LEIPZIGER BUCHMESSE 2011 ERÖFFNUNG Prof. Dr. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels Gewandhaus Leipzig, 16. März 2011 SPERRFRIST: 16. März 2011, 19 Uhr Kein Stichwort wird so oft zur Kennzeichnung der modernen, sich weltweit ausbreitenden Gesellschaft verwendet wie das der „knowledge based society“. In einer Wissensgesellschaft zu leben erfüllt uns durchaus mit Stolz und Erwartung. Doch was meinen wir eigentlich mit dem Stichwort der „Wissensgesellschaft“? Wenn wir darunter eine Gesellschaft verstehen, die um sich selbst weiß, die aus Wissen Einsicht zu gewinnen versteht und die die gewonnene Einsicht zu bewahren beginnt, dann ist die Wissensgesellschaft mindestens so alt wie die Tontafel-Bibliothek der Ägypter in Tell-el-Amarna. Doch wenn wir mit „Wissens-gesellschaft“ eine Gesellschaft meinen, deren atemberaubende Fortschritte in der Datenspeicherung, -verarbeitung und -weitergabe es erlauben, eine nie gekannte Menge von Informationen in einer noch nie gekannten Auffindbarkeit und Schnelligkeit verfügbar zu machen, dann meint das Stichwort einen noch nie gekannten Zustand in der kulturellen Entwicklung der Menschheit. Doch wächst mit dem Zuwachs an Wissen auch die sich dem Wissen verdankende Einsicht? Oder macht gerade die Fülle der Informationen, auf die wir stolz sind, die Einsicht in ihre Zusammenhänge immer schwieriger? Geht es uns am Schluss wie dem Mann in Jorge Luis Borges’ Erzählung vom „unerbittlichen Gedächtnis“, einem Mann, der nicht mehr vergessen und dadurch auch nicht mehr abstrahieren und nicht mehr verallgemeinern kann. Die Menge der ihm gleichzeitig präsenten Informationen ist so groß geworden, dass sein Denken und Handeln einer kompletten Lähmung unterliegt, einer Art kulturellen Kältetods durch Überfülle. Hatte der Bibliothekar Borges da die Wissensgesellschaft der Zukunft im Blick? Ist unsere Gesellschaft auf dem Weg, aus seiner Fiktion Wirklichkeit werden zu lassen? Unmengen von Informationen werden im Netz gespeichert. Um Einsicht zu gewinnen, müssen unser Lese- und Denkvermögen das lernen, was unser Auge und unser Gehirn längst schon können, nämlich aus der Überfülle der Reize zu sehen, was zu sehen wichtig ist. Ohne Auswahl kommt kein Urteil, kommt keine Kultur zustande. An was orientieren wir uns bei der Bewertung von Wahrem und Falschem, Verlässlichem und Irreführendem? Wie bleiben wir die Subjekte unseres Wissens und vermeiden es zu manipulierten Objekten zu werden? Woher weiß ich, was ich glauben soll? Wer gewährleistet mir die notwendige Qualität der Information? 2 Ohne Zweifel braucht die aufgeklärte Gesellschaft den freien und öffentlichen Zugang zu allen relevanten Informationen und Inhalten. Und ohne Zweifel muss das Wissen durch Wissenschaft und Forschung ständig erweitert werden. Aber ebenso notwendig brauchen wir die kulturellen Instrumente und Verfahren, um mit diesem Wissen umzugehen und es zum Medium unserer kulturellen Identität zu machen. Das ist nur möglich, wenn die Quellen des Wissens bekannt und erkennbar sind, denn nur dann können Inhalte eingeordnet werden. Quellen, die dies leisten, sind vor allem Verlage und Medien wie Bücher, Zeitungen und Rundfunk. Ihre Kanäle selegieren den Informationsfluss, ordnen und verdichten Inhalte und schaffen Öffentlichkeit. Unter den Medien, die dies zustande bringen, kommt dem Buch eine besondere Rolle zu: Das Buch hebt bestimmte Inhalte aus der Fülle hervor, gibt ihnen Permanenz, schafft gut zugängliche Bezugspunkte der Kommunikation, erlaubt die Bildung des kulturellen Gedächtnisses und stiftet wie kaum ein anderes Medium individuelle und kollektive kulturelle Identität. Das alles leistet das „Prinzip Buch“. Und zwar ganz unabhängig davon, ob es physisch gedruckt