweise bei, wie ich es anstellen musste. [...] Der Hauptgrund, warum ich es bisher nicht geschafft hatte, Kartoffeln zu schälen, war, dass es mir nicht genügte, wenn jemand es mir mit Worten erklärte. Auch das Beobachten, wie andere es machten, genügte mir nicht. Ich musste es mit meinen eigenen Händen lernen, schrittweise, nach und nach.“ (Gerland 1998, S. 194) „ Bücher, in denen feste Benimmregeln nachzulesen sind, helfen mir und geben mir Sicherheit, wie ich mich unter Menschen bewegen soll. Eine genau protokollierte Atmosphäre, die viele als gezwungen bezeichnen würden, finde ich dann gerade entspannend. Denn wer sich vorab genau mit den Regeln bekannt gemacht hat, weiß in einem solchen Fall auch, wie er sich zu verhalten hat. " (Schuster 2008, S. 173) Insbesondere das Beispiel mit dem Kartoffelschälen zeigt, dass beim Autismus die Spiegelneuronenfunktionen und damit viele implizit-prozedurale Lernprozesse eingeschränkt sind. Eben dies kann sich auf die Entfaltung des Kohärenzgefühles negativ auswirken. Salutogenese hieße dann zunächst auch: kreative und ermutigende Begleitung, um eigene Wege und Möglichkeiten suchen und finden zu können.Außerhalb der Welt des Autismus stehen dem salutogenetischen Ansatz hierfür die spielerisch-dialogischen Intermediärräume ohne Einschränkung zur Verfügung. Bild 8 Entfaltung des Kohärenzgefühles in Intermediärräumen In diesen entfalten sich intersubjektiv Welt- und Beziehungserleben prozess- und nicht ergebnisorientiert, das heißt in dieser Hinsicht ohne Zwang. Allerdings kann 17 eine weit unterdurchschnittliche sensorische Intensitätstoleranz und ebenso eine weit unterdurchschnittliche Nähetoleranz im (Zusammen)-Spiel mit Anderen das Erleben von massiven äußeren Zwängen erzeugen. Ich darf an die Fantasiegeschichte mit dem Raumschiff-Bruch auf einem fernen Stern erinnern. Es wäre also zur Vermeidung dessen zu fragen, wie die „Spezialausstattung“ von salutogenetischen Intermediärräumen bei Autismus aussehen könnte. Autisten sind zwar bindungsfähig, aber aus ihren Bindungserfahrungen entfaltet sich nur sehr zaghaft die sonst übliche Lust, die Welt auch intersubjektiv zu erkunden. Salutogenese bedeutete dann zunächst, Ressourcen für langen Atem, Geduld und Hoffnung auch bei kleinen Schritten bereitzustellen. Auf diese Weise können sensorische Re-Traumatisierungen und/oder ein weiterer Rückzug bei gemeinsamen Expeditionen in die „ wilden sensorischen Kontinente“ vermieden werden. Es gehört Geduld für eine dialogisch entfaltete Eigenmotivation dazu, damit aus Entdeckungsreisen in Intermediärräumen keine Strafexpeditionen werden. Wie das gelingen kann, zeigte mir Max, das zwölfjährige autistische Kind meiner Patientin Sonja: Max spielt jetzt mit seinem Bruder zusammen in der JuniorenSchulfußballmannschaft . Aus einem stundenlangen prozessorientierten Bolzen alleine an der Bolzwand in zwangfreien Intermediärräumen, in denen er Funktionslust und Selbstwirksamkeit erlebte, entfaltete sich eine kohärente Selbstorganisationsund fußballspezifische Mentalisierungsfähigkeit, die auch noch weitere salutogenetische Fortschritte erhoffen lassen. Zur Zeit muss sein Bruder ihn noch betreuen, wenn er mit seinem Spielen für einen Freistoß oder Elfmeter der gegnerischen Mannschaft „sorgt“. Was unter Funktionslust und Selbstwirksamkeit zu verstehen ist, zeigen ganz konkret die Bilder 9 u. 10: Die Wandlung vom „erleidenden Objekt“, zum selbstgestaltenden Subjekt – selber bewegen, nicht nur bewegt werden. Bilder 9 u. 10 18 In einer sehr beeindruckenden Weise vermittelt Felix Beilstein mit seinen bildnerischen Produktionen dieses salutogenetische Moment des Selbstgestaltens, beziehungsweise auch der Gestaltung des eigenen Ausdrucks. Bilder 11 u. 12 Felix und seine Mutter, Heidi Beilstein bei der Präsentation eines Leporello mit Bildern von Felix Felix, Jahrgang 1972, ist Autist. Seinem eigenen Bekunden nach kann er mit seinen Bildern besser das ausdrücken, was ihn bewegt als mit gesprochenen Worten. Felix war, wie seine Mutter berichtete, zunächst ein süßes Baby. Er konnte eine bezaubernde und verzaubernde Lächelbeziehung herstellen. Auch in allem anderen war er ein ganz gesundes und wunderbares Baby. Jedoch, mit Ende des ersten Lebensjahres begann die Lebendigkeit in seinem Gesichtsausdruck allmählich zu erfrieren. Mit 2 bis 3 Jahren schien es immer mehr so, als ob er durch sein Gegenüber hindurch schauen würde. Als Kleinkind hat Felix stundenlang mit Wasser gespielt. Am liebsten stand er nur mit einer Windel versehen am Badewannenrand und ließ die Hände durch das Wasser gleiten oder das Wasser aus den Händen rieseln. Versonnen und für nichts anderes zu interessieren schaute er auf seine Hände, aus denen das Wasser rann. Gefühle schien Felix in dieser Zeit, so seine Mutter weiterhin, zunächst gar nicht zu kennen. Freude, Trauer und Ärger waren an seinem Ausdruck nicht zuerkennen. Die Gefühls-Reaktionen seiner Eltern und seines Bruders sowie anderer Menschen konnte er nicht entschlüsseln. „Mit seinem Bruder zusammen haben wir als Eltern ihm Gefühle bzw. Gefühlsreaktionen vorgespielt – sehr intensiv und übertrieben. In kurzen konkreten Zusammenhängen haben wir ihm die Gefühle verdeutlicht. Sein 19 Bruder hat zum Beispiel eine Tafel Schokolade ausgepackt und riesengroße Freude darüber gezeigt“ berichtete die Mutter. Auf diese Weise hat sich Felix Er-Kenntnisse zu und von Gefühlen angeeignet. Vermutlich über eine Art „Intensivtraining“ der Spiegelneuronen - so wie es vorgängig für die motorische Ebene (S. 17) zum Erlernen des Kartoffelschälens beschrieben wurde. Felix hatte sich jedoch immer noch über eine lange Zeit vergewissern müssen, ob er seine eigenen Gefühle und die der anderen wohl richtig erkannt hätte. Er konnte dann fragen: „Ärgerst du dich jetzt?“ Felix ist jetzt bald 40Jahre alt. Aber erst vor Kurzem hat er sich auf eine ähnliche Weise dem Gefühl Eifersucht angenähert. So konnte er zu entsprechenden Filmszenen fragen: „Ist das Eifersucht …, warum nicht Ärger?“ Eine plötzlich ihm selbst heftig zusetzende Eifersucht hatte ihn genötigt, sich mit dieser Thematik ausführlicher zu beschäftigen. Mit dem Malen von Bildern hatte Felix als Kind „erst gar nichts am Hut. Einen Stift anfassen fand er offensichtlich ekelhaft. Ungefähr mit zehn Jahren behielt er aber auch freiwillig einen Stift in der Hand, wenn es darum ging, dass er seine Spannungen und seinen Frust aus der Schule irgendwie verarbeiten musste. Mein Mann setzte sich neben ihn und dann malte er eine Schraube oder eine Birne mit einer Sprechblase. In dieser Sprechblase standen schreckliche Sätze wie zum Beispiel: `Ich hack’ dir den Kopf ab.