Zum Verhältnis von persönlichen und

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Zum Verhältnis von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen
Von DIETRICH NOSKE (Halle)
Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen
Republik durch die Entwicklung der nationalen Volkswirtschaft, die sich auf der
Grundlage der internationalen Arbeitsteilung vor allem der sozialistischen Länder
vollzieht, stellt an jeden Bürger unserer Republik höhere Anforderungen. Die
Frage: Wie werde ich den gesellschaftlichen Bedürfnissen besser gerecht und wie
sind diese gesellschaftlichen Belange mit meiner eigenen Entwicklung verbunden,
wird für jeden Menschen immer wieder neu gestellt. Wie auf alle Lebensfragen
unseres Volkes gibt das Programm der SED auch darauf eine Antwort: „Die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands geht davon aus, daß die vollständige
Übereinstimmung zwischen den gesellschaftlichen Erfordernissen und den Interessen der einzelnen Werktätigen und Kollektive die wichtigste Triebkraft unserer
ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist." ^ Wie alle anderen objektiven Gesetze der sozialistischen Gesellschaftsordnung wird diese Triebkraft
jedoch nur in dem Maße wirksam, wie die Menschen sie bewußt ausnutzen und
verwirklichen.^
Die theoretische Bearbeitung der sich aus dem Verhältnis zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen unter den Bedingungen des umfassenden
Aufbaus des Sozialismus ergebenden Probleme ist eine wirksame Hilfe bei der
Entwicklung des Menschen der sozialistischen Gosellschaft. Eine Reihe von Fragen
aus dem genannten Problemkreis bedürfen noch einer theoretischen Vertiefung
durch die marxistische Philosophie. Eine umfassende Arbeit auf diesem Gebiet
kann sicher nur das Ergebnis kollektiver Arbeit der marxistischen Gesellschaftswissenschaftler sein. In diesem Beitrag können deshalb nur einige Fragen aufgegriffen werden.
1. Über den Inhalt des Begriffs
„Interesse"
Die erste Aufgabe, die sich aus einer Durchsicht der in der DDR erschienenen
diesbezüglichen Arbeiten ergibt, ist die, den Inhalt des Begriffs „Interesse" tiefer
materialistisch zu bestimmen. Sie ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß dieser
Begriff besonders vieldeutig verwendet wird, sondern vor allem daraus, daß der
' Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: W. Ulbricht: Das Programm des
Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.
Berlin 1963. S. 324 (Hervorhebung - d. Verf.)
2 Vgl.: W.Ulbricht: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. S. 83
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Dietrich Noske
Idealismus hier — auf Grund der engen Verbindung von menschlichem Handeln
und Interessen — besondere Anknüpfungspunkte vorfindet. Deshalb regte H. Kallabis bereits 1958 mit Recht an, Begriffe wie „persönliche Interessen", „gesellschaftliche Interessen", „materielle Interessen" u. a. zu klären, da das Voraussetzung für eine weitere fruchtbare Diskussion über die damit zusammenhängenden
Probleme sei.® Eine Reihe von Unexaktheiten bei marxistischen Autoren, auf die
weiter unten näher eingegangen werden wird, rühren daher, daß sie dieses Problem nicht konsequent materialistisch behandeln.
In der vormarxistischen wie überhaupt in der nichtmarxistischen Philosophie
werden die Interessen durchgängig idealistisch bestimmt. So bezeichnet Holbach
als Interesse „den Gegenstand, von dem ein Mensch, jedesmal nach seinem
Temperament und seinen ihm eigentümlichen Ideen, sein Wohlsein abhängig macht;
man sieht daran, daß das Interesse niemals etwas anderes ist, als das, was ein
jeder von uns zu seinem Glück als notwendig ansieht"
Eine derartige Definition
ist zunächst naheliegend, denn die Interessen der Menschen sind gerichtet auf
das „Wohlsein", das „Glück" der Menschen. Es fällt jedoch auf, daß nicht gefragt wird, wie der Mensch zu den „ihm eigentümlichen Ideen" kommt, wovon
abhängt, „was ein jeder von uns zu seinem Glück als notwendig ansieht". Es ist
bekannt, daß Holbach diese Frage letztlich idealistisch beantwortet.® Auch bei
Kant Fichte ^ und Hegel ® werden die Interessen idealistisch bestimmt.
Die philosophischen Wörterbücher von R. Eisler® und H. Schmidt^® gehen
ebenfalls von der idealistischen Bestimmung des Interesses aus. Hingegen fehlt
der Begriif im marxistischen „Kurzen philosophischen Wörterbuch" ^^ völlig — ein
Zeichen dafür, daß diese Problematik von den marxistischen Philosophen wenig
bearbeitet wurde. In die Sowjetenzyklopädie hingegen ist der Begriff aufgenommen worden. Hier heißt es: „Interesse — . . . das ausgewählte, zielbewußte Streben
des Menschen zum Erwerb dieses oder jenes Wissens oder zur Ausführung dieser
oder jener Tätigkeit. Die Interessen des Menschen bilden sich in erster Linie durch
die gesellschaftshistorischen Bedingungen seines Lebens, durch sein gesellschaftliches Sein."
