„We can`t get no education“ – Visionen im Disput

Werbung
Pressezentrum
Dokument:
3/004 CO
Sperrfrist:
Freitag, 15. Juni 2001; 15:00 Uhr
Programmbereich:
Themenbereich 3: In Freiheit bestehen
Veranstaltung:
Arbeitsgruppe
Referent/in:
Dr. Thomas Krüger, Bundeszentrale für Politische Bildung, Berlin
Ort:
Messe, Halle 1.2, Ludwig.Erhard-Anlage 1 (Innenstadt)
„We can’t get no education“ – Visionen im Disput
Eine aktuelle Vision?
„We can’t get no education“... lautet die Überschrift unserer Diskussion. Das Motto ist – wenn
ich das richtig deute – eine Mischung aus „I can’t get no satisfaction“ – von den Rolling
Stones aus dem Jahr 1967 und „We don’t need no education“ – von Pink Floyd aus „The
Wall“ von 1979: Aussagen, die mit 22 und 34 Jahren inzwischen älter sind als diejenigen,
über die wir hier als „Jugend“ verhandeln.
Dieses Motto ist meines Erachtens aus zwei Gründen auch nicht besonders glaubwürdig:
1. Die Abwehr der Zumutung, erzogen zu werden, ist ein „grundlegendes Element des
Erwachsenenwerdens“ (Albert Scherr) und damit eine zeitlos durchgehende Haltung der
Jugendzeit. Diese Haltung entspricht meines Erachtens mehr der Einstellung von
Jugendlichen, als der Wunsch, erzogen zu werden, wie es das Motto suggeriert. Sie
scheint übrigens auch die Erinnerung an Pink Floyd lebendig zu halten, wie eine jüngst
erschienene CD mit einer LIVE-Einspielung von „The Wall“ in der Ergster Turnhalle durch
eine Band der Ökumenischen Jugend Villigst (das liegt bei Schwerte im Bergischen Land)
belegt.
2. Nie konnte man so viel Bildung kriegen wie heute: Im Gegenteil, der Zwang und die
Zumutung lebenslang und lebenslänglich zu lernen, greift um sich.
Ist das Motto allerdings als Frage nach einer „zukunftsfähigen“ Bildung und Bildungspolitik
gemeint, stimmt es wieder. Lassen Sie mich dafür einige kurze Thesen aufstellen, die
vielleicht auch den geforderten „Disput“ herausfordern.
Eine längst überfällige Frage
Die Frage nach einer „zukunftsfähigen“ Bildung und Bildungspolitik ist lange überfällig. Mit
zunehmender Globalisierung, mit dem Prozess der europäischen Einigung, mit der
Weiterentwicklung und Umstrukturierung der demokratischen, ökonomischen und
sozialstaatlichen Grundlagen, mit der sich verändernden ökonomischen und politischen Sicht
auf Zukunftsfragen tauchen nicht nur etliche schwerwiegende und ungelöste Probleme im
öffentlichen Bewusstsein auf. Es werden auch zentrale Fragen ins Licht gerückt, bei denen
es nicht mehr darum geht, Altes zu erhalten, sondern die eine offene Gestaltung der Zukunft
fordern.
Nach dem Zukunftspessimismus der 80er Jahre vor dem Hintergrund von Ökokrisen,
Problem- und Katastrophenszenarios, dem Einigungstaumel der 90iger, bei dem die
deutsch-deutschen Probleme wichtiger waren als alles andere, ist jetzt bei der Frage, wie
Zukunft gestaltet werden kann – aktiv und positiv – wieder die Jugend gefragt. Jugendliche,
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
2
auch Kinder, werden wieder zum Thema Nummer eins derjenigen, die bislang bestimmten,
wo’s lang geht. Positiv gesehen haben sie endlich eingesehen, dass diejenigen, die es
angeht, mitreden sollten. Negativ gesehen belasten sie die nächsten Generation mit ihrer
Hilflosigkeit.
