Pressezentrum Dokument: Sperrfrist: Donnerstag, 14. Juni 2001; 11:00 Uhr Programmbereich: Themenbereich 1: In Vielfalt glauben Veranstaltung: Vortragsreihe Was erwartet die säkulare Welt von der Christenheit? Referent/in: Dr. Michael Naumann, Herausgeber, Hamburg Ort: Messe, Halle 6.1, Ludwig-Erhard-Anlage 1 (Innenstadt) 1/001 PF Politik, Staat und die „Heiligkeit des Lebens“. Zur geistigen Diskussion dieser Tage in Deutschland Im ersten Stockwerk des Reichstagsgebäudes, dem Berliner Tiergarten zugewandt, öffnet sich eine schwere Holztür zur ökumenischen Andachtskammer des Deutschen Bundestags. Der von dem Bildhauer, Maler und Bühnenbildner Günther Uecker gestaltete Raum verschönert mit seinen tausendfach verwendeten Kreuzesnägeln den Foltertod Christi in ein ein staunenswert ästhetisches, schmerzloses Ereignis. Auf einem altargleichen Granitblock vor mehreren Reihen meistens unbesetzter Stühle von bescheiden sich gebender, schlichter Modernität liegt ein wohlproportioniertes Kreuz aus heller Eiche, nicht viel größer als ein DIN A4-Blatt. Gelegentliche Besucher scheinen das Erlösungs-Symbol in die Hand nehmen, vielleicht um sein Gewicht zu prüfen. Nicht anders ist zu erklären, daß es immer wieder woanders auf dem Stein liegt. An manchen Tagen ist es verschwunden. Dann ist es wieder da. Neben allen anderen Auftragswerken der Kunst-Ankaufskommission des Parlaments ist dieses sakral sich gebende Oeuvre von Uecker, ungenutzt und abgelegen mitten im Alltag der Abgeordneten, der einzige Hinweis im Reichstag auf die Namensnennung Gottes in der Präambel des Grundgesetzes: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen...hat sich das Deutsche Volk“ eine Verfassung gegeben. Die kleine Kapelle gleicht einer Traditionsstube im Stile bester Innenarchitektur, deren spiritueller Kern in der Kunst aufgehoben wird. Hier läßt sich trefflich über deus absconditus meditieren. Niemand stört. Die Abwesenheit Gottes, der Verzicht auf zentrale theologische Argumente in unserer säkularen Debatte um Leben und Tod im Licht der medizinischen Forschung, um Embryonenschutz, Biogenetik, Stammzellennutzung und Präimplantationsdiagnostik markiert eine peinliche Argumentationslücke. Denn niemand vermag logisch zu beweisen, warum eine Ansammlung mikroskopisch winziger embryonaler Zellen als Mensch, als Person zu gelten habe, es sei denn wir erheben die Potentialität des Embryos, ein ganzer Mensch zu werden, mit rational nicht widerlegbaren Argumenten in den Stand unantastbarer absoluter Menschenwürde. Erst dann stände das Embryo unter dem Freiheitsschutz von Artikel 2 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Auch deshalb gibt es keine Todesstrafe in Deutschland. Es wäre eine denkbare Entscheidung, den Embryo als Mensch ohne Rückgriff auf religiös begründete Normen zu würdigen und im Namen allgemeiner Solidarität absolut und ohne Ausnahme zu schützen freilich nicht überzeugender als eine halbwegs logische, nach der parlamentarischen Abtreibungsdebatte zum widersprüchlichen Gesetz gewordene Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 Widerlegung eben solcher Entscheidung. Letztere beruht auf der ebenfalls zerbrechlichen Annahme, daß rechtens sei, was common sense und gesellschaftliche Wirklichkeit längst diktiert haben: die Akzeptanz von inzwischen mehr als 130 000 Abtreibungen, also EmbryoTötungen pro Jahr in Deutschland. Ethisch geradezu schwerelos ist allerdings der jüngst vorgetragene Einwand, wirtschaftliche und beschäftigungspolitische Sachzwänge zwängen eine ganze Nation dazu, ihre moralische Debatte über die Moral medizinischer Forschung