Pressezentrum Dokument 4350 MA Sperrfrist: Freitag, 30. Mai 2003; 11:00 Uhr Veranstaltung: Treffpunkt Schwerhörige und Ertaubte Titel: Stress ist kein angemessener Umgang mit Belastung Referent/in: Dr. Werner Richtberg, Frankfurt am Main Ort: Messe Halle 14.2 Programm Seite: 339 Die Bedeutung der inneren Haltung bei der Kompensation von Störungen und Belastungen am Beispiel der Hörbehinderung Übersicht Der folgende Vortrag behandelt Fragen, die nicht allein die Situation Hörbehinderter betreffen. Auch andere Behinderte und Nicht-Behinderte werden sich in den vorgetragenen Einsichten wiederfinden und vielleicht Anleitungen zur Selbsthilfe beziehen. Ich hoffe, daß auch praktizierende Psychotherapeuten, Berater, Seelsorger u.a.m. von den mitgeteilten Erfahrungen profitieren können. Denn es geht um recht einfache und dennoch sehr wirkungsvolle Lebenshilfen. Ich spreche über die „Bedeutung der inneren Haltung als Kompensatorische Kraft“. Die Begrifflichkeiten des Themas werde ich an späterer Stelle erläutern. I. Das 3-Faktoren-Modell der Behinderung Wer Hörbehinderten helfen will, ob als Arzt, Psychotherapeut, Seelsorger oder Sozialarbeiter, muß stets dreierlei bedenken: 1. Den Faktor Krankheit, d.h., die der Behinderung zugrundeliegende medizinische Störung. In den meisten Fällen ist das eine hochgradige Schwerhörigkeit, vergleichsweise selten eine völlige Taubheit. Das therapeutische Fenster für medizinische Hilfen ist eng begrenzt. Sie betreffen vor allem Maßnahmen beim akuten Hörsturz sowie die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat. Bedeutungsvoller sind hörakustische Hilfen, die fast in jedem Fall in Betracht kommen. 2. ist der Faktor Soziales Umfeld zu bedenken. Darunter ist mehreres zu verstehen: einmal die gesetzlichen Rahmenbedingungen eines Staates zum Schutz, zur Förderung oder zur Gleichstellung von Behinderten. Ferner die öffentliche Toleranz oder die Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Behinderten in bestimmten Gemeinschaften, von denen es abhängt, ob sich ein behindertenfreundliches Klima in einer Gemeinschaft durchsetzen kann. Schließlich spielen die Nachsichten, Rücksichten und Unterstützungen eine Rolle, die ein Behinderter in seiner Familie oder an seinem Arbeitsplatz erfährt. All das hat Einfluß darauf, Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 wie leicht oder wie schwer ein Betroffener seine Behinderung empfindet oder wie erfolgreich er sein Leben als Behinderter bewältigen kann. Das alles ist heute nicht mein Thema. 3. ist der Faktor Person in die Planung und Gestaltung therapeutischer und rehabilitativer Hilfen für (Hör-) Behinderte einzubeziehen, genauer gesagt: die innere Haltung, mit der ein Betroffener sein Leiden trägt, von der es abhängt, ob er sein Leben als Behinderter im Alltag meistert, oder ob er von der Behinderung erdrückt wird. Der Begriff der inneren Haltung ist erläuterungsbedürftig, denn er ist in der Psychologie und Psychiatrie nicht geläufig. Ich verstehe darunter die authentische und akzeptierende Identifikation mit dem, was man tatsächlich ist und nicht mit dem, was man sein soll oder gerne sein möchte. Zu der inneren Haltung spiegeln sich alle persönlichen Selbstverständlichkeiten, die auch vom Zeitgeist mitgeprägt sind. Eine innere Haltung nimmt man ein, d.h., sie ist dem bewußten Wollen zugänglich. „Authentisch“ bedeutet, daß die innere Haltung der Idee des darzustellenden Wesens entspricht. Man könnte auch sagen, daß die Person mit ihrer Rolle quasi verschmolzen ist. Denken Sie z.B. an den Schauspieler auf der Bühne, der die Rolle des Liebhabers oder des Schurken spielt. Er wird sein Publikum nur dann überzeugen, wenn es ihm gelingt, sich in das Wesen, d.h. die typische Erlebniswelt und Erscheinungsweise eines Liebhabers oder eines Schurken hineinzuversetzen und so zu fühlen und zu agieren, wie es die fiktiven oder realen Gestalten tun, die hinter der Rolle stehen. Schauspieler berichten immer wieder, daß die eingenommene innere Haltung eine ansteckende, ja manchmal sogar eine typenbildende Kraft hat. Es kommt nicht selten vor, daß Schauspieler, einmal auf eine bestimmte Rolle festgelegt, diesem Klischee dauerhaft verhaftet bleiben. Ich möchte das Gemeinte noch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Die innere Haltung wird stark von unseren Ausdrucksbewegungen geformt und auch infiziert. Denken Sie z.B. an die Verbindung zwischen der inneren