Der Politikverdruss
Und sie wundern sich, dass die Jungen sich dabei nicht an die alten Spielregeln halten. Dass
sie die Ideologien und Wertorientierungen der politischen Debatte nicht interessieren. Dass
Jugendliche „mit dem Begriff Politik eine Landschaft von Parteien, Gremien und politischen
Ritualien verbinden, der sie wenig Vertrauen entgegenbringen“ (Arthur Fischer, Mitautor der
Shell-Jugendstudie 2000) und dass sie die „ritualisierte Betriebsamkeit von Politikern als
wenig relevant und ohne Bezug zum wirklichen Leben“ (dito) empfinden. Daraus den
Schluss zu ziehen, „die Jugend“ – die es, wie wir wissen, ohnehin nicht gibt – bräuchte nur
wieder die „richtige“ Bildung und Erziehung, ist falsch und ohne Perspektive. Eine solche
Einstellung verkennt die gesamtgesellschaftlichen Bewegungen, verkennt, dass Jugendliche
mit ihren Suchbewegungen, Lebensexperimenten, ihrer Selbstsozialisation und auch ihrer
Selbstbildung längst „in der Zukunft angekommen sind“, wie die Shell-Studie vermerkt.
Lassen Sie mich dazu ein Szenario entwerfen.
Pluralität pur
Der Prozess der Individualisierung der Gesellschaft bedeutet auch die Differenzierung von
Wissen und Meinungen, die Erosion von traditionellen Strukturen und Milieus und die
Auflösung eines – wie auch immer hergestellten – gesellschaftlichen Konsenses. Wir steuern
auf „Pluralität pur“ zu. Die drückt sich aber nicht mehr nur in einer Ausdifferenzierung von
Lebensentwürfen, in unterschiedlichen Sozialformen oder im Widerstreit von
Gruppeninteressen aus. „Pluralität pur“ stellt grundsätzlich alles zur Disposition. Werteverfall
ist das Stichwort der einen, Liberalisierung oder Deregulierung das der anderen – je nach
geistiger Herkunft oder Diskussionszusammenhang.
Davor mag man erschrecken, weil nun – man sieht es an der Debatte um die Gentechnik –
Dinge verhandelt werden, die man nicht zur Diskussion stellen möchte. Weil Gewissheiten in
Frage gestellt werden, Sachlogik gegen Sachlogik steht, Entscheidungen abverlangt werden.
Politiker, Kirchen und auch Pädagogen befürchten ein Befragen ihrer „theoretischnormativen Grundlagen“ (Peter Massing), auf denen sie zu argumentieren und arbeiten
gewohnt sind. Seien dies der Rechtsstaat, ethische Grundsätze oder das Ziel einer
demokratischen Erziehung.
Nun sind die Zweifel an bisherigen Gewissheiten, die sich mit zunehmender
Individualisierung häufen und subjektiv erfahren werden, keineswegs nur subjektiver Art,
sondern objektive Probleme, die bisher weitgehend strukturell – durch gesellschaftliche
Institutionen wie Parteien, Ehe, Generationenvertrag zum Beispiel – geregelt waren. Sie
mögen als Probleme der persönlichen Lebensentscheidung, der einzelnen Wissenschaft
oder der je aktuellen Bildungspolitik erscheinen. In Wahrheit sind sie aber Ausdruck der
Notwendigkeit, neue Formen der Entscheidungsfindung und Problemlösung zu finden, die
jenseits traditioneller institutioneller Vorentscheidungen liegen.
Diese Erkenntnis setzt sich durch. Ich bleibe bei der Gentechnik. Als vor drei Jahren in
meinem Haus der Plan diskutiert wurde, ein Buch zur Gentechnik aus dem Blickwinkel
politischer Bildung zu machen, musste noch darum gestritten werden, ob dieses Thema
überhaupt in unsere Zuständigkeit fällt. Zu Unrecht, wie man längst weiss. (Übrigens: Wir
haben das Buch gemacht.) Denn in der aktuellen Gentechnik-Debatte wird deutlich, dass es
sich dabei keineswegs um einen nur wissenschaftlichen Streit handelt. Auch nicht nur um die
Frage der Reichweite von gesetzlichen Regelungen oder der gesellschaftlichen
Grundordnung, sondern dass damit direkt Fragen des Zusammenspiels von persönlicher
Freiheit und Lebensplanung mit gesellschaftlichen Entscheidungen berührt sind. Die Debatte
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
3
zeigt, dass viele Menschen unmittelbar betroffen sind und dass sie ebenso als Experten in
dieser Debatte gelten müssen wie Wissenschaftler und Politiker.