abzukürzen, weil wir sonst den lukrativen Anschluß an die Moderne mitsamt ihren Heilungsversprechen verpassen würden. Auch Penicillin ist nicht in Deutschland erfunden worden. Deutschland ist nicht mehr die Apotheke der Welt und war es nie. Im Gegenteil. Die erwähnte peinliche Argumentationslücke – was konstituiert im 21. Jahrhundert unwiderlegbar Menschlichkeit, genauer: was gebührt dem einzelnen Menschenleben und seiner Gattung mehr als seine leibliche Unantastbarkeit? – wird derzeit diskursiv gefüllt von glaubensstarken protestantischen und katholischen Fundamentalisten, von unbeirrbaren Bischöfen und melancholischen Kardinälen: Sie alle sind Grenzexperten für den Übergang vom Erforschbaren zum Nichterforschbaren. Die Mehrheit der Bevölkerung und der Politiker ist aber nicht bereit, ihnen in die Geheimnisse des Glaubens zu folgen. Sie erwartet zwar Trost in Trauerfällen von der Geistlichkeit, aber keine preskriptiven Ratschläge in ethischen Grundsatzfragen mehr. Und doch wäre es närrisch, sich abzuwenden von der Ernsthaftigkeit der frommen Einwände. Vielmehr gilt es zu untersuchen, ob nicht aus der Geschichte ihres sozialen Relevanzverlusts gesellschaftliche Lehren zu ziehen sind; denn was wir nicht mehr glauben können, verschwindet deshalb nicht unbedingt aus der Welt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein ganz und gar säkularer Staat. Er ist das rechtsstaatlich organisierte Ergebnis, die Verfassungslehre gleichsam aus der furchtbaren, deutschen politischen Erfahrung im 19. und 20. Jahrhundert. Die Geschichte der deutschen Säkularisierung verlief asynchron zu denjenigen der anderen Staaten zumal Westeuropas. Die vielbeschriebene, verspätete Einigung zur Nation in einem staatlichen Gesamterritorium war vorbereitet und von Anfang an begleitet von immanenten, politisch-religiösen Spekulationen zur deutschen Sonderrolle im Konzert der Weltkulturen. Kein anderes Volk hat auf den umstürzenden Einbruch der Naturwissenschaften in die Glaubens- und Dogmenwelt der christlichen Kirche, auf die wahrhaft Herz zerreißenden Anpassungszwänge der industriellen Revolution, aber auch auf die vermeintlichen und realen militärischen Bedrohungen durch fremde Völker mit vergleichbarer geschichtsphilosophisch-spekulativer Inbrunst geantwortet wie wir. Die Kirche spielte in der deutschen Selbstinterpretation des 19. Jahrhunderts, in den politischen, nationalistischen, ideologischen, rassistischen und wissenschaftlichen Hoffnungsentwürfen kaum noch eine sinnstiftende Rolle. Mit fast zweihundertjähriger Verspätung auf die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges hatten die großen Denker des Landes einen Ausweg aus einer dem Tod – diesem großen Skandal menschlicher Existenz – zugewandten religiösen und künstlerischen Innerlichkeit gesucht. Alle Versuche einer die armselige politische und gesellschaftliche Wirklichkeit umfassenden philosophischen Theodizee scheiterten jedoch, zuletzt in Hegels Gedankenkathedrale. Die Aufklärung in Deutschland gipfelte nicht in bürgerlicher Revolution und Königsmord wie in Frankreich, sondern in der Idee eines idealen, romantischen, im Geiste freien, von den Ligaturen der christlichen Religion befreiten Bildungsstaats. Mit Schlegel gesprochen: „Sich bilden und Gott werden ist eines“. Zumal die Rolle der vom Glauben abgefallener deutscher Theologen des frühen 19. Jahrhunderts beim geistigen Aufbau einer neuen, selbstbewußten politischen Realität, aber auch bei der ideologischen Genese eines endzeitlichen Fortschrittsglaubens lohnte eine besondere Darstellung. In den Worten von Jakob Taubes: „Wenn Marx ohne Gott