Haltung des Gehorsams und dem Strammstehen beim Militär oder in früheren Zeiten auch in der Schule. Oder denken Sie an die Wirkungen der andächtigen Gebetshaltung, des Hinkniens und Händefaltens, auf die intendierte gedankliche Hinwendung zu Gott. Es gibt herausgehobene innere Haltungen, die wir gemeinhin als Tugenden bezeichnen, die vor allem ein der Gemeinschaft oder dem Nächsten oder der Wahrheit verpflichtetes Verhalten intendieren. Auch darüber soll hier nicht gesprochen werden, obgleich diese Thematik einem Kirchentag gut zu Gesicht stünde. Mein Anliegen ist es, Ihnen deutlich zu machen, wie man die innere Haltung als Kompensationskraft nutzen kann. Was ist darunter zu verstehen? Der Begriff Kompensation spielt in der Medizin eine wichtige Rolle. Man versteht darunter allgemein den Ausgleich einer bestimmten Minderfunktion durch eine erhöhte Anstrengung und Leistung eines anderen Systems. Wenn z.B. bei großer körperlicher Anstrengung der Sauerstoffverbrauch des Organismus erhöht ist, steigert der Körper kompensatorisch die Atem- und Herzschlagfrequenz, so daß mehr Sauerstoff gesättigtes Blut an die Organe gelangt. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 Jede Behinderung ist als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen medizinischer Störung und Kompensation zu verstehen (vgl. Bochnik, 1999). Sie wissen z.B., daß Schwerhörige, Ertaubte und Gehörlose von der Nutzung des visuellen Sinnes erheblich profitieren. Der Blinde nutzt sein Gehör und seinen Tastsinn als Kompensationsorgan. Auf diese Weise wird die Behinderung verringert, ohne daß an der Störung etwas verändert wird. Alle Behinderte haben ein gemeinsames Kompensationsorgan. Das ist ihre Person und die durch sie gestaltete innere Haltung, mit der die Betroffenen ihre Behinderung annehmen, sie tragen und bewältigen. Auf diese Thematik will ich im folgenden näher eingehen. II. Begriffsanalysen: Streß – Belastung – Konflikt Streß (wer kennt heute dieses Wort nicht?) ist ein Markenzeichen des modernen Lebens. Streß beschreibt eine Reaktion des Organismus auf eine Veränderung von Umweltbedingungen, die eine Anpassungsleistung erfordern, um das verschobene innere Gleichgewicht wieder herzustellen. Was bei Streßreaktionen im Körper geschieht, weiß man heute recht genau: über das Nebennierenmark werden binnen Sekunden die Streßhormone Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, gleichzeitig werden andere Hormone gehemmt. Die hervorgerufene Wirkung im Körper bezeichnen wir als „Kampf-Flucht-Reaktion“. Diese Streßreaktion bereitet den Organismus auf eine antizipierte Belastung vor: das Herz schlägt schneller, die Fließgeschwindigkeit des Blutes wird erhöht, der Blutzuckerspiegel steigt, die Bronchien erweitern sich, die Verdauungsfunktionen werden gehemmt. Der Organismus stellt Energie bereit und versorgt die Muskeln verstärkt mit Nährstoffen. In den Wissenschaften gibt es eine Auffassung, die besagt, daß kurzzeitiger Streß, sogenannter „Eustreß“, sich positiv auf das Leistungsvermögen auswirkt, während chronischer Streß, sogenannter „Disstreß“, der von den Betroffenen oft gar nicht mehr wahrgenommen wird, eine krankmachende Wirkung habe. Wir wissen heute ferner, daß die streßauslösenden Bedingungen keine konstanten Größen sind. Vielmehr hängt die subjektive Streßantwort von den persönlichen Wahrnehmungen und Beurteilungen ab, insbesondere von der Angstinfizierung der Wahrnehmung in der erlebten Streßsituation. Je mehr eine Person über sogenannte Kontrollüberzeugungen verfügt, d.h. auf eine innere Haltung der Sicherheit, der Situationskontrolle und –bewältigung zurückgreifen kann, um so geringer wird die Streßreaktion ausfallen. Die erfolgreichste Kontrollüberzeugung im täglichen Leben ist die Gewißheit, den Dingen gewachsen zu sein, d.h. stärker zu sein als die Belastungen und Widrigkeiten, die zu bewältigen bzw. zu ertragen sind. Es ist jene innere Haltung, die hinter dem lateinischen Wappenspruch „Rebus fortior“ steht: Ich will stärker sein als die Umstände, in die mich das Leben stellt. Es hängt also von uns selbst ab, welche äußeren Belastungen als Streß wahrgenommen werden. Man ist heute weit von der Annahme entfernt, daß ein generell erhöhtes Niveau von Belastungen und Konflikten grundsätzlich für die Gesundheit schädlich sei. Ganz im Gegenteil: ein Leben ohne Belastungen und Konflikte wäre ein ödes, gleichförmiges, wenig attraktives Leben. Konflikte