Schwierig wird die gesellschaftliche und politische Situation meines Erachtens erst dadurch,
dass sich die mit breiter gesellschaftlicher Beteiligung zu behandelnden Zukunftsfragen
mehren, zugleich aber etablierte Einrichtungen und Verfahren der demokratischen Ordnung
nicht nur an Glaubwürdigkeit, sondern auch an Wirksamkeit verlieren. Wir sehen das an der
Einrichtung des Ethikrats. Ich will die Debatte hier nicht aufnehmen, aber die Einrichtung des
Ethikrates ist bereits ein Reflex auf das erkannte Unvermögen, solche Entscheidungen allein
an parlamentarische Verfahren zu binden.
Neue Anforderungen
Was ich hier kurz angerissen habe, ist keine neue Erkenntnis. Wo Gewissheiten, Autoritäten
und Instanzen an Deutungsmacht und Akzeptanz verlieren, wird auf lange Sicht auch
Entscheidungsmacht substantiell unterhöhlt. Sie ist nur begrenzt durch Formen und Symbole
aufrecht zu erhalten. Ins Praktische übersetzt heißt das: Mag die Politik ruhig
Entscheidungen treffen – wo sie dies ohne Akzeptanz der Wähler tut, verweigert der
irgendwann seine Zustimmung. Und da alle Teil des Systems sind, Regierung wie
Opposition, wählt er dann gar nicht mehr. Diese „hochpolitische Politikverweigerung“ (Ulrich
Beck) betrifft ja schon lange nicht mehr nur die Jugend. Tony Blair, meine Damen und
Herren, dürfte sich als kluger und vorausschauender Politiker angesichts der dramatisch
geringen Wahlbeteiligung über seinen Wahlsieg nur bedingt freuen.
Damit ist eine große demokratische Aufgabe umrissen: Die Erkenntnis muss Platz greifen,
dass grundlegende strukturelle Veränderungen notwendig sind, um neue Entscheidungsund Partizipationsformen zu ermöglichen. Statt über das mangelnde Engagement von
Bürgerinnen und Bürger zu klagen, sollte deutlich werden, dass Engagement- und
Partizipationsmöglichkeiten zunächst neu geschaffen werden müssen, und zwar auf allen
Ebenen, ob in Parteien, Vereinen, im Stadtteil, in der Schule oder am Arbeitsplatz. Solche
Möglichkeiten gibt es noch nicht in ausreichender Weise. Sie müssen erst noch „von unten“
erstritten werden.
Herausforderungen
Das alles hätte man schon früher wissen können. Die UNESCO wusste es spätestens 1992
mit der Rio-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung. Im dort verabschiedeten
Schlussdokument ging es nur indirekt um Klimaprobleme oder Müll. Die „Agenda 21“ und
das darin postulierte Prinzip der Nachhaltigkeit von Zukunftsentscheidungen ist vielmehr ein
Forderungskatalog an die Zivilgesellschaft:
1) Zukunftsgerechte Lösungen gibt es nicht „von oben“. Auch wenn man sich innerhalb einer
wissenschaftlichen Disziplin, eines politischen Lagers, zwischen den Generationen darum
streitet: Recht zu haben hat niemand gepachtet. Nach diesem Modell hat eine Sache
mindestens drei Seiten: eine ökonomische, eine ökologische und eine sozial-kulturelle. Und
nur wenn die in Einklang zu bringen sind, kann von einer „nachhaltigen Entwicklung“
gesprochen werden. Schwere Zeiten für Missionare, Experten und Blockdenker.
2) Nachhaltige Entwicklung ist nicht von oben zu verordnen. Sollen Entscheidungen tragfähig
sein, sollen sie praktisch umgesetzt werden, müssen sie breite Akzeptanz finden, von
möglichst vielen getragen werden. Das werden sie nur, wenn möglichst viele daran
mitgewirkt haben. Sowohl aus dem Blickwinkel eines steigenden Individualismus als auch
aus dem einer erstarkenden Zivilgesellschaft ist jede und jeder dort gefragt, wo es um die
eigenen Lebensbedingungen geht. Für sein Leben und seine Bedürfnisse ist jeder Experte.