` Mein Mann, übrigens ein ausgesprochen friedliebender Mensch mit überzeugender pazifistischer Grundgesinnung malte dann eine ähnliche Figur mit Sprechblase. Darin stand: ´Ich dir auch!´ Ansonsten fiel es Felix aber sehr schwer, längere Sätze zu schreiben.“ Das folgende Bildbeispiel – veröffentlicht einschließlich Bilduntertext auf der Internetseite des Betriebes, in dem Felix arbeitet - stammt aus einer späteren Zeit, hat aber noch eine ähnlich aggressive Textqualität. 20 Bild 13 Der autistische Künstler ist eine feste Größe im Bikes-Team. Felix war schon zu Zeiten Helmut Braje`s im Fahrradladen am Westkreuz beschäftigt. Der gelernte Fahrradmonteurhelfer wurde von Ecki, Jan & Frank übernommen Geboren 1972, lebt und arbeitet Felix in Oldenburg. Felix künstlerisches Interesse gilt hauptsächlich der Darstellung von populären Personen aus der Film- oder Musikszene - etwa Bud Spencer, Klaus Lage oder Louis Armstrong. Auch mit der Person des Papstes hat er sich zeichnerisch auseinandergesetzt. Gelegentlich erfindet er Figuren, mit deren Hilfe er Frustrationen und Ängste zu kompensieren scheint. "Jochen Hauer" ist solch eine Figur, ungeheuer stark, mutig und omnipotent, die in Felix Beilsteins Zeichnungen über die Jahre immer wieder auftaucht. Anhand solcher Figuren entwickelt er umfangreiche Bild-Serien, die er mit Texten versieht. Felix Beilstein arbeitet zweimal wöchentlich im "Blauschimmel Atelier", Oldenburg. In den Sommermonaten besucht er die Kurse der "Bildnerischen Werkstatt." Quelle: http://www.bikes-oldenburg.de/team/ „Über Bilder konnte sich Felix zunehmend besser mit seinen Gefühlen ausdrücken. So konnte er darüber zum Beispiel den Schreck vermitteln, den er offensichtlich doch empfand, als seine Oma die Treppe hinuntergestürzt war. Dieses Bild ließ auch sein Mitfühlen mit der Oma deutlicher werden. Später hat Felix in zweierlei Weise gemalt. Für sich allein fertigte er Bilder an, die ein tiefes Versunkensein in sich selbst signalisierten. In Begleitung konnte er Bilder mit Texten malen, die den Betrachter wortwörtlich ansprachen.“ 21 Es war wohl sehr wichtig, dass Felix die Begeisterung der Eltern spürte, wenn er in dieser Form tätig war. „Es entstand darüber auch eine intensive Beziehung. Wenn ich, als Mutter, mit ihm über die Märchen aus 1001 Nacht sprach, die ich ihm zuvor in einer für ihn verständlichen Weise erzählt hatte, dann merkte man förmlich, wenn es in seinem Kopf `klick` machte und ein inneres Bild entstanden war. Dieses konnte er anschließend - mit zunächst nur einigen schwarzen Strichen - in Windeseile zu Papier bringen. Bild 14 „Alibaba mit (einer von) zwei Frauen“ Bilder 15 u.16 Kasim mit fünf Eseln „Kasim zusammengenäht, aber immer noch tot“ Felix verdient seit einigen Jahren eigenständig seinen Lebensunterhalt. Er arbeitet als angelernte Kraft in einem großen Fahrradgeschäft. Die Fahrräder kann er mit Geschick reparieren und aus Fertigteilen auch neue Fahrräder zusammensetzen. 