Hier wird der arste Mangel idealistischer Definition korrigiert,
indem auf die materielle Grundlage der Interessen verwiesen wird. Auch E. Gutzmann und H. Kallabis gehen von dieser Seite an die Bestimmung der Interessen
heran. Sie weisen nach, daß die Bedürfnisse der Menschen durch ihre materielle
Tätigkeit bedingt sind und schreiben dann: „Die Interessen der Menschen sind
^ Siehe: W. Müller-Claud: Diskussion über sozialistische Persönlichkeit. (Bericht) In: DZfPh.
Heft 2/1958. S. 322
^ F. Thiry d'Holbach: Systeme de la Nature. Bd. I. Ausgabe von 1781. S. 206; Zitiert nach:
G. W. Plechanow: Beiträge zur Geschichte des Materialismus. Berlin 1946. S. 22 (Hervorhebung —
d. Verf.)
5 Vgl.: Ebenda
® I. Kant: Kritik der Urteilskraft. Erster Teil. § 2
' J. G. Fichte: Das System der Sittenlehre nach Prinzipien. 2. Hauptstück. § 1]
8 G. W. F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. § 475
8 R. Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Bd 1. Berlin 1927. S. 767
Philosophisches Wörterbuch, begründet von Heinrieh Schmidt. 10. Auflage. Stuttgart 1943.
S. 277/278
^^ Kurzes philosophisches W^örterbuch. Moskau 1951 (russ.)
Kleine Sowjetenzyklopädie. Bd. 4. Moskau 1959. S. 123 (russ.)
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Zum Verhältnis von persönlichen
und gesellschaftlichen
Interessen
Ausdruck dieser Bedürfnisse und des Strebens, diese Bedürfnisse zu befriedigen."
Jedoch kann die Verschiebung des Inhalts der Interessen auf den Inhalt der Bedürfnisse nicht völlig befriedigen.
Ein neues materialistisches Moment bringt Rubinstein in die inhaltliche Darstellung der Interessen. Er unterscheidet konsequent zwischen dem Interesse als
Kategorie der Philosophie und als Kategorie der Psychologie. Das letztere begreift
er als „Tendenz oder Gerichtetheit der Persönlichkeit, die in der Konzentration
Jtirer Absichten auf einen bestimmten Gegenstand besteht"
Unter Interessen im
gesellschaftlichen Leben — Interessen als Kategorie der Philosophie — versteht er
das, „was die Entwicklung und Existenz des Menschen als Glied eines bestimmten
Volkes oder einer Klasse, als Persönlichkeit begünstigt"
Das Neue hierbei besteht darin, daß Rubinstein nicht nur die Herkunft der
Interessen materialistisch bestimmt, sondern die Interessen selbst mit der Entwicklung, d. h. mit der Gesetzmäßigkeit, in Zusammenhang bringt. Damit versucht er,
die Kategorie „Interesse" als eine Relationskategorie darzustellen. Ähnliches
finden wir bereits bei Fichte. Für diesen ist das Interesse der Trieb nach Übereinstimmung des wirklichen mit dem idealen Ich.'® Fichte stellt also eine Relation
her zwischen dem gegenwärtigen Entwicklungsniveau der Persönlichkeit und dem
angestrebten Idealzustand. Das ist ein sehr wesentlicher, richtiger Gedanke. Jedoch muß die marxistische Philosophie die Frage, was unter dem idealen Entwicklungsstand zu verstehen ist, wissenschaftlich, d. h. materialistisch, beantworten. Es ist deshalb zu fragen, in welcher Hinsicht die Grundfrage der Philosophie bei der Bestimmung der Interessen eine Rolle spielt.
Die Grundfrage der Philosophie hängt in zweierlei Hinsicht mit der Bestimmung der Interessen zusammen. Einmal insofern, als die materiellen Interessen
im Unterschied zu den geistigen bestimmt werden als jene, die auf der Grundlage
der ökonomischen Beziehungen der Menschen objektiv ihr Verhältnis zu dieser
ökonomischen Entwicklung zum Ausdruck bringen und ihren ideologischen Interessen zugrunde liegen. Zum anderen wird die Grundfrage der Philosophie auf die
Interessen angewandt, indem man objektive und subjektive Interessen unterscheidet. Es genügt nicht, die materiellen Grundlagen der Interessen darzulegen.
Den dialektischen Materialismus konsequent auf die Bestimmung der Interessen
anzuwenden bedeutet, ein objektives, materielles Interesse anzuerkennen.
Eine Definition wie die von Holbach kann dem Menschen bei der Erkenntnis
dessen, welche Handlungsweise zu seiner Entwicklung notwendig ist, keine Hilfe
geben, da sie völlig im Subjektiven befangen bleibt. Bleibt man dabei stehen, als
Interessen nur das zu bezeichnen, was jeder zu „seinem Glück als notwendig ansieht", so fehlt jeder Bezugspunkt zur objektiven gesellschaftlichen Entwicklung.
