Neue Werkzeuge - neue Tätigkeiten

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Neue Werkzeuge - neue Tätigkeiten
Eine sehr lange Zeit ist verflossen, seit Ao und Umo mit ihren Jägerhorden durch die
Waldsteppe streiften.
Die Landschaft hat sich freilich kaum verändert. Nur die Bäume sind häufiger geworden.
Öfter unterbrechen lichte Gehölze und Waldstücke die Steppe. Aber bei den Menschen ist
vieles anders geworden. Sie sind zwar immer noch Jäger und Sammler. Aber wie sie jagen
und wie sie leben, das hätten sich Ao und seine Gefährten nicht träumen lassen.
Am Ufer eines Flusses, dessen Wasser klar und rein ist, liegen menschliche Wohnstätten.
Man erkennt sie schon von weitem an den Rauchfahnen. Doch die Feuerstellen suchen wir
vergebens; denn sie befinden sich nicht im Freien, sondern im Inneren einer großen
Erdhütte.
Die Menschen auf diesem Wohnplatz am Steppenfluss sind anders gekleidet als einstmals
Ao und seine Horde. Sie hängen sich nicht einfach Tierfelle um, sondern schneidern sich
Röcke und Fellkleider. Ihre Füße umwickeln sie mit Fellstreifen.
Vor der großen Erdhütte sitzen drei Frauen und zwei Mädchen. Mit viel Sorgfalt haben sie
ihr Haar geordnet. Einige lassen es lang und glatt über die Schultern fallen, die anderen
tragen es um den Kopf gewunden.
Sina. die älteste der Frauen, schneidet mit einem scharfen Stein die Tierfelle zurecht. Das
Nähen besorgen die jüngeren Frauen und die Mädchen. Sie durchbohren die
zugeschnittenen Fellstücke mit einem knöchernen Pfriem und ziehen dann eine dünne
Knochennadel mit einer Tiersehne im Öhr hindurch. Sina achtet darauf, dass sorgfältig
gearbeitet wird, und zeigt den Jüngeren, wie man näht. Noch andere Arbeiten verrichten
Frauen auf dem Wohnplatz. Sie hüten das Feuer und bereiten das Essen. Manchmal
flechten sie aus Weidenruten Körbe. Ein andermal säubern sie Tierfelle mir Schabern aus
Stein und klopfen sie anschließend lange und kräftig mit einem Röhrenknochen. Dann tragen
sie die Felle zum Bach und legen sie in eine wassergefüllte Grube, um sie zu wässern, damit
sie geschmeidig werden. Neben allen diesen Arbeiten pflegen und beaufsichtigen die Frauen
auch noch die Kinder, die auf dem Wohnplatz spielen.
Welche Arbeit die Frauen auch immer verrichten, stets ist Sina bereit, ihnen zu raten und
sie zu lehren. Weil Sina so geschickt und erfahren, so klug und hilfsbereit ist, deshalb wurde
sie von den Menschen am Steppenfluss auch zur Anführerin, zur Ältesten gewählt. In der
Steppe taucht ein Mann mit zwei Jungen auf. Er trägt ein Ledersäckchen auf der Schulter. Es
scheint schwer zu sein, denn der Mann geht gebückt. „Der Steinspalter kehrt zurück“. sagt
Sina. Das eine der nähenden Mädchen seufzt: „Mit wäre es lieber, die Jäger kämen mit
einem Hirsch!“ „Sie werden schon kommen“, tröstet die Älteste, „und sicher bringen sie Beute
mit.“
„Sicher“, nickt das Mädchen und seufzt erneut, „nur wird es wieder wenig sein.“
Der Mann, den Sina „Steinspalter“ nannte, ruft den Frauen einen Gruß zu. Dann geht er zu
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seinem Arbeitsplatz, dessen Umgebung mit Steinsplittern bedeckt ist. Der Steinspalter wirft
seine Last ab, wischt sich den Schweiß aus dem Gesicht und schüttet dann den Sack aus.
Heraus poltern Steine - ganz besondere Steine: Feuersteinknollen. Der Steinspalter kennt
draußen in der Steppe eine Stelle, wo sich viele solche Feuersteine finden.
Einige Zeit später sitzt der Steinspalter bei seiner Arbeit. Die beiden Jungen verfolgen
gespannt jeden seiner Handgriffe. Er klemmt einen Feuerstein mit bloßen Füßen fest.
Behutsam setzt er einen langen Stab darauf. Dann drückt er kräftig mit beiden Armen und
stemmt sich mit der Brust gegen den Stab. Langsam spaltet sich durch diesen Druck der
Stein: Eine dünne Klinge löst sich ab.
Ja, der Steinspalter ist ein großer Meister. Alle Steinwerkzeuge, die die Jäger und
Sammler brauchen, formt er aus Feuerstein: Schaber, mit denen man die Felle der erlegten
Tiere von Fett- und Fleischresten säubern kann; Messerklingen, die Felle, Holz und sogar
Knochen und Horn schneiden; Spitzen für Speere oder Stichel zum Bearbeiten von Knochen
und Korn. Der Steinspalter zieht deshalb nicht mit auf die Jagd. Entweder streift er durch die
Gegend, um Feuersteine zu suchen, oder er hockt auf dem Wohnplatz und werkt an den
Steinen. Dabei zeigt er den beiden Jungen, die bei ihm sind, seine Kunst. Sie wollen später
Steinspalter werden. Die meisten Männer und Burschen sind mit Talfo, dem Anführer der
Jäger, in die Waldsteppe gezogen.