philosophiert und Kierkegaard vor Gott, so ist ihnen gemeinsame Voraussetzung: der Zerfall von Gott und Welt. Die Weltgeschichte, Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 welche Hegel noch als Theodizee versteht, begreifen Marx und Kierkegaard als Geschichte der ‚Welt‘...Weil die Geschichte der christlichen Welt zu Ende ist, glaubt Kierkegaard an die Urzeit des christlichen Äons anknüpfen zu können. Erst post Christum, nach dem Ende des christlichen Zeitalters ist die Nachfolge Christi wieder möglich. Im ‚Reich der Freiheit‘ verwirklicht sich für Marx die ‚urkommunistische Gemeinschaft‘.“ Marxismus und Nationalsozialismus rechtfertigten ihren erst geistigen, dann realen politischen Terror zur Erlösung der Menschheit aus den spirituellen, ökonomischen und politischen Leiden der Moderne mit strukturell identischen, eschatologischen, messianischen Theoremen vom unaufhaltsamen Fortschritt der Geschichte. Ihre öffentlichen PropagandaRituale hatten sakralen Charakter. Der Geschichte galt es mit parteigebundenen Massenorganisationen, Beine zu machen – mit den politischen Mitteln der totalitären Moderne, von der Propaganda bis hin zur rassistischen, mörderischen Gewalt, im Namen eines höheren telos. Ihre philosophisch-systematische Symbolik – zumal derjenigen eines Reichs Gottes auf Erden oder des Endreichs der Freiheit oder eines Dritten Reiches – reichte weit in frühe gnostische Spekulationen der Antike und des Christentums zurück. Deren „Verwerfung dieser Welt,“ mit Hans Jonas gesprochen, war „weit entfernt von der Gelassenheit oder der Resignation anderer weltflüchtiger Glaubenslehren, von einer eigenartigen, oft in Schmähung ausartender Heftigkeit, und wir beobachten allgemein eine Tendenz zum Extremismus, einen Exzeß von Phantasie und Gefühl. Uns kommt der Verdacht, daß die gestörte metaphysische Situation, von der der gnostische Mythus erzählt, ihr Gegenstück in einer gestörten realen Situation hat, daß die Gestalt der Krise, in die seine Symbolik gekleidet ist, eine historische Krise des Menschen selbst widerspiegelt.“ Der deutsche politische Sonderweg des 20. Jahrhunderts (mit seinen gnostisch-spekulativen Legitimationskunststücken) ist selbst Abbild einer solchen Krisengeschichte und endete 1945 mit einer historisch unvergleichbaren moralischen Niederlage. Das Land war nicht nur physisch, sondern auch und vor allem geistig ruiniert. Die Niederlage betraf alle Institutionen, die sich das Land im Laufe seiner politischen Emanzipation zur gesellschaftlichen Selbstordnung geschaffen hatte: Parlament, Rechtsprechung, Verwaltung, Armee, Hochschule, Geisteswissenschaften, die Künste und ihre Akademien, die Presse, den ganzen Staat. Und die Kirchen. Die verfassungssuchenden Väter des Grundgesetzes haben einige Ursachen dieser Katastrophe gekannt. Ihre Trennung von Staat und Kirche – längst noch nicht so weitgehend wie diejenige Amerikas und Englands – fußte unter anderem auf den Toleranz lehrenden Erfahrungen des englischen, religiösen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert und ihren Konsequenzen in der amerikanischen Verfassung. Offenbarungsglauben, so hatte seinerzeit John Locke erkannt, müssen intolerant sein, da sie sich im Besitz der einzigen Wahrheit wähnen. Die Kollision zweier Offenbarungsreligionen mit Anspruch auf weltliche Herrschaft resultierte in Bürgerkrieg, in Verfolgung und Tod. Die politische Verfassungsgarantie von Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, also von Toleranz in der Gesellschaft, markiert den Kern des westlichen Liberalismus. Politische Offenbarungsglauben hingegen, deren geistigen