Noch problematischer wird diese Bestimmung bei ihrer Anwendung auf inhomoE. Gutzmann/H. Kallabis: Über Wesen nnd soziale Bedeutung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit. Berlin 1961. S. 53
^^ S. L. Rubinstein: Grundlagen der allgemeinen Psychologie. Berlin 1959. S. 774
Ebenda: S. 195
Vgl.: J.G.Fichte: Das System der Sittenlehre nach Prinzipien. 2. Hauptstück. § 11
' ' Vgl. dazu: F.Engels: Zur Wohnungsfrage. In: K.Marx/F.Engels: Werke. Bd. 18. Berlin 1962.
S. 274; W. I. Lenin: Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung und die Kritik an ihr in
dem Buch des Herrn Struve. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. I. Berlin 1961. S. 424/25; G. W. Plechanow: Über materialistische Geschichtsauffassung. Moskau 1946. S. 42
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gene Menschengruppen, z. B. auf die Gesellschaft in antagonistischen Gesellschaftsformationen. Jede Klasse hat hier andere, die Grundklassen haben sogar entgegengesetzte Auffassungen von ihren Interessen, und es gibt für Holbach kein objektives Kriterium, an dem man die Berechtigung dieser oder jener Interessen, die zu
anderen im Widerstreit stehen, messen kann.
Einen Schritt weiter geht die Auffassung, die unter Interessen die subjektive
Widerspiegelung objektiver Erfordernisse versteht. Aber auch das kann nicht
genügen, denn diese Widerspiegelung kann richtig oder falsch sein. Schließt man
die falsche Widerspiegelung ein, so besteht im Grunde kein Unterschied zur Holbachschen Auffassung. Aber selbst wenn man als Interesse nur die richtige Widerspiegelung objektiver Gesetzmäßigkeiten ansieht, lassen sich bestimmte Fragen
nicht lösen. Zweifellos spiegeln die Interessen der Volksmassen in Deutschland,
die Interessen an der Sicherung des Friedens, an der friedlichen Entwicklung der
gesamten deutschen Nation, die objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten
richtig wider. Die Interessen der deutschen Imperialisten widersprechen dieser
gesetzmäßigen Entwicklung. Sind es deshalb aber keine Interessen, sind sie nicht
objektiv begründet, haben sie keine materiellen Grundlagen? Das Problem besteht
nicht darin, die Existenz friedensfeindlicher Interessen zu leugnen, sondern
darin, ihre materielle Grundlage aufzudecken und zu zeigen, daß diese Interessen erst mit der Beseitigung ihrer materiellen Grundlagen aufgehoben werden.
Das bedeutet, daß das Interesse selbst objektiv-real ist und auch so definiert
werden muß. Dieses objektive, materielle Interesse muß der Ausgangspunkt für
die Bestimmung aller anderen Interessen sein, weil es ihre Grundlage ist. Meint
man andere als diese objektiven Interessen, so muß man zur Kennzeichnung dafür
entsprechende Attribute verwenden. Das wird durch eine Vielzahl von Hinweisen
der Klassiker des Marxismus über den Inhalt der Interessen bestätigt. Aus der
Fülle dieser Hinweise seien einige herausgegriffen, die deutlich machen, wie Marx,
Engels und Lenin den Begriff des Interesses verstehen.
Marx und Engels bleiben nicht dabei stehen, die Interessen aus den materiellen
Lebensbedingungen der Klassen abzuleiten, sondern sie betrachten diese materiellen Lebensbedingungen als die grundlegenden Interessen. So spricht Marx in
seiner Arbeit „Die Klassenkämpfe in Frankreich" von den „Interessen der Bourgeoisie" als den „materiellen Bedingungen ihrer Klassenherrschaft und Klassenexploitation".i® Und Engels schreibt: „Die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft stellen sich zunächst dar als Interessen."
Bei der Kritik
an Kautsky bemerkt Lenin: „Kautsky wendet den Marxismus in einer Weise an,
daß er jedes Inhalts entblößt wird und nur noch das Wörtchen ,Interesse' in einer
übernatürlichen, spiritualistischen Bedeutung übrigbleibt, denn gemeint ist damit
nicht die reale Ökonomik, sondern der fromme Wunsch nach allgemeinem Wohl."
Und an anderer Stelle heißt es:
daß die unaufschiebbarsten, dringlichsten,
in den letzten Jahren klar in Erscheinung getretenen praktischen Interessen aller
kapitalistischen Mächte die Entwicklung, Regelung und Ausdehnung des Handels
K. Marx: Die Klassenkämpfe in Frankreich. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 7. Berlin 1960.
S. 36
F.Engels: Zur Wohnungsfrage. In: K. Marx/P.Engels: Werke. Bd. 18. S. 274
W. I. Lenin: Der Zusammenbruch der II. Internationale. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 21. Berlin
1960. S. 222
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Zum Verhältnis von persönlichen
und gesellschaftlichen
Interessen
mit Rußland erheischen. Sind derartige Interessen... einmal vorhanden, so kann
man zwar streiten, kann sich zanken, . . . aber zu guter Letzt wird sich doch diese
grundlegende wirtschaftliche Notwendigkeit selbst ihren Weg bahnen." ^^
Nun sind jedoch materielle Verhältnisse und Interessen nicht identisch. Abgesehen davon, daß man sonst nicht zwei Worte für ein und denselben Begriff zu
verwenden brauchte, hat doch die Kategorie der materiellen Lebensverhältnisse
im wesentlichen die gegenwärtigen Verhältnisse zum Inhalt, während in der Kategorie des Interesses mit auf die Zukunft verwiesen wird.
