Krise und autoritäre Reaktion 1. Bestimmen Sie die Funktion der Autorität bei der Persönlichkeitsbildung. 2. Kennzeichnen Sie, was mit „autoritärem Charakter“ gemeint ist. 3. Erörtern sie Folgen und Probleme „autoritärer Erziehung“. Die Idee, daß Menschen in schwierigen Situationen sich an Autoritäten orientieren, wurde von der Autoritarismusforschung eingeführt. Die Vater des Konzepts der Autoritären Persönlichkeit, Reich, Marcuse, Fromm und Horkheimer, erklärten durch diese Autoritätsorientierung die Erfolge des Faschismus am Ende der Weimarer Republik. Sie meinten, daß die Menschen in ihrer Sozialisation auf eine Bindung an Autorität programmiert würden, daß sie, wie man es später genannt hat, zu Autoritären Persönlichkeiten würden. Wegen ihrer Autoritätsorientierung würden sie sich in Krisenzeiten am Rechtsextremismus orientieren. Ich denke, daß die Idee einer Orientierung an Autorität in schwierigen Situationen nicht auf eine im Sozialisationsprozeß erzeugte autoritäre Persönlichkeitsstruktur beschränkt werden kann, sondern daß in diesem Mechanismus einer Orientierung an Autorität in kritischen Situationen universelles menschliches Verhalten deutlich wird. Es gibt eine »autoritäre Reaktion«, eine Schutzsuche in verunsichernden, überfordernden Situationen, der grundsätzlich alle Menschen unterliegen. In Situationen, die als beängstigend erlebt werden, aber auch in Situationen, in denen ein vom Individuum nicht allein zu leistender Strukturierungsbedarf besteht, orientiert es sich an Menschen oder Institutionen, die in der Lage zu sein scheinen, Schutz, Sicherheit und Orientierungshilfe zu bieten1. Diese werden durch diesen Mechanismus für das Individuum zu Autoritäten2. Die Flucht in die Sicherheit von - allgemein gesprochen - Instanzen, von denen eine wirkungsvolle Unterstützung und damit ein Abbau der eigenen Angst, Verunsicherung und Orientierungslosigkeit erwartet wird, die autoritäre Reaktion, ist eine Basisreaktion menschlichen Verhaltens. Sie ist vor allem für den Sozialisationsprozeß von Kindern relevant. Kinder sind noch nicht in der Lage, ihre Umwelt mit eigenen Kognitionen zu strukturieren. Sie sind von daher auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Diese bieten im Sozialisationsprozeß primär die Eltern oder andere für die Betreuung des Kindes verantwortliche Personen. Später übernehmen solche Schutz- und Orientierungsfunktionen auch soziale Gruppen, Institutionen, Ideen, Werte und Normen3. In einem gelingenden Sozialisationsprozeß wird die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf den Mechanismus der autoritären Reaktion von Kindern durch den Aufbau einer eigenständigen Umweltstrukturierung Stück für Stück abgebaut, wobei es von den Bedingungen des Sozialisationsprozesses abhängt, in welchem Maße dies gelingt. Aber auch Erwachsene sind 1 Ich habe den Mechanismus einer autoritären Reaktion zum Kernpunkt einer neuen Theorie der Autoritären Persönlichkeit gemacht, die Autoritarismus als ein lebensgeschichtliches Verhaftetbleiben in einer Orientierung an Autoritäten begreift. Vgl. hierzu Oesterreich, Detlef, Autoritäre Persönlichkeit und Gesellschaftsordnung, a.a.O., und Oesterreich, Detlef, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus und der autoritären Reaktion (Publikation in Vorbereitung). 2 Der Autoritätsbegriff wird in den Sozialwissenschaften in vielfältiger Form verwendet. Aus der Sicht des hier vertretenen Ansatzes ist Autorität zweierlei nicht: Erstens ist sie kein sozialer oder gesellschaftlich definierbarer Tatbestand, wie es zum Beispiel soziale Schicht oder sozialer Status sind. Zweitens ist Autorität keine individuelle Eigenschaft, kein spezifisches Vermögen, über andere Herrschaft zu gewinnen, wie es noch Le Bon mit seinem Konzept des »Nimbus« meinte. Autorität entsteht im Individuum vielmehr als Ergebnis innerpsychischer Prozesse. Sie ist ein Attributionsphänomen, dessen motivationale Grundlage Angst und Verunsicherung sind. Die Grundlagen dieser Idee finden sich bei Freud, Sigmund, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt/Main 1967. 