Konzentrierte Unschärfe: Paul Cézanne und die Auflösung der einansichtigen Wahrnehmung Die impressionistische Malerei eines Claude Monet hatte es sich zur Aufgabe gemacht, im Bild das wiederzugeben, was von einem Subjekt in einem Moment wahrgenommen werden konnte. Der Impressionismus bleibt demnach dem einansichtigen Bildaufbau der Renaissanceperspektive verhaftet. Der Impressionismus folgt dem Prinzip der Zentralperspektive dahingehend, dass der Bildraum jeweils auf exakt einen einzigen räumlich und zeitlich fixierten Blickpunkt hin ausgerichtet sind. Auf das einzelne sehende Individuum hin ist die tiefenräumliche Erstreckung des Bildraums organisiert. rechts: Claude Monet: l´impression, Soleil levant 1873. Auch Paul Cézannes Wurzeln liegen im Impressionismus. Allerdings geht er in seinem Schaffensprozess seit den 1890er Jahre über die einansichtige Bildgestaltung des Impressionismus weit hinaus und gelangt zu einem Punkt, an dem ihm die Wiedergabe eines bloßen Sinneseindrucks nicht mehr genügt: »Man muss die Natur nicht reproduzieren, sondern re - präsentieren.« Cézannes Bildräume heben die einheitliche Raum- und Zeitsituation des einansichtigen Bildes auf, eines Raumes, der von nur einem Betrachter von einem exakt bestimmbaren Standort aus wahrgenommen werden soll. Der zentralperspektivische Anspruch, im einansichtig konstruierten Bildraum, dem menschlichen Seheindruck am nächsten zu kommen, wird von Cézanne in Frage gestellt. Er findet zu einer Darstellungsweise, die Ähnlichkeiten zur mehransichtigen Raumgestaltung der mittelalterlichen Malerei aufweist. << Paul Cézanne:Stilleben mit Gips- Cupido Paul Cézanne: Mont Saint-Victoire >> Die Gegenstände in Cézannes Bildern können gleichzeitig von mehreren Seiten dargestellt erscheinen. Diese Simultaneität der Blickwinkel geht einher mit Cézannes Trennung der Farbe vom Objekt. »Ein Bild stellt zunächst nichts dar, soll zunächst nichts darstellen als Farben.« Die Behandlung der Farbe als Zeichen wie sie sich im Pointilismus ankündigt, wird von Cézanne mit neuer Konsequenz vertreten. Die Farbe, die ein Gegenstand im Bild hat, stimmt nicht mehr mit dem überein, was vom Auge als Oberflächenfarbe registriert wird. Das heißt, dass beispielsweise ein Baum nicht unbedingt grüne Blätter haben muß. So können die Wahrnehmung und der subjektive Sinneseindruck für Cézanne nicht mehr, wie noch für die Impressionisten, der Maßstab der Malerei sein. Seit den späten 1860er Jahren hatte Cézanne durch seine Kontakte zu französischen Naturwissenschaftlern Kenntnisse der sinnesphysiologischen Forschung. Insbesondere die Schriften von Hermann von Helmholtz, wie dessen Physiologische Optik, wurden ihm in popularisierender Fassung durch zeitgenössische Zeitschriften vermittelt. So unterscheidet Cézanne wie Helmholtz oder William James zwischen der materiellen Form eines Gegenstandes und dem hervorgerufenen Netzhauteindruck. Helmholtz hatte festgestellt, dass das Sehfeld des Auges wie eine hyperbolische Kurve gekrümmt ist. Die Dinge, die am Rande des Sehfeldes erscheinen, werden vom Auge demnach verzerrt wahrgenommen. >> Helmholtz, Hermann von: Darstellung eines hyperbolisch verzerrten Sehfeldes << Alberti: linearperspektivische Konstruktionszeichnung Cézannes Bruch mit der zentralperspektivischen Einansichtigkeit geht hier mit der sinnesphysiologischen Forschung William James einher, der ebenfalls betont hat, dass der perspektivisch-euklidische Raum keinesfalls mit der menschlichen Wahrnehmung übereinstimme. Cézanne scheint zunehmend zu der Überzeugung gekommen zu sein, dass ein einansichtiges Sehen nicht zu einem vertieften Verständnis der Dinge führt, ein Schluss, zu dem schon Claude Monet in seinen Serienbildern gekommen war. Monet: Kathedrale von Rouen Aber während sich der Impressionist Monet nicht von der einansichtigen Wirklichkeitsschau lösen konnte und ein Objekt deshalb in mehreren Einzelbildern zu erfassen suchte, umkreist Cézanne die Gegenstände in nur einem Bild. Cézannes Darstellungsweise der 1890er Jahre gibt die einansichtige Wahrnehmung, wie sie von den Impressionisten zum Ideal erhoben wurde, auf zugunsten einer allseitigen Ansicht der Dinge. So beginnt mit Cézanne die Auflösung des klassischen Wahrnehmungsmodells, das seit der Renaissance für mehr als 500 Jahre die europäische Kunsttheorie beherrscht hatte. Cézanne hat den folgenden Strömungen der modernen Malerei wie dem Kubismus auf nachhaltige Weise den Weg gewiesen. Nach Cézanne scheint die Außenwelt nur noch in ihrer perspektivischen Zerstückelung darstellbar zu sein. Julian Eilmann Kubismus - >> Braque: Geige und Krug, 1910 Damit ist er Vorläufer späterer Kunstrichtungen, z.B. des Kubismus. (s.u.) Nicht alle Bereiche des Bildes müssen durchgearbeitet sein, unfertiges, abstrahiertes ist erlaubt. Cezanne als Vorläufer späterer Kunstrichtungen - Abstraktion All-Ansichtigkeit, Multiperspektive, Reduktion von Abbildern auf Bildzeichen (Verringerung des Ikonizitätsgrads) Picasso: Les Demoiselles d'Avignion, 1907 << Picasso: Portrait einer sitzenden Frau >> Cezanne Badende: 1906 Cezanne Badende: 1900–1905 << I >> Paul Cézanne: Mont Saint-Victoire - Ausschnitt Bilder zum Referat von Kader: Dürer - Zeichner mit Modell C.D.Friederich - Selbst im Atelier Cezanne - Selbst an der Staffelei Dürer ist begeistert von der Perspektive als Mittel der „objektivierten“ Darstellung von Wahrnehmungen: Alles ist ihm „Objekt“. Nicht das Metaphorische sondern das Ding an sich ist interessant. Nicht von ungefähr stellt er sich selbst als Gott dar. Kunst als „Wissenschaft“ ist Thema der Renaissance. Damit endet die Kunst des Mittelalters als Dienerin Gottes. C.D. Friederich sieht den Maler als in Gottes Schöpfung stehend, als Teil von ihr und gleichzeitig seine Aufgabe als Mittler oder Interpret eines göttlichen Macht hinter der Natur. Das göttliche Licht - Metapher der Erkenntnis - fließt durch den Maler hindurch und lässt die Kunst entstehen. Damit besteht noch eine Verwandtschaft mit dem Denken des Mittelalters aber Gott ist nicht mehr unantastbar, unverstehbar für den Menschen sondern ein Prinzip, eine höhere Macht geworden, die auch den Menschen durchflutet, der diese damit begreifen kann. Cezanne siehe beiliegendes PDF von Lüthi: Subjektivität und Medium Cezanne - Komposition I - Aufteilung der Bildfläche und des Bildraums Mittenteilung - Spiegelung und goldener Schnitt