und gebunden oder digital verarbeitet ist. Und eben weil diese prinzipielle Funktion unabhängig ist von der Weise ihrer physischen Instantiierung kommt dem „Prinzip Buch“ ein kultureller Vorsprung zu, der es auch in den modernen Transformationsarten unentbehrlich macht. Die Erweiterung unserer Wissenswelt durch Google oder Apple, durch Mobile-Content und vielerlei Inhaltsplattformen im Internet ist deshalb nicht die Alternative zum „Prinzip Buch“, sondern dessen Extension, denn sie erweitern den Buchmarkt, freilich in zuweilen revolutionärer Form. Bestanden die Distributionskanäle des Buchs bislang aus Verlagen, Zwischenbuchhandel und Buchhandel, so kommen künftig Partner mit an Bord, deren Kernkompetenz nicht im Buchhandel liegt, die aber etwas von Vertrieb, von Kunden und von Kundenbindung verstehen. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“, sagt Kant. Ein Tablet oder ein E-Book-Reader ohne Inhalt ist nicht viel mehr als Sondermüll. Deshalb sind hier Geräte und Nachfragemacht, dort Bücher und ihre Inhalte. Das aber heißt, dass die neuen Anbieter von Inhalten eben diese brauchen, ob man sie nun Inhalt oder Content nennt. Mit Inhalten müssen wir aber in einer neuen Weise von Kreativität umgehen. Das „Prinzip Buch“ lässt sich nur erhalten, wenn wir seine kulturelle Bedeutung als Herausforderung begreifen und sie durch neue Wege der buchhändlerischen Vermittlung immer wieder neu zum Leben bringen. Das gilt für den unabhängigen kleinen Verlag und die unabhängige kleine Buchhandlung wie für die neuen großen Anbieter von Inhalten gleichermaßen. Sie werden von allen gebraucht: die Büchermacher. Weil sie die Inhalte generieren, sie professionell aufarbeiten, vermarkten und anbieten. Und weil sie den Autoren am nächsten sind. Grund genug für Buchmenschen, selbstbewusst zu sein. Vom Wert der Inhalte profitieren künftig auch große Kommunikationsunternehmen. Für den Buchmarkt ist das in mehrfacher Hinsicht eine gute Entwicklung. Nicht nur entsteht ein neuer Vertriebsweg. Auch der Umgang mit Urheberrechten sollte davon profitieren können. Spätestens damit nämlich müsste der Zeitpunkt gekommen sein, an dem auch die neu gewonnenen Marktteilnehmer ein Interesse daran haben, für einen angemessenen Umgang mit dem Urheberrecht zu werben und gegen das Raubkopieren digitaler Produkte vorzugehen. 3 In diesem Zusammenhang sind für Autoren, Verleger und Buchhändler anlassbezogene Aufklärungs- und Warnmodelle im Zusammenwirken mit der Providerwirtschaft unerlässlich. Sie haben ein hohes Potential, die Piraterie effektiv einzudämmen, denn sie sprechen den Nutzer im Netz direkt an, verwarnen und klären ihn auf, bevor es zu Konsequenzen kommt. Mein Appell geht in diesem Zusammenhang vor allem an die Spitze unserer Politik, von der ich mir eine höhere Sensibilität bei diesem Thema erhoffe. Der laxe Umgang mit Urheberrechten ist kein Kavaliersdelikt. Und wie wir mit unseren Inhalten künftig umgehen, ist für die Zukunft eine zentrale Frage. Sage mir, wie Du mit Deinen Urhebern umgehst, und ich sage Dir, wer Du bist! Meine Damen und Herren, das „unerbittliche Gedächtnis“ des Internets ist für das Wissens-management der Gesellschaft vermutlich die größte seiner gegenwärtigen Herausforderungen. Verlernen wir nicht zu vergessen! Google vergisst nie! Doch das Vergessen ist ein exzellenter, evolutionär bewährter Mechanismus zur Gewichtung von Informationen. Und eine Herangehensweise an den klugen Umgang mit dem Vergessen, könnte darin liegen, die Stärken des digitalen Zeitalters an die Standards zu binden, die das Buch- und Verlagswesen zum unverzichtbaren Element neuzeitlicher Kultur hat werden lassen. Ich wünsche Ihnen, meine Damen und Herren, eine erfolgreiche Leipziger Buchmesse 2011.