Ständig in Bewegung Aktuelle Tendenzen experimenteller Film- und Videoarbeiten in Deutschland ( 1994 – 2004 ) Die Filme und Videoarbeiten der Reihe "Ständig in Bewegung" liegen auf vier DVDs vor und sollen - ebenso wie diese Broschüre - einen möglichst repräsentativen Überblick über die Entwicklungen in den vergangenen 10 Jahren sowie über aktuelle Tendenzen in der experimentellen Filmarbeit in Deutschland geben. Dabei stehen inhaltlich und ästhetisch komplexe Meisterwerke neben Arbeiten, die die experimentelle Erprobung von Techniken, Fertigkeiten und die Herausbildung persönlicher künstlerischer Handschriften in den Vordergrund stellen. Die Auswahl wurde auf Film- und Videoarbeiten beschränkt. Wenngleich das Feld der Medienkunst weiter expandiert, konnten Medienkunstprojekte, die nicht linear strukturiert sind oder Interaktivität verlangen sowie mehrkanalige Arbeiten nicht berücksichtigt werden. Die Fülle der Beiträge, die zur Auswahl standen, rechtfertigt dieses Verfahren zugunsten einer besseren Übersichtlichkeit. Das vorliegende Filmund Videopaket knüpft an die Reihe früherer Filmpakete des Goethe-Instituts an, in denen die Entwicklungen des deutschen Avantgarde- und Experimentalfilmschaffens von den 20er Jahren bis Mitte der 90er Jahre dokumentiert sind. Die Experimentalfilmgeschichte verläuft seit den Anfängen der Kinematographie als eine Subgeschichte des Films, deren Werke jedoch wesentliche Beiträge zur Entwicklung des Films als eigenständiger Kunstform sowie der Filmsprache und der Filmästhetik geleistet haben. Der experimentelle Charakter dieses formal, inhaltlich und ästhetisch sehr heterogenen Genres zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass die Filme, weitestgehend unabhängig von den kommerziellen Strukturen des Film- und Kinomarktes, als freie, eigenständige künstlerische und sehr persönliche Arbeiten entstanden und entstehen und in der Regel eine Gegenposition zum Mainstream entwickeln. Dies gilt umso mehr für die Videokunst, die bereits seit ihren Anfängen im Bereich der Bildenden Kunst angesiedelt ist und vielfältige Bezüge und Wechselbeziehungen zum Experimentalfilm aufweist. Experimentelle Arbeiten auf Film, Video oder auch immateriellen Bildspeichermedien entstehen in der Regel an (Film-) Akademien und Kunsthochschulen und in deren Umfeld bzw. durch deren Absolventen. Neben einigen nichtgewerblichen Kinos und einer steigenden Zahl spezialisierter Festivals sind es Galerien, Museen und Häuser der Aktuellen Kunst und zunehmend auch das Internet, in denen die Werke präsentiert werden. Trotz der Vielfalt der heute zur Verfügung stehenden neuen Medien, ist das Interesse an experimentellen Film- und Videoarbeiten groß. Dies ist insbesondere an den zahlreichen Film- und Medienhochschulen zu verzeichnen, zumal dort die Geschichte des Avantgarde- und Experimentalfilms seit den 20 er Jahren vermittelt wird. Zudem basieren zahlreiche industrielle Anwendungen in Werbung, Grafik, Internet, Musikclip und Spielfilmproduktionen auf dem reichen Fundus und der ständigen Weiterentwicklung experimenteller filmischer Formsprachen. Die Art der Präsentation ist im permanenten Wandel und hat durchaus Einfluss auf Gestaltungskriterien der Künstler/innen. Bildeten Mitte der 90er Jahre Festivalscreenings und Vorführungen in Club- und Kommunalkinos noch die vorherrschende Form der ‚Auswertung’, so werden seit wenigen Jahren viele Videoarbeiten und selbst Filmproduktionen auch für den Kunstmarkt und für eine Permanentpräsentation in Ausstellungshäusern konzipiert. Diese Loops berücksichtigen als installative Arbeit neben ihrem im Vordergrund stehenden künstlerischen Anliegen diese spezielle Situation der Präsentation ausserhalb von Kino und Fernsehen. Derart in mehreren Ausstellungszyklen gezeigt, kann ein