Rudolf Egger Kompetenzen für Europa Über die schwierige Balance zwischen Einheit und Vielfalt 1 Die „stille Revolution“ der europäischen Bildungsidee Es gibt da eine kleine Szene in einem Film von Buster Keaton, in der er versucht als Sportler zu beeindrucken. Nach seinen anfangs erfolglosen Weitsprungversuchen (die er allerdings aus dem Stand unternimmt) wird er darüber belehrt, dass ein längerer Anlauf nötig ist, woraus Buster Keaton schließt: Je länger der Anlauf, desto weiter der Sprung. Also läuft er los, über Felder und Wiesen, über einsame Pfade und breite Alleen, um sich schließlich erschöpft dem Sportplatz zu nähern und auf die Bahn zur Sprunggrube einzubiegen, wo ihm mit letzter Kraft ein kleines, erstolpertes Sprünglein gelingt. Der Weg war weit, der Ertrag aber gering. Dieses Missverhältnis von Anlauf und Sprung, von Aufwand und Erfolg, lässt sich auch auf die derzeitigen Aufgaben der EU übertragen, wo immer weitreichendere Ziele und Aufgaben vordefiniert werden, die letztlich dann doch nur zu einem kleinen Hüpfer führen, wie dies z. B. gerade auch am sogenannten Lissabon-Prozess zu sehen ist. Die Europäische Union müsse, so haben es die Staats- und Regierungschefs auf ihrem vorletzten Lissabonner Gipfel bestimmt, die stärkste wissensbasierte Volkswirtschaft der Welt werden. Das hört sich gut an, wenngleich nicht so ganz klar ist, was denn eine wissensbasierte Volkswirtschaft überhaupt ausmacht und in welcher Weise die Produktion von Wissen die Produktion von 1 Gütern beeinflussen oder gar ersetzen soll. Die wichtigste Folge dieser Entwicklung scheint zu sein, dass sogenanntes Wissen in so großer Menge und so kurzer Zeit „produziert“ wird, dass die Menge des wirtschaftlich verwertbaren Wissens oft die tatsächlichen wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten übersteigt. Dadurch ist nicht mehr das Wissen wirtschaftlich der knappe Faktor, sondern die Fähigkeit, Wissen wirtschaftlich, sozial und individuell sinnvoll einzusetzen. Um im Bild zu bleiben: Nicht der Anlauf ist allein wichtig, sondern die Abschätzung des Ertrages zwischen Anlauf und Sprung, d. h., der Bedarf an Interpretation und Übersetzung des Wissens in problemadäquates Handeln. Und, um auf die Bildungsprobleme einzugehen, wenn in Österreich und anderen Ländern der Europäischen Union die Bildungschancen immer noch entscheidend von der sozialen Herkunft abhängen, wer sind dann die Nutznießer dieser Bildungsvoraussetzungen Wissensgesellschaft? beim Eintritt in Wenn das die ungleichen Bildungssystem nicht kompensiert, sondern noch verschärft werden, verschlimmert sich dann aufgrund der massiven sozialen Verzerrungen im Zugang zu Wissen und Bildung nicht auch die Chancenungleichheit im Absprung hin zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft? Das alles sind Fragen, die in den großen bildungspolitischen Vorgaben, den weiten Anläufen der Erlasse, nicht vergessen werden sollten. Die EUKommission hat im Jahre 2004 ihre Strategie für Wachstum und Beschäftigung diesbezüglich neu justieren müssen. Für den Bildungsbereich soll dabei die Anerkennung von beruflichen Qualifikationen bis 2006 weiter vereinheitlicht werden. Die Mitgliedstaaten werden auch aufgefordert, ihre Strategien für lebenslanges Lernen besser umzusetzen. Hinter diesen Programmen steckt – neben der Rhetorik über die sogenannte Wissensgesellschaft - auch der alte Versuch, die Krisen in unserer Gesellschaft durch pädagogische Strategien meistern zu wollen. Es geht dabei auch um die Hoffnung, durch Erziehung und 2 Bildung zu einer gerechteren, besser funktionierenden Welt beizutragen. Die Kampagnen des Lebenslangen Lernens werden dazu von beinahe allen Krisenmanagern auf ihre Fahnen geheftet, wenn es darum geht, die Gesellschaft zu verbessern. Der Fokus ist dabei meist sehr eng und die Bildungsdebatten verschleiern eher die Ursachen von Krisen und Ängsten, von Unrecht und Erniedrigung, da sie vie, zu oft nur noch als „Schmiermittel“ für die ökonomische Entwicklung