Bildung in der globalen Wissensgesellschaft

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Pressezentrum
Dokument:
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Sperrfrist:
Donnerstag, 14. Juni 2001; 10:30 Uhr
Programmbereich:
Themenbereich 3: In Freiheit bestehen
Veranstaltung:
Hochschulzentrum
Referent/in:
Prof. Dr. Wolfgang Nethöfel, Sozialethiker an der Uni Marburg,
Frankfurt/Main
Ort:
Universität, Studierendenhaus, Mertonstr. 24-26 (Bockenheim)
Bildung in der globalen Wissensgesellschaft
Statement zu den Thesen von Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen und Professor Dr.
Friedhelm Hengsbach SJ
Liebe Kirchentagsteilnehmerinnen und –teilnehmer,
die Thesen von Staatssekretär Catenhusen und die Thesen des Kollegen Hengsbach
betreffen mein Forschungsgebiet als Sozialethiker an der Phiipps-Universität Marburg. Sie
beschreiben den Rahmen meiner Lehrtätigkeit, denn ich bilde Theologinnen und Theologen
aus, die in Kirche, Diakonie, Schule und zunehmend auch in anderen Bereichen der
globalisierten Wissensgesellschaft arbeiten. Und die übereinstimmenden wie
unterschiedlichen Interpretationen, die dort vorgetragen werden, beschäftigen uns, weil wir
gerade in einem tiefgreifenden Organisationsentwicklungsprozess stehen, in dem wir daraus
Konsequenzen ziehen müssen. Alle diese drei Aspekte überschneiden sich in meinem
Statement zu den Thesen, die wir gehört haben. Und das charakterisiert unser Thema vorab.
Ich konzentriere meinen Kommentar zu den Vorträgen auf vier Fragen, die auf die Praxis
zuführen, denn ich vermute und hoffe, dass wir uns anschließend auf die Konsequenzen aus
den Beiträgen konzentrieren werden.
1. Was ist die „Wissensgesellschaft“?
2. Vor welche Herausforderungen stellt sie die Forschungs- und Bildungsinstitutionen?
3. Wie kann Orientierungswissen und -kompetenz dazu beitragen, diesen
Herausforderungen zu begegnen?
4. Wie kann dieser Beitrag praktisch werden?
1. Es geht nicht ohne eine kritische Bestimmung von „Wissensgesellschaft“. Schon, weil man
sich sonst blamiert. Insider wissen, dass „Wissensmanagement“ als
Organisationsentwicklungstrend schon tot ist. Und mit der „New economy“ hat sich auch die
ökonomische Erscheinungsform der jungen Wissensgesellschaft an den Realitäten der „Old
Economy“ gestoßen und sich dabei eine blutige Nase geholt.
In den Catenhusen-Thesen wird die komplexe Herausforderung durch die neuen
Erscheinungen deutlich; Hengsbach fragt in seinem Zwar-Aber-Schema nach einem harten
Kern jenes weichen Begriffs. Unstreitig ist die Informations- und Kommunikationstechnik im
Zentrum. Unstreitig ist auch, dass diese dadurch neue ökonomische Realitäten setzt, dass
„Wissen“ zugleich die Produktion revolutioniert und typisches Produkt wird. Wenn
Hengsbach der These zustimmen würde, dass wir es mit einem neuen Paradigma zu tun
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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haben, wäre seine entscheidende Frage, auf welcher Ebene man dann von einem
Paradigmawechsel sprechen darf.
Das ist wichtig für die Folgen. Denn die Theorie des Paradigmenwechsels ist ein machtvolles
Denkwerkzeug. Bestimmt man von da aus eine ganze „Wissensgesellschaft“, legen sich
schnell all jene Zukunftsversprechen nahe, die Hengsbach aufzählt. „New Economy“, zur
Erinnerung, versprach ein Ende der kapitalismustypischen Krisenerscheinungen durch
vernetztes Wissen. Es garantiert einen anhaltenden Produktivitätsfortschritt und setzt die
Knappheitslogik des Marktes außer Kraft. Versäumt man dann in einem globalen Kontext
Reformen, zieht politisches Versagen zugleich mit dem ökonomischen auch ein
gesellschaftliches Desaster nach sich.