Plausibilitätspunkte und Erlösungshoffnungen nicht im Jenseits liegen, die sich nicht in Weltflucht und Verzicht auf Macht ausdrücken, sondern die ihre exakten Vorstellungen von allem politisch durchsetzen wollen, gebären Unordnung und Gewalt. Dies war und ist eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts, genauer, des Totalitarismus. Auf der Grundlage dieser schmerzhaften Lektion etablierte sich in Deutschland nach 1949 ein wirtschaftlich erfolgreicher Rechtsstaat, dessen Normen und Sanktionen, dessen Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 Legitimationsgrundlagen auf christliche Rechtfertigung verzichten. Sie werden allenfalls in mitgeschleppten Schutzvorschriften, Steuergesetzen, Feiertagen, Sitten und moralischen Traditionen manifest, die bisweilen in die Urteile des Verfassungsgerichts, zum Beispiel in die Jugendschutzgesetzgebung und das Scheidungsrecht einfließen. Hätte es einer ernsthaften, theologisch fundierten Begleitung der Verfassungsgebung bedurft, so hätte diese, unter Verzicht auf transzendentale Glaubensargumentation, einen gleichsam negativ-theologischen Kurs nehmen können: Was, so wäre vor mehr als fünfzig Jahren in Deutschland zu fragen gewesen, sind die Ursachen und Elemente der besonderen, historisch erwiesenen Gefährdungen und Niederlagen einer Gesellschaft, in der es nicht nur zur ästhetischen, sondern auch zur theologisch und philosophisch legitimierten Überzeugung gehört, daß Gott in der Tat tot oder zumindest der Welt abhanden gekommen sei? Daß diese Frage nicht zum Glauben hätte zurückführen müssen, sondern womöglich zur Anerkennung besonderer politischer und gesetzlicher Vorsichtsmaßnahmen, hätte eine intensivere theoretische Bemühung des ganzen Landes um die geistigen Voraussetzung des Nationalsozialismus und seines zentralen Verbrechens, des Holocaust, vorausgesetzt. Die folgte indes wesentlich später. Eine umfassende Studie zum Genozid an Europas Juden erschien in Deutschland erst Anfang der 60er Jahre. Eine frühe Analyse der geistesgeschichtlich zu ortenden, ethischen Einbrüche und Katastrophen der deutschen Funktionselite in Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung und Politik hätte womöglich Argumentationslinien offengelegt, die in den Kern unserer heutigen Bioethik-Debatte führen. Damit kein Mißverständnis entsteht: Jeglicher Vorwurf, die medizinischen Forscher von heute bewegten sich in der Nachfolge von NS-Ärzten wäre infam; jeder Vergleich der ernstzunehmenden, ethischen Rechtfertigungsversuche zeitgenössischer Biogenetik mit dem rassistischen Kalkül des Dritten Reichs wäre bodenlos. Worauf es aber ankommt, ist ein Rückblick auf einige Voraussetzungen fehlgeleiteter Medizinforschung, um die Gefährdungen der Gegenwart zu erkennen – und Schlußfolgerungen für die wissenschaftspolitischen Entscheidungen der Zukunft zu ziehen. Daß es, in den Worten eines der bedeutenden jungen deutschen Historiker, Ulrich Herbert, „keine Theorie des Holocaust gibt“, erfüllt uns weiterhin mit großer Unruhe. Wir wissen heute, daß die schockhafte Konfrontation mit dem Ur-Verbrechen des 20. Jahrhunderts in den Vernichtungslagern keineswegs zu befriedigenden Antworten auf die Fragen nach seinen geistigen und gesellschaftlichen Wurzeln geführt hat. „Hitler“ als allein verantwortlicher Dämon des Bösen ist keine hinlänglich befriedigende Antwort, zumal es keine vorherrschende Überzeugung mehr davon gibt, was „das Böse“ denn sei. Was ist der Kern jener Menschlichkeit, die im Holocaust zerstört werden sollte? Wem galt der Furor der deutschen Aggression? Ein Außenseiter der deutschen Sozialwissenschaften, der Bremer Völkermordforscher Gunnar Heinsohn ruft uns in Erinnerung, daß die Zivilisation Europas und Amerikas auf vier Pfeilern ruhe, zwei jüdischen und zwei griechischen. Aus Griechenland stammt das Prinzip des Eigentums und der Einehe. Aus dem Judentum kommen die Wahrheit der Lebensheiligkeit und der Eingottglaube: „Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse... Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeuge: Ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, damit du das Leben erwählst.“ (5 Mose 30,15.19) Immer wieder ist in unserer Geschichte an diesen Pfeilern gerüttelt worden. Allein HitlerDeutschland jedoch machte sich zwischen 1933 und 1945 bewußt daran – mit geheimen Reichserlassen und offener Gesetzgebung – das höchste dieser Prinzipien, die „Heiligkeit des Lebens“ wieder abzuschaffen. Mit der Ermordung des Judentums sollte auch seine Religion vernichtet werden. Aus diesem Blickwinkel erst wird verständlich, warum auch jeder Nichtjude verfolgt wurde, der das jüdische Erbe der Lebensheiligkeit im christlichen Glauben Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 verteidigte. So verbündete sich der ideologische Rassismus des 19. Jahrhunderts mit dem politisch-religiösen Heilsprogramm der Nationalsozialisten. Beispielhaft die Aussage eines ministerialen Aufsehers der württembergischen Klinik Grafeneck (in ihr wurden vom September 1939 an behinderte Menschen vergast), der am 4. Dezember 1940 Proteste des Stuttgarter Oberkirchenrats Reinhold Sautter zurückwies: „Das 5. Gebot: Du sollst nicht töten, ist gar kein Gebot Gottes, sondern eine jüdische Erfindung.“ Tatsächlich war das Kinder, Behinderte, Kranke und Alte einschließende Tötungsverbot ein zentraler Beitrag des Judentums zur Zivilisation, war Abschied von archaischen Ritualen des Menschenopfers. Seine Legitimation war der Glaube an eine göttliche Offenbarung auf dem Berg Sinai. Das Ziel der systematischen Vernichtung des jüdischen Glaubens an den Lebensschutz als höchstem menschlichen Prinzip bildete ein wesentliches, wenn auch nicht das einzige terroristisch-ideologische Kraftzentrum des Holocaust. Es bezog seine historische Energie aus einer langfristigen Säkularisierungswelle, der sich in Deutschland geringere Widerstandskräfte entgegenstellten als etwa im angelsächsischen Kulturraum. Es war eine Grundwelle, die lange vor dem Irrsinn des Nationalsozialismus ganz andere Sektoren der Gesellschaft als die der Polizei, der Armee und der Verwaltung erfaßt hatte. Um die medizinpolitische Debatte unserer Tage zu verstehen, in deren Kern nicht so sehr Themen technischer Heilungs- und Reproduktionsmöglichkeiten von Leben stehen, sondern vielmehr die Frage, was das Leben eigentlich sei, lohnt sich ein kurzer Blick in die deutsche Medizingeschichte: Es wird sich herausstellen, daß einige der ethischen Kernfragen, zum Beispiel nach der hinlänglichen Berechtigung einer Tötung bestimmter Embryos mit staatlicher Genehmigung, so neu nicht sind. Die Akzeptanz staatlicher Verfügungsgewalt über das menschliche Leben wuchs im Verlauf der hygienischen Revolution des späten 18. und schließlich des 19. Jahrhunderts unaufhaltsam an. Gesellschaftssanitäre Utopien gehörten frühzeitig zum Denken der wissenschaftlich gewordenen Medizin. In seinem „System einer vollständigen medicinischen Policey“ entwickelte der Arzt Johan Peter Frank 1779 die Vision einer absolutistischen Wohlfahrtspflege von der Fortpflanzung über Ehe, Schwangerschaft, Kindbett und Erziehung, über Nahrungsmittel, Mäßigkeit, Kleidung, Erholung bis zur gerichtlich geregelten Arzneikunde – ein