22 Mit den Kollegen kommt Felix erstaunlich gut zurecht. Allerdings arbeitet er auch in einem Betrieb mit einem offensichtlich stark ausgeprägten Team-Kohärenzgefühl.11 In der Darstellung der Team-Mitglieder auf der Firmen-Internetseite werden biografischer Hintergrund und schöpferische Entfaltung von Felix konstruktiv gewürdigt. ( siehe hierzu Untertext Bild 17) Die Gründungsgeschichte und die Vielfalt der Produkte dieser Firma auch für behinderte Menschen verweisen auf eine menschenfreundliche Grundhaltung. Felix wohnt heute selbstständig in einer Einliegerwohnung im Hause seiner Eltern. Die Beziehung zu diesen ist für ihn nach wie vor hoch bedeutsam, ebenso die zu seinen Berufskollegen. Weitere Beziehungen unterhält Felix auch zu „akku“ e.V. – Initiative für Autismus, Kunst und Kultur12. Felix ist nicht einsam und kommt in seinem Leben zurecht. Allerdings, was Verdienst oder Rente sind, versteht er noch nicht. Er denkt, das Geld auf seinem Konto bekomme er von der Bank geschenkt. n 11 12 siehe: http://www.bikes-oldenburg.de/team/ www.initiative-akku.org/ 23 Was also ist für Felix in salutogenetischer Hinsicht bedeutsam? Als externe Ressourcen sind vorrangig die liebevolle Geduld der Eltern sowie deren eigene Kreativität zu nennen. Diese lassen auch ein starkes Kohärenzgefühl der Eltern vermuten sowie deren Fähigkeit zur wechselseitigen Stabilisierung in der Partnerschaft. Mit Geduld und Feinfühligkeit haben die Eltern ihr autistisches Kind in Intermediärräume begleitet. In diesen konnte Felix ohne Nötigung und sensorische Überflutung seine eigenen Ausdrucksformen finden sowie auch Selbstwirksamkeitserfahrungen machen. Auf diese Weise bildeten sich allmählich interne Ressourcen heraus. Vermutlich ermöglichten diese ihm auch, in seinem Betrieb klarzukommen. So entstand in einem langen Prozess eine beeindruckende und ermutigende salutogenetische Aufwärtsspirale. Allerdings sollte darüber nicht eines vergessen werden: in der vielgestaltigen Welt des Autismus sind auch schon kleinere salutogenetische Veränderungen Anlass zur Freude und Hoffnung. Fazit: Salutogenetische Momente können sich auch in der Welt des Autismus entfalten. Bei Betroffenen können sie insbesondere Lebensfreude und Motivation fördern, ohne die jedes Verhaltenstraining mühselig wird. Allerdings bedürfen die Vermittlungsweisen salutogenetischer Intentionen - z. B. in Intermediärräumen schon einer gewissen Reflexion im Hinblick auf die Autismus-spezifischen Reizverarbeitungsweisen. Bei den Familienmitgliedern, Begleitern und Helfern können salutogenetische Momente sehr hilfreich für die tagtägliche Begegnung mit autistischen Menschen sein. Insbesondere über schöpferische Gruppenprozesse können Konflikte entschärft und Lebensfreude gegen Zynismus oder Resignation zurückgewonnen werden. Zu guter Letzt: wenn ich mir das Konzept des Autismus-Therapiezentrums Osnabrück anschaue, dann meine ich doch “jede Menge Salutogenese“ darin zu entdecken. Ihnen allen in dem Therapiezentrum weiterhin alles Gute ! 24 Hinweise auf ergänzende Literatur Schiffer, E.(2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim und Basel: Beltz Schiffer, E. & Schiffer,H.(2004): LernGesundheit. Lebensfreude und Lernfreude in der Schule und anderswo. Weinheim und Basel: Beltz Schiffer,E.(2008): Warum Tausendfüßler keine Vorschriften brauchen. Intuition. Wege aus einer normierten Lebenswelt. Weinheim und Basel: Beltz 25