Das aber, heißt es auch in der Agenda 21 klar und deutlich, ist nicht einfach zu haben. Das
verlangt von jeder Gruppe, jedem Individuum ein hohes Maß an Kompetenzen, um
„mitreden“ zu können:
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
4
Man braucht ein Problembewusstsein, muss Informationen einholen, Wissen organisieren,
Komplexität reduzieren, vorausschauend denken, verschiedene Möglichkeiten einbeziehen,
sich eine Meinung bilden – über ein Problem reflektieren können.
Man muss interdisziplinär arbeiten können, Entscheidungs-Dilemmata aushalten können,
Kompromisse ertragen, sich verständigen und einigen können.
Man muss Bezüge herstellen können, über den Tellerrand gucken, kooperieren, vernetzen,
planen können.
Man muss abstrahieren können von eigenen Bedürfnissen, die Wirkung auf andere erkennen
und – solidarisch sein können.
Man muss sich und andere immer wieder motivieren können, auch wenn’s schwierig wird.
Man muss Ideen haben können, spinnen, kreativ sein, mutig sein, entscheidungsfreudig, und
fehlerfreundlich – man muss gestalten können.
Kurz: Man benötigt „Gestaltungskompetenz“ (Gerd de Haan).
Wissensgesellschaft
Diese Reihe von Anforderungen – die sicher nicht vollständig ist – entspricht im Übrigen so
ziemlich dem, was Bildungsexperten als adäquate Ausstattung für die sogenannte
Wissensgesellschaft ansehen.
Es wird nicht darum gehen, so prognostizieren sie, Wissen anzuhäufen, sich darüber zu
streiten, welches Wissen das richtige und welches das falsche ist, nicht darum, unentwegt zu
lernen und zu verlernen. Es geht darum, langfristiges Wissen von flüchtigem, nützliches von
unnötigem, gesichertes von spekulativem, interessegeleitetes von polyperspektivischem,
disziplinäres von interdisziplinärem, Expertenwissen von allgemein zugänglichem, veraltetes
von neuwertigem, handlungsleitendes von theoretisch-modellhaftem zu unterscheiden. Es
wird darauf ankommen, zu strukturieren, auszuwählen, zu verbinden, zu vergleichen, in
Relation zu setzen. Ein ganz altes, vergessenes Wort der emanzipatorischen
Erziehungswissenschaft fällt mir da ein:
Es gilt, Kritikfähigkeit zu schulen, bedeutetet doch Kritik = Krinein (griech.) „unterscheiden“.
Kerncurriculum
Ist das eine Vision? Oder gar eine Utopie? Gestaltungskompetenz hat man nicht einfach so.
Man muss sie erlangen, einüben, braucht dafür Voraussetzungen und Bedingungen. Und
darum bezeichnet die Agenda 21 Bildung als Schlüssel für die gemeinsame Lösung der
Zukunftsprobleme. Bildung, nicht Information, auch nicht Wissen, auch nicht Bewusstsein
oder guten Willen – Bildung als Oberbegriff, der verschiedene Qualitäten und Kompetenzen
erfasst. Diese Kompetenzen sind ganz unterschiedlich zu erlangen, in verschiedenen
Bildungszusammenhängen, mit verschiedenen Zugängen, Inhalten und Methoden.
Wenn Sie so wollen, haben wir damit eine Art Kerncurriculum. Dieses ist nicht einseitig
ökonomisch, politisch oder sozial bestimmt. Es kennzeichnet das „Handwerkszeug“, das
Erwachsene wie nachkommende Generationen benötigen, um selbst zu bestimmen, wo es
lang gehen soll. Es ist nicht normativ außer darin, dass Entscheidungen abgewogen sein
müssen und nicht einseitig die eine Generation über die nächste, die Verwaltung über die
Bürger, die Wissenschaft über die Politik, die Politik über den Umweltschutz oder die
westlichen Industrieländer über die sog. „Dritte Welt“ bestimmen. Um es mit einem
neudeutschen Wort zu belegen: „Cross-Over“ ist angesagt.