dient. Bildung könnte aber auch anders definiert werden, als Potential, das Individuen hilft, Kriterien, Werten und Zielen zu entwickeln und zu gestalten. Dabei geht es vor allem um das Verständlich-machen, um ein sich-in-Beziehung-setzen zu den spezifischen Werten und Gütern einer Gesellschaft. Dazu bedarf es aber auch des Zutrauens, dass wir uns in einer prinzipiell verstehbaren Welt bewegen, dass solche Verständlichkeit überhaupt möglich und auch tauglich ist. Gleichzeitig zeigt uns Bildung durch ihre historischen Dimensionen, dass unsere Werte und Ziele einem Wandel unterliegen, wobei es aber auch hier wieder darum geht, die Bereitschaft zum Wandel der Verständlichkeit aufzubringen, und ein Bewusstsein von den Grenzen solcher Verständlichkeit zu entwickeln. So gemeinte Verständlichkeit ist dabei kein einmal erreichter Zustand, sondern ein Prozess, der Auskunft über die ordnenden Kräfte unseres Lebens zu geben vermag. Wir sollten in der Euphorie der Wissensgesellschaft auch nicht vergessen, dass Wissen keinen Sinn schafft, es kann ihn höchstens begründen, legitimieren, genauso wie eine Landkarte kein Ziel festlegt, sondern nur die möglichen Routen zu dessen Erreichung. Darüber hinaus sind Wissen und Kenntnisse auch kalte Medien der Vergesellschaftung, sie stiften keine Solidarität, kein Vertrauen und erst recht keine kollektiven Visionen. Je mehr wir wissen, desto mehr müssen wir auch darüber nachdenken, wie uns dieses Wissen das Zutrauen in eine gestaltbare Welt wieder ermöglicht. Eine solche Akzentuierung des Begriffes Wissensgesellschaft unterscheidet sich in der Ausrichtung stark von der oben erwähnten. Für beide gilt aber, dass 3 Lernen und Wissen, Verständlichkeit und Bildung für das Gelingen dieses hoffentlich unumkehrbaren Projektes Europa wichtig sind, um die friedliche Integration für die Menschen verständlich und gestaltbar zu machen. Welche Anstrengungen werden vom Bildungsbereich hier aber zu leisten sein, um eine fruchtbare und dauerhafte Europäische Integration zu verwirklichen und welche Rolle kann die EU dabei spielen? Mit dem Lissabon – Prozess sollte eine neue Phase Europäischer Bildungsentwicklung innerhalb eingeläutet Strategische werden. einer umfassenden wie operationale Gemeinschaftspolitik Zielstellungen der Bildungsentwicklung sollten präziser gefasst und in wirkungsvolle Verfahren für die Zielerreichung auf einem europäischen Niveau entwickelt werden. Die Euphorie war - und ist teilweise auch heute - noch groß. So sprach die ehemalige Bildungskommissarin V. Reding vor einigen Jahren von einer neuen Dynamisierung, einer „silent revolution“ der Europäischen Bildungsentwicklung, wenngleich schon damals klar war, dass es prinzipiell um die weitere Liberalisierung und Deregulierung von Märkten ging. Um diesen Prozess besser verstehen zu können, soll hier kurz und übersichtsartig auf einige europäische Bildungsentwicklungen der letzten Dekaden hingewiesen werden. Eine erste Phase kann hier seit Gründung der EWG in der Betonung der beruflichen Bildung gesehen werden. Ein zunehmendes Erkennen der Bedeutung von allgemeiner Bildung für die (wirtschaftliche) Integration (West-) Europas führte 1976 als Resolution des Rates zu ersten Befassungen mit (Aus-) Bildungspolitik. Die Achtzigerjahre können, mit dem vom Rat angenommenen Bericht „Europa der Bürger“ - als Aufbruchsphase der Bildungspolitik betrachtet werden. Bildung wurde hier nicht zuletzt als Lösung der „Akzeptanzprobleme“ der BürgerInnen im Prozess der wirtschaftlichen Integration gesehen. Die Gemeinschaft bemühte sich Maßnahmen setzen, die junge Menschen besser auf eine zunehmend „europäische Zukunft“ 4 vorbereiten sollte. Die hier beschlossenen Maßnahmenbündel, die auch heute noch großen Stellenwert besitzen, sind: (Studenten-) Austausch, Erwerb von zwei Fremdsprachen während der Schulbildung, Behandlung europäischer Themen im schulischen Unterricht, Erleichterung des Übergangs von der Schule in das Beschäftigungssystem, sowie