Bestimmt man das eine Nummer kleiner, ist man immerhin noch bei einem neuen
Kondratieff-Zyklus. Das sind jene langwelligen Technologietrends, die etwa 50 Jahre lang die
Ökonomie bestimmen, wie dies, dieser Theorie zufolge, seit 1850 erst die Dampfmaschine,
dann die Stahlproduktion, die Stromproduktion und das Erdöl taten. Wer dann gestern erst
Information gesagt hat, sollte dann allerdings heute mit Nefiodow bereits mit der
Gentechnologie den 6. und dann mit der Nanotechnologie den 7. Kondratieff heraufziehen
sehen.
So what?, könnte Hengsbach sagen und auf die weiter bestehenden ökonomischen
Rahmenbedingungen verweisen, die bis jetzt jedenfalls, um es vorsichtig zu formulieren,
nicht sicherstellen konnten, dass die neuen Ungleichheiten und Ausgrenzungen geringer
sind als die alten. Bei Catenhusen sind entsprechende Besorgnisse jedenfalls zu spüren; die
Wissensgesellschaft braucht, um es stark zu formulieren, Bildungselemente, um
republikanisch, d.h. politisch und sozial partizipativ gestaltet werden zu können. Aber die
Analyse von Hengsbach legt den Verdacht nahe, dass die „Zauberwelt Wissensgesellschaft“
(wie „new economy“) qualitative Veränderungen ideologisch vorspiegeln soll, um
gesellschaftlich das Wesentliche beim alten zu lassen („alten“ klein geschrieben).
2. Forschungs- und Bildungsinstitutionen müssen aber Paradigmenwechsel bewältigen
können. Das Heilsame an solchen Differenzen, das darf man in der götzenfeindlichen, ja
bilderstürmerischen, wenn es gut geht auch kritischen Tradition des Protestantismus sagen,
ist beim Kampf um den harten Kern des Paradigmas der Abbau solcher ideologischen
Überhöhungen. Das Verhängnisvolle ist allerdings, dass dabei die radikalen
Herausforderungen zu verschwinden drohen, die eng an jenen harten Kern gekoppelt sind,
freilich immer wieder neu in einem Wechselspiel zwischen Theorie, Anwendung und
institutionalisierter Selbstveränderung abgearbeitet werden müssen.
Denn mit dem zum Schlagwort gewordenen Begriff „Paradigmenwechsel“ kennzeichnet
Thomas S. Kuhn „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“. Wie wir
„Wissensgesellschaft“ bestimmen, entscheidet über die Sache selbst. Ich bin bei den
politischen Zielbestimmungen mit dem Genossen Catenhusen und beim Ausgangspunkt der
kritischen Analysen mit dem Kollegen Hengsbach einig. Auf diesem unausgewogen
besetzten Podium verbinden uns, wie ich merke, politische und konfessionelle Konfessionen.
Aber trotzdem wird mir unbehaglich. Ich möchte dem weiter nachgehen, indem ich mich
weiter auf meine Kernkompetenz konzentriere.
3. Wissen ist immer auch orientiertes Wissen, auch eine Wissensgesellschaft reproduziert
und produziert Erfahrungen, Institutionen und Traditionen. Eine kritische Bestimmung des
Paradigmas „Wissensgesellschaft“ wird meines Erachtens konkrete Erkenntnisse über einen
technisch-ökonomischen Wandel bestätigen, wie ihn die Kondratieff-Zyklen vorhersagen; wir
sollten uns also auch in angemessener Weise auf die nächsten Wellen vorbereiten. Ich bin
darüber hinaus auch davon überzeugt, dass wir uns am Anfang eines noch einmal
„langwelligeren“ neuen Zeitalters befinden, wie es zuvor nur die Schrift und der Buchdruck
eingeläutet haben. Denn der Übergang von der handwerklichen über die mechanische zur
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elektronischen Reproduktion der anschlussfähigsten Informationsmuster hat mit dem
Wechsel des kulturellen Leitmediums abermals einen Epochenwandel zur Folge gehabt.
Ich meine gerade deshalb, dass wir den weiten Begriff der Wissensgesellschaft, wie ihn
Catenhusen voraussetzt, mit den kritisch-reduzierenden Bestimmungen von Hengsbach
zusammendenken können und sollen. Denn der paradigmatische Kern des Neuen, was uns
da herausfordert, erschwert zwar bei jeder kritischen Reduktion ideologische Überhöhungen.
Jede präzise Näherbestimmung enthält aber immer zugleich auch selbst einen
formalisierbaren Kern, der zugleich theoretisch, technologisch, institutionell und ideologisch
interpretiert ist. Genauer: Er setzt all diesen Interpretationen unterschiedliche
Überlebensbedingungen.