Die Jugend ist schon angekommen
So oder so ist die Jugend schon angekommen – irgendwie. Ob in der Verweigerung
etablierter Bildungsinstitutionen, in der Verballhornung traditioneller Symbole, in der
Enthaltsamkeit bei Vereinen und Wahlen oder in der Euphorie über digitale Welten – die
Suchbewegungen und Lebensexperimente der jungen Menschen sprechen Bände über
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
5
mögliche Alternativen. Problemlos ist offensichtlich das „Cross-Over“ von Lebenswelten,
Einstellungen und Interessen: Pfadfinderinnen, die Hipp-Hopp-Fans sind, Computerfreaks,
die helfen, den Schulgarten anzulegen oder die Kids inländisch-ausländischer Herkunft, die
Polizist werden wollen.
Herausforderungen ermöglichen
Jugendliche lieben Herausforderungen. Noch mehr lieben sie es, sie „gewinnbringend“ zu
meistern. Dabei passt es derzeit ins System, wenn sie dies tatsächlich ökonomisch
„umsetzen“. Der Begriff des „Unternehmergeistes“ hat auch in die bildungspolitische Debatte
Einkehr gehalten. Die Akteure der „New Economy“ gerieren sich wie Gründerpioniere des
ausgehenden 19. Jahrhunderts. Geschichten von 19-jährigen Schülern, die nebenher eine
Softwarefirma mit Angestelltenzahlen in zweistelliger Höhe und Millionenumsätzen betreiben,
geistern durch die Medien und begeistern diejenigen, die diese Kids als Beispiel einer Elite
und als Vorbilder sehen. Ich behaupte dagegen: Ob jemand mit 17 eine Softwarefirma
gründet oder auf der vorgestern angelaufenen Jugendmesse YOU vom Bungeeturm springt,
signalisiert mir strukturell das Selbe: Herausforderung, eigenes Erleben, Risiko.
Kriegt man das im Netz?
„Jedem Einzelnen wird in Zukunft abverlangt, in unternehmerischer Freiheit und
Verantwortung zu entscheiden, ob er Altes aufgibt und Neues aufnimmt. Dieser neue Typus
von Lebens- und Wissensunternehmern investiert nicht nur neue Kenntnisse und
Kompetenzen, sondern auch und vor allem in sich selbst. Kapitalisierung seiner Arbeitskraft,
seines Wissens und Vermögens,“ schrieb Daniel Dettling – noch keine 30 – im Tagesspiegel
letzter Woche. Und pries den scheinbar mühelosen Erwerb von Informationen, Wissen und
Zugangschancen durch das Internet: „Im Gegensatz zum Frontalunterricht bietet das Internet
eine individualisierbare Lernarbeit. Jeder lernt, so schnell er kann. Digitale Medien
ermöglichen es jedem, seinen eigenen Weg zum Lernen zu finden.“
Wirklich? Wir müssen aufpassen, dass das, was wirtschaftlich erwünscht ist, nicht zur
Maßgabe jugendlicher Lebensgestaltung gemacht wird, indem es die berechtigten
Bedürfnisse und Potentiale Jugendlicher aufnimmt und durch Medien und Jugendkultur zur
Norm erhebt. Die Vorstellung, man könne allein, aber kreativ und selbstbewusst vor der Kiste
sitzen und „nur das lernen, was interessiert und etwas bringt“ suggeriert, dass diese
Lernkultur voraussetzungslos zu haben sei und stellt schnell all diejenigen ins Abseits, die
das nicht schaffen.
Neue Medien
Ich möchte nicht mitverstanden werden – ich halte den Zugang zu den digitalen
Technologien für eine wesentliche Voraussetzung, gleiche Bildungschancen für möglichst
viele zu schaffen. Aber so, wie die Bibliothek allein noch keinen klug und der Fernseher
niemanden dumm macht, werden Computer und Internet so nützlich und schädlich sein, wie
man damit umgeht. Das aber will gelernt sein. Durch die flächendeckende Ausstattung mit
PCs in Bildungseinrichtungen und Schulen wird das Problem nicht gelöst. Die wichtigen
Investitionen kommen erst danach.