Die materiellen Lebensverhältnisse der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik sind gekennzeichnet durch den Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse. Worauf sind die Interessen der Werktätigen in der Republik
gerichtet? Im Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands heißt es:
„Nach dem Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse ist der umfassende
Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, der die
Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus abschließen wird, Hauptinhalt der Tätigkeit der Arbeiterklasse und aller Werktätigen." ^^ Die Interessen
der Werktätigen unserer Republik basieren auf dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung und orientieren auf die Durchsetzung der objektiven gesellschaftlichen
Erfordernisse, insbesondere auf die bewußte und umfassende Durchsetzung der
ökonomischen Gesetze des Sozialismus.
Die Kategorie Interesse ist also in der Tat eine Relationskategorie. Sie stellt bestinunte Beziehungen her zwischen dem jeweils erreichten Entwicklungsstand und
dfen objektiven Gesetzmäßigkeiten, die für die gesamte Entwicklung bestimmend
sind. Unter Berücksichtigung des Dargelegten könnte man die Interessen etwa so
definieren: Unter den objektiven Interessen eines Menschen, einer Gruppe, einer
Klasse oder der Gesellschaft versteht man das objektive Verhältnis zwischen der
besonderen materiellen Lage des Menschen, der Gruppe, der Klasse oder der
Gesellschaft und den materiellen Gesetzmäßigkeiten sowie den ihnen zugrunde
liegenden materiellen Verhältnissen der jeweiligen Gesellschaftsordnung. Das
bedeutet, die Interessen einer Gruppe von Menschen, einer Klasse, der Gesellschaft
resultieren daraus, daß ihre Lebenbedingungen sie zwingen, in einer bestimmten
Richtung tätig zu sein.^* Diese Richtung aber wird durch die objektiven Gesetze
der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmt. Es ist selbstverständlich, daß diese
Definition des objektiven Interesses nur eine vorläufige sein kann. Aber jede Definition des Interesses muß zwei Anforderungen genügen: a) muß sie die materielle
Grandlage dieser Interessen bestimmen und b) die Objektivität des Verhältnisses
der betreffenden Klasse oder des Individuums zu dieser Grundlage darstellen. In
dieser Richtung laufen auch die Hinweise der Klassiker.
Die Widerspiegelung dieses Verhältnisses ist der Inhalt des subjektiven Interesses. Sie kann richtig oder falsch sein. Engels weist darauf hin, in welche Lage
der Führer einer Klasse gerät, deren subjektive und objektive Interessen nicht zusammenfallen. Daneben weist Engels auf den Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen und dem Gegensatz der
W. I. Lenin: XI. Parteitag der KPR (B). Politisclier Bericht des Zentralkomitees der KPR (B).
In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 33. Berlin 1962. S. 251
22 Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: W. Ulbricht: Das Programm des
Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. S. 321
23 Vgl.: W. I. Lenin: Über die poUtische Linie. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 18. S. 322
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Klassen, der Lage einer bestimmten Klasse f ü r die Bestimmung der objektiven
Interessen hin. Engels betont, daß eine falsche Widerspiegelung der objektiven
Interessen den politischen Untergang des betreffenden Führers bedeutet.^^ In den
Ausbeuterklassen wird die richtige Widerspiegelung der objektiven Klasseninteressen durch die subjektiven Interessen der einzelnen Mitglieder dieser Klassen
wesentlich beeinträchtigt, oft sogar unmöglich gemacht.^® Die Arbeiterklasse
spiegelt auf der Grundlage der wissenschaftlichen Weltanschauung ihre Klasseninteressen prinzipiell richtig wider. Das schließt aber die falsche Widerspiegelung
durch einzelne Angehörige oder Gruppen der Klasse nicht aus.
2. Zur Unterordnung der persönlichen
unter die gesellschaftlichen
Interessen
Sind die materielle Lage der Gesellschaft sowie die sich daraus ergebenden
Entwicklungstendenzen die Grundlage f ü r die Bestimmung der objektiven gesellschaftlichen Interessen, so können Grundlage der objektiven persönlichen Interessen ebenfalls nur die materielle Lage der Persönlichkeit sowie die Bedingimgen
ihrer Entwicklung sein. Das objektive persönliche Interesse besteht in dem Verhältnis zwischen dem gegebenen Entwicklungsniveau der Persönlichkeit und den
Bedingungen ihrer weiteren allseitigen Entwicklung. Allein dieses Verhältnis
bringt das reale Interesse zum Ausdruck. Wird nicht der gegenwärtige Entwicklungsstand der Persönlichkeit zugrunde gelegt, so bekommt das Interesse einen
unrealistischen, utopischen Inhalt. Andererseits ist es eben nicht Interesse, wenn
es nicht auf noch nicht Erreichtes, also auf die weitere Entwicklung orientiert. In
dem Sinne hat die Feststellung Feuerbachs: „Wofür man sich interessiert, dazu
hat man auch Fähigkeit"
einen tiefen objektiven Inhalt. Wenn das objektive
persönliche Interesse das Verhältnis des Menschen zu den objektiven Bedingungen
seiner Entwicklung darstellt, dann kann er diese Bedingungen auch schaffen.