Film oder Video mitunter ein größeres Publikum erreichen als mancher Kinofilm. Der Umgang mit experimentell gestalteten Bildern und Tönen hat sich in den letzten Dekaden durch die Popularisierung digitaler Techniken und die wachsende Medienkompetenz in der Gesellschaft stark gewandelt. Avantgardistische Stilmittel von einst finden sich heute in Musikclips, Videogames oder der Konsumgüterwerbung wieder. Das vorliegende Programm konzentriert sich jedoch auf künstlerisch eigenständige Werke und zeigt, wie vielfältig die einzelnen Ansätze sind. Starke Strömungen oder Schulen, wie wir sie aus der Geschichte des Experimentalfilms kennen, sind kaum auszumachen. Die Szene ist einerseits schon allein aufgrund der fortschreitenden technischen Entwicklungen und unterschiedlichsten künstlerischen Herangehensweisen sowie andererseits aufgrund unterschiedlicher Ziele, Lebensentwürfe und Wertvorstellungen ständig in Bewegung. Zu verzeichnen ist, dass sich der aus den 70er Jahren stammende und bis in die 90er Jahre oftmals vorherrschende selbstreferenzielle Bezug auf das jeweilige Medium, auf die Materialität des Trägers, seine technikimmanenten Strukturen und seine visuellen Sprache, zu Gunsten einer Auseinandersetzung um ‚Inhalte’, um neue Narrationsformen und um gesellschaftliche Bezüge verschoben hat. Deutlich wird auch, dass die vielfältigen Relationen zwischen der Bild- und der akustischen Ebene im Vordergrund der künstlerischen Anliegen stehen. Die digitalen Medien, die rechnergestützten Produktions- und Präsentationsmittel, haben die künstlerischen Möglichkeiten ernorm erweitert. Hier liegt die Betonung auf ‚Möglichkeiten’, denn die digitale Technologie unterstreicht das Prozesshafte, die einfache Bearbeitung des Bildes bis in die kleinste Einheit, das Pixel, hinein. Die Integration verschiedener kultureller Daten, sei es Musik, Text, Fotos, Ton und Filme, zeichnet den Computer als „kulturelles Interface“ aus. Auch das unaufwändige ‚UnDo’, die Rücknahme der letzten Arbeitsschritte, erleichtert in der Versuchsanordnung ‚Filmproduktion’ das experimentelle Filmemachen. Die Qualität einzelner Experimentalfilme zu bestimmen und zu bewerten fällt allerdings schwer. Sinnvoll ist es, vom Werk auf die Intention des Autors/der Autorin Rückschlüsse zu ziehen, um dann zu beurteilen, ob und wie dies gelungen ist. Im Gegensatz zum Spielfilm, der erzählen und unterhalten will und dies mittels Psychologie, Spannungsbögen, Suspense und Plot erreichen kann, steht dem experimentellen Film und Video eine sehr viel größere Anzahl und Bandbreite an Gestaltungsmitteln und künstlerischen Eigenentwicklungen zur Verfügung, da er nicht gezwungen ist, die Genreerwartungen eines Kino- oder TV-Publikums zu bedienen. Die ‚entfesselte’ Kreativität führt zum einen sicherlich zu einer zunehmenden Unübersichtlichkeit von Gestaltungstendenzen und künstlerischen Ansätzen, die sich vielmals einer akademischen Kanonisierung entziehen. Andererseits – und das wird in den Arbeiten des vorliegenden DVD-Pakets auch sehr deutlich – können von den Filmen und Videos Inspirations- und Erneuerungsschübe ausgehen, die nicht nur Tendenzen der Bildenden Kunst aufgreifen, sondern auch mögliche Wirkungen auf den ‚Mainstream’ haben, wie etwa die sehr ruhigen, ambient und ‚chilligen’ Umsetzungen der jüngsten Arbeiten des Pakets, die sich sehr von der noch vorherrschenden Tendenz der schnellen Schnitte, Jump-Cuts, CloseUps und Tempiwechsel in landläufiger Werbung und Mainstream - Musikclips abheben. Allerdings treten Motivation und Intentionen experimenteller Filme nicht immer deutlich zutage. Ein Experimentalfilm oder ein künstlerisches Video kann sich, vergleichbar einem Tafelbild oder einem Musikstück, natürlich auch allein durch seine Anmutungsqualitäten vermitteln und