Anerkennung von beruflichen Qualifikationen zwischen den Mitgliedsstaaten. Diese Entwicklung wurde z. B. sichtbar im Grünbuch zur Europäischen Dimension der Bildung (1988, 1993) und die Einrichtung europäischer Aktionsprogramme zur allgemeinen wie zur beruflichen Bildung. Die hier geplanten Maßnahmen zur Zielerreichung sind inhaltlich weitgehend akzeptiert, die Ergebnisse daraus können aber auch heute noch nicht als zufriedenstellend angesehen werden. Die Rolle der allgemeinen Bildung wurde seit Mitte der 80erJahre zwar formal immer wichtiger, inhaltlich kam diese aber meist nicht mehr aus den Vorworten zu wirtschafts- und sozialpolitischen Bezügen hinaus. Mit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurden mit den Artikeln 126 (Allgemeine Bildung einschließlich Hochschulbildung) und 127 (Berufliche Bildung) die rechtlichen Grundlagen für Europäische Bildungsentwicklungen festgeschrieben und mit dem Vertrag von Amsterdam (1997) modifiziert. Hier wurde die allgemeine Bildung in den Regulativen der EU erstmals rechtlich verbindlich verankert. Gleichzeitig haben sich hier die Nationalstaaten rechtlich die Entscheidungsbefugnis betreffend Lehrinhalte und Organisation „ihrer“ Bildungssysteme (rück)gesichert und die Gemeinschaft zu neuer Initiative stimuliert, woraus wiederum zahlreiche Initiativen folgten (Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung, Weißbuch „Growth, Competitiveness and Employment“ oder Grünbuch zur Innovation usw.), die die drei großen Umwälzungen (Informationsgesellschaft, Globalisierung der Wirtschaft, wissenschaftlich - technische Zivilisation), bewältigbar machen, und eine 5 dynamische Lerngesellschaft herstellen sollten. Durch eine verbesserte und flexiblere berufliche Aus- und Weiterbildung auf der Grundlage einer soliden sollte Allgemeinbildung „Employability“ (Beschäftigungsfähigkeit) erreicht werden. Der Begriff „Employability“ steht dabei sowohl für eine Ausrichtung der Bildungspolitik an Unternehmens- und Arbeitsmarkterfordernissen, als auch für eine größere individuelle Verantwortung der Auszubildenden und Studierenden, ihre Qualifikationen nach Abschluss der Erstausbildung kontinuierlich an die Anforderungen des Arbeitsmarkts anzupassen. Aus dem Recht auf Bildung ist hier quasi unter der Hand eine Qualifizierungspflicht jeder und jedes Einzelnen geworden. Das sind nur einige wichtige Bestandteile der europäischen Bildungspolitik, die das Megathema Bildung deutlicher zu einem integralen Bestandteil übergreifender wirtschafts-, sozial- und innovationspolitischer Bezüge machen sollten. Schon in dieser kurzen Zusammenstellung lässt sich erkennen, dass die sich hier entwickelte Perspektive sehr an die Theorien des menschlichen Kapitals und an neo–liberale Wirtschaftskonzeptionen orientierte und auch weiterhin orientiert. Hinter all diesen Bestrebungen steht, wie vorne schon angedeutet, der Begriff der Wissensgesellschaft als eines der wirkmächtigsten Leitbilder der Gegenwart. Die Wissensgesellschaft ist ein soziologisches Konzept, das die enge Verbindung von Modernisierung und Technisierung hervorhebt. Demnach haben Informations- und Kommunikationstechnologien eine beschleunigte Wissensproduktion und globale Wissensverbreitung forciert und eine Transformation des Wissens befördert: Wissen in Wissensgesellschaften ist schnelllebig und flüchtig. Es entsteht und verschwindet rasch. Zugleich werden nicht nur die Institutionen des Wissens nach den Gütekriterien der Wissensgesellschaft wie Effizienzsteigerung und Verwertbarkeit umgebaut. 