Pressezentrum Dokument: Sperrfrist: Samstag, 16. Juni 2001; 16:15 Uhr Programmbereich: Themenbereich 1: In Vielfalt glauben Veranstaltung: Pilgerweg heilsamer Aufbruch Referent/in: Bischöfin Dr. Margot Käßmann, Hannover Ort: Grüneburgplatz (Universität) 1/157 PF Unter Gottes freiem Himmel Liturgisches Schlussfest Liebe Pilgergemeinde, unter freiem Himmel stehen wir hier. Gottes freier Himmel, der uns die Weite des Raumes zeigt, in den wir gestellt sind. Auf dem Weg hierher haben wir manche Trauer erpilgert. Die Wunden der Geschichte am Börneplatz, das jüdische Leben in dieser Stadt Frankfurt, das total vernichtet wurde. Eine lebendige Kultur, Menschen, die dieses Land, diese Stadt bereichert haben und vernichtet wurden um einer Menschen verachtenden Ideologie willen. Wir haben gefragt nach Zivilcourage und Toleranz in unserem Land, einem Land, in dem Menschen verfolgt werden, weil sie nicht aussehen wie andere, sondern Gottes Ebenbild sind auf eben ganz andere Weise. Menschen, die ausgegrenzt werden, weil sie nicht sind wie...ja, wie wer denn? Wir haben gesehen, wo Frauen leben, die Sklavinnen sind einer Industrie, die 12 Milliarden DM pro Jahr allein in Deutschland verdient. Eine Industrie, die mit der Ware Frau, oder – schlimmer noch, falls es da Steigerungen gibt – mit der Ware Kind handelt. Eine Industrie, die Sexualität zum Geschäft macht. Dieser Pilgerweg hat uns gezeigt, wie Menschen ins Abseits geraten können, wenn sie von Krankheit gezeichnet sind, wenn sie aus der Mitte des Lebens an den Rand geraten. Menschen am Rande, die zerstörende Kompetenz von Menschen. Gewalt, Missbrauch, Krankheit! Und das alles unter Gottes freiem Himmel? Da möchte mancher von uns verzagen, wir sehen nur noch Gewalt, wir sehen nur noch Lieblosigkeit, wir sehen nur noch Hass und Ausgrenzung. Dann wird die Welt klein und eng und beängstigend. Dann macht es Angst, Mensch zu sein auf dieser Welt. Dann sehen wir keine Auswege mehr, keine Wege nach vorn. Aber wir stehen unter Gottes freiem Himmel. Die Weite des Raums, auf die uns dieser Kirchentag weist, sie ist Gottes Weite. Und Gottes Weite wird auch deutlich in dem Bibeltext, der uns an diesem Tag begleitet hat. Fulbert Steffensky hat mit diesem Bibeltext und einer Bibelarbeit den Tag eingeleitet, wir wollen ihn nach den Eindrücken des Tages bedenken. Wir haben gehört von der blutflüssigen Frau, von dem Synagogenvorsteher Jairus und seiner Tochter. Eine Frau wurde geheilt durch die Berührung des Gewandes Jesu, ein Mädchen wurde vom Tode errettet, weil der Vater glaubte, dass Jesus Heil und Heilung bringt. Der Bibeltext hat uns über diesen Tag begleitet, und er ist ein Text der Hoffnung. Er führt uns aus dem Grauen des Alltags, aus den Tiefen und Mühen unserer Ebenen im Alltag hinaus in den freien Himmel. Liebe Gemeinde, die berühmte blutflüssige Frau, deren Namen Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 wir – wie so oft – nicht kennen, sie ist ein Sinnbild für alle Erniedrigten. Sie war nicht wie die anderen. Sie war ausgegrenzt wie eine Jüdin in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches. Sie war makelhaft wie eine Frau ohne Kinder in vielen Kulturen bis heute. Sie war aussätzig wie eine Frau heute, die nicht den Maßen der Fit- und Fungesellschaft entspricht. Eine Außenseiterin, abseits der Norm. Eine Notsituation, die sie an den Rand ihrer Kraft, an den Rand der Lebensmöglichkeiten bringt. Kein Ausweg. Eine Frau außerhalb der von anderen bestimmten Normalität. Ja, das könnte jede Frau heute sein, wie wir sie getroffen haben. Eine schwarze Frau in unserer Gesellschaft. Eine Prostituierte, die weder Krankenversicherung noch Sozialversicherung besitzt. Eine alleinerziehende Mutter, die auf Sozialhilfe angewiesen ist und verschämt ihre Armut verdeckt, bis hin zur Schuldenfalle. Sie rührt Jesus an, und Jesus ist von ihr angerührt. Jesus sieht in dieser Frau Gottes Ebenbild. Sie ist nicht irgendwer, nein, sie ist Gottes Ebenbild. Sie ist jemand. Sie ist eine Angesehene, weil Jesus sie ansieht. Liebe Gemeinde, wenn wir in jedem Menschen Gottes Ebenbild entdecken würden! In der Prostituierten, in der Flüchtlingsfrau, natürlich auch in dem Flüchtlingsmann. In den Kindern, die nicht wissen, wo sie das Perspektiven finden sollen. In den versteckten Armen unter den Alten in unserer Gesellschaft. Wenn sie uns anrühren könnten, wie Jesus sich anrühren lässt, wir wären auf dem Weg in