erschließen. Er kann diskursive Prozesse anstoßen und einen intellektuellen Nerv oder einen politischen oder ästhetischen Zeitgeist treffen und so Interesse, Sympathie, Erkenntnis, Zustimmung oder gute Unterhaltung erzielen. So, wie sich Kunstwerke mit einigem kunstwissenschaftlichen oder kunstgeschichtlichen Hintergrundwissen dem interessierten Betrachter erschließen, ist es für den Umgang mit Experimentalfilmen hilfreich, einige Vorkenntnisse über die Geschichte, Themen und Arbeitsweisen experimenteller Filme zu haben, um sie genießen zu können. Nicht zuletzt diesem Ziel dient diese Broschüre. Programm 1, Weltbilder - Bilderwelten Das Programm wird eröffnet mit einer filmischen Reise in die sogenannte Neue Welt. In ihrem Film Just in Time verfremdet, überhöht und hinterfragt Kirsten Winter den klassischen ersten visuellen Eindruck, den New York dem dort Ankommenden bietet, durch filmtechnische Experimente und Abstraktionen. Sie verdichtet die Neonlichter und Kamerafahrten durch die Straßenschluchten mittels Überblendungen und Mehrfachbelichtungen zu einem Patchwork, zu dem der Komponist Simon Stockhausen einen adäquaten akustischen Klangteppich webt. Die vertikalen Strukturen der Metropole gehen über in die parallelen Gleise der Eisenbahnschienen, auf denen der technische Fortschritt in den Westen der Neuen Welt seinen Einzug nahm. Der Film bleibt weitgehend abstrakt und ästhetisiert visuelle Attraktionen wie etwa die filigranen Stahlkonstruktionen einer Eisenbahnbrücke. Schwarz-weiße Landschaftsaufnahmen entlang der Bahnstrecke mit zum Teil sehr kontemplativem Charakter stehen im Wechsel mit einem stakkatohaften, farbig collagiertem Mittelteil aus Bild-, Sprach-, und Schriftfragmenten. Die persönliche Handschrift der Künstlerin zeigt sich auch in den am Tricktisch mit Öl übermalten Passagen und der eingesetzten Kratztechnik. Die Originalaufnahmen des Films The Day Slows Down as It Progresses von Thomas Bartels entstanden im Straßenleben von Bombay und Baroda, Indien. Im Gegensatz zu Großstädten der westlichen Zivilisation finden sich hier noch eine Vielzahl von handwerklichen Techniken der analogen Produktion von Bildern und Abbildern. Ein mobilerPassbildfotograf operiert mit Kamera, Fixierer, Kontaktabzug und Schere so, als stünde die Fotografie noch am Anfang ihrer Entwicklung. Kinound Werbeplakatmaler applizieren heimische Bollywood - Stars ebenso wie Werbeplakate für internationale Elektronikkonzerne, mit denen die Globalisierung langsam Einzug hält, noch per Hand auf Häuserwände. In kongenialer Weise hat Thomas Bartels seine Filmtechnik genutzt: Einzelbildschaltungen, Zeitraffer, Zeitlupe, Kasch, Ausschnittsvergrößerungen am Tricktisch und anderes mehr verdeutlichen auch hier eine Könnerschaft und Reduzierung auf das wesentliche der Filmkunst, aus der die experimentelle künstlerische Gestaltungsvielfalt erst erwächst. In Elsewhere von Egbert Mittelstädt schwenkt die Kamera in einer langsam fließenden, stetigen Kreisbewegung durch das Innere einer S-Bahn in Tokyo. An den Stationen kommen und gehen die Fahrgäste, aber das Halten und Beschleunigen des Zuges hat keinen Einfluss auf die sanfte kontinuierliche Drehbewegung der Kamera. Auch wenn die erzählte Zeit der Bahnfahrt gerafft, fragmentiert und überlagert wird, entsteht im Inneren - quasi wie in einem Kreiselkompass - eine eigene Erzählzeit, deren Gesetzmäßigkeit nur ihrer eigenen unabhängigen Rotationsbewegung unterliegt. Eine Studie über die Relativität von Zeit, Raum und Geschwindigkeit. Wanderlost von Timothee Ingen-Housz ist ein zweidimensionaler und auf Bildwitz angelegter Film, oder wie der Regisseur ihn nennt, ein Bluebox –-Computer Holliday – Film mit ihm selbst als Darsteller. Es geht um die Erschaffung künstlicher Welten, insbesondere aber um die digitale