6 Auch die Akteure selbst werden ummodelliert: Die Wissensgesellschaft befördert eine Subjektivität, bei der Flexibilität, Dynamik, Eigeninitiative, Selbstsorge, lebenslanges und selbst gesteuertes Lernen und das Ende der Normalerwerbsbiografie die zentralen Stichworte sind. Überspitzt gesagt definiert dieser politische Diskurs Freiheit als Pflicht, sein eigener Lebensunternehmer zu sein und das angeborene Humankapital zu maximieren. Mann und Frau muss dabei innovativ, mobil, flexibel, multioptional, durchsetzungsfähig, karriere-orientiert – aber auf jeden Fall auch teamfähig sein. Gut lässt sich das an der Kultur des Projekts in unserem Berufsleben zeigen. An die Stelle eines homogenen, klar abgegrenzten Raums tritt ein offenes projektbasiertes Netz, in dem immer wieder neue Verbindungen einzugehen sind. In der projektbasierten Rechtfertigungsordnung muss man, um „groß“ zu werden, alles opfern, was die Verfügbarkeit einschränkt. In einer solchen vernetzten Welt sind die Individuen primär durch ihre Verbindungen zu anderen definiert. Deshalb werden sie permanent von zwei Sorgen umgetrieben, die sie in entgegengesetzte Richtungen treiben: der Sorge, dass es ihnen nicht gelingt, neue Verbindungen zu knüpfen oder zumindest die alten zu erhalten, also marginalisiert und ausgeschlossen zu werden, und der Sorge, sich in der unüberschaubaren Vielzahl von Aktivitäten zu verlieren und damit die Einheit des eigenen Lebens, ja die eigene Existenz zu riskieren. Gut zeigt sich das in den Betrieben an den Orten, wo ein solches Ranking sichtbar wird. Oft ist das die hochmoderne Cappuccinomaschine fürs Büro. Mann/Frau steht locker mit dem Becher voll Aufgeschäumtem beim Kollegen und treibt seine Projekte in einer Mischung aus Smalltalk und Brainstorming voran. Die Cappuccinomaschine wird dabei meist zum Ort der puren Heuchelei einer kooperativen Arbeitsweise, in der Privates, Berufliches und Öffentliches zwanglos miteinander zu verbinden sein soll. Sie ist das Zentrum der Nomaden, die ihre Employability stetig unter Beweis stellen müssen. 7 Ähnliches gilt auch in der bildungspolitischen Diskussion des lebensbegleitenden Lernens. Dieser Begriff steht gewissermaßen für eine neue Art, die Bildungsaufgaben spätmoderner Gesellschaften zu bestimmen. Es wird versucht, alle sinnvollen Lernaktivitäten einzubeziehen (vgl. dazu Alheit/Dausien 2002): formale Lernprozesse, die in den klassischen Bildungsinstitutionen stattfinden und in der Regel mit gesellschaftlich anerkannten Zertifikaten abgeschlossen werden, nicht-formale Lernprozesse, die gewöhnlich jenseits der etablierten Bildungseinrichtungen ablaufen – am Arbeitsplatz, in Vereinen und Verbänden, in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Aktivitäten, bei der Wahrnehmung sportlicher oder musischer Interessen, und informelle Lernprozesse, die nicht notwendig intendiert sind und im alltäglichen Leben gleichsam en passant „mitlaufen“. Die Pointe dieses neuen Begriffsverständnisses ist die Option einer Vernetzung jener unterschiedlichen Lernformen: Lernen soll nicht nur systematisch auf die gesamte Lebensspanne ausgedehnt werden. Es soll zudem ‘lifewide’ stattfinden, d.h. es sollen Lernumwelten entstehen, in welchen sich die verschiedenen Lernarten quasi organisch ergänzen können. Lebenslanges „vernetztes“ Lernen wird damit zur ökonomischen und sozialen Notwendigkeit erster Ordnung, und bezieht sich in dieser zugespitzten Bedeutung gerade nicht allein auf die klassischen Bildungseliten, sondern auf alle Gesellschaftsmitglieder. So subjekt- und zukunftsoffen dieser Bildungsbegriff auch verstanden werden kann, wird damit aber auch ein innerer Widerspruch produziert: Das neue Lernen wird vor allem politisch-ökonomisch „gerahmt“, die Ziele sind Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und Anpassungskompetenz der ‘workforce’. Gleichzeitig sollen aber auch die biographische Planungsfreiheit und das soziale Engagement der Individuen 8 gestärkt werden. Lebenslanges Lernen „instrumentalisiert“ und „emanzipiert“ in diesen Überlegungen offenbar zugleich. Die folgenden Überlegungen werden diese gesellschaftlichen Rahmenbedingungen lebenslangen Lernens kritisch zu analysieren versuchen. 