Psychische Traumatisierungen und deren Verarbeitung Das Gehirn arbeitet auf 3 Ebenen zusammen: Stammhirn und Mittelhirn: sorgt für die basalen Lebensmechanismen des Körpers (z. B. Atmung, Herzfrequenz, Schlaf, Immunsystem, Stressreaktionen) limbisches System: Gefühlszentrum, steuert Verhalten und Entscheidungen Neokortex: ein Ozean aus Zellen mit höchster Flexibilität und komplexen teilweise bewussten Funktionen, z. B. abstrakte und konkrete Gedanken) Die Wahrnehmung ist einerseits eine Kombination zwischen aktuellem Geschehen und gespeicherter Erinnerung. Andererseits wird Wahrnehmung (auch wenn sie unbewusst ist) gespeichert und erinnert. Wir können folgende Erinnerungen unterscheiden: Denken – Wissen Innere Bilder – bildhafte Erinnerungen Emotionen – Gefühle Empfindungen – Körperreaktionen Um sich bewusst und zusammenhängend erinnern zu können, müssen die verschiedenen Hirnzentren wie in einem Orchester sich aufeinander abstimmen. Die Vergangenheit bildet Erinnerungsnetzwerke im Gehirn, die als Hintergrundmusik die Wahrnehmung der Gegenwart begleiten. Sie beeinflussen die Wahrnehmung in der Gegenwart, indem sie bestimmte Zusammenhänge hervorheben oder abschwächen. Aus der Wahrnehmung der Gegenwart und den Erfahrungen der Vergangenheit konstruiert unser Gehirn ständig die Zukunft, ob nun in den nächsten Sekunden oder Minuten oder auch in Jahren. Gute Erlebnisse in der Vergangenheit, v. a. Erfahrungen der Bewältigung von Schwierigkeiten und auch gute Bindungs- und Beziehungserfahrungen bilden Ressourcen, d. h. bleibende Fähigkeiten neue schwierige Situationen gut zu verarbeiten und zu integrieren. Ohne genügend Ressourcen keine Heilung des Traumas! Traumatische Ereignisse („die nahezu jeden Menschen tief erschüttern“) erzeugen im Gehirn eine veränderte Wahrnehmung und deshalb auch Erinnerung. Dies ist eine normale Reaktion auf unnormale Ereignisse. Das „Gehirnorchester“ gerät aus dem Takt, jeder Teil spielt nur für sich und es wird nur noch ein Teil wahrgenommen oder auch gar nichts mehr als nur Chaos. Dies wird als peritraumatische Dissoziation bezeichnet, d. h. eine unzusammenhängende, bruchstückhafte Wahrnehmung im Gehirn. Es kann zunächst deshalb auch nicht oder nur teilweise erinnert werden, da es kein zusammenhängendes „Orchesterstück“ gibt, die so genannte Amnesie. Einzelne „Orchestermitglieder“ des Gehirns spielen Teile der Wahrnehmung wieder vor so genannte Intrusionen. Diese können innere Bilder, Gedanken, Geräusche und Gefühle sein aber auch Gerüche und Geschmackswahrnehmung. Über dieses Replay der Erinnerungsfetzen, eine Art „Wiederkäuen“ der Teile entsteht in vielen Fällen eine zusammenhängende Erinnerung, die dann auch als Vergangenheit abgelegt werden. Je schwerer und je lang andauernd eine Traumatisierung ist desto schwieriger ist nach dem Trauma das „Zusammenpuzzeln“ der Erinnerungen und desto mehr kommt es zu psychischen Erkrankungen. Zunächst sind heftige Gefühlsreaktionen und eine gewisse Verletzlichkeit nach einem Trauma normal und dienen der Heilung. Erst mehr als 4 bis 12 Wochen andauernde Reaktionen sind als verdächtig auf eine Verarbeitungsstörung anzusehen. Diese kann aber auch noch nach Jahrzehnten auftreten und muss letztlich von einem Fachmann abgeklärt werden. Wenn dies nicht gelingt entstehen psychische Erkrankungen, die der normalen Verarbeitung ähnlich sind, aber bleiben – wie die Entzündungszeichen bei einer frischen Hautwunde Zeichen der Heilung sind, wenn sie bleiben aber eine chronische Entzündung darstellen. Typische Erkrankungen sind die posttraumatische Belastungsstörung mit den Symptomen Intrusionen, Vermeidungsverhalten und Übererregbarkeit nach einer Traumatisierung bleibend, Angststörungen, Depressionen und Suchtverhalten, aber auch dissoziative Störungen und Somatisierung. Alle