Bilderwelt und spielerische Erprobung digitaler Bildeffekte. Der Film entstand an der Kunsthochschule für Medien Köln unter der Leitung des britischen Experimentalfilm - Gurus David Larcher Der Film IN von Philipp Hirsch basiert auf einer linearen, schlüssigen Geschichte. Die surrealen Bildwelten - eingebettet und durchzogen von Realfilm - wirken rätselhaft, wobei es weniger auf deren Dechiffrierung durch den Rezipienten ankommt als auf die Diskussion darüber sowie über die verschiedenen Ebenen, die der Film anspricht und die Fragen, die er aufwirft. Carsten Aschmann nimmt in seinem Film Full Moon ein sehr ruhiges altes Musikstück von Eden Ahbez zum Anlass für eine Montage von Bildern, die Phantasien, Sehnsüchte und Glücksgefühle visualisieren. Es gibt einige verblüffende Bildmotive wie muskelanimierte Tätowierungen, Sonnenblumen mit menschlichen Umrissen etc. Eingeblendete Texte kommentieren und persiflieren die erzeugten Stimmungen. As if von Christian Meyer ist eine Boy-meets–Girl-Geschichte, in der reale Schauspieler in gebauten oder gemalten Kulissen agieren. Durch die Anwendung vielfältiger Mittel der Collage und der Mischung zwischen Realfilm, Grafik und Bühnenbild vermittelt der Filme eine virtuelle Realität. Im Off wird der Film durchgehend von einem Erzähler erläutert und mit lakonischem Tonfall kommentiert, wodurch der Eindruck eines Fotoromans entsteht. Programm 2, Ver-Ortungen / Dis-Location In Das Schlafende Mädchen von Corinna Schnitt ist zunächst alles ruhig. Nur das Modellspielzeug eines alten Frachtseglers treibt auf dem Wasser in einer gepflegten, leicht hügeligen Rasenlandschaft. Eine langsame Kamerakranfahrt öffnet den Blick auf eine Vielzahl gleichartiger Doppel- und Reihenhäuser im Landhausstil. Die Masse der hübschen Häuser hat den Charakter einer Modellplatte: ein sauberes Ideal, das aber menschenleer und gespenstisch verlassen wirkt. Außer einem leichten Luftzug, den das Schiffchen nutzt, regt sich scheinbar nichts, kein Mensch, kein Tier, kein Fahrzeug. Nur leises Vogelzwitschern ist zu vernehmen. Erst am Ende des Filmes wird die aufgeladene Atmosphäre durch eine Stimme auf einem Anrufbeantworter unterbrochen. Der Film wirkt wie eine Studie über Langsamkeit und Leere. Wie die Gemälde Vermeers ist er bis ins feinste Detail durchkomponiert und regt dennoch in seiner Rätselhaftigkeit und Uneindeutigkeit zu vielfältigen Interpretationen an. Crofton Road SE 5 ,eine ältere aber prototypische Arbeit von Gerd Gockell, zerlegt die Ansichten einer belebten Londoner Straßenecke in fotografische Einzelteile. Neben seinen verblüffenden Effekten und hohen künstlerischen Qualitäten hat der Film auch den Charakter eines Lehrstücks über die Eigengesetzlichkeiten der filmischen Bewegungsillusion. Einzelne Fotoabzüge aus 16-mm Filmsequenzen werden auf einer Fläche montiert und erneut mit Hilfe der Einzelbildschaltung zu filmischen Eindrücken reanimiert. Die Frequenz dieser Vorgänge bestimmt, dass durch die Trägheit des Auges ab ca. 16 Einzelbildern pro Sekunde ein filmischer Eindruck zurück gewonnen wird. Banlieue du Vide von Thomas Köner: Einige verschneite Straßen, nachts im Schein der Straßenbeleuchtung, nichts passiert. Im Off nur Rauschen und entfernte Stimmen. Auf den zweiten Blick und vor dem Hintergrund, dass es Thomas Köner gerade um diese Leere und Stille ging, die durch öffentliche Überwachungskameras (Found Footage) rund um die Uhr aufgezeichnet werden, bekommt der Film mit seinen subtilen Veränderungen der Bildinhalte und der Tonkomposition eine neue ästhetische Qualität. die sich mit den frühen Arbeiten Andy Warhols vergleichen lassen. Der seit 1993 in New York lebende Filmemacher Caspar Stracke hat in No Damage zwar nicht direkt Bezug genommen auf die Geschehnisse des 11. September 2001, aber