2 LifeLongRunning Es verwundert heute wenig, dass sich hinsichtlich der Privatisierungspolitik und Sprachregelung bei globalen Institutionen (wie OECD, WTO, Weltbank oder IWF) allenthalben die gleichen Zielvorgaben wiederfinden lassen. Sie lauten: Durchsetzung privatwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im öffentlichen Sektor, betriebswirtschaftliche Umgestaltung von Bildungs- und Wissenschaftsinstitutionen, Einführung von Markt- und Management-Elementen auf allen Prozessebenen. Auch wenn die Resultate im einzelnen unterschiedlich ausfallen – drei Effekte hat die weltweite neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung in jedem Fall (vgl. dazu Lohmann 2002, S. 103). Überall da, wo sie stattfindet, sinken die Staatsausgaben für den Bildungssektor, verschärft sich die soziale Ungleichheit im Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, und stellen Mittelschicht-Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter sozial getrennt die Schulbank drücken müssen Darüber hinaus geschieht noch etwas Interessantes: Nicht mehr die Diskussion der Ziele ist das Entscheidende, sondern nur noch die Effektivität und die Effizienz der Zielerreichung. Diese lässt sich dann gut in Rankings darstellen, die wiederum den permanenten Wettbewerb fördern sollen, ohne dass noch gefragt wird, wofür das alles gut sein soll. 9 Damit wird quasi eine „natürliche“ Situation hergestellt, die in weiterer Folge in den vielfältigen Evaluationsschleifen wiederum pädagogisch aufgeladen werden soll. Mit Hilfe (z. B. der PISA-Brille) wird unser Blick in die Lernrealitäten von Bildungsinstitutionen dadurch neu kodiert. Was dabei herauskommt sind implizite Standards, die jede/r bereits akzeptiert haben muss, bevor er/sie sich auf eine kontroverse Diskussion z. B. über PISA einlassen kann. Weit davon entfernt, als 'neutrales' Instrument wissenschaftlicher Objektivität zu fungieren, setzt PISA hiermit eigene Normalitätsstandards des Pädagogischen, Sozialen und Ökonomischen Im Bildungsbereich. Wie solche Prozesse des Aufbaus neuer Normalitätsstandards funktionieren, lässt sich derzeit auch deutlich z. B. an den Evaluationsdynamiken oder den Qualitätssicherungssystemen erkennen. Hinter dem Weihrauchmantel von Evaluation und Bildungsexpansion Qualitätskontrolle, ist aber recht von deutlich Life-Ling-Learning die Umstrukturierung und der Wissenschafts- und Bildungslandschaft zu erkennen, die der Effizienz des Wettbewerbs, der Verwertbarkeit und der Anpassung verpflichtet ist. Aber Wettbewerb an sich ist ja nirgends, also auch im Bildungssystem kein Ziel, sondern stets nur ein Mittel, um die vorhandenen Ressourcen besser zur Erreichung sozialer Entwicklungen einsetzen zu können, um Wohlstand für alle zu erreichen und soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die Effizienz der Institutionen muss sich immer auch daran messen lassen, wie sie die Freiheit des Einzelnen in der Gemeinschaft stärkt. Diese Freiheit liegt nicht aber nicht nur in persönlicher Autonomie, (ich bin besser, gescheiter, reicher als andere), sondern in den gemeinschaftliche Beziehungen. Frei zu sein heißt, teilhaben zu können. Nur gleichberechtigte Teilhabe schafft Freiheit und Sicherheit. Das ist der Sinn einer sozial gerechten Politik des Förderns und Forderns. So gesehen lassen sich die Memoranden der EU über Bildung auch als 'trojanische Pferde' der Disziplinargesellschaft begreifen: Im Schutz einer Weltverbesserungs- und Freiheitsrhetorik etabliert sich ein ganzes Netz teils 10 altbekannter, teils innovativer Zugriffsweisen auf die Individuen. Das Instrumentarium reicht von einer neuen Verwaltungssteuerung über Budgetierung, Sponsoring und Privatisierung bis hin zu Zertifizierung, zentralisierter Leistungskontrolle, Credit-Point-System, Total Quality Management – und nicht zuletzt PISA. Das Ziel ist dabei nicht mehr Bildung, sondern die ökonomisch fundierte Zuteilung von Wissen. Bildungsprozesse werden dabei ausschließlich als Eigentumsoperationen mit Wissen als Ware angesehen. Was ehemals als genuin pädagogische Aufgabe der Institution begriffen wurde, wird nun formal nach dem Muster betrieblicher Projektabwicklung gehandhabt. Unser gesamtes Leben wird solcherart zu