Von der Politik zur Subpolitik - Lise-Meitner

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Von der Politik zur Subpolitik, vom Nationalstaat zum Transnationalstaat
Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck über die Folgen und die Chancen der Globalisierung als dem
"Weichspüler" der Institutionen. 28.11.1997
R. Stoilova hat sich mit Ulrich Beck, dem bedeutendsten deutschen Theoretiker der Globalisierung, über die
Umgestaltung der Politik, die neuen politischen Akteure, die Strategien der Subpolitik, den Eintritt in die
Weltgesellschaft und dem Ende des Nationalstaates unterhalten. Eben ist das neue Buch von Ulrich Beck
mit dem Titel "Was ist Globalisierung?" in der Edition Zweite Moderne des Suhrkamp Verlages erschienen.
Das Gespräch faßt die dort von Beck vertretenen Analysen und Thesen zusammen. Wegen der Länge des
Gespräches wurden von Telepolis die Fragen gelegentlich anders formuliert und die Antworten jeweils mit
einem internen Link als Subtext angeordnet.
--Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Erster und Zweiter Moderne ist die
Unrevidierbarkeit erfolgter Globalität. Das Heißt: Wir leben in einer multidimensionalen, polyzentrischen,
kontingenten, politischen Weltgesellschaft, in der transnationale und nationalstaatliche Akteure Katz und
Maus miteinander spielen. Globalität und Globalisierung meinen also auch: Nicht-Weltstaat. Genauer:
Weltgesellschaft ohne Weltstaat und ohne Weltregierung. Es entsteht ein global desorganisierter
Kapitalismus, denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime - weder ökonomisch
noch politisch.-- Ulrich Beck
Unter den Fahnen der Globalisierung geht es, wie Sie schreiben, nicht nur den Gewerkschaften, sondern
auch der Politik und dem Staat ans Fell.Was tritt an die Stelle des herkömmlichen Staates?**
-- Transnationale Unternehmen wie BMW oder Siemens zahlen im Inland überhaupt keine Steuern mehr. Es
ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß die teure sozialstaatliche Demokratie in Zukunft von den
Globalisierungsverlierern bezahlt werden soll, während die Globalisierungsgewinner mit immer weniger
Arbeit und immer weniger Steuern immer höhere Gewinne erzielen.-- Ulrich Beck
Die gängigen Politikkoordinaten - rechts und links, konservativ und sozialistisch, Rückzug und Teilhabe greifen nicht mehr. Was hat zu diesem Zusammenbruch der politischen Ordnung geführt?**
Mit dem Verlust der Links-Rechts-Orientierung entwickelt sich aus Ihrer Sicht die heutige Politik zum
Stummfilm. Kann es dennoch zu einer Restauration der Links-Rechts-Eindeutigkeiten kommen?**
In Bulgarien wie in den anderen ehemaligen kommunistischen Ländern scheint das Modell des "Runden
Tisches" zum Treffen von politischen Entscheidungen von der Zeit überholt worden zu sein. Was spricht
weiterhin für das Modell des "Runden Tisches", den Sie als eine Form "konsensstiftender Zusammenarbeit
zwischen Industrie, Politik, Wissenschaft und Bevölkerung" betrachten?**
--Risikonachrichten, die so sicher wie das Amen in der Kirche sind, entwerten Kapital, zwingen
Unternehmen letztlich weltweit dazu, die möglichen Bedenken der Konsumenten in den wachen Ländern
des Westens ernst zu nehmen, ja, sie in der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen
vorwegzunehmen.-- Ulrich Beck
Die Partei der Nichtwähler ist im Westen wie auch im Osten die einzige Partei, die solide Zuwächse
verzeichnen kann. Was wird aus den Parteien im Zeitalter des "und", das für Sie die "Entweder-oder"Epoche der Industriezeit ersetzt?**
Sie behaupten, daß die Jugendlichen - die "Kinder der Freiheit" - eine hochpolitische Politikverleugnung
praktizieren. Wie läßt sich auf diese Politikverleugnung reagieren?**
--Man kann nicht Hurra-Kapitalismus und Selbstlosigkeit predigen - und dann die Jugendlichen
beschimpfen, wenn sie Politikern mißtrauen und davonlaufen.-- Ulrich Beck
Unter dem Druck der Globalisierung müsse, wie Sie sagen, das Politische neu erfunden werden. Welche
Möglichkeiten sehen Sie zur Erfindung des Politischen besonders in den neuen Demokratien in
Osteuropa?**
Sie sprechen von einer "Zweiten Moderne" und der "reflexiven Modernisierung". Was verstehen Sie
darunter und welchen Bezug haben diese Begriffe zur Postmoderne?**
Welche Herausforderungen für die Soziologie entstehen aus der "Zweiten Moderne"? Wird ein anderes
Instrumentarium notwendig?**
Die Schwerkraft des alten Denkens scheint stark zu sein. Politik befindet sich heute meist noch nicht im
Zustand der reflexiven Modernisierung - und der Rückfall in alte Strategien scheint verlockend zu sein. Wie
läßt sich mit den Kräften der Gegenmodernisierung umgehen?**
Politik muß im Zeichen der Globalisierung und dem Verschwinden der Autonomie des Nationalstaates für
Sie nicht nur deregulieren, sondern neue Regeln erfinden. Für Sie wird die Ebene der Subpolitik dabei
entscheidend, die einerseits staatliche Autorität untergräbt und andererseits neue Handlungsräume neben
dem Staat eröffnet. Was ist Subpolitik eigentlich genauer?**
--Die Machtbalance, der Machtvertrag der ersten Moderne wird aufgekündigt und - vorbei an Regierung
und Parlament, Öffentlichkeit und Gerichten - in der Eigenregie wirtschaftlichen Handelns umgeschrieben.
Dadurch ist gleichzeitig Politik in einer beispiellosen Weise herausgefordert. Sie muß gleichsam neu
erfunden werden im Sinne einer transnationalen Innenpolitik, die die nationalstaatlichen und
nationalkulturellen Entgegensetzungen glaubhaft, d.h. bezogen auf die wohlverstandenen Eigeninteressen
der Bevölkerungen, überwindet.-- Ulrich Beck
Mit dem Zerfall der alten Institutionen entstehen neue Gestaltungsräume. Sie sprechen etwa vom direkten
Stimmzettel des Kaufakts als Reaktion auf die transnationalen Konzerne. Welche neuen
Handlungsmöglichkeiten gibt es für die einzelnen in der Weltgesellschaft der Konzerne?**
Die politischen Koordinaten der Zukunft werden für Sie von drei Dichotomien geprägt: sicher-unsicher,
innen-außen, politisch-unpolitisch. Was verändert sich beispielsweise durch den neuen Horizont der
Ungewißheiten?**
Die Rede vom Machtverlust staatlicher Politik macht die Runde. Trifft diese Behauptung in ihrer
Allgemeinheit wirklich zu?**
Eine der wichtigsten Veränderungen, die Sie diagnostizieren, ist der Übergang von politischen zur
subpolitischen Ebene. Welche Hoffnungen auf eine Neuerfindung des Politischen lassen sich auf dieser eher
selbstorganisierenden begründen?**
--Transnationalen Subpolitik entsteht erstens aus den Möglichkeiten, Entfernungen zu annullieren durch
Informations- und Kommunikationstechnologien, Kapitalströme, Mobilität von Dingen, Symbolen und
Menschen; zweitens aus dem Gesetz der wechselseitigen Neutralisierung der Staaten im transnationalen
Raum; drittens aus der Staatenlosigkeit der Weltgesellschaft. Die entscheidende Folge ist viertens: Es öffnet
sich eine Machtdifferenz zwischen nationalstaatlicher Politik und transnationalen Handlungsmöglichkeiten.- Ulrich Beck
Globalisierung und Subpolitik gehen für Sie einher mit einer Vervielfachung der politischen Akteure. Wo
lassen sich bereits Ansätze einer transnationalen Subpolitik erkennen?**
SUBTEXTE (**)
Was tritt an die Stelle des herkömmlichen Staates?