Erkrankungen nach Trauma haben mit einer mangelnden Fähigkeit zu tun bewusst und Achtsam in der Gegenwart zu sein. Die Patienten haben entweder häufig schlecht kontrollierbare Erinnerungen und/oder ständig Angst vor der Zukunft. Was tun? – Therapeutische Möglichkeiten 2 Dinge sind grundsätzlich akut nach und bei der Psychotherapie immer wichtig: äussere Sicherheit und Ruhe Die Herstellung einer möglichst real sicheren äußeren Umgebung und realer Distanz von der Bedrohung ist die Grundvoraussetzung für eine Psychotherapie, da ansonsten die emotionalen Reaktionen wieder auftreten werden und als Schutzmechanismen bei Gefahr auch nötig sind. verlässliche vertrauensvolle Beziehungen Der Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung beginnt schon beim ersten Kontakt und kann sehr schnell gehen oder auch Jahre dauern, was entscheidend für den Fortschritt in der Therapie ist. Phasen der Traumatherapie: 1. Diagnosestellung Jede gute Therapie beginnt mit der Diagnosestellung. Es müssen bezüglich Traumaerkrankungen ist eine Erhebung der Trauma- und Ressourcenanamnese wichtig, sowie Klärung der aktuellen Sicherheit und Affekttoleranz. 2. Stabilisierung Die Phase der Stabilisierung kann bei einmaligen Traumatisierungen im Erwachsenenalter und guter Beziehungsfähigkeit sehr kurz sein, kann aber v. a. bei in der Kindheit schwer traumatisierten Patienten, die zusätzlich Vernachlässigung durch die Bezugspersonen erfahren haben eine Zeitspanne über Jahre ausmachen und der Hauptinhalt der Traumatherapie sein. Verstärkung und Aufbau von Ressourcen, in denen der Patient lernt, sich in der Gegenwart ganz wohl, kompetent und/oder geborgen zu fühlen ist das erste Hauptziel der Therapie und führt zur Wiedergewinnung der Kontrolle über unangenehme überflutende Gefühle. Dadurch können quälende Traumaerinnerungen durch angenehme Gegenpole ausbalanciert werden und der Leidensdruck nimmt ab. Das beste Beruhigungsmittel sind vertrauensvolle Beziehungen. Weitere hilfreiche Fähigkeiten sind die Beherrschung von Körperübungen, v. a. achtsame Körperwahrnehmung und Beruhigung, sowie die Imagination von guten aktuellen Gegenbildern zu den Schreckensvorstellungen der Vergangenheit. 3. Kontrollierte Traumaexposition und Traumasynthese Erst wenn der Patient in der Lage ist, sich adäquat selbst zu beruhigen und die Überflutung bewusst stoppen kann, kann mit der nächsten Phase der Therapie der kontrollierten Traumaexposition und Traumasynthese begonnen werden. Hierbei wird meist über imaginative Vorstellung (oder auch Konfrontation mit Triggern) die Erinnerung wach gerufen und dann mit der gleichzeitig wahrgenommenen sicheren Gegenwart verknüpft. Dazu darf nicht zu viel neuronale Erregung im Gehirn auftreten, so dass es zu einem aushaltbaren Nacherleben des Traumas kommt. Dies wird z. B. in der sog. Bildschirmtechnik (Trauma wird in der Vorstellung als Film auf eine Videoleinwand projiziert und kontrolliert angesehen). Eine Methode, die diesen Prozess zusätzlich durch bilaterale Stimuli (z. B. Augenbewegungen oder abwechselndes Tippen auf die Hände) zu beschleunigen scheint ist EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing nach Francine Shapiro). Dies führt zu einer Integration der traumatischen Erinnerungen als normal abgespeicherte Erlebnisse. 4. Trauer und Neuorientierung Es bleibt aber durch eine Traumatisierung immer eine seelische Narbe zurück. Der Mensch als Person, seine Umwelt und seine Grundüberzeugungen sind verändert. Es gibt immer ein Vorher und Nachher, insbesondere wenn das Trauma mit Todesfällen zu tun hat. Dies muss adäquat betrauert und so in die gesamte Lebensgeschichte integriert werden, was im Idealfall zu einem seelischen Wachstum führt, also zu Reife, Klugheit und Weisheit. © Dr. med. Franz Ebner Klink Hohe Mark 2006