einer zertifizierbaren Qualifizierungsstrecke, zu einem Buster Keaton’schen Curriculum, umgebaut, auf der wir uns von Zeugnis zu Zeugnis weiterarbeiten. Hat dieses Sammeln von Qualifikationen aber tatsächlich etwas damit zu tun, dass wir in unserer Welt zurecht kommen, dass wir wissen, woraufhin wir entscheiden sollen? Wichtig ist in der heutigen Warenwelt auch bei Bildung scheinbar nur noch die Frage, wer was auf dem Weltmarkt verkaufen kann (gesprochen wird hier von education market oder education business bzw. von market of pedagogical products and services, wo vor allem Verleger von Multimediaprodukten, Entwickler und Anbieter von Online-Diensten oder von Fernunterricht, Telekommunikationsmanager auftreten). Die Liberalisierung und Deregulierung des Bildungssektors ist deshalb auch schon seit geraumer Zeit als main-topic auf der Tagesordnung der WTO. Damit lässt sich gut Geld verdienen. Ein Kollege wollte eine Arbeit über die Privatuniversitäten in Polen schreiben, aber er hat es aufgegeben, als er bei der 150en amerikanischen Institution angelangt war. Die Broschüren drücken dies dermaßen aus, dass Polen eben um seine Wissensbilanz, sein intellektuelles Vermögen bemüht ist, wird doch unsere Gesellschaft immer komplexer. Zweifellos ist dies richtig, jedoch geht dies nicht nur durch Wissen und Experten. 11 Die fortwährenden Anreicherung der Zivilisation mit Experten und Wissen fördert auch die Tendenz zu deren gleichzeitiger Verdinglichung, wie wir das heute sehr schön am Götzen Auto erkennen können. Wir stopfen dieses Gerät immer stärker voll mit „neuen“ Erfindungen, mit technologischen Vorkehrungen, um gegen uns selbst und unseren Fahrstil, gegen den so genannten Straßenverkehr gewappnet sein. Doch bei all diesen Überlegungen, und das ist ihr Manko, handelt es sich ausschließlich um eine Ausstattung, die uns von unserem Handeln unabhängig machen soll. Wenn wir zu schnell, zu rücksichtslos, zu viel fahren, bauen wir eben noch ein ABS ein, einen Airbag, ein neues verbessertes Anti-Schlupf-System. Eine Neuheit jagt die nächste. Das Neue ist dabei aber oft eben nur das verfeinerte Blöde von gestern, denn an der Einstellung zu all diesen Dingen ändert sich dadurch nichts. Wer um die sozialen und individuellen Risiken des Autoverkehrs weiß, fährt vielleicht vorausschauend, oder organisiert sein Leben überhaupt anders. Und doch glauben wir an die Kraft dieser Zusatzmaschinen, um uns weiterhin dem schwindelerregenden Erlebnis der „freien Autofahrt“ hingeben zu können. Dass der Rundum-Air-Bag aber letztlich zur Gummizelle unseres eigenen Gestaltungswillens wird, scheint dabei kaum ins Gewicht zu fallen. Die “Zerbrechlichkeit” der modernen Gesellschaft ist eben auch das paradoxe Resultat ihres Erfolges. Nicht der Mangel an Wissen stellt dabei das Hauptproblem dar, sondern die fehlende Bezugnahme auf gesellschaftliche Wertvorstellungen jenseits neoliberaler Entscheidungsroutinen. Gerade hier werden in Zukunft die entscheidenden Schlachten geschlagen werden, wenn es um die Neupositionierung des emanzipatorischen Projekts Bildung, aber auch der sozialen Ausgewogenheit und der Einforderung individueller Rechte, Würde und Anerkennung jenseits der Zwänge des Marktes geht. 12 Europa als Kultur- und Bildungsprojekt Ein Weg, um diese Bezugnahme zu fördern, ist Bildung in ihrer Bewegung der stetigen Übersetzung zwischen den Wünschen, Vorstellungen, Ideen vom Mensch-Sein und den Möglichkeiten des jeweils konkreten, gesellschaftlichen Lebens. Wie jede Übersetzung ist sie nie perfekt und immer verbesserungsfähig. Und wie jede Übersetzung legt sie auf beiden Seiten des Übersetzungsprozesses neue Schichten von Möglichkeiten frei. Von Schleiermacher können wir hier z. B. lernen, dass die Interpretation ein endlos sich drehender “hermeneutischer Zirkel” ist, der nach neuen Wegen Ausschau hält, der aber gleichzeitig den bislang erworbenen Sinn als Richtschnur anerkennt. Bildung ist in diesem Sinne auch eine Art “Übersetzungszirkel”. Hört