In meinen Augen befinden wir uns in Europa und in anderen Teilen der hochentwickelten Welt in einem
möglichen Übergang vom Nationalstaat zu dem, was ich "Transnationalstaat" nenne. Der Nationalstaat ist
ein zentrales Kriterium der ersten Moderne. Doch nun dämmert es vielen: Zwischen Weltwirtschaft und
Individualisierung verliert der Nationalstaat seine Souveränität. Warum?
Der Nationalstaat ist ein Territorialstaat, d.h. seine Macht gründet in der Bindung an einen bestimmten Ort
(in der Kontrolle über Mitgliedschaften, Bestimmung geltender Gesetze, Verteidigung der Grenzen usw.).
Globalisierung bedeutet: Wirtschaftliche, aber auch ökologische, kulturelle, zivilgesellschaftliche
Abhängigkeiten, Gefahren, Ereignisse unterlaufen, relativieren den Nationalstaat. Das, was den Staat
legitimiert - die Schaffung von Arbeitsplätzen, die Sicherung des Wohlstandes, der Grundrechte und der
militärischen Sicherheit - entzieht sich mehr und mehr seiner Kontrolle und verlagert sich auf transnationale
Akteure und Institutionen: transnationale Konzerne, Weltbank, die Nato oder auch Greenpeace. Diese, und
nicht mehr nur der Staat, stehen mehr und mehr für die zentralen Güter und Werte, die das Leben in der
Moderne erfordert und verspricht. Diese Subpolitisierung der Gesellschaft und Depolitisierung der Politik
zeigt sich an allen Säulen nationalstaatlicher Autorität: Steuern, polizeiliche Hoheitsaufgaben, Außenpolitik,
Sicherung politischer Freiheiten. Greifen wir das Beispiel der Steuern heraus.
Bei der Steuererhebung handelt es sich nicht um irgendein, sondern um das Prinzip nationalstaatlicher
Autorität. Diese Steuerhoheit ist an den Kontrollzugriff auf wirtschaftliche Aktivitäten innerhalb eines
bestimmten Territoriums gebunden - eine Prämisse, die im Zuge wirtschaftlicher Globalisierung immer
fiktiver wird. Transnationale Unternehmen können in einem Land produzieren, in einem anderen die
Steuern bezahlen, in einem dritten staatliche Ausgaben in Form von Infrastrukturmaßnahmen verlangen.
Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Regierungen oder der Politik wird auf wichtigen Gebieten z.B. der Beschäftigung und der sozialen Sicherheit - derart eingeengt, daß die Politik insgesamt sich einem
rapiden Glaubwürdigkeitsverlust ausgesetzt sieht. Die Macht des Geldes erhebt sich über die
gesellschaftspolitische Macht des Staates und ersetzt den Gesetzgeber, den Willen des Volkes, durch
sogenannte "Marktgesetze", die von niemandem verantwortet werden und für deren Auswirkungen niemand
zur Rechenschaft gezogen werden kann.
So hat sich beispielsweise das Körperschaftsaufkommen, also die Steuer aus Unternehmensgewinnen, in
Deutschland seit 1979 halbiert. In anderen Ländern ist die Entwicklung ähnlich. Es beträgt nur noch
dreizehn Prozent des gesamten Steueraufkommens (1980 waren es noch 25 Prozent, 1960 sogar noch 35
Prozent). Transnationale Unternehmen wie BMW oder Siemens zahlen im Inland überhaupt keine Steuern
mehr. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, daß die teure sozialstaatliche Demokratie in Zukunft von den
Globalisierungsverlierern bezahlt werden soll, während die Globalisierungsgewinner mit immer weniger
Arbeit und immer weniger Steuern immer höhere Gewinne erzielen.
Gerade gut gepolsterte Sozialstaaten geraten so in einen verfänglichen Sog: Sie müssen ihre kodifizierten
Leistungen - in Deutschland knapp 5 Millionen, in der Europäischen Union knapp 13 Millionen Arbeitslose
- in dem Maße für immer mehr Menschen auszahlen, wie sie die Kontrolle über Steuern verlieren, weil
transnationale Unternehmen im Poker um ihre lokale Einbindung schier unüberbietbare Trumpfkarten
gewonnen haben. Auf diese Weise wird das Modell der ersten, nationalstaatlichen Moderne, das in der
Einheit von kultureller Identität ("Volk"), Raum und Staat gedacht, gelebt und organisiert wurde,
fragwürdig, ohne daß eine neue Einheit von Menschheit, Erde und Weltstaat in Sicht oder auch nur
wünschenswert wäre.
Viele Autoren sehen deshalb mit der globalen Ära das Ende des Nationalstaates und damit der Demokratie
heraufziehen. Dem liegt allerdings auch eine uneingestandene Denkhemmung zugrunde: Man kann und will
sich keine Alternative zur nationalstaatlichen Architektur des Politischen und der Demokratie vorstellen.
Ich möchte eine solche Alternative mit dem Modell des "Transnationalstaates" als einer Antwort auf
Globalisierung wenigstens andeuten. Dem liegt die Beurteilung zugrunde: Der (National)Staat ist nicht nur
veraltet, er ist auch unverzichtbar, nicht nur weil Staaten die wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen
Rahmenbedingungen vorgeben, vor allem auch, weil nur revitalisierte Kooperations-Staaten die nötigen
Antworten auf Globalisierung durchsetzen, also den Weltmarkt sozial und ökologisch regulieren können.
In diesem Sinne lassen sich Transnationalstaaten als "realistische Utopien" (Giddens) begreifen und
entfalten: gegen die Denkblockaden des nationalstaatlichen Politikmonopols und die Horrorvorstellungen
eines imperialen Weltstaates. Das Modell des Transnationalstaates verneint den Nationalstaat, bejaht aber
den Staat. Das Verständnis des Staates wird herausgelöst aus der territorialen Falle der Nationalstaatstheorie
und geöffnet für einen Staatsbegriff, der zum einen Globalität in ihrer Vieldimensionalität und als
unverzichtbaren Grundsachverhalt (an)erkennt, zum anderen die Bestimmung und Organisierung des
Transnationalen zum Ausgangspunkt für eine Neubestimmung und Revitalisierung des Politischen macht nicht nur im staatlichen, sondern auch im zivilgesellschaftlichen Sinne. Der Schlüsselgedanke besagt, daß
durch transnationale Kooperation, und nur durch diese, die Herausforderungen der Zukunft gemeistert
werden können.
Was hat zu diesem Zusammenbruch der politischen Ordnung geführt?
Sicher hat der Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks wesentlich dazu beigetragen, daß die
Rechts-Links-Koordinaten ihre Bedeutung eingebüßt oder wenigstens nachhaltig verändert haben. Die
Gleichsetzung von "links" mit "sozialistisch" oder "kommunistisch" gehört zum Trauma kritischer,
bürgerrechtlicher Protestgruppen in Polen, Ungarn, Rußland, Bulgarien und den "neuen Bundesländern" der
Ex-DDR.
Aber diese Infragestellung der weltanschaulichen Lager der Linken und der Rechten geht darüber hinaus. So
ist z.B. das Ökologie-Thema ein "konservatives" Thema; geht es doch darum, die Ressourcen zu schonen,
die Natur gegen ihre industrielle Zerstörung zu bewahren. Dennoch gelten grüne Parteien oft als "links".
Umgekehrt gebärden sich viele Neoliberale als Revolutionäre. Sie wollen den Sozialstaat ab- oder
mindestens umbauen, die Gewerkschaften und die ökologischen Produktionsstandards auf den Müllhaufen
der Geschichte werfen. Ist der neoliberale Umsturz nun im klassischen Sinne "rechts" oder "links"?
Denken Sie schließlich an die ganz verschiedenen Reaktionen auf die Herausforderungen der
wirtschaftlichen Globalisierung. Alle - alle politischen Parteien, aber auch alle anderen gesellschaftlichen
Akteure - sind gezwungen, auf die eine oder andere Weise zu reagieren. Aber sind diese meist
protektionistischen Reaktionen nun als "links" oder "rechts" einzuordnen? Linke werden, um es anders
auszudrücken, konservativ, und Konservative gebärden sich revolutionär. Dieses Durcheinander der
politischen Ideologien werden wir wohl eine Zeitlang ertragen müssen.