gehören zum Inventar menschlicher Existenzen. Sie lassen sich Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 nicht immer vermeiden oder umgehen. Es gibt Zeiten, in denen wir uns ihnen stellen und Entscheidungen treffen müssen. An der Bewältigung von Konflikten können wir als Person wachsen. Umgekehrt können Menschen an Konflikten zerbrechen, wenn sie entscheidungslos vor den Ungewißheiten verharren. Was versteht man unter einem Konflikt? Die Psychologie definiert Konflikt als eine Situation, in der zwei einander entgegengesetzte Kräfte von annähernd gleicher Stärke in einer Person gegeneinander wirken. Sie kennen vielleicht das Gleichnis von Buridans Esel, der zwischen zwei gleich großen Heuhaufen entscheidungslos verharrte und dabei verhungerte, weil er sich nicht für einen davon entscheiden konnte. Wenn wir im klinischen Alltag von Konflikten sprechen, denken wir vor allem an emotional belastende Entscheidungsunsicherheiten, die oft mit Wert- und Sinnzweifeln verknüpft sind. Es gibt Konflikte, die eine pathogene, d.h. krankmachende, Wirkung entfalten können. Sie betreffen vor allem solche Erlebnisse, bei denen elementare Bedürfnisse nach Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung, Liebe oder Vertrauen enttäuscht werden oder unerfüllt bleiben. Die Forschungen des Düsseldorfer Medizinsoziologen Johannes Siegrist zum Thema „Streß und Arbeitsleben“ besagen, daß gesundheitliche Risiken für den Einzelnen dann entstehen, wenn es zu einem Mißverhältnis zwischen dem persönlichen Einsatz im Berufsleben und der hierfür erhaltenen Anerkennung kommt. Je weniger die persönlichen Bemühungen des Einzelnen gewürdigt werden, desto eher gerät das seelische Gleichgewicht aus dem Lot. Nach dem sogenannten „Gratifikationsmodell“ von Siegrist umfaßt der Begriff Belohnung vier Formen der Anerkennung, nämlich: einen angemessenen Lohn, hinreichende persönliche Wertschätzung und Würdigung des persönlichen Engagements, Karriereaussichten und einen sicheren Arbeitsplatz Wissenschaftliche Ergebnisse besagen, daß gesundheitsgefährdender Streß vor allem unter zwei Bedingungen auftritt: bei einem Mangel an sozialer Anerkennung und Wertschätzung für eine geleistete Arbeit, bei zu wenig Handlungsspielraum und Eigenständigkeit. Konflikt ist nicht gleichbedeutend mit Belastung, obwohl beide zu den unvermeidlichen Begleitern unseres Lebens gehören. Eine selbstgewählte, innerlich bejahte Belastung kann ein Menschenleben zu großer Zufriedenheit und innerer Stimmigkeit führen, auch wenn damit körperliche und geistige Erschöpfungen verbunden sind. Eine Belastung wird erst dann zur erdrückenden Last, wenn die übernommenen Aufgaben und Pflichten die individuelle Tragfähigkeit überschreiten. Ein Leidensdruck entsteht dann, wenn die Belastungen, die zu bewältigen oder zu ertragen sind, die individuelle Belastbarkeit übersteigen. Dabei kann ein derartiges Ungleichgewicht oft über längere Zeit erfolgreich kompensiert werden. Dies gelingt vor allem dann, wenn hinter der Belastung ein positiver Wert oder Sinn erkannt wird, mit dem man sich uneingeschränkt identifizieren kann. Ein Beispiel dafür ist die berufstätige Mutter, die ihre Mutterschaft wie ihren Beruf liebt und dabei bereit ist, Belastungen bis an den Rand der Erschöpfung auf sich zu nehmen. Zu einem psychischen Zusammenbruch kommt es bei diesen Konstellationen eher selten, da die auferlegten Belastungen keinen Leidensdruck erzeugen. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 Die Überzeugung, etwas Sinnvolles oder Notwendiges zu tun, einem guten Zweck zu dienen oder der Ethik des Gewissens oder des Glaubens zu folgen, versetzt Menschen in die Lage, überragende Kräfte zu mobilisieren und Leistungen zu vollbringen, unter denen sie in einem anderen Kontext vermutlich schnell zusammenbrechen würden. Wir haben also gelernt, daß Streß, Konflikte und Belastungen uns nicht zwangsläufig krank machen. Die Erfahrung zeigt vielmehr, daß Menschen an der Bewältigung schicksalhafter Belastungen und Konflikte wachsen und reifen können. Dies gilt auch für den Umgang mit Krankheiten und Behinderungen sowie mit Entscheidungskrisen an Wendepunkten des Lebens. Sie können uns unsere Grenzen, aber auch unsere persönlichen Freiräume verdeutlichen. Schlimmstenfalls können sie uns noch die Chance geben, das Ertragen von Schmerzen, Leid, Unsicherheit, Enttäuschung oder Kränkung zu üben. Die so gewonnene Fähigkeit, die man