ein Film über die Wolkenkratzer Manhattans kann sich dieser Assoziation heute nicht mehr entziehen. Im Zentrum des Videos steht die Hochhausarchitektur New Yorks, die mehr oder weniger beiläufig Gegenstand oder Kulisse zahlreicher insbesondere historischer Spielfilme war und ist. Aus Found Footage Material wurden entsprechende Einstellungen und kurze Sequenzen isoliert, bearbeitet, dabei zum Teil verfremdet und mit einigen dokumentarischen Aufnahmen vom Bau der Wolkenkratzer zu einem Kaleidoskop vertikaler Stadtansichten neu montiert. Die Aufnahmen zu Beacon von Matthias Müller und Christoph Giradet entstanden vornehmlich am Meer, und zwar an unterschiedlichen Plätzen der Welt. Motive sind Wellen, Schiffe, Leuchttürme, Aquarien, Spaziergänger am Strand und immer wieder der Horizont, aber auch eine belebte Küstenstraße, Kondensstreifen von Flugzeugen und ein Brautpaar. Es sind sehr ruhige Einstellungen mit Zeitlupeneffekten, denen gemeinsam ist, dass sie Raum für Reflexionen eröffnen. Im Off liest eine Frauenstimme langsam einen melancholischen Text des kanadischen Filmemachers und Autors Mike Hoolboom. Die reduzierte Bildsprache mit nur wenigen experimentellen Bildtechniken, erzeugt eine kontemplative fast sentimentale Stimmungslage. Matthias Müller und Christoph Giradet arbeiten seit einigen Jahren bei zahlreichen Film- und Kunstprojekten zusammen. Viele ihrer Arbeiten sind international preisgekrönt. Der Titel Arktis - Zwischen Licht und Dunkel lässt eine Dokumentation erwarten. Tatsächlich zeigt uns Jürgen Reble eine Montage recht spektakulärer Aufnahmen aus der Welt des ewigen Eises im Stil einer Natur- und Tierdokumentation, mit Tönen unterlegt und ohne jeden Kommentar. Es handelt sich um Found Footage aus einer Vielzahl unterschiedlicher Berichte über das Nordmeer. Diese kurzen Stücke wurden jedoch digitalisiert und einer intensiven Nachbearbeitung ( Farbe, Blende, Zeit ) unterzogen. Das neue Material wurde so montiert, dass eine dichte Form-, Bewegungs- und Farbkomposition entsteht, die einer imaginären Traumlandschaft gleicht. Die Kontemplation der Wahrnehmung wird unterstützt durch die subtile Tonkomposition, die sich, technisch ähnlich aufwändig, vornehmlich aus Originalgeräuschen ableitet. Programm 3, Wechselbad der Gefühle In der Eingangsequenz aus einem alten DEFA-Film erlaubt uns Corinna Schnitt in Living a Beautiful Life zunächst einen kurzen Blick zurück in den Garten Eden, in dem nackte Kleinkinder und Tierbabys friedlich umhertollen. Darauf gibt ein junges amerikanisches Ehepaar in ihrem stilvollen, mondänen Eigenheim in Los Angeles wechselweise Statements darüber ab, wie wunschlos glücklich, erfolgreich und zufrieden sie in ihrem Beruf, ihrem Haus, ihrer Straße, ihrer Ehe, mit ihren Hausangestellten, Kindern etc. sind. Die polierten Oberflächen des Gebäudes und seiner Einrichtungen scheinen nahtlos überzugehen in die perfekte, durch keinerlei Irritationen getrübte Welt der Waren und Vorstellungen seiner Bewohner. Ein beeindruckender Film, der grundsätzliche Zweifel an westlichen Wertvorstellungen aufkommen lässt. Einen starken Kontrast dazu bildet der Film S von Athanasios Karanikolas. Er zeigt die verstörende, subkulturelle Seite Los Angeles. Wir begleiten Supermarky, einen nicht mehr ganz jugendlichen Bodybuilder, in ein spärliches Vorstadtappartement. Später wohnen wir einer Ganzkörpermassage eines gänzlich tätowierten Kultkörpers (Ron Athey) bei. Auch durch das Pailettenkleid, das Supermarky "The Goddes Bunny" überstreift, will sich Glamour in dieser Tristesse nicht einstellen. Am Ende bricht sich das Schweigen, das bisher herrschte, in einem Gesangsduett am Straßenrand: Franz Schuberts Lied vom Weg ohne Wiederkehr. Im hoffnungslosen Grundtenor des Films aus Einsamkeit und Perspektivlosigkeit