Kann es dennoch zu einer Restauration der Links-Rechts-Eindeutigkeiten kommen?
Ganz sicher wird es neue Polarisierungen geben, die sich heute schon abzeichnen, etwa, wie ich oben schon
gesagt habe, die zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern; vor allem aber auch
zwischen denjenigen, die auf Einkommen aus Kapitalbesitz oder dem Besitz eines Arbeitsplatzes
zurückgreifen können, und dem Heer der Armen, deren verzweifelte Lage dadurch gekennzeichnet ist, daß
sie von den Reichen nicht mehr als gebraucht werden. An diesen transnationalen Polarisierungen werden
sich - das ist heute schon absehbar - in Zukunft gewaltige und vielleicht gewalttätige soziale und politische
Spannungen aufladen und entladen. Daß es dabei auch zu einer Renaissance der Links-RechtsUnterscheidung kommen kann, ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich.
An den Gretchenfragen: Wie hältst du es mit dem neuen weltgesellschaftlichen Durcheinander der Kulturen
und Identitäten? Wie hältst du es mit dem Nationalstaat? werden sich neue Gegensätze herausbilden. Die
verbreitete Opposition der Rest-Linken in Europa gegen Globalisierung läßt vermuten, daß diese alte Linke
ihre Chancen für eine transnationale Erneuerung noch nicht erkannt hat.
Was spricht weiterhin für das Modell des "Runden Tisches", den Sie als eine Form "konsensstiftender
Zusammenarbeit zwischen Industrie, Politik, Wissenschaft und Bevölkerung" betrachten?
Immer wieder heißt es, die Rede von der Risikogesellschaft habe einen deutschen Beigeschmack von
Sicherheit und Wohlstand. Spätestens seitdem der Konflikt um die Übertragung des "Rinderwahnsinns" auf
Menschen in Großbritannien ausgebrochen und Europa erfaßt hat, ist deutlich geworden: Die Ignoranz
gegenüber Risiken rächt sich nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich, und zwar spätestens beim
Verkauf. Es entstehen prekäre Märkte, deren Konsumenten bei der ersten, immer möglichen Risikomeldung
die Flucht ergreifen.
Risikonachrichten, die so sicher wie das Amen in der Kirche sind, entwerten Kapital, zwingen Unternehmen
letztlich weltweit dazu, die möglichen Bedenken der Konsumenten in den wachen Ländern des Westens
ernst zu nehmen, ja, sie in der Herstellung von Produkten und Dienstleistungen vorwegzunehmen.
Eine der entscheidenden Fragen der zweiten Moderne lautet daher: Wie können riskante Produkte und
Dienstleistungen (.z.B. gentechnisch veränderte Lebensmittel) konsensfähig gemacht werden? Dazu haben
Sozialwissenschaftler einiges beizusteuern. Eine Antwort könnte darin liegen, daß "zustimmungsfähige
Produktpakete" erprobt und exportiert werden, also die Frage beantwortet wird, wie durch neue
Beteiligungsformen und durch eine gläserne Produktpolitik Produkte so konzipiert und gestaltet werden,
daß sie, zusätzlich zum Gebrauchswert, einen "Zustimmungswert" erhalten. Sollte dies z.B. durch eine
Politik der "Runden Tische" gelingen, wären diese "zustimmungsfähigen" Produkte und Dienstleistungen
allen anderen auf Dauer auch am Weltmarkt überlegen.
Was wird aus den Parteien im Zeitalter des "und", das für Sie die "Entweder-oder"-Epoche der Industriezeit
ersetzt?
Zumindest in den Metropolen des Westens - die Situation in Bulgarien und anderen mittel- und
osteuropäischen Staaten kenne ich nicht genug - sind als Sieger aus den letzten Wahlkämpfen Figuren und
Programme hervorgegangen, die das alte Rechts-Links-Schema aufgebrochen und neu gemischt haben. Man
spricht von einem "postmodernen" Trend unter den großen Wählerschichten und insbesondere auch in den
massenmedialen Inszenierungen der Wahlschlachten in den Ländern des alten Westens, aber zunehmend
auch in allen anderen Teilen der Welt. Damit ist bekanntlich gemeint, daß siegreiche Kandidaten ihre
Programmatik und ihre Person so stilisieren, daß sie den jeweils gegnerischen Personen und Parteien die
Schlüsselthemen "stehlen".
So hat beispielsweise Tony Blair in Großbritannien den Konservativen die Dramaturgie der Familienwerte,
die Betonung von Sicherheit, zum Teil auch ein neues Elite- und Nationalbewußtsein "gestohlen" - und in
einem durchaus nicht widerspruchsfreien Gemisch mit den vertrauten Labour-Themen dem Wähler als
telegen attraktives Angebot repräsentiert. Ähnliches ist auch in Deutschland zu beobachten. Helmut Kohl
schmückt sich oft mit ökologischen Federn und spielt einmal auf dem nationalistischen, dann wieder auf
dem zivilgesellschaftlichen Klavier.
Die neuen großen Parteien versuchen also noch größer zu werden, indem sie gleichsam die möglichen
Anliegen der Opposition mit vertreten, um diese so überflüssig zu machen. Dies ist sicherlich nur eine
Reaktion auf die neue Situation. Wie lange die Wähler diese programmatische Abschaffung der Opposition
hinnehmen angesichts sich verschärfender Arm-Reich- und Denational-Renational-Konflikte, bleibt
abzuwarten.
Wie läßt sich auf diese Politikverleugnung reagieren?
Viele Politiker und Politikwissenschaftler verwechseln - sehr "parteienegoistisch" übrigens - politisches
Engagement mit Mitgliedschaft in Parteien. Dann allerdings sind, wie überall in Vereinen und Parteien
geklagt wird, jugendliche Nichtmitglieder "Egoisten" - auch wenn sie sich in Obdachlosen-, Nachhilfe- und
Umweltinitiativen vor Ort engagieren. Viele Ältere glauben: Nur wer von sich selbst absieht, kann für
andere dasein. Irrtum: Anderen helfen kann geradezu ein "Ego-Trip" sein, weil man nur auf diese Weise
herausfinden kann, wer man ist. Dienst für andere heißt, sich selbst aufzuopfern, unsichtbar, unbezahlt,
un(an)erkannt bleiben, Schattenarbeit also. Das ist Unsinn, sagen viele Jugendliche, denn so werden "Opfer"
und "Helfer" in falsche Stereotypen gepreßt, die einzelnen sozusagen zu Fußsoldaten in einer "GemeinwohlArmee" gemacht.
Fügt man diese drei Gesichtspunkte - die Verwechslung von Mitgliedschaft mit Engagement, die Prinzipien
der Selbstaufopferung und des unsichtbaren Dienstes - zusammen, dann hat man (stark vergröbert) genau
das Abschreckungsbild, das die Kinder der Freiheit zur Flucht aus den Organisationen nötigt. Man kann
nicht Hurra-Kapitalismus und Selbstlosigkeit predigen - und dann die Jugendlichen beschimpfen, wenn sie
Politikern mißtrauen und davonlaufen.
Vielleicht hilft es, den Spieß umzudrehen: Hinter der Rede vom Wertezerfall verbirgt sich ein Wertkonflikt,
eine andere Auffassung des Politischen im Wechsel der Generationen. Die Räume, in denen junge
Menschen moralisch und politisch denken und handeln, sind zum einen kleiner als die nationalstaatliche
Bühne etablierter Politik. Hier richten sich die Ansprüche der Jugendlichen oft auf die eigene Nahwelt und
steigern sich leicht ins Unerfüllbare; zum anderen sind die Räume des Engagements weitläufiger, damit
unhandlicher, ja handlungsunzugänglich.