Streßkompetenz, Frustrationstoleranz, Gelassenheit oder auch die innere Haltung „Rebus fortior“ nennen mag, wird im Alltag benötigt. Wir sehen das z.B. an den Biographien der Menschen, die im Leben gescheitert und in der Sackgasse einer Sucht gelandet sind. Viele von ihnen haben in ihrer Kindheit und Jugend das Ertragen und Bewältigen von Frustrationen oder Konflikten niemals richtig gelernt. Sie wurden von ihren Erziehern entlastet, geschont und geschützt in der wohlmeinenden Absicht, ihnen dadurch eine heile Umwelt zu schaffen. Leider ist dieser Weg meistens der falsche. Die Verwirklichung einer gänzlich konfliktfreien kindlichen Umwelt ist nicht wünschenswert, weil sie dem jungen Menschen Entwicklungsmöglichkeiten vorenthält. Kürzlich las ich, ohne mir die entsprechende Quelle zu notieren, folgende Verszeilen: Leben ohne Schatten ist Leben ohne Sonne. Wer nie im Dunkeln saß, beachtet kaum das Licht. Leben ohne Tränen ist Leben ohne Lachen. Wer nie verzweifelt war, bemerkt das Glück oft nicht. Glück, dieser Allerweltsbegriff, ist gar nicht so leicht inhaltlich zu bestimmen. Einig sind sich die Menschen nur darin, daß Glück ein erstrebenswertes Gut ist, das man sich zu Geburtstagen oder Jahreswechseln gegenseitig wünscht, damit das Leben einen guten, erfolgreichen Verlauf nehmen möge. Wir unterstellen damit, daß Glück sich außerhalb unserer Willensbeeinflussung erfüllt, daß es eine schicksalhafte Größe sei, die einem geschenkt oder vorenthalten wird. Ich glaube, daß dies ein Irrtum ist. Glück ist nicht waltendes Schicksal, und es wird uns im Leben auch selten geschenkt. Richtig ist, daß jeder Mensch einen entscheidenden Beitrag dazu leisten kann, ob er sich glücklich fühlt oder nicht. In den meisten Fällen verwirklicht sich Glück in der Gestaltung einer bestimmten Lebensrolle. Für viele Menschen ist das z.B. die bewußte Entscheidung für die Rolle als Ehemann, Ehefrau, Vater oder Mutter. Allein dieses Glück kann so überragend stark sein, daß es ein gleichzeitiges Unglück neutralisieren kann. So kann z.B. die in der Ehe desillusionierte Ehefrau ihr Lebensglück in der voll ausgelebten Mutterrolle finden. Oder der in der Ehe enttäuschte Ehemann realisiert sein Lebensglück allein in der Berufsrolle. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 Die beiden Beispiele weisen uns auf einen wichtigen Sachverhalt hin: zum Glück gehört das Verzichten. Wer seine Ansprüche zu hoch stellt, wird am Ende enttäuscht sein. Wer zu viel will, verfehlt das Glück, weil ihm die unerfüllten Wünsche dann keine Ruhe geben. Daß das wahre Glück nicht das volle, uneingeschränkte Glück ist, hat Friedrich Schiller in seiner Ballade „Der Ring des Polykrates“ zum Ausdruck gebracht. Die letzten Verszeilen lauten: Drum, willst Du Dich vor Leid bewahren, So flehe zu den Unsichtbaren, Dass sie zum Glück den Schmerz verleihn. Noch keinen sah ich fröhlich enden, Auf den mit immer vollen Händen Die Götter ihre Gaben streun. Glück braucht Einschränkung, braucht auch Demut. Klingt das nicht paradox? Es wäre tatsächlich paradox, wenn man Demut als eine bloß dienende Tugend mißverstehen würde, vergleichbar etwa mit Bescheidenheit, Fleiß oder Geduld. Dabei haben diese Haltungen oder Tugenden der menschlichen Gemeinschaft noch nie geschadet. Wenn man nur auf das schaut, was Menschen im Leben voran bringt und was ihren Erfolg im Wettbewerb mit anderen beflügelt, wird man allerdings an Demut zu allerletzt denken. Wenn man jedoch seinen Blick darauf richtet, wie Menschen sich in einer Beziehung bewähren und ihr Glück finden, ohne den Partner oder Mitmenschen in dessen Glück einzuengen, dann wird man in der Haltung der Demut eine bedeutsame menschliche Ressource erkennen. Demut befähigt uns dazu, die Festlegungen und Begrenzungen, die uns im Leben, z.B. durch eine Behinderung, auferlegt sind, bewußt und sinngebend zu akzeptieren. Zu diesen schicksalhaften Festlegungen, die anzunehmen sind, um nicht daran zu zerbrechen, zählt neben Unglücken, Krankheiten und Verlusten nicht zuletzt auch die eigene biologische Endlichkeit. Demut verträgt viele Lebensfreuden dank der ihr innewohnenden Fähigkeit, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Von daher ist Demut der Gegenpol zu Hochmut und Stolz. Demut ist auch ein Ausdruck von Lebensklugheit, weil sie uns die Augen nicht verschließen läßt vor den sonst gerne verdrängten unerfreulichen Zwangsläufigkeiten, von denen wir aber doch irgendwann