3 Die autoritäre Reaktion hat eine für die Entwicklung des heranwachsenden Kindes wichtige Funktion. Sie schützt es vor den Gefahren einer von ihm noch nicht allein zu bewältigenden Umwelt. Darüber hinaus ist sie Teil des Bindungsprozesses des Kindes an die Eltern, indem sie ihm die Erfahrung ermöglicht, jederzeit Hilfe und Unterstützung zu haben, sich in Sicherheit zu befinden, nicht auf sich allein gestellt zu sein. gezwungen, autoritär zu reagieren, wenn sie Situationen gegenüberstehen, die sie überfordern. Eine solche Überforderung tritt bei Erwachsenen unterschiedlich schnell auf, je nachdem in welchem Maße sie stabile und autonome Strukturierungen ihrer sozialen Umwelt entwickelt haben. Belege für die Existenz einer autoritären Reaktion auch bei Erwachsenen lassen sich vor allem bei menschlichem Verhalten in Extremsituationen, aber auch in allgemeinen Krisensituationen finden. Ich will kurz auf drei Beispiele eingehen: die Erfahrungsberichte Bettelheims aus den Nazi-Konzentrationslagern, die Milgram-Experimente und Analysen der Auswirkungen von ökonomischen Krisen auf »autoritäres« Verhalten. Bettelheim berichtet, daß der situative Druck in den Konzentrationslagern so groß war, daß die meisten der Lagerinsassen sich ihren Wärtern nicht nur vollständig unterwarfen, sondern sogar deren Ideologie von der Minderwertigkeit der jüdischen Rasse übernahmen4. Bettelheim betont, dies sei keineswegs bloßes Compliance-Verhalten im Sinne einer vordergründigen Anpassung gewesen, sondern hätte bei den meisten Häftlingen einer durch die Verhältnisse erzwungenen inneren Überzeugung entsprochen. Die Situation war in einem solchen Maße Angst erzeugend, daß eine Schutzsuche sogar bei denen eintrat, die für diese Angst verantwortlich waren. Auch experimentell konnte durch situativen Druck, der stark verunsichert, »autoritäres« Verhalten erzeugt werden. In den Milgramschen Gehorsamkeitsexperimenten ließen sich die Versuchspersonen in einem fiktiven Lernexperiment zu brutalen Bestrafungen drängen5. Dabei waren Milgrams Versuchspersonen weder mehrheitlich Sadisten noch autoritäre Persönlichkeiten6. Aber auch in weniger extremen Situationen lassen sich Orientierungen an Autorität nachweisen. Eine Reihe amerikanischer Untersuchungen ist der These nachgegangen, daß in Krisenzeiten die Orientierung an Autorität zunimmt. Untersucht wurde dies unter anderem an Hand der Anzahl der Übertritte in autoritäre und weniger autoritäre Kirchen. In Krisenzeiten wurden sehr viel mehr Übertritte zu autoritären Kirchen beobachtet15. Umgekehrt wurde beim Übergang von einer Krisenzeit zu einer Zeit größerer Stabilität ein Abbau von Orientierungen an Autorität beobachtet15. Alle drei Beispiele beschreiben menschliches Verhalten, das als »autoritäre Reaktion« bezeichnet werden kann, als eine Schutzsuche und Unterwerfung unter Autorität in verunsichernden Situationen. 4 Bettelheim, Bruno, The Informed Heart: Autonomy in a Mass Age, Glencoe/Il, I960, S. 169 f. Milgram, Stanley, Obedience to Authority: An Experimental View, London 1974. 6 Wie Elms und Milgram nachweisen konnten, waren autoritäre Persönlichkeiten zwar in stärkerem Maße bereit, dem situativen Druck nachzugeben, es gaben diesem aber auch nicht autoritäre Persönlichkeiten nach. Elms, AlanC und Milgram, Stanley, Personality Charac-teristics Associated with Obedience and Deficiance toward Authoritative Command, in: Journal of Experimental Research in Personality l, 1966. 5