Viele Jugendliche im Westen bewegt: Wie löst man die globale Umweltzerstörung auf? Wie kann der
Hoffnungstod der Arbeitslosigkeit wirksam konterkariert werden? Wie mit der Aids-Gefahr lieben und
leben? Alles Fragen, die mit Fallgeschwindigkeit durch die Raster der etablierten Politik fallen. Deswegen
praktizieren die Kinder der Freiheit eine hochpolitische Politikverleugnung. Man wählt nicht, aber ist dabei
- tatsächlich oder in Gedanken -, wenn es um die Verhinderung des Castor-Transportes in der
Bundesrepublik geht, dem Symbol der unbewältigten Gegenwart, der Atomenergie und Atompolitik. Was
ist politischer?
Welche Möglichkeiten sehen Sie zur Erfindung des Politischen besonders in den neuen Demokratien in
Osteuropa?
Ich habe die "Transformations"-Diskussion mit Unbehagen verfolgt, weil sie die Rezeptur der ersten
Moderne unbefragt auf die postkommunistischen Staaten übertragen hat. Die Situation war aber so komplex
und undurchsichtig, daß Stimmen, in denen sich die (nicht-marxistische!) Selbstkritik der westlichen
Moderne artikuliert, nicht durchzudringen vermochten.
Ich denke etwa an Anthony Giddens, den Kollegen und Freund, der nun Direktor der London School of
Economics ist, aber auch die vielfältigen und hochwichtigen Arbeiten zu Globalisierungs-Fragen, die seit
Ende der 80er Jahre in den angelsächsischen Sozialwissenschaften vorliegen und einen ganz anderen
Bezugsrahmen für die Reorientierung und Reorganisation der neuen Demokratien in Osteuropa böten. Dies
in den Einzelheiten zu entfalten, ist sicherlich hier nicht möglich. Man kann es in meinem Buch "Was ist
Globalisierung?" nachlesen.. Aber für mich liegt es auf der Hand, daß die Blaupausen der Moderne, nach
denen man die Demokratien Mittel- und Osteuropas aufzubauen versucht hat, schon im Moment ihrer
Anwendung veraltet waren.
Beispielsweise im Bereich der Wirtschaft erleben wir einen Übergang der industriellen und der
Dienstleistungsgesellschaft zu einer neuartigen post-industriellen und Post-Dienstleistungsgesellschaft,
deren Konturen noch unklar sind. Schon jetzt zeichnet sich aber ab, daß eine Zentralprämisse, nämlich die
Gleichsetzung von Produktion, Kooperation und Ort, (also wiederum die territoriale Falle des
nationalstaatlichen Denkens!), überholt und überrollt wird durch transnationale Produktions- und
Kooperationsweisen. Im Augenblick können die neuen Demokratien Osteuropas den sozialstaatlich
hochentwickelten Ländern Westeuropas mit der hohen Arbeitsmoral ihrer Bevölkerung und den erheblich
geringeren Lohnkosten sehr wohl den Rang ablaufen. Aber schon bald werden auch die neuen Staaten
Osteuropas in den Globalisierungssog und -schock geraten, der jetzt Westeuropa erfaßt hat und gefangen
hält. Dann beginnt das Gejammere und das Strampeln um neue Orientierungen und Koordinaten, die ich mit
dem Übergang zur zweiten Moderne seit den achtziger Jahren theoretisch, empirisch und politisch ins
Blickfeld zu rücken versuche.
Was verstehen Sie darunter und welchen Bezug haben diese Begriffe zur Postmoderne?
Alle entwickelten Gesellschaften stehen vor den Herausforderungen der zweiten Moderne, welche dazu
zwingen, die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu überdenken und zu reformieren. Globalisierung nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell und politisch verstanden - stellt eine solche Herausforderung
dar. Wir leben in einer Weltgesellschaft, in der die Vorstellung von geschlossenen Räumen fiktiv geworden
ist. Kein Land kann sich vom Rest der Welt abschließen. Das hat zur Folge, daß die Gegensätze der
Kulturen aufeinanderprallen und die Selbstverständlichkeiten auch des westlichen Lebensmodells sich neu
rechtfertigen müssen. Die wirtschaftliche und die Kultur-Dominanz Europas endet.
Ein anderes Phänomen ist die Individualisierung: Kollektive Lebensmuster verlieren ihre Verbindlichkeit,
und es stellt sich die Frage, wie aus Ich und Ich lebbare soziale Zusammenhänge gestiftet werden können.
Vor allem aber: Wie läßt sich eine Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit vorstellen? Die erste Moderne war als
Erwerbsarbeitsgesellschaft definiert: Einkommen, sozialer Status, Identität und Altervorsorge waren durch
Erwerbsarbeit vermittelt. Was aber geschieht, wenn das Erwerbsvolumen schrumpft, weil immer mehr
Güter und Dienstleistungen mit immer weniger menschlicher Arbeit geliefert werden können?
Schließlich nicht zuletzt die ökologische Krise, die derzeit aufgrund der Arbeitslosigkeit in Europa aus der
allgemeinen Aufmerksamkeit herausrutscht.
Die Crux ist, daß meist nur eine dieser Herausforderungen im Zentrum der Debatten steht. Die Kernfrage
der zweiten Moderne ist jedoch, daß diese vier Herausforderungen - der Globalisierung, der
Individualisierung, einer Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit und der ökologischen Krise - gleichzeitig
beantwortet werden müssen. Genau in diesem Sinne gilt es, die Moderne neu zu buchstabieren.
Für diese Herausforderung läßt sich der Begriff "zweite Moderne" in doppelter Hinsicht scharf profilieren:
zum einen gegen die Weiter-so-Modernisierer, die all jene Widersprüche erzeugen, die auf die
Tagesordnung gehören. Zum anderen aber auch gegen die Post-Modernisten, deren diagnostische Kraft auf
Null zu tendiert, da sie schon immer wußten, daß wir nichts wirklich wissen können. Um dies zu
illustrieren: Die Weiter-so-Modernisierer behaupten, Kolumbus hat nicht Amerika entdeckt, sondern ist
doch in Indien gelandet. Demgegenüber verkünden die Post-Modernisten, die Frage, wo Kolumbus gelandet
ist, sei lediglich ein Gaukelspiel der Medien. Die Vertreter der zweiten Moderne dagegen sagen: Laßt uns
die Weltlage neu erkunden!
Wird ein anderes Instrumentarium notwendig?
Wir leben in einer Zeit, in der nicht mehr klar ist, wie weit sozialwissenschaftliche Begriffe wie Beruf,
Familie, soziale Klasse, soziale Schicht, Nationalstaat etc. noch die Realität treffen, in der nicht mehr klar
ist, ob Arbeitslosigkeit ein soziales Problem ist oder der erste Schritt in die Freiheit von der
Arbeitsgesellschaft? Ist das Streben nach Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum die Lösung oder eine
zentrale Ursache der Probleme? Werden durch den Ausbau des medizinischen Versorgungssystems
Möglichkeiten, krank zu werden, bekämpft oder ausgeweitet?
In allen Detailfragen und Bereichen des Modernisierungsprozesses hat sich der Zweifel eingenistet,
inwieweit hier nicht der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben werden soll. Das Ganze, die Welt der
ersten, klassischen industriegesellschaftlichen Moderne ist in Bewegung geraten, und zwar in der
Kontinuität der Modernisierungsdynamik selbst - das nenne ich "reflexive Modernisierung". Die
Industriemoderne wird sich selbst zur Tradition, zersetzt ihre eigenen historisch entstandenen, historisch
vergänglichen Prämissen und Lebensformen.
Die Gründungsväter der Soziologie haben diese auf möglichst stabile Begriffsfundamente zu stellen
versucht. Die Kantsche Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, übertragen auf soziales Handeln und
Gesellschaft, Kapitalismus und Moderne, bildet im weitesten Sinne das gemeinsame Programm von Marx,
Weber, Durkheim, Simmel, Mead, Parsons. Dabei sind historische Erfahrungen der ersten Moderne
verabsolutiert worden. Die Suche nach dem Denknotwendigen als Reaktion auf den Zusammenbruch des
feudal-metaphysischen Weltbildes hat bis heute aber die empirische Forschung bis in ihre Verästelung von
Familie, Klasse, Beruf, politischen Parteien etc. hinein auf die tönernen Füße "vergänglicher" Aprioris
gestellt. Die zentrale Prämisse bricht im Zuge der bevorstehenden Globalisierungsprozesse auf: die
Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaat. Damit stellt sich aber die elementare Frage erfrischend
neu: Was ist eigentlich die Grundeinheit der Soziologie?