Daraus geht hervor, daß persönliche und gesellschaftliche Interessen einander
durchdringen. Das folgt sowohl aus dem Wesen der Gesellschaft als auch aus dem
Wesen des Menschen. Die Gesellschaft, von Marx als das „Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen"
bestimmt, drückt gerade die wechselseitigen
Beziehungen der Individuen aus.^ Nehmen die Menschen sie unter ihre Kontrolle
und setzen die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft bewußt durch, so tritt „an
die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen . . . eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung
f ü r die freie Entwicklung aller ist"
Diesen Zusammenhang zwischen den Inter^ Vgl.: F. Engels: Der deutsche Bauernkrieg. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 7. S. 400-401; vgl.
auch: W. I. Lenin: Sozialdemokratie und provisorische revolutionäre Regierung. In: W. I. Lenin:
Werke. Bd. 8. Berlin 1958. S. 271 f.
^ Vgl. dazu: K.Marx/F.Engels: Montesquieu LVI. In: K. Marx/F.Engels: Werke. Bd. 6. Berlin
1959. S. 195; vgl. außerdem: K. Marx: Der achtzehnte Brumetire des Louis Bonaparte. In: K. Marx/
P.Engels: Werke. Bd. 8. Berlin 1960. S. 183, 185
^ L. Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. § 15. In: L. Feuerbach: Zur Kritik der
Hegeischen Philosophie. Berlin 1955. S. 114
K. Marx an F. W. Annenkow. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 4. Berlin 1959. S. 548
^ Vgl.: K. Marx: Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953. S. 74, 176
^ K. Marx/F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 4.
S. 482
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Zum Verhältnis von persönlichen
und gesellschaftlichen
Interessen
essen der Gesellschaft und des einzelnen bringt die Definition der sozialistischen
Gemeinschaft von H. Kallabis sehr deutlich und gut begründet zum Ausdruck.®®
Aber es besteht nicht nur schlechthin ein Zusammenhang zwischen persönlichen
und gesellschaftlichen Interessen. In Wahrheit sind die gesellschaftlichen Interessen gleichzeitig die bestimmenden, wesentlichen Interessen der Persönlichkeit.
In der „Deutschen Ideologie" stellen Marx und Engels fest, „daß die Entwicklung
eines Individuums durch die Entwicklung aller anderen, mit denen es in direktem
oder indirektem Verkehr steht, bedingt i s t . . . "
Viele Veröffentlichungen marxistischer Philosophen unterstreichen diese These.®^ Dennoch werden in der Literatur die persönlichen und gesellschaftlichen Interessen häufig auseinandergerissen, indem die persönlichen zu eng gefaßt werden. So spricht z. B. Schischkin
vom Arbeitsertrag der Werktätigen, der einerseits gebraucht wird „zur Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse, andererseits zur Erweiterung der Produktion,
zur Entwicklung des Bildungswesens, der Gesundheitsfürsorge, zur Errichtung
von Kulturstätten usw., also letztlich wieder für die Bedürfnisse der arbeitenden
Menschen der sozialistischen Gesellschaft"
Im ersten Teil des Satzes schlechthin
von persönlichen Bedürfnissen zu sprechen ist falsch und widerspricht auch dem
letzten Teil. Schischkin müßte von unmittelbaren und mittelbaren persönlichen
Bedürfnissen sprechen, obwohl auch das den geschilderten Sachverhalt nicht
völlig trifft, denn Gesundheitsfürsorge, Bildung und Kultur gehören ebenfalls
zu den unmittelbaren Bedürfnissen.
Deutlicher wird der Fehler noch bei Uledow und Schtscherbakow. In der Rezension des Buches „Das Persönliche und das Gesellschaftliche" heißt es: „Im
Buch jedoch werden die vielfältigen Interessen des Menschen im wesentlichen auf
die persönlichen Interessen reduziert und mit dem Begriff ,persönliche Interessen'
bezeichnet."
Völlig richtig weisen die Autoren darauf hin, daß innerhalb der
persönlichen Interessen je nach dem Grad, mit dem diese Interessen das Individuum mit der Gesellschaft verbinden, differenziert werden muß. Dessenungeachtet
sind jedoch die „vielfältigen Interessen des Menschen" immer noch persönliche
Interessen. An anderer Stelle heißt es: „Wenn das Interesse f ü r die Gesellschaft
immer und unter allen Bedingungen persönliches Interesse wäre, dann wäre die
Frage der Erziehung der Menschen im Geiste der gesellschaftlichen Pflicht gegenstandslos."
Diese Frage ist natürlich nicht gegenstandslos, aber nicht etwa
deshalb, weil das Interesse für die Gesellschaft nicht persönliches Interesse wäre,
sondern weil die Menschen nicht unmittelbar alle gesellschaftlichen Interessen als
ihre persönlichen erkennen. Das betrifft jedoch die Unterscheidung von objektiven und subjektiven persönlichen Interessen.