finden sich auch Momente gemeinsamen Glücks, das sich aus der Verantwortung füreinander speist. Die künstlerische Gesamtleitung der Produktion unterlag dem Berliner Filmemacher Rosa von Praunheim. Eine ähnliche Stimmungslage vermittelt der Film Achtung - Die Achtung von Michael Brynntrup. Auch hier geht es um Grenzerfahrungen nicht nur der Darsteller sondern auch des Zuschauers. Die Bilder tätowierter Körper mögen noch einen ästhetischen Reiz vermitteln, mit Aufnahmen von Selbstpiercing und extremen Praktiken der Selbststimulation werden jedoch visuelle Tabus gezielt gebrochen. Dennoch hat dieser Film seine Berechtigung im Programm, denn er steht einerseits für das „Kino wider die Tabus“ (Amos Vogel) andererseits für eine Vielzahl experimenteller Filmarbeiten im Kontext des schwulen Milieus. Den dritten Film in dieser Reihe bildet Living Polaroids - Who the fuck is Morrisroe von Curtis Burz . Rund 2000 Polaroids und einige S-8mm Filme waren die Hinterlassenschaft von Mark Morissroe, einem an AIDS verstorbenen Stricher und Künstler, der in einer gewaltgeprägten Umgebung der Prostitution aufwuchs. Burz zeichnet sein kurzes und intensives Leben mit zwei Schauspielern nach. Aus den Tiefen der Melancholie heraus führt die Arbeit The Oral Thing von Bjørn Melhus. Wie eine Reihe anderer bekannter deutscher Experimentalfilmemacher hat auch Melhus an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig bei Prof. Gerhard Büttenbender und Prof. Birgit Hein studiert. Dort wurden in erster Linie die Eigengesetzlichkeiten des Mediums Films und die Entwicklung einer eigenen künstlerischen Formsprache vermittelt. Melhus entwickelte in seinen Film- und Videoarbeiten einen persönlichen Themenkanon: Doppelgänger und Zwillinge sowie Medienkritik und die Auseinandersetzung mit dem Mainstream. Er arbeitet mit bekannten Film-, Musik- oder Textzitaten, die er zerlegt und neu zusammensetzt. Sämtliche Darstellerrollen besetzt er in der Regel mit sich selbst, wobei er eine Vielzahl von Identitäten einnimmt. In vielen seiner Arbeiten reflektiert er die amerikanische Medienkultur. So stehen im Zentrum von The Oral Thing TV-Prediger und Talkshows. Er analysiert die Struktur dieser Sendungen und kombiniert hier eine Vielzahl genretypischer Elemente wie etwa einen charismatischen Priester bzw. Moderator, die peinliche Befragung von Studiogästen zu Tabuthemen und persönlichen Verfehlungen, die Konfrontation und Versöhnung von Gästen und die Instrumentalisierung des Studio-Publikums als moralische Instanz. Formale Elemente der Wiedererkennung wie Logoanimationen, Lichtinszenierungen, abrupte Musikeinsätze und häufige Werbepausen ergänzen die provokante Darstellung der internationalen Medienformate. Ron & Leo, ein Film von Oliver Husain stellt ein Zwillingspärchen vor: Teenageridole, die langsam ihren rosa Plüschhasenkostümen entwachsen und die Gunst ihres jugendlichen Publikums zurückgewinnen wollen. Es beginnt ein schmerzhafter Prozess der Selbstfindung. Die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung mit ihren Bonbon-Farben nutzt Oliver Husain zu einer Betrachtung der Kultur des Teeny-Pops und der Vorabendserien. Die Doppelbelichtung in Mit Mir von Kerstin Cmelka ermöglicht es, aufeinander folgende Aktionen auf eine Bildebene zu belichten. In diesem Fall wurde der Effekt genutzt, um den Eindruck eines auf einem Bett liegenden und sexuell agierenden Frauenpaares zu erzeugen. Tatsächlich ist es eine Frau, die sich mit sich selbst beschäftigt. Ein Doppelgänger oder Zwillingsmotiv, eine Form der Visualisierung von Autoerotik und Selbstverliebtheit. Mit Selbstbildnis, Studie Nr. 2 von Wolfgang Lehmann klingt das Wechselbad der Gefühle dieses Programmblocks aus. Auch hier zeigt sich, dass gerade der Experimentalfilm Möglichkeiten der