Wie läßt sich mit den Kräften der Gegenmodernisierung umgehen?
Wer sich die Umwälzung im Grundgefüge der ersten Moderne vor Augen hält, muß schauen, wie und wo
neue Strukturen, Koordinaten, Orientierungen entstehen. Dominierte im Westen in den 70er und 80er Jahren
die Auflösungsperspektive, so wird angesichts der eklatanten Unsicherheiten nach dem Ende des Kalten
Krieges die Frage zentral: Wo und wie entstehen neue Strukturen? Hier allerdings liegt eine schwer zu
überwindende Schwierigkeit: Wenn überhaupt, dann wird nach neuen Strukturbildungen im Horizont der
alten Kategorien gesucht.
Man setzt auf das Pathos der Nation, um die individualisierte Gesellschaft aufzuheben. Überall, auch gerade
im nachkommunistischen Europa werden die alten Ethnien wiederbelebt. Und dies als Re-Aktion auf den
neuen gesellschaftlichen Nexus, dem sich niemand entziehen kann! Kann Europa denn niemals seine
Gewaltgeschichte abstreifen?
Ehe, Elternschaft, Liebe, Zusammenleben, Haushalt fallen auseinander. Was so entsteht, wird jedoch mit
der unsinnigen Leichtigkeit des geschichtslosen Blickes mit dem anheimelnden Nischenwort "Familie"
gefaßt. Wir trauern über die zunehmende Arbeitslosigkeit trotz wirtschaftlichen Aufschwungs, wagen aber
nicht zu prognostizieren, wie sich das Selbstverständnis einer Erwerbsarbeit, in der das Volumen der
Erwerbsarbeit nachweislich (übrigens in allen frühindustrialisierten Ländern) seit den siebziger Jahren
schrumpft, ändern muß; wie jenseits der Erwerbsarbeit soziale Sicherheiten, Identitäten, ja Demokratie ganz
allgemein möglich werden.
Das heißt: Alle Änderungen müssen im Denken, mit der Arbeit am Begriff, beginnen. Es gilt, der ersten
Moderne - mit ihrem Schwergewicht auf Industrie, Nationalstaat, Ethnien, Klassen, Männer- und
Frauenrolle, Kleinfamilie, Technikglauben etc. - die Konturen einer zweiten Moderne gegenüberzustellen,
für die wir erst begrifflich sensibel werden müssen. Die Diagnose liegt auf dem Tisch. Aber es gibt eine
tiefe Denkhemmung der Sozialwissenschaften, sich wirklich für die neuen Fragen zu öffnen.
Warum beginnen wir nicht, über eine neue transnationale Architektur des Politischen nachzudenken?
Zunächst mit hoher empirischer Sensibilität für die "transnationalen Pflänzchen", die überall entstehen,
dann aber auch in einem normativen Sinne. An den Anfragen, die mich aus Wirtschaft und Politik erreichen,
kann ich ablesen, wie groß die herrschende Ratlosigkeit und wie hoch der Bedarf nach einer Soziologie ist,
die Mut faßt, das Institutionengefüge für das globale Zeitalter zu öffnen und weiterzuentwickeln.
Doch reflexive Modernisierung führt nicht zwangsläufig zu einer "Reflexion" der Modernisierung und ihrer
Folgen, sondern begünstigt auch Gegenmodernisierungen. Ich verstehe "Gegenmodernisierung" als
hergestellte, herstellbare Fraglosigkeit. Genauer: Tilgung, Entsorgung der Fragen, in die die Moderne
zerfällt. Die Gegenmoderne absorbiert, verteufelt, fegt die Fragen vom Tisch, welche die Moderne aufwirft,
auftischt, auffrischt. Gegen Gegenmodernisierung gibt es kein politisches Patentrezept. Aber es helfen
durchaus historische Erfahrungen. Der deutsche Faschismus und sein Wüten in diesem Jahrhundert können
als eine Frühform der Gegenmodernisierung analysiert und bewertet werden. Eine der Antworten des
westlichen Europas war der Ausbau des Wohlfahrts- und Sozialstaates.
In meinen Augen fällt die Frage, wie die bevorstehenden Gegenmodernisierungen der globalen Ära
politisch beantwortet und verkraftet werden können, mit der Frage zusammen, wie ein transnationales
System sozialer Sicherheiten - zunächst einmal im europäischen Raum, letztlich aber auch darüber hinaus erfunden, begründet und politisch durchsetzbar wird. In der Beantwortung dieser Frage stehen wir allerdings
noch ganz am Anfang.
Was ist Subpolitik eigentlich genauer?
Politik verändert ihren Sinn, eben weil ihre Grundlagen transformiert werden. Es handelt sich sozusagen um
eine passiv erlittene Regelveränderung der Politik. Das ist allerdings überall greifbar, wenn man nicht nur
im nationalstaatlichen Paradigma denkt und forscht. Greifen wir wiederum Globalisierung als Beispiel
heraus.
Die global agierende Wirtschaft untergräbt die Grundlagen der Nationalökonomie und der Nationalstaaten.
Dadurch wird eine Subpolitisierung völlig neuen Ausmaßes und mit unabsehbaren Folgen ausgelöst. Es
geht darum, in einer neuen Runde den alten Widersacher "Arbeit" elegant auf das historische Abstellgleis zu
schieben; aber auch das Kapital aus den Klammern nationalstaatlicher Politik zu "befreien". "Alles
Ständische, alles Althergebrachte, alles Verknöcherte und Verkrustete verdampft", hatte Marx schon im
Kommunistischen Manifest kaum noch heimlich über das revolutionäre Potential des Kapitals gejubelt. Das
"Ständische" ist jetzt die sozialstaatliche und gewerkschaftliche Organisation der Arbeit und "das
Verknöcherte und Verkrustete" sind die bürokratischen Vorgaben und Steuerschrauben des Nationalstaates.
Unter den "Gesetzen" des globalen Marktes muß man im übrigen Nicht-A tun, um A zu erreichen: etwa
Arbeitskräfte radikal abschaffen oder auslagern, um Arbeitsplätze an Ort und Stelle zu sichern. Gerade weil
Arbeit ausgedünnt werden kann und muß, um Gewinne zu steigern, verkehrt sich die gängige Politik unter
der Hand in ihr Gegenteil. Wer nun das Wirtschaftswachstum anheizt, erzeugt am Ende Arbeitslosigkeit.
Wer Steuern senkt, damit die Gewinnchancen steigen, erzeugt möglicherweise ebenfalls Arbeitslosigkeit.
Die politischen und gesellschaftlichen Paradoxien einer transnationalen Wirtschaft müssen erst noch
wissenschaftlich aufgedeckt und politisch verkraftet werden.
Worauf gründet sich die neue Macht transnationaler Unternehmen? Sie können erstens Arbeitsplätze dahin
exportieren, wo die Kosten und Auflagen für den Einsatz der Arbeitskräfte möglichst niedrig sind. Sie sind
zweitens in der Lage (aufgrund der informationstechnischen Herstellung von Nähe und Nachbarschaft
überall auf der Welt), Produkte und Dienstleistungen so zu zerlegen und arbeitsteilig an verschiedenen
Orten der Welt zu erzeugen, daß nationale und Firmen-Etikette geradezu als irreführend gelten müssen. Sie
sind drittens in der Position, Nationalstaaten oder eigene Produktionsorte gegeneinander auszuspielen und
auf diese Weise einen "globalen Kuhhandel" um die billigsten Steuer- und günstigsten
Infrastrukturleistungen betreiben zu können. Schließlich können sie viertens in dem bevorzugten,
kontrollierten Dickicht globaler Produktion zwischen Investitionsort, Produktionsort, Steuerort und
Wohnort selbsttätig unterscheiden und diese gegeneinander ausspielen. Mit dem Resultat: Die
Führungskräfte können dort leben und wohnen, wo es am schönsten ist, und Steuern zahlen, wo es am
billigsten ist.
