Einführung in Wissenschaftstheorie und Geschichte der Psychologie -Teil 6Geschichte der Psychologie 07.01.: "Schulen" im 19./20. Jahrhundert (1): Fechner, Ebbinghaus, Wundt 14.01.: "Schulen" im 19./20. Jahrhundert (2): Külpe, Wertheimer, Köhler, Lewin 21.01.: Tiefenpsychologie: Freud, Adler, Jung 28.01.: Behaviorismus: Watson, Skinner 04.02.: Kognitive Wende, neurowissenschaftliche Wende? Literatur zur Geschichte der Psychologie •Lück, H. E. (1996). Geschichte der Psychologie. Stuttgart: Kohlhammer. •Lück, H. E. & Miller, R. (1999). Illustrierte Geschichte der Psychologie. Weinheim: Beltz PVU. •Pongratz, L. J. (1984). Problemgeschichte der Psychologie. München: Francke. Übersicht heutige Vorlesung •Wozu Psychologiegeschichte? •Entwicklungen im 19. Jhdt. •Weber, Fechner und die Psychophysik •Ebbinghaus: exp. Gedächtnisforschung •Wundt und die "Leipziger Schule" Lernziele Am Ende dieses Teils der Vorlesung sollten Sie wissen, ... ...wozu man Psychologiegeschichte betreibt ...welche Entwicklungen zur Entstehung einer experimentellen Psychologie führten ...was die zentralen Methoden und Befunde der Psychophysik waren ...welches die zentrale Bedeutung von Fechners Arbeit war ...wie Ebbinghaus die experimentelle Methode auf komplexere Phänomene angewendet hat ...was die Grundzüge der Lehre Wundts waren Wozu Psychologiegeschichte? •Strömungen, Namen, Begriffe werden in Zusammenhang gesetzt 1 •Versäumnisse, Fehlurteile, Vergessenes werden herausgestellt •"überholte Konzepte" oft fruchtbar für moderne empirische Forschung Fehleinschätzungen Niedergang der Psychologie im Dritten Reich? 5 "nichtarische" von 15 Psychologie-Professoren 1933 in Ruhestand versetzt, Lewin und Köhler emigrierten, Huber: Weiße Rose aber: Ausbau psychol. Institute, neue Professuren Wehrmachtpsychologie (1942: 150 Luftwaffenpsy.) Psychoanalyse → "Deutsche Seelenheilkunde" erste Diplom-Prüfungsordnung: 1941 Psychologie schon immer experimentell? experimentelle und spekulative Anteile Fechner: mehrere Bücher mystischen Charakters (z. B. "Über das Seelenleben der Pflanzen") Wundt: arbeitet 20 Jahre an nichtexperimenteller "Völkerpsychologie" Watson: schrieb Utopien, setzte sein behavioristisches Programm kaum um Entwicklungen im 19. Jhdt. •Fortschritt der Naturwissenschaften und Medizin, Industrialisierung •Wissenschaftstheorie: Empirismus/Positivismus: vom Gegebenen, Tatsächlichen, "Positiven" ausgehen •Evolutionstheorie: individuelle Unterschiede, natürliche Auslese •Völkerkunde: Bedeutung der sozialen Umwelt Erfolge der Medizin → Phänomene des Lebens unterliegen gleichen Gesetzen wie Physik, Chemie ("Materialismus") Helmholtz Bau der Nervenzellen, Farbwahrnehmung, Physiologie des Hörens und Sehens Methodenentwicklung! Ernst Heinrich Weber (geb. Wittenberg 1795, gest. 1878) ab 1821: Prof. für Physiologe und Anatomie in Leipzig 1834: "De Tactu" ("Über den Tastsinn") Was sind Grenzen unserer Empfindungen? • Gewichtswahrnehmung • Reizschwellen der menschlichen Haut (Untersuchung mit Stechzirkel) 2 Ziel: arithmetische Darstellung von Empfindungen Schwellenbestimmung: Wie groß muss der Reizzuwachs sein, um Empfindungsunterschied hervorzurufen? JND: just noticeable difference Webersches Gesetz: ∆S/S = k Gustav Theodor Fechner geb. 1801 in Groß-Särchen (Niederlausitz) ab 1817: Studium: Medizin, Philosophie in Leipzig 1834: Prof. für Physik 1840-43: Krankheit nach Selbstversuchen 1860: "Elemente der Psychophysik" gest. 1887 in Leipzig Psychophysik: "eine exakte Lehre von den funktionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistiger, physischer und psychischer Welt." Psychophysik Methoden zur Messung innerer Zustände Verhältnisskala • Nullpunkt (Absolutschwelle) • Maßeinheit (Unterschiedsschwelle) 1) Herstellungsmethode: Proband bestimmt Standardreiz entsprechenden Reiz 2) Grenzmethode: Darbietung aufsteigender + absteigender Reihen 3) Konstanzmethode: wiederholte Präsentation von Stimuli im Grenzbereich Modalität Schwelle Licht Kerzenflamme auf 40 km in dunkler, klarer Nacht Gehör Ticken von Armbanduhr auf ca. 6 m Geschmack 1 TL Zucker in