Selbstreflexion eröffnet. Der Filmemacher ist oftmals sein eigenes Sujet. Selbstporträts und Aktdarstellungen entwickeln sich in diesem Fall jedoch durch ausgefeilte Aufnahme- und Schnitttechniken zu einem eigenständigen Kunstwerk, dessen ästhetische Qualität über das Abbildhafte weit hinaus auf die Materialität des Filmes und die Zeitbezogenheit des Filmischen weist. Programm 4, Struktur und Zeichen Land Unter von Cornelius Kirfel hat nur eine Einstellung. Eine langsame Kamerafahrt vom Dach eines Autos gefilmt, nachts durch ein stille städtische Wohnstraße, vorbei an Häuserzeilen mit gepflegten Altbauten und davor parkenden Fahrzeugen. Im Off eine musikalische Komposition mit Meeresrauschen und Mövengeschrei. Alles ist friedlich. . Im Einvernehmen mit der gegebenen Situation soll es nach Meinung des Filmemachers auch so bleiben. Der Film strahlt eine große Akzeptanz und die Gelassenheit des nächtlichen Augenblicks in einer leicht fließenden Einheit von Bewegung und Bild aus Zahlreiche Videokunstarbeiten stehen in der Tradition des Strukturellen Films. Ihnen liegt ein klar strukturiertes Konzept zugrunde, nach dem die Aufnahme oder die Postproduktion erfolgen. Das ist auch in Rack von Volker Schreiner der Fall. Hier wurden Geschehnisse in einem Treppenhaus, mit drei Kameras, von drei Standpunkten aus, zu drei Zeitpunkten gefilmt. Die Montage ermöglicht die Neuordnung des unterschiedlichen Bildmaterials im Reißverschlussprinzip. Unterschiedliche Perspektiven, Räume, und Zeiten werden verwoben. Es entspricht der gewohnten Rezeption von Filmen, dass der Schnitt Einstellungen beendet und die Montage unterschiedliche Einstellungen in eine Reihenfolge bringt. Dies ist zwar die Regel, nicht aber im Film Blümchen von Sebastian Jochum: Es gibt hier einen chronologischen Strang, in dem sich ein junger Mann an den Fuß einer Treppe setzt und eine Katze lockt. Auf und vor der Treppe passieren im Folgenden Dinge, die nicht gleichzeitig stattgefunden haben können. Vermeintlich sehen wir nur eine Einstellung, keinen Schnitt, keine Montage. Die gleiche Szene wurde zu unterschiedlichen Zeitpunkten mehrfach gedreht und ‚nahtlos’ ineinander kopiert. Zum anderen wurden einzelne Bildteile montiert, so dass zeitlich unterschiedliche Geschehnisse gleichzeitig erscheinen. Ermöglicht wird dies durch eine besondere Schnitttechnik und die digitale Integration von Bildinhalten. In The Source von Tim Coe sehen wir auf den ersten Blick nur einige Personen kommen und gehen. Auf den zweiten Blick bemerkt man, dass die Szenerie aus immer der gleichen Person besteht; identische Klone oder Replikanten, die in wachsender Zahl vor und hinter einander her gehen ohne sich zu berühren oder zu stören. Zunächst erfährt man eine visuelle Attraktion, die der Erfahrung und gewohnten Wahrnehmung zuwider läuft und nur durch Animation und Duplizierung am Schnittcomputer entstehen kann. Zunehmend rückt die diskursive Ebene der Arbeit in den Vordergrund, ihre Reflexion über die Praxis der digitalen Bildbearbeitung in den Alltagsmedien, die seriellen Vervielfältigungen in den Massenszenen Hollywoods bis hin zur Reproduktion biologischer „Massenware“. Jivan ´Up There´ von Marc Comes beinhaltet von Sphärenklängen unterlegte Bilder, die ihre visuelle Attraktion aus Mehrfachbelichtungen, zerstäubenden Wasserernebeln und rituell anmutenden Handlungen eines androgynen Heranwachsenden ziehen, wie etwa beim akkuraten Falten einer großen Filzdecke. In seiner verdichteten Ästhetisierung beschreibt der Film einen Übergang, eine Initiation mit starken Anklängen an pränatale Erinnerungen. Der Film Falcon von Karo Goldt erschließt sich dem Zuschauer über seine ‚vorsichtigen’ Farbverschiebungen und Strukturkompositionen.. Hinter den aus orangefarbigen Nebeln aufscheinenden grafischen