wieder eingeholt werden. Zu den eher bitteren Erfahrungen im Leben, bei denen sich die innere Haltung der Demut bewähren kann, zählen menschliche Verluste. Wir verlieren Menschen durch Tod, Trennung, Feindschaft oder auch nur, wenn sie aus unserer emotionalen Nähe rücken, weil das Vertrauen aus der Beziehung gewichen ist. Eine spezifische Entwicklungsform im Verlauf von mitmenschlichen Verlusten ist die Vereinsamung. Der Philosoph Gadamer (1983) nannte sie ein „Symptom der Selbstentfremdung“. Unsere Umgangssprache kennt Redewendungen, wie „Einsam und verlassen“, aus denen leidvolle Resignation und Verbitterung sprechen. Ich weiß, daß viele Hörbehinderte sich damit identifizieren können. Ihre Einsamkeit rührt daher, daß sie der mitmenschlichen Nähe einer Gemeinschaft entrückt worden sind, der sie früher einmal wie selbstverständlich zugehört hatten. In diesen Gemeinschaften, sei es ein Freundeskreis, die Kollegenschaft am Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 7 Arbeitsplatz oder die eigene Familie, hatte man einst seinen akzeptierten Platz, der einem ein Gefühl der Zugehörigkeit und des menschlichen Aufgehobenseins schenkte. Das Driften in die Einsamkeit verbinden viele Menschen mit einem Gefühl des Fallen-gelassen-Werdens. Die Wege in die Einsamkeit sind vielfältig. Eine sehr moderne Form verbinden wir mit dem Begriff "Mobbing“, das den sozial Ausgesonderten zu einem Opfer der Willkür derjenigen macht, die eine größere Macht oder eine höher bewertete soziale Attraktivität besitzen. Sie sind meist jünger und gelten als flexibler, was immer das heißen mag. Jedenfalls haben sie in dem heute so gefühlskalten Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt die besseren Karten. Mobbing-Opfer sind nicht in erster Linie die Menschen, die weniger leisten, sondern die im sozialen Umgang als schwierig gelten, z.B. weil die Kommunikation mit ihnen erschwert ist. Sie sind in besonderer Weise für derartige soziale Aussonderungen aus der Gemeinschaft gefährdet. Man muß den Mitmenschen, die bei Hörgeschädigten zu solchen Entwicklungen beitragen, gar nicht mal immer böse Absichten unterstellen. Oft stehen nur Gedankenlosigkeit oder Bequemlichkeit dahinter. Man registriert mit der Schwierigkeit der Verständigung die eigene genervte Ungeduld und zieht sich irgendwann innerlich und dann auch äußerlich von dem betreffenden Mitarbeiter zurück. Zurück bleibt dann der Hörbehinderte, der sich fallen gelassen fühlt. Einsamkeit kann leidvollen Verlust bedeuten, sie kann aber auch das Ergebnis einer bewußten Entscheidung sein, wenn nämlich keine Kontaktbedürfnisse (mehr) vorhanden sind. Der Eremit genügt sich selbst. Geistige Interessen und Aktivitäten finden oft ihre höchste Entfaltung unter sozialer Abstinenz und Enthaltsamkeit. Die Einsamkeit des Forschers, des Betenden oder religiösen Gottsuchers entspricht in keiner Weise der Vereinsamung derer, die von der Gemeinschaft ausgesondert wurden. „Vereinsamung wird erlitten, in der Einsamkeit wird etwas gesucht“, schreibt Gadamer. Die Vereinsamungssituation bei Schwerhörigen bedeutet Entfremdung von einer einstmals vertrauten Gemeinschaft, die nun ihre tragende Glaubwürdigkeit verloren hat. Manche der Betroffenen finden Ersatz in neuen Gemeinschaften, wofür die Vereine und Selbsthilfegruppen dankenswerte Arbeit leisten. Manchmal bleibt nur der Rückzug in die Privatheit seiner selbst, der gelingen kann, wenn das Allein-sein-Können geübt und kultiviert wurde, und wenn es einem genügt, sich selbst ein guter Freund zu sein. Wer mit sich selbst versöhnt ist, der findet in der Einsamkeit die Ruhe des Herzens. Wer jedoch der inneren Begegnung mit sich selbst ausweicht und darüber den Kontakt zu sich selbst verliert, der spürt in der Einsamkeit nichts anderes als den quälenden „eisigen Atem des Alleinsseins“ (Nietzsche). Schon wegen der Zerbrechlichkeit und Endlichkeit jedes Lebens bleiben menschliche Verluste niemandem erspart. Verluste nehmen uns etwas weg und sie bereichern uns. Das klingt paradox. Hermann Hesse hat diese Paradoxie mit der poetischen Metapher „In jedem Abschied liegt ein Neubeginn“ aufgelöst. Eine versöhnliche und ermutigende Botschaft. Da Verluste zwangsläufig zum Leben gehören, erscheint es sinnvoll, die Menschen frühzeitig in der Erziehung an diese Erfahrung heranzuführen. Für das heranwachsende Kind kann das z.B. mit der Erfahrung verknüpft werden, daß man im Leben nicht alles