diese Übersetzung auf, endet auch der Mut, sich Verständlichkeit erarbeiten zu wollen. Wer Ideen, Entwicklungen aber nicht mehr verstehen kann oder will, beurteilt sie letztlich nur noch pseudomoralisch, opportunistisch, verzagt oder auch fundamentalistisch. Die neuen Technologien, die Gentechnik, die modernen Biowissenschaften zeigen deutlich, wohin uns eine solche Entwicklung führen kann. Der Mensch wird hierzu in ein Übergangswesen verwandelt, das nach einem dominanten Weltbild zurechtgeschnitzt wird. Jeder Einzelne ist dabei austauschbar, ersetzbar, beliebig oft vervielfältigbar und keiner fragt mehr, wozu das alles gut sein soll. Deswegen sind auch alle technischen Lösungen der derzeitigen Sinn-, Erziehungs- und Bildungsprobleme zurückzuweisen. Will Bildung an der Gestaltung der Welt teilhaben, kann die Übersetzung nicht als abgeschlossen und nicht mehr verhandlungsfähig betrachtet werden. Der fundamentale Sinn des erneuerten europäischen Modells besteht gerade darin, wirtschaftliche Dynamik und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden. Bildung ist hier erst einmal die Antwort, die uns die Frage bewusst macht, worum es hier eigentlich geht, wenn wir von Lernen und Lehren, von Bildung und Gesellschaft sprechen. 13 Die Pädagogik, unser Geschäft des Lehrens, Begleitens und Beratens, ist aber auch eine bescheidene Profession und stark von den (Lern-) Kontexten abhängig. Hierin liegt auch eine zentrale Paradoxie pädagogischer Interventionsstrategien, denn diese reichen oft nicht an die wesentlichen Problemursachen heran. Deswegen ist es wichtig, dass die Rahmenbedingungen in der EU Bildung nicht nur nach betriebswirtschaftlichen Mustern begreifen. Die gegenwärtige Umorganisation der Bildungsinstitutionen, die als Autonomie verkauft wird, setzt nur mehr auf kurzfristig nutzbare Ergebnisse. Das ist kein Plädoyer gegen den Markt an sich, viel aber gegen die Überlassung demokratischer und pädagogischer Aufgaben an die Kräfte des Marktes. Europa muss aber jenseits dieser technokratischen Zurichtung ein Bildungs- und Kultur-Projekt werden, oder es wird sich auch politisch nicht halten lassen. Die wirtschaftliche Logik vermag keine der Kräfte frei zu machen, die eine Bindekraft sichern. Die marktwirtschaftliche Globalisierung ist ein starker Motor, aber er kennt keine Bremsen und ist, in seiner moralischen Neutralität, steuerlos. Das Regulativ dazu sind Werte, die der Markt nicht so selbstverständlich erzeugt, wie es sich die Propheten des Liberalismus vorstellen. Bildung oder „soziale Zusammengehörigkeit“ sind leider keine automatischen Nebenwirkungen des unbeschränkten Wettbewerbs. Das neoliberale Prinzip neigt er eher dazu, die Grundlagen des Sozialen zu zerstören und den Gerechtigkeitssinn zu entwerten, denn diese haben einen monetären Preis. Wenn das Grundkennzeichen der Moderne chronische Ungewissheit ist, dann muss auch hier darauf reagiert werden. Heutige Politik scheint aber bloß noch die Exekution von Sachzwängen zu sein, wo sie aber kollektive Selbstbegründung sein sollte. Politik ist der Vorgang, in dem sich der Akteur selbst erschafft und das Volk „macht“ sich, in dem es sich grundlegende Rechte nimmt, das heißt eben „Emanzipation“. Seit Rousseau, Kant und Fichte hat sich die Bildungsidee als Raum praktischer 14 Kritik und utopischer Möglichkeit verstanden. Immer geht um die gleichen Probleme. Wie können wir eine sich dramatisch verändernde Welt mit unserem Verstand neu denken. Die Klassiker arbeiteten an Problemen, die vor dem globalen Horizont aktueller denn je sind: Wie schafft man ein Gemeinwesen, wer kann StaatsbürgerIn sein, wie entsteht ein allgemeiner Wille zu Verständlichkeit und wie kann das alles in und für eine Demokratie gelernt werden. Dazu brauchen wir vor allem Kompetenzen in drei Bereichen: der Kommunikation, der Koordination und der Kritik, wie dies in diesem Projekt auch gezeigt werden konnte. Es geht aus meiner Sicht darum, Menschen zu jener minimalen Trittsicherheit zu