Wohlgemerkt: Alles ohne Eingabe oder Beratung im Parlament, ohne Regierungsbeschluß, ohne
Gesetzesveränderung; ja, nicht einmal eine Debatte in der Öffentlichkeit ist dazu erforderlich. Dies
rechtfertigt den Begriff "Subpolitik" - nicht als eine Verschwörungstheorie, sondern als zusätzliche
Handlungs- und Machtchancen jenseits des politischen Systems, die den im weltgesellschaftlichen Rahmen
agierenden Unternehmen zugewachsen sind. Die Machtbalance, der Machtvertrag der ersten Moderne wird
aufgekündigt und - vorbei an Regierung und Parlament, Öffentlichkeit und Gerichten - in der Eigenregie
wirtschaftlichen Handelns umgeschrieben. Ich wiederhole mich: Dadurch ist gleichzeitig Politik in einer
beispiellosen Weise herausgefordert. Sie muß gleichsam neu erfunden werden im Sinne einer
transnationalen Innenpolitik, die die nationalstaatlichen und nationalkulturellen Entgegensetzungen
glaubhaft, d.h. bezogen auf die wohlverstandenen Eigeninteressen der Bevölkerungen, überwindet. Das
findet aber bislang mehr in den Arenen der (transnationalen) Subpolitik als in den Parteien, Parlamenten
und Regierungen statt.
Welche neuen Handlungsmöglichkeiten gibt es für die einzelnen in der Weltgesellschaft der Konzerne?
Greifen wir zur Beantwortung dieser Frage ein anderes Beispiel heraus: Im Sommer 1995 hat der moderne
Held für die Sache, Greenpeace, zunächst erfolgreich den Ölmulti Shell dazu gebracht, eine abgewrackte
Bohrinsel nicht im Atlantik zu versenken, sondern an Land zu entsorgen. Ihm gelang dies in einer
widersprüchlichen Koalition globaler Sub- oder Direktpolitik. Es entstanden Bündnisse der "eigentlich"
Nicht-Bündnisfähigen. So hat z.B. Bundeskanzler Kohl die Greenpeace-Aktion gegen den damaligen
britischen Premier Major unterstützt. Plötzlich wurden politische Momente im Alltagshandeln aufgedeckt
und eingesetzt - z.B. im Tanken. Autofahrer verbünden sich gegen die Ölindustrie. (Das heißt doch soviel
wie: Drogensüchtige proben den Aufstand gegen ihre Dealer.) Am Ende koaliert die Staatsmacht mit der
illegitimen Aktion und ihren Organisatoren.
So vollzog sich im Anti-Shell-Bündnis ein Szenenwechsel zwischen der Politik der ersten und der zweiten
Moderne: Die nationalstaatlichen Regierungen saßen auf der Zuschauerbank, während nichtautorisierte
Akteure der zweiten Moderne in eigener Regie das Geschehen bestimmten. Neu ist das Bündnis zwischen
außerparlamentarischen und parlamentarischen Gewalten, Bürgern und Regierungen rund um den Globus
für eine im höheren Sinne legitime Sache: die Rettung der (Um)Welt.
Selbstverständlich war z.B. das Anti-Shell-Bündnis moralisch halbseiden und verdächtig. Beruhte es doch
ganz unverblümt auf Scheinheiligkeit, Helmut Kohl beispielsweise konnte mit dieser symbolischen Politik,
die ihn gar nichts kostete, darüber hinweg täuschen, daß er mit seiner ungebremsten
Hochgeschwindigkeitspolitik auf deutschen Autobahnen die Luft in Europa verpestet. Dennoch zeigt sich
hier eine neue Qualität: Das Handeln von Weltkonzernen und nationalen Regierungen gerät unter den Druck
einer Weltöffentlichkeit. Dabei ist die individuell-kollektive Partizipation an globalen
Handlungszusammenhängen entscheidend und bemerkenswert: Der Bürger entdeckt den Kaufakt als
direkten Stimmzettel, den er immer und überall politisch anwenden kann. Im Boykott verbindet und
verbündet sich derart die aktive Konsumgesellschaft mit der direkten Demokratie - und dies weltweit.
Das kommt - exemplarisch - dem nahe, was Immanuel Kant vor zweihundert Jahren in seiner Schrift "Zum
ewigen Frieden" als Utopie einer Weltbürgergesellschaft entwarf und der repräsentativen Demokratie, die er
"despotisch" nannte, gegenüberstellte: ein globaler Verantwortungszusammenhang, in dem die einzelnen und nicht nur ihre organisatorischen Repräsentanten - direkt an politischen Entscheidungen teilnehmen.
Sicher, das setzt Kaufkraft voraus, schließt alle die aus, die keine haben. Auch war der Protest
massenmedial und symbolisch vermittelt. Doch wird hier sichtbar: Globale ökologische Gefahren
erschaffen - gesellschaftlich-kulturell betrachtet - einen Sinnhorizont des Vermeidens, Abwehrens, Helfens,
ein mit der Größe der wahrgenommenen Gefahr sich verschärfendes moralisches Klima, in dem die
dramatischen Rollen von Heroen und Schurken politisch neu besetzt werden. Genau dies ist der
Hintergrund, vor dem es Greenpeace gelingt, sich mit Listen der Ohnmacht in Szene zu setzen. Alles dies
sind auch Beispiele jener neuartigen transnationalen Subpolitik, für die wir in den Sozialwissenschaften erst
theoretisch und empirisch sensibel werden müssen.
Was verändert sich beispielsweise durch den neuen Horizont der Ungewißheiten?
Viele reagieren auf die neuen Ungewißheiten mit neuen Feindbildern. Wenn man sich fragt, was eigentlich
das herausragende Merkmal eines Europas jenseits des Ost-West-Konflikts ist, trifft man sicherlich auch auf
die bislang unzureichend durchdachte Feindbildlosigkeit.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Staaten im Kalten Krieg durch klare Feindbilder national und
transnational "integriert" wurden. Dies galt in Deutschland bis in das Demonstrationsrecht und die
alltägliche politische Praxis hinein. Kritiker wurden mit dem Hinweis abgefertigt: "Dann geht doch rüber"
(womit die DDR gemeint war). Vor kurzem sagte der deutsche Verteidigungsminister den schönen Satz:
"Deutschland ist von Freunden umzingelt". Dies bringt tatsächlich die neue Verlegenheit der Bundeswehr
auf den Punkt, die zwar ihre Stellung in der NATO bewahrt, aber ihren Feind - die DDR und den
Warschauer-Pakt - verloren hat.
Was aber macht Europa mit diesem wunderbaren Geschenk der Feindlosigkeit? Viele begeben sich auf die
Suche nach dem verlorenen Feind! Feindlosigkeit ist nicht zu verwechseln mit Feindbildlosigkeit, im
Gegenteil entsteht damit umgekehrt ein unstillbarer Bedarf nach neuen Feindbildern. Daß nach dem Ende
des Kalten Krieges überall blutige Konflikte aufbrechen: wer kann das leugnen. Auffällig ist jedoch, daß
gerade in einem Land, das sich zum ersten Mal in seiner kriegerischen Geschichte "von Freunden
umzingelt" sieht, ein so reger Handel mit allen möglichen und unmöglichen Feindbildern unter eifriger
Beteiligung von Intellektuellen aller Gesinnungsgattungen blüht.