haben kann, was Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 8 man begehrt. Viele Jugendliche müssen sich heute damit abfinden, daß man nicht alles werden kann, was man sich wünscht. Die Erfahrung von der Begrenztheit der eigenen Spielräume bleibt auch keinem Behinderten vorenthalten. Dabei ist es notwendig, diese Erfahrung zu realisieren, wobei es nicht immer leicht fällt, die Grenzen des persönlichen Werdens und Wollens zu erkennen und zu akzeptieren. III. Kompensatorische Psychotherapie Jedes Therapiekonzept betrifft immer gleichzeitig Störungsminderung und Kompensationsverbesserung. Dabei gilt es, die Last der Störung zu verkleinern und die Kraft zur Bewältigung zu vergrößern. Dieser therapeutische Abwägungs- und Handlungsprozeß läßt sich an einzelnen Proportionen modellhaft verdeutlichen. Stellen Sie sich diese Proportionen immer als Waage mit zwei Waagschalen vor, die auszutarieren sind. 1. Die Proportion „Tragfähigkeit zu Belastung“ Ist die Belastung eines Menschen größer als seine Tragfähigkeit, so wird er auf Dauer von seiner Last erdrückt werden und gesundheitlichen Schaden davontragen. Ist die Belastung kleiner als die Tragfähigkeit, resultiert häufig eine Unterforderung, die auf Dauer zu Unzufriedenheit und innerer Leere führt. Beide Ungleichgewichte richten sich gegen die Person. Für die Abschätzung der Tragfähigkeit eines Patienten ist die Exploration zu seiner Lebensgeschichte sowie zur Primärpersönlichkeit aufschlußreich. In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen im Gespräch mit dem Patienten zu klären: Wie hat der Patient in seinem früheren Leben reagiert, wenn körperliche oder seelische Belastung auf ihn einwirkten? Welche Belastungen hat er bisher gehabt? Verlief sein bisheriges Leben eher beschützt und geschont oder gefordert? Welche Belastungen wirken aktuell auf ihn ein? Welche innere Stützen hat der Patient? (Solche inneren Stützen können sein: Disziplin, Willensstärke, vorhandene Freiheitsmöglichkeiten) Welche äußeren Stützen sind vorhanden? Hier ist auf mögliche Ambivalenzen zu achten. Z.B. kann eine überprotektive Ehefrau stützend die Alltagsbewältigung erleichtern und zugleich in einer belastenden Weise ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstbestimmung bilden. Gleiches gilt auch für die Berufstätigkeit. Sie kann seelische Stütze wie Belastung sein. Eine eher geringe Tragfähigkeit findet man bei Menschen, die unter chronischer Konfliktbelastung stehen, bei denen Komorbiditäten bestehen oder die mit einem schwachen und brüchigen Willen ausgestattet sind. Eine eher große Tragfähigkeit kann man vermuten, wenn die betreffende Person mit Antriebsreichtum, Willensstärke, großer Selbstdisziplin ausgestattet ist und über ein breites Spektrum von Bewältigungsstrategien und Kontrollüberzeugungen verfügt. Belastung ist alles, was die persönliche Entwicklung einengt und ein Leiden vergrößert. Bestimmte psychische Krankheiten können eine Filterfunktion für Belastung haben. Z.B. kann eine Depression wie ein Verstärker für vorhandene Belastungen wirken Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 9 (Katastrophisierungstendenz), sie kann aber auch im Zustand der Hoffnungslosigkeit wie eine Anästhesie wirken. Kompensatorische Psychotherapie zielt auf Stärkung der Tragfähigkeit Verminderung der Belastungen. Die Proportion „Leidensdruck zu Leidensgewinn“ Leidensdruck wird verursacht durch Schmerzen, Angst, Trauer, Hilflosigkeit, Einsamkeit u.a.m. Leidensgewinn entsteht durch vermehrte Rücksicht, Nachsicht und Schonung Entlastung von Pflichten und Verantwortung vermehrte Pflege und Versorgung Entschuldigung für Schwächen und Nachlässigkeiten („Behindertenbonus“) Gewährung von Fremdhilfen Die negative Seite von Leidensgewinn liegt in der Gefahr, Selbständigkeit zu verlieren und in seinen menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten zu verarmen. Kompensatorische Psychotherapie zielt darauf, der Passivität in der Leidenshaltung die Aktivität der Leidensgestaltung entgegenzusetzen. Oder: die Überwältigung vom Leiden in Bewältigung des Leidens umzuwandeln. Die Proportion „Angemessene Resignation zu Leidensauflehnung“ Resignation bedeutet eine unerwünschte, therapiefeindliche Reaktion, sofern sie auf Selbstaufgabe, passive Leidensauslieferung und Rückzug von zumutbaren Pflichten hinausläuft. Dem ist auf jeden Fall entgegenzuwirken. Leidensauflehnung ist anzustreben, damit der