eine solidarische Gesellschaft. Wir könnten den freien Himmel sehen und jauchzen und miteinander einen Tanz wagen aus Freude über das Leben, das Gott uns schenkt. Ja, wir könnten all die Erniedrigten aus ihren Verstecken herausholen, aus der Ausgrenzung, aus der Abgrenzung, aus der Diffamierung heraus in die Freiheit des großen Himmels Gottes, unter dem wir feiern können. Und das kleine Mädchen im Bibeltext für den heutigen Tag? Sie war tot. Der Tod des Sohnes, der Tochter ist vielleicht das Grausamste, was Eltern geschehen kann. Wenn ein Kind stirbt, dann ist das wie ein vorzeitiger Tod der Eltern selbst. Es ist eine umgekehrte Reihenfolge. Ein Kind soll doch leben, es soll doch Zukunft haben. Wir haben in unserer Gesellschaft erbärmliche Angst vor dem Tod. Wir schotten ihn ab in Krankenhäuser, in vermeintlich klinisch saubere Bereiche. Bloß nicht über das Sterben reden. Und wenn es denn kommt, dann bitte schnelle Hilfe, schnelle Pille, zack und weg. Ja, seit am 10. April die Niederlande aktive Sterbehilfe legalisiert haben, da ertönt auch in Deutschland der Ruf: Todespille her! Wir haben erbärmliche Angst vor dem Tod. Und da wird in den Niederlanden sogar zugelassen, dass 12-Jährige mit Einwilligung ihrer Eltern durch aktive Sterbehilfe sterben, 16-Jährige ohne Einwilligung der Eltern den Tod verlangen können, dass nicht Rücksicht genommen wird auf ihre pubertären Gefühle, auf ihre Todessehnsüchte und -ängste, die doch letzten Endes Sehnsüchte nach dem Leben sind. Und da ignorieren wir ganz schnell, dass 900 Menschen nach seriösen Forschungen seit 1995 ohne ausdrücklichen Wunsch in den Tod befördert wurden. Mit Jesus haben wir keine Todessehnsucht, sondern große Lebenslust. Große Lebenslust, die unter dem Himmel tanzen will. Weil wir den Tod annehmen können. Leiden und Sterben sind Teil unseres Lebens. Lebensmut macht auch Todesmut! Jesus erweckt das Kind nicht zum Ewigen Leben. Er gibt den Trost, dass mit dem Glauben Leben und Sterben anzunehmen sind, weil es Vertrauen in Gott bedeutet. In den Gott, der unsere Namen ruft, schon wenn wir im Mutterleib noch geborgen sind. Der schon den Embryo kennt, der deshalb kein einfacher Zellklumpen ist. Und der weiß darum, dass wir auch nach dem Tod einen Namen haben und diesen Namen bei ihm geborgen wissen können. Liebe Gemeinde, wir können heute Abend unter freiem Himmel tanzen. Ja, wir leben unter Gottes freiem Himmel, weil wir etwas wissen von der befreienden Hoffnung eines Christenmenschen. Im Leben und im Sterben können wir uns Gott anvertrauen. Nein, wir müssen keine Außenseiter sein. Wir sind Kinder Gottes in dieser einen Welt, die Gott gehört. Diejenigen, die das nicht wissen, sie sind letzten Endes, wie Dietrich Bonhoeffer sagt, Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 ungebildet. Sie haben Angst vor dem Fremden, weil sie nicht wissen, dass sie selbst immer wieder Fremdlinge sind. Ausgrenzung ist ein Zeichen von Enge und Angst. Integration ist ein Zeichen von Liebe und Zuwendung. Lassen Sie uns heute Abend das Leid, das wir gesehen haben, die Erinnerung an die Zerstörung und das Wissen um die Realität der Erniedrigung von Menschen heute auch in unserem Land hineinnehmen in einen Tanz unter Gottes freiem Himmel. Zur Freiheit sind wir von Gott berufen. Wir sind Kinder Gottes aus allen Völkern. Wir können mit Krankheit und Tod und Behinderung und Leiden uns konfrontieren und wissen, es ist doch geborgen in Gottes großer Liebe. Auch in dem behinderten Kind, auch in dem sterbenden jungen Mädchen, auch in dem leidenden alten Mann können wir Gottes Ebenbild entdecken. Auch die prostituierte Frau, auch der verfolgte Flüchtling, sie sind Gottes Ebenbild. Deshalb werden wir für ihre Menschenwürde entschlossen eintreten. Wir werden einander die Hand reichen. Das ist heute auf dem Kirchentag manchmal leichter gesagt, als wenn wir zu Hause sind in Ostfriesland, in Südbayern, in Aachen oder in Dresden. Aber wir werden zurückkommen, gestärkt dadurch, dass wir eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen sind in diesem Land, die etwas weiß von der Freiheit des Himmels, die Gott uns gibt, dem weiten Raum, in den Gottes Liebe uns ruft. Wir müssen uns nicht zurückziehen in unsere Ängste und in unsere Enge, sondern wir können hinausgehen in die Weite und uns geborgen fühlen, weil Gott unsere Füße auf weiten Raum stellt. Amen. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.