Strukturen verbirgt sich eine am Computer bearbeitete Fotografie des Cockpitfensters eines F16 Kampfflugzeuges (Falcon genannt). In Persuaders von Peter Simon steht eine junge Frau im grauen Mantel in einer tristen Landschaft und schaut in die Kamera, deren Inneres sie fokussiert.. Es folgt ein Textinsert „You are here“. Danach eine zweite junge Frau im roten ärmellosen Hemd, die ebenfalls mit dem Blick ins Kameraobjektiv etwas zu entdecken sucht. Beide Frauen werden von Doppelgängern begleitet, deren Erscheinen offenbar nicht auf Mehrfachbelichtungen beruht, da die Körper sich nicht optisch durchdringen. Mit ähnlicher Neugier, wie die der Protagonisten, versucht der Zuschauer den digitalen Effekten und der Gesamtkomposition der Arbeit auf den Grund zu gehen. Auch in No Sunshine stellt Bjørn Melhus mehrere Personen gleichzeitig dar. Wiederholungen und Spiegelungen sind zentrale Motive. Seine Kostüme sind artifiziell, so trägt er eine Haarplastik und fingerlose Handschuhe, die an Spielzeugfiguren erinnern. Viele seiner Arbeiten sind auf den ersten Blick eingängig, und der Ton weckt Erinnerungen, aber dieses vertraute Gefühl hält nicht an, da die seriellen Bild und Tonwiederholungen das Gesehene und Gehörte in Frage stellen und zur Reflexion zwingen. So auch in No Sunshine. Das Video basiert auf einem alten Stevie Wonder Song, der in Satzfragmenten ebenso zitiert wird wie dessen Remake von Michael Jackson. Die In ihrer schmerzhaften Erinnerung an den Verlust der Kindheit und in der Reflexion über ihren Selbstfindungsprozess führen die Zwillingsfiguren einen Dialog aus Textbausteinen und Versatzstücken der Pop-Welt und des Medienalltags. Schlag auf Schlag von Anna Anders ist ein kleiner prägnanter Angriff auf die Sehgewohnheiten. Wechselnde Gegenstände zertrümmern das trennende Glas zwischen der filmischen Wirklichkeit und dem Publikum. Doppelbelichtungen und schwarz-weiße, auf dem Kopf stehende Bilder, greifen in Privat Physik von Felix Höfler und Herwig Weiser Theorien des Chaosforschers Prof. Otto E. Rössler auf, die sich mit der Frage befassen, ob die Welt eine Maschine oder ein Traum ist,. Oder vielleicht beides, wenn die Erkenntnis stimmt, dass eine solche mathematisch exakte Maschine nur Teil eines sauber konstruierten Traums ist. Die starke Affinität der Experimentalfilmemacher zu Wissenschaft und Philosophie zeigt sich insbesondere dann, wenn diese Gelegenheiten bieten, quasi um die Ecke zu denken und die Grenzen der Wahrnehmung zu erweitern. Drama, Strings and Horns von Gunther Krüger Ein einminütiges filmisches Nachrichtendokument des DDR-Fernsehens über einen Polizeieinsatz 1968 gegen Demonstranten in Westdeutschland wird in zahlreichen Wiederholungen extrapoliert. Diesem Rhythmus folgt die unterlegte Musik, die eine dramatisierende Funktion über das Stilmittel der sich kontinuierlich verlängernden Schleife (Loop) entwickelt. Utrechter Hütte von Franz Höfner Zum Abschluss des Programms folgt etwas Handfestes. Ein Stilmöbel-Wohnzimmer wird komplett zerlegt und an Ort und Stelle in Form einer kleinen Hütte wieder neu aufgebaut. Damit ist nicht nur eine praktische Entsorgung ungeliebten Mobiliars gegeben, sondern auch ein Grundprinzip experimenteller Film- und Videoarbeiten im dekonstruierenden Umgang mit dem Mainstream sinnfällig veranschaulicht. Es fragt sich allerdings, wie stabil und wetterfest eine solche Hütte ist, denn die Kunst ist ein fragiles Kulturgut. Obwohl sie sich der permanenten Diskussion stellt, sollte sie nicht nur dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt sein, sondern sie benötigt das oftmals schützende Dach komplexer Strukturen von Ausbildungsangeboten, Produktionsund Förderinstrumenten ebenso wie die sozialen Räume der Präsentation und Rezeption. Jochen Coldewey, November 2004