Damit meine ich nicht die Investitionen in die technische Fortbildung des Lehrpersonals, die
sicherlich auch erheblich sein müssen. Was wir brauchen, ist mehr Wissen über die
persönlichen Voraussetzungen für ein Lernen mit Neuen Medien. Wir brauchen mehr Wissen
über die Lernerfolge und über notwendige pädagogische Unterstützung. Die Vorstellung, mit
dem technischen Zugang könne man nun jedem Einzelnen die Verantwortung für seine
Bildung auflasten – möglichst lebenslang –, individualisiert und privatisiert soziale und
wirtschaftliche Probleme und entlastet nur scheinbar Politik und Gesellschaft von ihrer
Verpflichtung zur Steuerung und Problembewältigung.
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
6
Bildungsaufgabe
Gegen ein solches „Curriculums des Ertragenlernens“ (Bernhard Koring) setze ich ein
Curriculum der Gestaltungskompetenzen. Und dafür liegt der tatsächlichen Lernbedarf noch
vor uns allen. Vor allem auch vor den Pädagogen und vor den politischen Bildnern. Diese
müssen nun nicht mehr die Jugendlichen „da abholen, wo sie stehen“ (wie ein altes
Sozialpädagogenwort meint), um sie dann „dorthin zu bringen, wo sie nicht sein wollen“ (wie
die sarkastische Fortsetzung lautet), sondern sie müssen, um im Bild zu bleiben, gemeinsam
gehen.
Politische Jugendbildung
Politische Bildung hat das inzwischen in weiten Teilen begriffen. Notgedrungen. Denn in der
außerschulischen Bildung wird mit den Füßen abgestimmt. Sind die Angebote nicht attraktiv,
kommt keiner. Will man, das jemand kommt, muss man wissen, was interessiert. So einfach
ist das. Dabei ist der Trend eindeutig: Weg von dauerhaften Bindungen in Organisationen
und Parteien, weg von langfristigen Grundsatzdiskussionen, hin zu punktuellen Aktivitäten
und Aktionen um lebensweltliche, akute Anliegen. Bildungseinrichtungen machen sich zu
Anlaufstätten, die man nutzen kann für eigene Interessen und Aktivitäten, je nachdem, wie
man es gerade braucht. Konkret, lebensweltorientiert und kleinschrittig, ambulant, temporär,
abnehmerorientiert, gemeinwesenbezogen und in hohem Maß von der Selbsttätigkeit der
Beteiligten abhängig sind die Angebote. Rein kognitive und rein erfahrungsorientierte
Ansätze verfehlen die Komplexität. Geboten ist eine Kombination aus Wissen, Erfahrung und
persönlicher Begegnung.
Politische Bildner haben auch begriffen, dass Entgrenzung angesagt ist. Löste bisher mal
das Primat der Praxis das Primat der Experten ab, gelten jetzt Verschränkung, Austausch
und Verständigung als Meilensteine. Dazu gehört auch eine Entgrenzung der Disziplin.
Politische Bildung ist auch soziale, berufliche, kulturelle oder ökologische Bildung. Dabei ist
eine neue Kultur der Zusammenarbeit zu entdecken: Bildungsstätten werden
Koordinierungsorte für kommunale Agendaprozesse, Schulen zur Beratungsinstanz eines
Stadtteils, Jugendtreffs zu Schmieden jugendlicher Unternehmen.
Visionen
Und um auf den Titel dieser Veranstaltung zurück zu kommen: Die konkreten Visionen
sollten diejenigen haben, die sie noch leben können und müssen. Das beste, was wir tun
können, ist, ihnen zu helfen, Visionen entwickeln zu können, und dieses fair, solidarisch und
friedlich zu tun. „Teachers – leave your kids alone“ – so geht der Song von Pink Floyd weiter.
Bloß nicht! möchte man heute einwerfen. Unterstützen, ermöglichen, zeigen, sich reiben –
aber dann allein lassen. Im besten pädagogischen Sinne sich überflüssig machen und als
gleichberechtigte Partner neu begegnen. Das ist übrigens auch heute noch viel, viel
schwieriger, als zu sagen, wo es lang gehen soll.
Das ist gar keine Spezialaufgabe von Pädagogen. Das ist ein Gesellschaftsprojekt. Aber
keines, vor dem man kapitulieren und in alte Muster zurückfallen sollte. Glauben Sie mir, da
gibt es noch genug zu tun, bevor man sagen könnte, man sei mit einem solchen Projekt
gescheitert.
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
Herunterladen