befähigen, die sie im Umgang mit einer komplexen Gesellschaft brauchen, in der das Sachwissen ebenso wie das Prozesswissen stetige Angebote zum Austausch und zur Kritik des Bestehenden sind. Gerade im Umgang mit dem sich in Formation befindlichen Europa kann methodisch, theoretisch und praktisch gelernt werden was es bedeutet, mit den Vorläufigen, dem Nichtwissen, umzugehen. Das ist ein Lernfeld, das unsere Politik gerade auf sträflichste vernachlässigt: der Umgang mit dem Nichtwissen. Wer das aber nicht kann, kann kaum etwas. Aber wer damit umgehen kann, kann darauf aufbauend jedes nur denkbare Wissen erwerben, ohne dieses je mit Gewissheit zu verwechseln und so die erworbene Kompetenz und das Talent wieder aufs Spiel zu setzen. Für mich wird die EU heute viel zu stark von einem Gestus geprägt, den ich aus den Filmen von Karl Valentin kenne. Auch bei ihm gehört der Zollstock, das Maßband zu den am häufigsten verwendeten Utensilien in seinen Sketchen. Mit ihm werden die unterschiedlichsten Gegenstände vermessen - vom Tisch bis zur Breze -, nur ohne Sinn und Verstand. Die typische Valentin-Figur nimmt es bis auf den Millimeter genau, nur ohne den mindesten Sinn fürs Große und 15 Ganze. Sie ist pedantisch und verbeißt sich verlässlich ins unwichtigste Detail. Valentins komischer Entwurf liegt in dieser immer falsch justierten Präzision, die am Ende stets eine mehr oder weniger katastrophische Inkongruenz erzeugt. Und dieses Unverhältnis zu den Dingen generiert nicht nur Komik, sondern Gewalt, denn in Valentins Welt wird, was nicht passt, mit eigener Hand oder auch sprachlich, passend gemacht, aber stets so, dass es hinterher schon überhaupt nicht mehr zu gebrauchen ist. Angestellte der OECD entwickeln gerade einen Test, mit dem nach dem PisaExerzitium nun auch die Erwachsenen auf kognitive Fähigkeiten hin geprüft werden sollen. Was dabei herauskommt, ist schon jetzt abzusehen. Es wird da eine bunte Ländertabelle geben, und viele fette Schlagzeilen, die „Wir sind Einstein!“ oder ÖstereicherInnen sind dümmer als FinnInnen“ lauten werden, und ganz zum Schluss werden wieder die PolitikerInnen kommen und eine aufgebauschte Riesendiskussion mit Rufen wie „lebenslanges Lernen!“ und „Rohstoff Bildung!“ anheizen. Und dann bleibt alles so wie bisher. Europa ist für mich aber viel mehr als solche Rankings. Es in erster Linie eine große gemeinsame Idee, die Idee vom Menschen und seiner unantastbaren Würde, die Idee von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, die Idee von Toleranz und Demokratie und Rechtsstaat und Gewaltenteilung, wie sie nach vielen schwierigen Anläufen und entsetzlichen Verirrungen in den Verfassungen der Mitgliedstaaten dieser Gemeinschaft ihren Niederschlag gefunden haben. Die Wiederentdeckung der kulturellen Grundlagen dieser Gemeinschaft gerade in der Bildung ist Voraussetzung für jeglichen inneren Zusammenhalt, schon gar unter den Bedingungen pluralistischer Gesellschaften und ist damit zugleich die Voraussetzung für die gemeinsame Bewältigung einer gemeinsamen Zukunft, wenn sie denn eine gemeinsame Zukunft werden soll. 16 Literatur Alheit, Peter/Dausien, Bettina (2002): Bildungsprozesse über die Lebensspanne und lebenslanges Lernen. In: Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Opladen, S. 565-585 Baumert, J./Klieme, E./Neubrand, M./Prenzel, M./Schiefele, U./Schneider, W./Stanat, P./Tillmann, K.-J./Weiß, M. (Hg.). (2001). PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen. Egger, R. 2004: Next Exit: Bildung. Lernwelten im Übergang. Leykam Verlag, Graz Egger, R. 2006: Gesellschaft mit beschränkter Bildung. Eine empirische Studie zur sozialen Erreichbarkeit und zum individuellen Nutzen von Lernprozessen. Leykam Verlag, Graz Hentig, H. v. 1996: Bildung. München/Wien. Lohmann, I. (2001): After Neoliberalism. Können nationalstaatliche Bildungssysteme den ´freien Markt´ überleben? in: Lohmann, I./Rilling, R. (Hg.): Die verkaufte Bildung, Opladen: Leske u. Budrich, S. 89 - 108 17