Der Trend läuft vom konkreten zum austauschbaren Feind: erstens der konkrete Feind. Hier treten an die
Stelle des Großfeindes ("Kommunismus") Wechselrahmen für Feindbilder auf Zeit (islamischer
Fundamentalismus, Dritte Welt, Irak, Serbien usw.). Befinden sich hier Regierungen oder Religionen im
Fadenkreuz, so werden diese beim abstrakten Feind durch diffuse Summengruppen (Asylbewerber,
Überbevölkerung, neue Völkerwanderungen etc.) ersetzt oder sogar durch allgemeine Anomien der
Moderne (Drogenhandel, Mafia, organisierte Gewaltkriminalität). Schließlich kann drittens eine angebliche
Feindlücke auch durch prinzipielles Nachdenken geschlossen werden, beispielsweise dadurch, daß
Feindschaft als unüberwindlich dargestellt wird. Diese anthropologische Feindbild-Flexibilisierung
ermöglicht Feindbilder ohne Feinde. Je unaufhebbarer und undurchsichtiger die Bedrohung, desto größer
und vielfältiger die Zukunftsmärkte für Sicherheit und Militärtechnologien überall auf der Welt.
Trifft diese Behauptung in ihrer Allgemeinheit wirklich zu?
Es wäre ein Mißverständnis anzunehmen, daß staatliche Politik verschwindet oder auch nur an Bedeutung
verlöre. Im Augenblick scheint es so, weil ihre Souveränität und Gestaltungsmacht in der Konstellation der
zweiten Moderne schwindet.
Doch nehmen Sie das beispiellose Experiment der Einführung des Euro. Worum geht es dabei? Letztlich
um die Rolle, welche die Europäische Union in der Welt zu spielen imstande sein soll: Soll sie ein Akteur
des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Weltgeschehens sein? Ein Akteur, der den Vereinigten
Staaten ebenbürtig wäre? Darum geht es. Die Europäische Union ist der weitaus größte Markt der Welt. Sie
wäre somit in der Lage, die Regeln für den Welthandelsverkehr neu zu bestimmen und mit ihren
Handlungspartnern langfristig regionale Verträge zu schließen, die bei den anderen die Einführung und
Beachtung sozialer und ökologischer Maßstäbe fördern und, wo nötig, unterstützen. Auf diese Weise könnte
ein neuer sozial-ökologischer Gesellschaftsvertrag Politik revitalisieren.
Ich glaube also nicht an das vielbeschworene Ende staatlicher Politik. Es handelt sich um einen Stillstand,
auch um einen Stillstand in den Köpfen, weil man sich Alternativen einfach nicht vorstellen kann und weil
sich zumindest die westlichen Intellektuellen in den postmodernen Reflexionsschleifen selbst politisch
kaltgestellt haben.
Die Philosophen der Postmoderne haben der Aufklärung den Totenschein ausgestellt. Doch in dem Buch
"Kinder der Freiheit" habe ich zu zeigen versucht, daß mit dem sogenannten "Werteverfall" vielleicht die
Kollektiv-Orthodoxie politischen Handelns, nicht aber politisches Handeln endet. Parallel mit dem
Verblassen sozialmoralischer Milieus bilden sich nämlich lebensweltliche Grundlagen für einen
weltbürgerlichen Republikanismus heraus, in dessen Zentrum die Freiheit des einzelnen steht. Dies ist der
sozialkulturelle Hintergrund für zivilgesellschaftliche Subpolitik, der durchaus eine Neuverteilung
politischer Aufgaben und Macht begründen und ermöglichen könnte.
Welche Hoffnungen auf eine Neuerfindung des Politischen lassen sich auf dieser eher selbstorganisierenden
begründen?
Der Begriff "Subpolitik" zielt auf Politik jenseits der repräsentativen Institutionen des nationalstaatlichen
politischen Systems. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf Anzeichen für eine (letztlich globale)
Selbstorganisation von Politik, die tendenziell alle gesellschaftlichen Felder in Bewegung setzt. Subpolitik
meint "direkte" Politik, das heißt punktuelle individuelle Teilhabe an politischen Entscheidungen, vorbei an
den Institutionen repräsentativer Willensbildung (politische Parteien, Parlamente), oft sogar ohne rechtliche
Sicherungen.
Subpolitik meint, anders gesagt, Gesellschaftsgestaltung von unten. Dadurch geraten Wirtschaft,
Wissenschaft, Beruf, Alltag, Privatheit in die Stürme politischer Auseinandersetzungen. Diese gehorchen
allerdings nicht dem überkommenen Spektrum parteipolitischer Gegensätze. Insofern sind für
weltgesellschaftliche Subpolitik punktuelle, themenspezifische "Koalitionen der Gegensätze" (der
politischen Parteien, Nationen, Regionen, Religionen, Regierungen, Rebellen, Klassen) geradezu
charakteristisch. Entscheidend aber ist, daß auf diese Weise Subpolitik Politik freisetzt, indem sie die
Regeln und Grenzen des Politischen verschiebt, öffnet, vernetzt sowie verhandelbar und gestaltbar macht.
Die Frage, was das heißt, kann auf ganz unterschiedliche Weisen beantwortet werden. Ich möchte hier
einmal zwei herausgreifen, die vielleicht in meinen bisherigen Schriften nicht so deutlich geworden sind,
zum einen Subpolitisierung durch Risikokonflikte, zum anderen durch weltgesellschaftliche Akteure.
Das herausragende Merkmal von Konflikten im Gefolge von Risiken liegt nämlich darin, daß zuvor
depolitisierte Bereiche der Entscheidungsfindung durch die öffentliche Wahrnehmung von Risiken
subpolitisiert werden; das heißt, sie werden - meist unfreiwillig und gegen den Widerstand der diese
Entscheidungen monopolisierenden, machtvollen Institutionen - für öffentliche Zweifel und Debatten
geöffnet. So werden in der Weltrisikogesellschaft über Nacht Gegenstände und Themen öffentlich
ausbuchstabiert, die früher hinter verschlossenen Türen verhandelt wurden, wie z.B. ökonomische
Investitionsentscheidungen, chemische Zusammensetzungen von Produkten und Medikamenten,
wissenschaftliche Forschungsprogramme, die Entwicklung neuer Technologien. Alles dies bedarf plötzlich
öffentlicher Rechtfertigung, und es wird möglich, einen rechtlichen und institutionellen Rahmen
auszuarbeiten und umzusetzen, um dieses wichtige Stück mehr Demokratie zu legitimieren und auf Dauer
zu stellen.
Ironisch gesagt: Über nichtintendierte, nichtgesehene "Folgeprobleme" wird inzwischen überall gleichsam
auf Voranmeldung diskutiert, sogar bevor die entsprechenden Produkte und Technologien tatsächlich
erfunden wurden. Entscheidend ist allerdings, daß diese Erweiterung und Vertiefung der Demokratie in die
apolitischen Bereiche von Wirtschaft, Ökonomie, Wissenschaft (und teilweise auch in der Privatsphäre)
bisher blockiert werden durch antiquierte "Definitionsverhältnisse", durch welche die Beweislasten nicht
denjenigen zugewiesen werden, die von Risiken profitieren, sondern denjenigen, die von ihnen betroffen
werden. Das heißt, in der Weltrisikogesellschaft entsteht im Zuge der öffentlichen Wahrnehmung von
Risiken eine selbstkritische, zumindest in ihren Reden zum Gegenhandeln und Umdenken bereite
Gesellschaft, in der z.B. Versicherungen technikgläubigen Technikern widersprechen. Diese sagen: NullRisiko; jene, die ökonomisch im Falle eines Falles für dieses "Null"-Risiko geradestehen müssen, sagen:
nicht versicherbar; das ökonomische Risiko ist im Falle des Falles zu hoch (Beispiel Kernenergie, aber auch
Gentechnologie).
Es bilden sich zugleich Konturen einer Utopie der ökologischen Demokratie heraus, die für mich im Kern
eine verantwortliche Moderne wäre. Was "verantwortlich" heißt, einschließt, läßt sich erläutern, wenn man
auf die Debatte der angelsächsischen Philosophie und Wissenschaftsforschung zurückgreift, die unter dem
Stichwort "technological citizenship" geführt wird. Hier wird das Bild einer Gesellschaft entworfen, die
über Konsequenzen technischer und ökonomischer Entwicklungen debattiert, bevor die
Schlüsselentscheidungen getroffen wurden. Die Beweislast für zukünftige Risiken und Gefahren würde bei
den Verursachern liegen und nicht länger bei den potentiell oder aktuell Verletzten oder Gefährdeten: vom
Prinzip, der Verursacher bezahlt, zum Prinzip, der Verursacher beweist, welche (möglichen) Schädigungen
seine Unternehmung in die Welt setzt.