gesundheitspolitische Modell, das unserer zeitgenössischen Gesundheitspolitik im Glauben an ihr unaufhaltsames Gelingen, nämlich die unsterbliche Nation, vorauseilte. Der Nationalökonom und Staatsrechtler Lorenz von Stein hatte als einer der ersten den Zusammenhang von Staat und Medizin theoretisch erfaßt: „Das eigentliche Gesundheitswesen,“ meinte er, entstehe da, „wo vermöge ihres öffentlichen Werthes die Gesundheit, der Schutz und die Pflege derselben als solche dem Staate in seiner Verwaltung zum Bewußtsein kommt und die Herstellung ihrer Bedingungen zum selbständigen Gegenstande seines Willens in der Gesetzgebung, seiner Kraft in seiner Organisation und seiner wirklichen Thätigkeit in seiner inneren Verwaltung wird.“ Die „Staatsarzneikunde“ sollte als Gesundheitssicherung des Staates aufgefaßt werden. Sie wurde von Anfang an als Bevölkerungspolitik verstanden. Mit dem wissenschaftlichen Siegeszug des Darwinismus’ und seiner Popularisierung und Politisierung im Alltagsdiskurs der Jahrhundertwende stießen schließlich zwei tendenziell utopische Gesellschaftsmodelle aufeinander: Dasjenige einer möglichst umfassenden Gesundheit aller Bürger und der evolutionistische Gesundheitsbegriff einer natürlichen Auslese der Kranken und Schwächeren: Die Versöhnung beider „Programme“ (wobei die Evolutionstheorie sich selbst keineswegs als politisches Programm verstand) in einer gleichsam massenhaften „Rassenhygiene“ wies in die neue, am Ende verheerende Richtung. In den Worten des Mediziners Alfred Ploetz (1860–1940) galt es, Träger „guter Erbanlagen“ durch öffentliche Maßnahmen zu fördern. Die noch längst nicht wissenschaftlich dechiffriertren, genetischen „Erbgutanlagen“, nicht mehr die Zufälle von Infektionen, Seuchen oder das Schicksal des einzelnen Patienten, gerieten ins Zentrum der Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 medizinwissenschaftlichen Aufmerksamkeit. In den Worten von Ploetz’ Kollegen Alfred Grotjahn: „Das Ziel der Gesundheitspflege ist nicht die Gesundheit einiger Bevorzugter, sondern die Verallgemeinerung der Körperkultur in allen Schichten unseres Volkes. Sie erstreckt sich weiterhin auf die zukünftige Generation und hat als Endziel nichts mehr und nichts weniger als die ewige Jugend des eigenen Volkes.“ Fortpflanzungsmedizin, Eugenik, gesundheitsfördernder Massensport, Euthanasie, sogenannte „Volksaufartung“ und „positive oder negative Rassenhygiene“ entwickelten sich zu bestimmenden Themen der gesellschaftsmedizinischen Debatte der Weimarer Republik – allesamt getrieben vom Glauben einer wissenschaftlichen Determination des Lebens, genauer, vom Glauben an die Wissenschaft schlechthin: in ihm war die Hoffnung auf eine kollektive Unsterblichkeit beschlossen. Die „theologische, normative Rückversicherung“ des Menschen (Hans Blumenberg), nämlich daß er nach dem Bild seines Schöpfers gemacht sei, daß mithin dem einzelnen Leben der Respekt seiner unaufhebbaren Gottesebenbildlichkeit gebühre, war seit mehr als einem Jahrhundert bereits verfallen und wurde ausgetauscht gegen die Hoffnung auf die Zukunft, auf die immortalitas seiner Gattung: Unsterblichkeit aber war die mythische Eigenschaft von Heroen – heroisch sollte das kommende Geschlecht am Ende werden im Zeitalter seiner technischen, also genetischen Reproduzierbarkeit und Perfektion. Oder, in den Worten des nationalsozialistischen Theoretikers von Erb- und Rassenpflege, Arthur Gütt (1891–1949): „Überall entstehen Seuchengesetze, durch die dem Staat das Recht gegeben wurde, in das persönliche Leben des einzelnen einzugreifen. Die Berechtigung zu diesem Vorgehen erhielt der Staat dadurch, daß diese Beeinträchtigung der Freiheit einzelner einer um so größeren Zahl des Gesamtvolkes das Leben rettete...Durch planmäßige Auslese, durch Förderung der erbgesunden Familien und durch Ausschaltung der kranken Erblinien aus der Fortpflanzung ist uns ein Mittel zur Ertüchtigung und Gesundung zwar nicht für die heute Lebenden, wohl aber für das Deutschland der Zukunft gegeben.