^ Vgl.: H. Kallabis: Über die Widersprüche der gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus. In;
DZfPh. Heft 10/1961. S. 1184
K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. Berlin 1958.
S. 423
1
I
[
Vgl.: R. Miller: Vom Werden des sozialistischen Menschen. Berlin 1960. S. 127; E. Gutzmann/
H. Kallabis: Über Wesen und soziale Bedeutung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit. S. 53/54;
H. Selsam: Sozialismus und Ethik. Berlin 1955. S. 131
A. F. Schischkin: Die Grundlagen der kommunistischen Moral. Berlin 1958. S. 133
^ A. Uledow, G. Schtscherbakow: Erfahrungen in der konkreten Sozialforschung. In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. Heft 9/1962. S. 955
Ebenda: S. 955/56
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Dietrich
Noske
In den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" geht Marx etwas eingehender auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ein; er schreibt:
„Es ist vor allem zu vermeiden, die ,Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem
Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen.
Seine Lebensäußerung — erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer
gemeinschaftlichen, mit anderen zugleich vollbrachten Lebensäußerung — ist daher
eine Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle
und das Gattungsleben der Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch — und
das ist notwendig — die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens i s t . . . " ®® In der sozialistischen Gesellschaftsordnung sind alle Bedingungen geschaffen, diese Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum zum Wohle des einzelnen und zum
Nutzen aller bewußt durchzusetzen. Ausgangspunkt der Propaganda, die der bewußten Herstellung dieser neuen Beziehung des einzelnen zur Gesellschaft dient,
muß der Mensch sein, aber der Mensch in der konkreten Vielfalt seiner Beziehungen, der Mensch, den Chruschtschow als den höchsten Wert der sozialistischen
Ordnung bezeichnet.®^
Das richtige Verhältnis der Beziehungen zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen führt auch zur Lösung der Frage, ob die persönlichen Interessen
im Sozialismus den gesellschaftlichen Interessen untergeordnet sind bzw. sein
müssen oder nicht. Viele marxistische Autoren stehen auf dem Standpunkt, daß die
bewußte Unterordnung der persönlichen unter die gesellschaftlichen Interessen das
Ziel der Bewußtseinsbildung sein muß.®®^ Klein geht soweit, das sozialistische Kollektiv als ein Kollektiv zu charakterisieren, „in dem der Bessere seine unmittelbaren, persönlichen Interessen, die er womöglich außerhalb des Wettbewerbs viel
besser befriedigen könnte, den gemeinsamen Interessen des Kollektivs unterordnet"
Hingegen polemisieren E. Gutzmann und H. Kallabis gegen die Auffassung von der Unterordnung der persönlichen unter die gesellschaftlichen
Interessen.^" Auch Selsam wendet sich gegen die Auffassung von der Selbstlosigkeit
des Handelns und damit indirekt gegen die Behauptung der Unterordnung. Bei
ihm heißt es: „Was jedoch wird unter einer selbstlosen Handlung verstanden?
Vermag jemand absichtlich entgegen seinem Wunsch oder Willen zu handeln?.. .Die Menschen handeln stets so, daß sie sogleich oder später ihre Befriedigung
darin finden, aber das Selbst der Menschen kann weiter oder enger sein, . . . das
K. Marx; Zur Kritik der Nationalökonomie. In: K. Marx/F. Engels: Kleine ökonomische Schriften.
Berlin 1955. S. 130
Vgl.: N. S. Chruschtschow: Der Triumph des Kommunismus ist gewiß. Berlin 1961. S. 113
Vgl. z. B.: 0. G. Drobnizki: Über die Kategorie Pflicht in der marxistischen Ethik. In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. Heft 2/1962. S. 187; A. F. Schischkin: Die
Grundlagen der kommunistischen Moral. S. 150, 158 u. a.; M. Klein: Theoretische Probleme der
marxistischen Ethik. In: Neues Xeben, neue Menschen. Konferenz des Lehrstuhls Philosophie des
Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED über theoretische und praktische
Probleme der sozialistischen Moral am 16. und 17. April 1957. Berlin 1957. S. 17 u. a.; R. Miller:
Vom Werden des sozialistischen Menschen. S. 65; R. Miller: Das moralische Antlitz des sozia^
listischen Menschen. Berlin 1959. S. 17, 35
Schlußwort von M. Klein. In: Neues Leben, neue Menschen. S. 2 5 2 / 5 3
^^ E. Gutzmann/H. Kallabis: Über Wesen und soziale Bedeutung der sozialistischen Gemeinschaftsarbeit. S. 70
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Zum Verhältnis von •persönlichen und gesellschaftlichen
Interessen
Selbst ist SO weit oder eng wie der Umfang seiner Interessen undBefriedigungen."^^
Andererseits betont Lenin die Notwendigkeit der Unterordnung^^, und auch
Chruschtschow behauptet sie für die Periode des kommunistischen Aufbaus sowie
die darauffolgende Zeit.^® Unsere Partei spricht in diesem Zusammenhang von
der bewußten Einordnung der Interessen.^^
Geht man von der Tatsache aus, daß die wesentlichen persönlichen Interessen