Der Bedarf an bewährten und möglicherweise zukunftstauglichen Sets von kulturellen
Interpretationen ist groß. Die christlichen Kirchen, deren Traditionsmuster ich Seite an Seite
mit dem Kollegen Hengsbach sozialethisch aktualisiere, haben auf dem Orientierungsmarkt
Möglichkeiten wie nie. Sie stehen aber in einer pluralistischen, global vernetzten Gesellschaft
neben anderen – nicht nur Religionen, sondern auch Parteien, Verbänden und
Interessengruppen. Ein Wissenschaftler, der sich hier nicht selbstkritisch verortet, ist nicht
vorurteilsfrei, sondern beweist nur, dass eine Hyperintelligenz der Syntax zusammen mit
einer unterbestimmten Semantik eine besonders interessante Form von Dummheit
produziert. – Ist er also „ungebildet“?
4.“Bildung“ ist nicht die Lösung, sondern Teil des Problems. Ganz am Schluss bin ich wieder
näher bei Catenhusen. In meinem eigenen Fachbereich meint man, die anstehenden
Reformen unter dem Stichwort „Bildung“ diskutieren zu können. Ich warne. „Bildung“ ist Teil
eines nicht globalisierungsfähigen deutschen Paradigmas aus dem 19. Jahrhundert. Es löst
die Herausforderung durch die neuzeitliche Naturwissenschaft durch die Differenzziehung
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Und dies ist besonders im vorherrschenden
theologischen Paradigma zur Ideologie geworden.
So werden wir nicht zur Problemlösung beitragen können. Traditionalistische
Kulturwissenschaftler (ich meine immer Männer und Frauen) können Naturwissenschaftlicher
und Techniker nicht von der gesellschaftlichen und kulturellen Interpretiertheit ihrer Kalküle
überzeugen, weil sie selbst nicht wirklich in Funktionen, systemischen und paradigmatischen
Abhängigkeiten zu denken gelernt haben. Linke, die ihr Heil in der Fortschrittsverhinderung,
in der prinzipiellen Verlangsamung und im Schutz bestehender Lebenswelten suchen,
verkünden genauso bewusstlos den Mief des Biedermeiers, wie Rechte bewusstlos ihre
Wertideale verraten, indem sie die Familien- und Bildungsideale dem neoliberalen Zugriff
ausliefern. Das Privatfernsehen war der Anfang, das Elend im Gefolge der
Pflegeprivatisierung ist die Fortsetzung, nun wird es mit der Ökonomisierung der
Lebenswissenschaften weitergehen, wenn ...
... wenn wir nicht lernen, die bewährten Orientierungsmuster unserer Tradition in die
Paradigmen der Wissensgesellschaft hinein zu interpretieren. Wissenschaft wird vom
Wechsel der Paradigmen vorangetrieben. Sie darf sich von diesem inneren Motor nicht
abkoppeln, und Bildung sollte so eng wie möglich an sie gekoppelt sein. Ich bekenne mich
hier zugleich als radikaler Verfechter des Humboldtschen Universitätsideals und (damit, wie
ich meine) als fröhlichen Antipädagogen.
Gestatten sie mir aber eine Reminiszenz an die Lernschleife meiner Bundeswehrzeit:
Verzögern ist ein taktisches, kein strategisches Konzept; durch Verteidigung kann man
keinen Krieg gewinnen. Die Vision einer solidarischen globalen Wissensgesellschaft hat aber
auch bei einer kritischen Bestimmung solche Konsequenzen für die Theoriebildung, für den
Praxisbezug und für die Organisation meiner eigenen Institution, dass ich nahezu jeden
Reformimpuls von außen begrüße. Deshalb spare ich mir sowohl die Skepsis wegen der
bloß bundespolitischen Verankerung als auch die Einzelkritik an den politischen Konzepten
in den Catenhusen-Thesen.
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Gerade weil unsere Intentionen aufgehoben bleiben im Gedächtnis Gottes, bleiben wir zwar
aufgerufen zur Folgeabschätzung im einzelnen. Aber unser Blick ist freier, weil wir unsere
Augen nicht vor den unvorhersehbaren Folgezuständen der Systeme verschließen müssen,
die wir so verändern. Ja: „Du hast meine Füße auf weiten Raum gestellt.“
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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