Einige lauern jedoch im Uferwasser des Steppenflusses auf schwimmende Beute. Sie
haben Würmer, Käfer und Larven als Lockspeise ausgeworfen. Nun stehen die Fischer
regungslos, um die Fische nicht zu verscheuchen, im Fluss. In der Hand halten sie den
Fischspeer - einem schlankem Stock mit scharfer, gezackter Knochenspitze. Die Augen auf
das Wasser geheftet, warten die Fischer geduldig bis ein größerer Fisch in ihre Nähe
schwimmt; dann stechen sie mit dem Fischspeer zu.
Der Fischer Watro hält sich abseits von den anderen. Wie stets hat er eine Schnur aus
Tiersehnen mit einem knöchernem Widerhaken mitgebracht und ausgeworfen. Das tut er,
seit ihm aufgefallen ist, wie gierig die Fische nach allem schnappen, was im Wasser
schwimmt. Warum sollten sie da nicht auch den Widerhaken aus Knochen schlucken?
Ein paar Mal haben wirklich Fische in ihrer Fressgier den Haken an der Schnur
verschlungen. Aber meist meiden sie ihn, und die anderen Fischer spotten über Warro.
So manchen Abend am Feuer, so manche Nacht hat Warro darüber gegrübelt, wie er die
Fische dazu bringen könnte, den Haken zu schlucken. Weder die fetteste Lockspeise noch
beschwörende Worte haben bisher geholfen. Gestern hat sich Warro an die alte Sina um Rat
gewandt. „Wenn der Fisch deinen Haken meidet“, hat sie bedächtig gesagt, „musst du ihm
überlisten! Lass ihm mit der Lockspeise zugleich dem Widerhaken schlucken!“ Mit der
Lockspeise zugleich den Widerhaken? Nachdenklich starrt Warro ins Wasser. Ein Grashalm
ist an dem Haken hängen geblieben und dreht und windet sich wie ein Wurm.
Wie ein Wurm? Das müsste man versuchen. denkt Warro und steigt ans Ufer. Er zieht die
Angelschnur ein, nimmt einen fetten Wurm und spießt ihn auf dem Angelhaken. Dann wirft er
die Schnur von neuem aus. Nicht lange dauert es, da kommt ein größerer Fisch
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angeschwommen. Einige Male umkreist er den Haken mit dem Wurm, dann schnappt er zu
und zappelt im nächsten Augenblick an der Angel. Warros Jubelschrei lockt alle Fischer
herbei. Zuerst necken ihn einige, als Warro einen neuen Wurm auf seinen Haken spießt.
Doch der Fischer lässt sich nicht mehr aus der Ruhe bringen, sondern zeigt seine
Angelkunst. Da spottet keiner mehr.
Es wird Abend.
Reich ist die Beute. die Warro und die Fischer diesmal zum Wohnplatz tragen.
Aus der Steppe kommen Frauen und Kinder zurück, die Wurzeln und Knollen, Pilze und
Beeren gesammelt haben. Sie tragen ihre Grabstöcke auf den Schultern. Die Beute bringen
sie in Körben, die sie aus Schilf geflochten haben. Prüfend blicken die nähenden Mädchen
auf die Körbe. Viel ist es nicht, was auf jeden kommt! Und obendrein muss ein Teil davon als
Wintervorrat getrocknet werden. Später kehrt auch Talfo mit den Jägern zurück. Sie tragen
zwei Hirsche: Jungtiere - magere Beute. Die Frauen, Kinder und Fischer umdrängen die
Jäger.
„Wenig bringt ihr!“ tadeln die Frauen. Einige spötteln: „Mangelt es im der Waldsteppe etwa
an Wild?“ Andere fragen: „Taugen die Jagdwaffen nichts?“
„Die Waffen sind gut!“ ruft der Steinspalter dazwischen. „Ich habe alle Speere mit Spitzen
aus Feuerstein versehen! An den Waffen liegt es bestimmt nicht !“
„Der Steinspalter hat recht“, bestätigt Talfo. „Viele Tiere leben in der Steppe: Elche,
Riesenhirsche, Rentiere, Wildpferde, Büffel und Bären. Aber die meisten von ihnen sind
scheu und flink. Da ist es schwer, sich anzuschleichen. Und nicht jeder, dem es glückt, auf
Speerwurfweite (30 bis 40 Meter) an das Wild heranzukommen, trifft mit dem Speer.“
Zustimmend nicken alle Jäger. Wie oft hat ein Rascheln im Gras genügt, um die Tiere zu
verscheuchen !
Sina, die Älteste, wiegt ihren grauhaarigen Kopf. „Wie gut“, sagt sie und blickt
anerkennend zu Warro hin, „wie gut, dass es so tüchtige Fischer unter uns gibt!“
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