identisch sind mit den Interessen der Gesellschaft, so kann man nicht schlechthin
von der Unterordnung der einen unter die anderen sprechen. Vielmehr ordnet das
Individuum seinen wesentlichen persönlichen Interessen andere persönliche Interessen unter. Hier handelt es sich also, neben dem Verhältnis von persönlichen
und gesellschaftlichen Interessen, um ein Verhältnis der Unterordnung innerhalb
der persönlichen Interessen. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß
oft, wenn von Unterordnung die Rede ist, die gesellschaftlichen Interessen nicht
richtig bestimmt werden. Muß z. B. ein junger Arzt, der von den staatlichen Stellen
in ein entlegenes Gebiet zur Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit geschickt wird,
seine persönlichen Interessen den gesellschaftlichen Interessen unterordnen? Die
gesellschaftlichen Interessen bestehen in diesem Fall darin, daß die ärztliche Betreuung, soweit es in den Möglichkeiten unserer Gesellschaft liegt, auch die im
Kapitalismus in dieser (und nicht nur in dieser) Hinsicht zurückgebliebenen ländlichen Gebiete erfaßt. Hier besteht eine tiefe Übereinstimmung mit den persönlichen
Interessen eines jungen Arztes. Das ist der einzig richtige Ausgangspunkt. Es
kann nicht der Inhalt der ärztlichen Tätigkeit sein — und kein Arzt, der seinen
Beruf ernst nimmt, hat aus eigenem Antrieb so gehandelt —, durch ihre Klassenlage oder andere Bedingungen bevorzugten Menschen zu helfen, sondern es geht
um die Gesunderhaltung aller Menschen. Dieses echte Anliegen ärztlicher Tätigkeit
kann sich erst im Sozialismus erfüllen.^®
Damit soll jedoch das genannte Problem nicht als ein Scheinproblem abgestempelt werden. In der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist besonders die
Landwirtschaft im Hinblick auf die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt zurückgeblieben. Das betrifft nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern alle Lebenssphären. Die sozialistische Gesellschaft, die den Gegensatz zwischen Stadt und
Land aufhebt, verfügt noch nicht über die materiellen Möglichkeiten, die wesentlichen Unterschiede zwischen Stadt und Land zu beseitigen. In der Tat ergeben sich
eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Berufslenkung der Absolventen unserer
Hoch- und Fachschulen aus der Tatsache, daß eine Anzahl von ihnen durch die
Bedingungen des Landlebens von einer Tätigkeit auf dem Dorf abgeschreckt wird.
Das ist ein echtes Problem. Es ist jedoch falsch, an diese jungen Menschen schlechtH. Selsam: Sozialismus und Ethik. S. 188/189
Vgl.: W. I. Lenin: Referat über das Parteistatut, 29. Juli (11. August). In: W. I. Lenin: Werke.
Bd. 6. Berlin 1956. S. 491; W. I. Lenin: „Gut funktionierende Organisation" und Diktatur. In:
W. I. Lenin: Werke. Bd. 27. Berlin 1960. S. 260; W. I. Lenin: Rede auf dem III. Gesamtrussisclien
Gewerkschaftskongreß, 7. April 1920. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 30. S. 503
Vgl.: N. S. Chruschtschow: Rede auf dem Treffen führender Funktionäre von Partei und Regierung
mit Literatur- und Kunstschaffenden am 8. März 1963. In: Neues Deutschland vom 14. März
1963. S. 5
^^ Vgl.: W.Ulbricht: Das Programm des Sozialismus und die geschichtliche Aufgabe der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. S. 184
« Vgl.: Ebenda: S. 152
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hin die Forderung der Unterordnung zu stellen. Vielmehr ist von der Ubereinstimmung der wesentlichen Interessen des einzelnen und dei- Gesellschaft auszugehen. Was hindert diese jungen Menschen daran, eine Tätigkeit auf dem Dorf
aufzunehmen? Das sind Bedingungen, die keinesfalls im gesellschaftlichen Interesse liegen. Die z. T. fehlende kulturelle Betreuung, mangelhafte soziale Einrichtungen usw., denen sie sich in der Tat unterordnen müssen, liegen doch nicht
im gesellschaftlichen Interesse. Mit dem weiteren Fortschreiten des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses in unserer Republik nähern sich auch diese Bedingungen immer mehr denen der Stadt an. Dabei spielt die Tätigkeit qualifizierter
Werktätiger und Angehöriger der Intelligenz auf dem Dorf eine nicht unwesentliche
Rolle.
Der auf dem Land tätige Arzt kann also seinen grundlegenden persönlichen
Interessen, die mit den gesellschaftlichen Interessen voll übereinstimmen, nachgehen und so selbst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß andere persönliche
Interessen, die er zunächst noch nicht voll befriedigen kann, besser erfüllt werden.
Das aber ist ein Widerspruch zwischen seinen persönlichen und den Interessen der
Gesellschaft einerseits und den noch unzureichenden materiellen Möglichkeiten der
sozialistischen Gesellschaft, das jahrhundertealte Erbe des Feudalismus und
Kapitalismus auf dem Dorf zu überwinden, andererseits. Dieser Widerspruch
allerdings, der eine Form des Widerspruchs zwischen den Interessen der Menschen und den materiellen Möglichkeiten der Gesellschaft darstellt, existiert solange, wie die Bedürfnisse noch nicht allseitig befriedigt werden können.