ca. 7.5 l Wasser Geruch 1 Tropfen Parfüm in 3-Zimmer-Wohnung Berührung auf Rücken fallender Bienenflügel aus 1 cm Entfernung 3 Weber-Fechnersches Gesetz: N = c • logSN + C (N = Empfindungswert, SN = zugehörige Reizintensität, c und C hängen von k ab) logarithmische Beziehung zwischen Reizintensität und Empfindungsstärke Bedeutung Fechners •Psychologie lässt sich auf natur-wissenschaftliche Weise betreiben •Psychisches lässt sich messen und zählen •1860 (Erscheinungsjahr seines Buches) gilt allgemein als Gründungsjahr der experimentellen Psychologie Hermann Ebbinghaus fordert experimentelle Untersuchung des menschlichen Gedächtnisses geb. 1850 in Barmen (Wuppertal) studiert Geschichte, Philosophie in Bonn, Halle, Berlin, danach Arbeit als Sprachlehrer sowie selbständige Studien seit 1886 Prof. in Berlin, richtet dort erstes Labor für exp. Psych. ein gest. 1909 in Halle Begründer der Lern- und Gedächtnispsychologie Selbstexperimente mit sinnlosen Silben Bsp.: DOT CHAUF MAUT ZOK LÖM NOIT ("einfach, gleichartig, frei von störenden Einflüssen") Methoden •Erlernungsmethode (Durchgänge bis Kriterium erreicht) •Ersparnismethode (Durchgänge beim Wiederlernen) (Vergessenskurve) Ersparnis: Lerndurchgänge T(0) – Lerndurchgänge T(x) / Lerndurchgänge T(0) Bedeutung Ebbinghaus' •Übertragung von Experiment und Messung auf komplexe Bewusstseinsvorgänge •Gründung der ersten deutschsprachigen "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane" •verteidigt Konzept einer "erklärenden Psychologie" gegen Dilthey ("verstehende Psy.") 4 •→ endgültige Spaltung im Gegenstandsverständnis der Psychologie Bildung von "Schulen" (ca. 1880-1950, in klin. Psychologie noch heute) geschlossene Wissenschaftlergemeinschaften Sozialisierung: konformes Verhalten Vorteil: gemeinsame Idee (Paradigma = "Beispiel, Vorbild") wird erprobt, angewandt, entwickelt, institutionalisiert eine zentrale "Figur" (Beiträge von "Schülern" oft unterschätzt) Wilhelm Wundt geb. 1832 in Neckarau (Mannheim) Medizinstudium in Tübingen und Heidelberg 1858 Assistent bei v. Helmholtz (Physiologie Heidelberg) 1864 Prof. für Anthropologie und Med. Psychologie Heidelberg, Lehrbuch der Physiologie des Menschen 1875 Prof. für Philosophie in Leipzig 1879 Gründung des ersten experimentalpsychologischen Instituts 1883 Zeitschrift "Philosophische Studien" (ab 1906: "Psychologische Studien") ab ca. 1900: Völkerpsychologie (10 Bände) gest. 1920 in Großbothen / Leipzig Die Lehre Wundts "Bewusstseinspsychologie" •Untersuchung der "Tatsachen des Bewusstseins" sowie deren Verbindungen und Beziehungen •Gesetze finden, die diese Beziehungen beherrschen •Zugang zum Psychischen: Experiment – exakte Raum- und Zeitmessung – Introspektion (komplexere Phänomene) Elementenpsychologie Zerlegen des Bewusstseins in unteilbare Bestandteile (Elemente: Sinneseindrücke und Gefühle) Zwei Forschungsgegenstände: 1.einfache Vorgänge: Experiment (individuelle Psychologie) – naturwissenschaftlich2.höhere Vorgänge: Beobachtung (Völkerpsychologie auf Basis von Sprache, Mythus, Sitte) – geisteswissenschaftlich Wie entstehen aus Elementen psychische Gebilde und Zusammenhänge? 1. Assoziation passiv, mechanisch (nach Ähnlichkeit, Gleichheit, raumzeitl. Nähe = Kontiguität) 2. Apperzeption = Eintreten eines Bewusstseinsinhalts in das Aufmerksamkeitsfeld 5 aktiv: psychische Erlebnisse als Ergebnisse von Willenshandlungen ("Voluntarismus") Einige Schüler Wundts J. McKeen Cattell: weltweit erster Psychologie-Prof. Columbia Univ., erste psychologische Tests E. Kraepelin: Psychiater München O. Külpe: Würzburger Schule H. Münsterberg: Exp. Psychologie Harvard, Wirtschaftspsychologie, "Psychotechnik" St. Hall: Johns-Hopkins-Univ., Gründer AJP, APA E. Meumann: Begründer der Pädagog. Psychol. Bedeutung der Leipziger Schule •Experiment und Statistik werden in Psychologie integriert •zahlreiche Schüler begünstigen Aufstieg der experimentellen Psychologie aber: •Psychologie als Teilgebiet der Philosophie •gegen Ausweitung auf höhere psy. Prozesse •Vernachlässigung von Sozialpsychologie und individuellen Differenzen 6