Transnationalen Subpolitik entsteht erstens aus den Möglichkeiten, Entfernungen zu annullieren durch
Informations- und Kommunikationstechnologien, Kapitalströme, Mobilität von Dingen, Symbolen und
Menschen; zweitens aus dem Gesetz der wechselseitigen Neutralisierung der Staaten im transnationalen
Raum; drittens aus der Staatenlosigkeit der Weltgesellschaft. Die entscheidende Folge ist viertens: Es öffnet
sich eine Machtdifferenz zwischen nationalstaatlicher Politik und transnationalen Handlungsmöglichkeiten.
Diese Differenz zeigt sich nicht nur im Verhältnis der Nationalstaaten zu multinationalen Konzernen - hier
ist diese Machtdifferenz am Sichtbarsten hervorgetreten. Sie bestimmt auch beispielsweise die
Durchsetzung transnationalen Rechts, die Bekämpfung transnationaler Kriminalität, die
Durchsetzungsmöglichkeiten transnationaler Kulturpolitik oder die Aktionschancen transnationaler sozialer
Bewegungen. Diese Machtdifferenz hat ihren Ursprung im wesentlichen darin, daß die Staaten territorial
gebundene Einheiten sind, dieses Territorialprinzip aber im transnationalen, weltgesellschaftlichen
Handlungsraum aufgehoben oder wenigstens relativiert ist, so daß weltgesellschaftlichen Akteuren
Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Staaten zuwachsen, die an ein Spiel von Katze und Maus
erinnern.
Dabei sind - wie gesagt - die Hintergrundbedingungen im Auge zu behalten, da sich in der Konkurrenz der
Nationalstaaten deren Macht wechselseitig neutralisiert, und daß das weltgesellschaftliche Handlungsfeld
nicht von einer Art "Weltstaat" hegemonisiert wird. Dann treffen im transnationalen Raum zwei Dinge
aufeinander: staatliche Politik und transnationale Subpolitik, nationale Spieler, die auch gegeneinander
antreten, und weltgesellschaftliche Spieler, die ihr Spiel mit den Nationalspielern spielen.
Wo lassen sich bereits Ansätze einer transnationalen Subpolitik erkennen?
Subpolitik meint, wie gesagt, eine Vervielfachung politischer Akteure und Organisationen im
transnationalen, aber auch im subnationalen Raum; es meint auch, die Zunahme an verfügbaren
Organisationsmodellen ebenfalls transnational, international, lokal, wobei Globalisierung durchaus auch
einhergehen kann mit subnationalen oder supranationalen Regionalisierungen.
Um es an einem Beispiel zu sagen: Die transnationalen Netzwerke der Ministerialbeamten prägen die
nationale Umweltpolitik inzwischen ebenso, wie die nationalen oder ebenfalls internationalisierten
Umweltverbände, die Nichtregierungsorganisationen, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen.
Ein gutes Beispiel für transnationale Subpolitik bietet der laufende Vereinigungsprozeß Europas. Plötzlich
tritt hervor: Es gibt nicht ein, sondern viele Europas: ein Europa der Nationen, der Regionen, der
Zivilisationen, der Christenheiten aber auch der historischen (militärischen) Erfahrungen und so weiter. Im
übrigen bringt es die Dialektik der Vereinigung Europas mit sich, daß sich ganz neue super- und
subnationale Macht- und Gemeinschaftsräume bilden; so kann z.B. Irland direkt den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen die Entscheidung britischer Richter anrufen; oder
Katalonien kann Madrid ausmanövrieren, wie London Paris, indem man in Brüssel vorstellig wird oder
gezielte Verbindungen zu anderen Regionen aufbaut (z.B. zwischen Katalonien und dem Ruhrgebiet). Auf
diese Weise bricht das nationalstaatliche Entweder-Oder auf, und es entstehen neue Felder und Akteure subund transnationaler Politik.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf den Ausgang unseres Gespräches zurückkommen, mein Modell
eines "Transnationalstaates". In diesem Gedankenexperiment wird das Wechselverhältnis sich
ausschließender Nationalstaaten und Nationalstaatsgesellschaften durch einen Bezugsrahmen ersetzt, in dem
Staatenbündnisse entstehen, die sich in der Weltgesellschaft verorten und auf diese Weise ihre Besonderheit
und Eigenständigkeit erneuern.
Das Modell Transnationalstaat widerspricht also allen anderen Kooperationsmodellen: Transnationalstaaten
schließen sich als Antwort auf Globalisierung zusammen und entwickeln dadurch ihre regionale
Souveränität und Identität jenseits des Nationalen. Sie sind also Kooperations- und Einzelstaaten,
Einzelstaaten aufgrund von Kooperationsstaaten. Mit anderen Worten: Der staatliche Zusammenschluß
eröffnet den postnationalen Einzelstaaten neue Handlungspielräume.
Zum Beispiel: Nur europäische Initiativen erlauben es, das Steuerdumping zu beenden und die virtuellen
Steuerzahler erneut zur Kasse zu bitten, um auf diese Weise nicht nur Voraussetzungen für ein soziales und
ökologisches Europa zu schaffen, sondern auch einzelstaatliche Handlungsfähigkeit und Gestaltungsmacht
zurückzugewinnen. Die Fragen, warum Staaten sich zusammenschließen sollen, wird hier also mit dem
staatlichen Egoismus beantwortet, weil sie nur so im Gefüge der Weltgesellschaft und des Weltmarktes ihre
Souveränität erneuern können.
Dieses Argument ist aber nur sinnvoll, wenn die Vorstellungswelt exklusiver Souveränität ersetzt wird
durch die Vorstellungswelt inklusiver Souveränität. Man kennt das Argument aus der Arbeitswelt und
Arbeitsteilung: Kooperation verhindert nicht, sondern entfaltet beides, die Produktivität und Souveränität
der einzelnen. Wenn man auf Emile Durkheims Unterscheidung zurückgreifen will, kann man sagen: Im
Verhältnis der Staaten tritt an die Stelle der mechanischen Anarchie der Verschiedenartigkeit die organische
Souveränität der Kooperation. Nationalstaatliche Akteure gewinnen politische Gestaltungsräume in dem
Maße, in dem es ihnen gelingt, durch transnationale Kooperationen den wirtschaftlichen und öffentlichen
Reichtum zu mehren.
Transnationalstaaten sind folglich globale Handelsstaaten, die mit dem exklusiven Territorialprinzip auch
von den Prioritäten des geopolitischen Kalküls Abschied genommen haben. Die Konsequenz ist: Der Krieg
wird sozusagen zu einem Luxus, den sich nur noch gegeneinander isolierte Nationalstaaten leisten können,
und auch sie nur, solange sie nicht in die Einflußsphäre eines militärischen Bündnisses geraten und nicht im
Besitz der modernsten (atomaren) Gewaltmittel sind.
Die Geschichte dieses Jahrhunderts lehrt, daß das politische Schicksal internationaler Schieds- und
Gerichtshöfe durch eine (Miß)Erfolgs-Paradoxie gekennzeichnet ist: Diese waren immer dann erfolgreich,
wenn sie eigentlich nicht gebraucht wurden; und sie waren immer dann nicht erfolgreich, wenn sie wirklich
gebraucht wurden.
In meinen Augen stehen wir heute im Übergang in die zweite Moderne tatsächlich an einer Weggabelung.
Auf der einen Seite setzen die Nationalstaaten und ihre politischen Akteure ihren "Ego-Trip" fort und
unterhöhlen damit immer weiter ihre politischen Gestaltungsspielräume; oder aber es beginnen auf der
anderen Seite Experimente im Transnationalen; dazu gehört auch die theoretische und empirische
Entwicklung von Transnationalstaaten. Die Zukunft Europas hängt wesentlich davon ab, daß diese
Experimente gewagt werden - und gelingen.
Telepolis Artikel-URL: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6194/1.htmlCopyright © Heise Zeitschriften Verlag
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