Durch die Tätigkeit auf dem Dorf kommt der Arzt in noch wesentlicherer
Hinsicht seinen persönlichen Interessen nach. Die sozialistische Gesellschaft kann
sich nur als Ganzes entwickeln. Die Muttermale der alten Gesellschaft, die besonders das Dorf kennzeichnen, müssen überall beseitigt werden. Das bedeutet,
daß sich besonders die Lebenslage der Dorfbevölkerung schnell bessern muß. Die
Entwicklung der gesamten sozialistischen Gesellschaft, die dem einzelnen Frieden,
Wohlstand und persönliches Glück garantiert, ist auch von der Entwicklung des
Dorfes abhängig. Bleibt dieses in der Entwicklung zurück, ist die Entwicklung
der sozialistischen Gesellschaft insgesamt gestört.
Wie wichtig es ist, an die Probleme junger Menschen, die eine Tätigkeit auf
dem Dorf aufnehmen sollen, richtig heranzugehen, zeigt eine Zuschrift an die
„Deutsche Lehrerzeitung". Hier wird von den Direktoren dreier pädagogischer
Institute der Republik berichtet, daß sie Absolventen ihrer Institute die Arbeit
auf dem Dorf mit dem Hinweis „schmackhaft" machten, sie könnten ja nach Ablauf ihrer „Verpflichtung" über eine zweijährige Tätigkeit das Dorf wieder verlassen."*® Die These von der Unterordnung ist die theoretische Grundlage solcher
Auffassungen. Gehe ich schlechthin von der Unterordnung meiner Interessen
unter die der Gesellschaft aus, kann ich zu der Auffassung gelangen, daß ich
meine Interessen nur im Kampf gegen die gesellschaftlichen Interessen durchsetzen
kann. In Wahrheit jedoch geht es um den Kampf für die Durchsetzung der gesellschaftlichen und meiner persönlichen Interessen, geht es um die Mehrung des
Reichtums der gesamten Gesellschaft. Dazu ist der festere Zusammenschluß der
sozialistischen Gemeinschaft, die Vertiefung der politisch-moralischen Einheit
Vgl.: Deutsche Lehrerzeitung vom 12. April 1963. Nr. 15. S. 8
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Zum Verhältnis
von persönlichen
und gesellschaftlichen
Interessen
des Volkes notwendig und nicht das Gegenüberstellen der persönlichen und irgendwelcher fiktiver gesellschaftlicher Interessen.^^
Es handelt sich bei der Unterordnung also darum, daß um der Sicherung
wesentlicher und grundlegender persönlicher Interessen willen andere persönliche
Interessen diesen untergeordnet werden müssen. Dieser Zusammenhang sollte mehr
als bisher in der Propaganda erläutert werden. Damit wird nämlich einerseits
die Einheit zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen gezeigt,
andererseits aber jede Schönfärberei oder das Leugnen von realen Widersprüchen
vermieden.
Es geht also nicht darum, die Unterordnung bestimmter Interessen theoretisch
zu liquidieren. Wenn es sich auch grundsätzlich um eine Unterordnung innerhalb
der persönlichen Interessen handelt, so muß doch in bestimmten Fällen das Individuum gegenüber der Gesellschaft zurücktreten. Die wesentlichen persönlichen
Interessen verbinden den einzelnen enger mit der Gesellschaft als seine anderen
Interessen. Er kann zu der Auffassung gelangen, daß zur Sicherung dieser wesentlichen Interessen, die er mit anderen gemein hat, nicht unbedingt seine Mitarbeit
erforderlich sei. Das ist ein egoistischer, kleinbürgerlicher Standpunkt. Die Erziehung Z-ur sozialistischen Moral ist darauf gerichtet, den einzelnen gerade zur
Erkenntnis und zum Kampf um die Durchsetzung jener Interessen zu führen, die
ihn enger mit seinem Arbeitskollektiv, seiner Klasse und der gesamten sozialistischen Gesellschaft verbinden.
Die Praxis des sozialistischen und kommunistischen Aufbaus in den Ländern
des sozialistischen Weltsystems beweist die Richtigkeit der von Marx und Engels
ausgearbeiteten Erkenntnis, daß der Gegensatz von Altruismus und Egoismus ein
nur historischer ist.^® Die große Leistung von Marx und Engels besteht im Hinblick auf unser Problem darin, daß sie einerseits die materielle Basis der Interessen enthüllt und andererseits die Beziehungen des Individuums zur Gesellschaft, ausgehend vom Wesen beider, wissenschaftlich' erfaßt haben. Darauf
fußend, wiesen sie nach, daß erstmalig in der sozialistischen Gesellschaft eine
grundlegende Übereinstimmung zwischen persönlichen und gesellschaftlichen Interessen besteht.
Vgl.: B. Ukrainzew: Probleme der Dialektik des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus.
In: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge. Heft 1/1961. S. 11/12
•'S Vgl.: K. Marx/F. Engels: Die deutsche Ideologie. In: K. Marx/F. Engels: Werke. Bd. 3. S. 228
bis 230
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