Patient sein Leiden als Herausforderung zu neuen Anstrengungen begreift, um nicht von ihm erdrückt zu werden. Beides hat seine Kehrseite. Angemessene Resignation ist oft ein notwendiger Schritt zur Krankheitsbewältigung, da sie vor Überforderung und vor irrealen Lebensplanungen schützt. Wichtig ist eine ehrliche Bilanz, die dem Patienten zeigt, welche Aufgaben und Ziele aufgrund seiner Behinderung unerreichbar geworden sind. Die Haltung der angemessenen Resignation als Wegbereiter zum Glück hat Hermann Hesse in seinem Gedicht „Glück“ angedeutet: Solang Du nach dem Glücke jagst, Bist Du nicht reif zum Glücklichsein, Und wäre alles Liebste dein. Solang du um Verlornes klagst Und Ziele hast und rastlos bist, Weißt du noch nicht, was Friede ist. Erst wenn du jedem Wunsch entsagst, Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst, Das Glück nicht mehr mit Namen nennst, Dann reicht dir des Geschehens Flut Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 10 Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht. Angemessene Resignation ist oft ein schmerzlicher Akt der Selbsterkenntnis. Sie ist aber bei fast allen chronisch verlaufenden Erkrankungen, Behinderungen und auch bei normalen Altersentwicklungen notwendig. Sie zielt auf das Erkennen und Anerkennen der persönlichen Grenzen (Remanenz). Sie zielt auf die Selbstannahme als Behinderter, als chronisch Kranker oder als altgewordener Mensch. Angemessene Resignation schützt vor Selbstmitleid, welches eine leidenskonservierende Wirkung hat. Angemessene Resignation beinhaltet einen Verzicht auf nicht mehr leistbare Lebensentfaltungen, um sich vor Überforderung, vor Enttäuschungen, Kränkungen und Versagen zu schützen. Auch Leidensauflehnung hat eine Kehrseite: wer sein Leiden (seine Behinderung, sein Alter) nicht wahrhaben will, wer so tut als ob . . ., wer sein Wollen über sein Können stellt und hinter unerreichbar gewordenen Zielen herläuft, der macht sich zum Narren des Glücks und hat sich Unglück zum Lebensbegleiter gewählt. Die Proportion „Können zu Wollen“ In diesem Zusammenhang sind folgende Fragen mit dem Patienten zu klären: Wie realistisch sind seine Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft, die er anstrebt? Welche Wünsche sind irreal, welche sind erkennbar gefährlich? Irreale Glückserwartungen fördern eine Haltung, die wir als das „Pechvogel-Syndrom“ bezeichnen. Für diese Patienten ist das Glück immer dort, wo man selbst nicht ist. Die Neigung zum Schwarz-Weiß-Sehen fördert die Entstehung von Depressionen. Die Überforderung, die bei einem Ungleichgewicht von Können und Wollen eintritt, fördert sogenannte dysfunktionale Kognitionen, wie wir sie vor allem bei depressiven Patienten sehen: „Ich bin nichts wert, ich mache alles falsch, ich schaffe es nicht mehr. . .“ Die Proportion „Können zu Sollen“ Folgende Fragen sind in diesem Zusammenhang anzusprechen und zu klären: Bin ich dem gewachsen, was zu erledigen ist? Wo kann ich Ballast abwerfen? Wo habe ich noch nicht erschlossene Ressourcen? Wichtig: Über- und Unterforderung sind gleichermaßen verhängnisvoll. Überforderung mündet in die Erschöpfung, Unterforderung mündet in die innere Leere. Die Proportion „Demut zu Auflehnung“ Demut, darauf wies ich bereits hin, kennen wir als eine christliche Haltung aus dem Buch Hiob: "Der HERR hat’s gegeben, der HERR hat’s genommen; der Name des HERRN sei gelobt!“. Die Haltung der Demut kann helfen, Schicksalsschlägen einen Sinn zu verleihen und auf diese Weise ihre Akzeptanz zu erleichtern. Demut bedeutet Annehmen ohne mit dem Schicksal zu hadern. Im Grunde ist Demut eine überhöhte Form von angemessener Resignation. Nietzsche bezeichnete diese Haltung „Amor fati“, d.h. Liebe zu seinem Schicksal. Demut fördert den inneren Frieden, ein Versöhntsein mit sich und seinem Schicksal. Demut ist auch eine Erkenntnishaltung, die die Einsicht beinhaltet: „So wichtig bin ich nicht“. Demut ist nicht zu verwechseln mit Unterwerfung. Man kann Demut mit aufrechtem Haupt tragen, wie uns das die Märtyrer vorgemacht haben, deren Vorbild der Kreuzestod Christi war. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 11 Wenn es gelingt, dem Leiden einen Sinn zu geben, gelingt es auch leichter, an das normale Leben wieder anzuknüpfen. Der Arzt und Psychotherapeut Victor Frankl hat mit der von ihm begründeten „Logotherapie“ dieser Haltung ein theoretisches Konzept geliefert. In seinen Büchern und Vorträgen hat Victor Frankl immer wieder daraufhin gewiesen, wie es ihm dank dieser Haltung, dem aktuellen Leiden einen Sinn zu geben, gelungen ist, im Konzentrationslager zu überleben. Ein Leiden, das wir als sinnlos und ausweglos empfinden, macht in viel größerem Maße hilflos und verzweifelt. Das extreme Gegenteil von Demut ist die narzißtisch-egozentrische Protesthaltung, die das eigene Sein und das eigene Wollen zum Maß aller Dinge erhebt. Jeder Schicksalsschlag wird als Zumutung empfunden und ruft sofort Protest und Auflehnung hervor. Das ständige Hadern mit dem Schicksal bewirkt durch das innere Aufschaukeln eine Vergrößerung des Leidensdrucks. Die Proportion „Hoffnungen zu Befürchtungen“ Hoffnungen sind Spiegelungen unserer Wünsche, Befürchtungen sind die Spiegelungen unserer Sorgen. Hoffnungen können Lebensmut und neue Kräfte freisetzen. Befürchtungen lähmen uns und verzerren die Wahrnehmung. Der Hoffnungslose unterschätzt seine Kraft, das Schicksal ertragen und bewältigen zu können. Die Folge ist Mutlosigkeit. Kompensatorische Psychotherapie zielt darauf, sogenannte Kontrollüberzeugungen aufzubauen. Diese dienen der Überwindung von Mutlosigkeit und der Etablierung einer inneren Haltung, den Dingen gewachsen zu sein („Rebus fortior“). Die Proportion „Eigenantrieb zu Fremdantrieb“ Der Eigenantrieb ist unser biologisches Kraftreservoir, das im Laufe des Lebens starken Veränderungen unterworfen ist. Besonders im Alter schrumpft der Eigenantrieb. Fremdantrieb ist die Aktivierbarkeit von außen, z.B. durch Aufgaben und Pflichten. Das Eingebundensein in Fremdantriebe wirkt sich für die meisten Menschen günstig aus. Eigenantriebe haben gegenüber den Fremdantrieben eine natürliche Schwäche: sie sind leichter störbar. Vor allem Depressionen führen fast immer zu gravierenden Antriebsminderungen. Aktivitäten, die über Fremdantrieb gesteuert werden, gelingen fast immer sehr viel länger (z.B. die Pflichten in Familie und Beruf), während kreative Aktivitäten schneller verkümmern. Die Proportion „Gestaltete Zeit zu Leerer Zeit“ Gestaltete Zeit entscheidet über Lebensfreude und Zufriedenheit. Wir verstehen darunter Zeiten, die durch Aktivitäten oder soziale Kontakte ausgefüllt sind. Leere Zeit fördert ein Sich-treiben-Lassen („Die Wüsten wachsen“). Hier ist auf den klinisch bedeutsamen Zusammenhang zwischen Inaktivität (Leere Zeit) und Depression hinzuweisen. Deshalb spielen in der Depressionsbehandlung sogenannte Aktivierungspläne eine ganz wichtige Rolle. Aber auch einsame Zeiten können Erfüllung bedeuten, während gemeinsame Zeiten als öde und leer erlebt werden können. Hierzu ein Zitat von Kästner: „Am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit“. Einsamkeit ist immer eine bewertungsabhängige Kategorie. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 12 Schlußbemerkung: Was ich Ihnen mitteilen wollte, ist folgendes: Jede Behinderung läßt sich als Interaktion von krankheitsbedingten Störungen und kompensierenden (oder auch dekompensierenden) Kräften der tragenden Person auffassen. Das Ausmaß einer Behinderung hängt nicht allein von dem objektiven Verlust einer Körperoder Sinnesfunktion ab, sondern ganz wesentlich davon, wie sich die betroffene Person zur Störung verhält, was sie mit und aus der Störung macht, und wie weit sie sich Freiräume schafft und bewahrt, die ein weitgehend aktives Leben ermöglichen. Eine ganzheitliche Therapie zielt auf Störungsminderung und Kompensationsverbesserung in allen zugänglichen Bereichen. In dem vorangegangenen Vortrag wurde die Kompensierende Kraft der inneren Haltung verdeutlicht. Wie man das therapeutisch realisieren kann, wurde an einzelnen therapieleitenden Propositionen aufgezeigt. Literatur Bochnik, H.J.: Personenorientierte Diagnostik und Begutachtung. Urban & Fischer, München-Jena 1999 Frankl, V.E.: Der Mensch auf der Suche nach Sinn. – Zur Rehumanisierung der Psychotherapie. Herder, Freiburg – Basel – Wien 1973 Frankl, V.E.: Ärztliche Seelsorge. – Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Kindler, München 1975 Gadamer, H.-G.: Vereinsamung als Symptom der Selbstentfremdung. In: Lob der Theorie, Reden und Aufsätze (S. 123 – 138). Suhrkamp, Frankfurt 1983 Nietzsche, F.: Also sprach Zarathustra, Band I, (S. 586) München und Wien 1978 Richtberg, W.: Was schwerhörig sein bedeutet. – Schriftenreihe für den HNO-Arzt Kind, Großburgwedel 1990 Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.