“ Daß „Erblinien“ im Leben von einzelnen Menschen beschlossen waren, deren „Ausschaltung“ auf dem Programm stand, wurde in klaren Worten nicht gesagt. Doch am Ende dieser medizinpolitischen Gesundheitsutopien in Deutschland lag die Ermordung von 250 000 psychisch Kranken und die Zwangssteriliserung von 400 000 Menschen. Die geistespathologische Grundlage dieses Verbrechens, so die Zwischensumme dieses Arguments, ist erstens der Zusammenbruch eines religiös oder philosophisch-transzendental fundierten Respekts vor dem Gebot einer gottgegebenen „Lebensheiligkeit“. Er ist einer lang anhaltenden europäischen Glaubenskrise geschuldet. Dies zu konstatieren, ist nicht das Privileg von glaubenserregten Fundamentalisten; sie glauben zumeist an die Aufhebung des historischen Prozesses. Er ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit unumkehrbar. Dazu ist die Dynamisierung unserer westlichen Oberflächen- und Erlebnisgesellschaft mit ihren immer neuen Glücksversprechungen zu weit fortgeschritten. Darüber hinaus ist die biogenetische Analyse der Lebensbausteine soweit vorangekommen, daß sich der Glaube, das Leben an sich berge ein ewiges Geheimnis, dem prinzipieller Respekt gebühre, verflüchtigt hat. Die zweite ideengeschichtliche Voraussetzung jenes Verbrechens war, in aller ihr innewohnenden moralischen Unschuld, die medizinwissenschaftliche Rationalisierung des menschlichen Körpers. Sie hat inzwischen im Übergang zur molekularen Medizin eine neue Stufe erreicht. Die Genetisierung des Individuums in der molekularen Medizin wird im Namen einer zukünftiger Gesundheitsgesellschaft vorangetrieben. Es gibt, so wird Zweiflern an den Methoden der Biogenetik vorgeworfen, auch eine Ethik des Heilens, die jene Methodik – zum Beispiel den Verbrauch künstlich befruchteter tiefgefrorener Eizellen, als Embryos – legitimiere. Die dritte Ursache einer entfesselten, politisch-ideologischen „Gesundheitspolitik“ war im epochalen Technikglauben an die Legitimität, ja Legalität stiftende, medizinwissenschaftliche Machbarkeit eines eugenischen Hygieneprogramms beschlossen. Was möglich wurde, wurde legal. Hans Blumenberg hat die moralischen Konsequenzen einer scheinbaren Unaufhaltsamkeit wissenschaftlicher Entwicklung beschrieben: „Zu Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 7 glauben, mit der Vernunft stünde es so, daß man ihr jederzeit aus Vernunft Einhalt gebieten könne“, sei eine Selbsttäuschung; denn wissenschaftliche „Disziplinen haben die Qualität langfristiger Autonomie. Daran liegt auch, daß die vermeintlich fälligen, großen Entschlüsse zum ‚Anhalten’ auf dieser oder jener Trennlinie schon deshalb nicht gefaßt werden können, weil solche Markierungen erst nachträglich erkannt und dem schon Geschehenen als fiktive Willensrichtungen nur untergeschoben werden.“ Wenn die „normative Kraft“ des Glaubens an die Heiligkeit des Lebens erloschen ist, was nicht nur für die Mehrheit der biogenetischen Forscher in aller Welt zutreffen dürfte, stellt sich die Frage, wer angesichts ihrer rasant wachsenden technischen Möglichkeiten, Leben zu retten, zu heilen, zu stiften, zu klonen, zu verlängern und zu verändern, aber auch im embryonalen Zustand zu beenden, wer genau also berechtigt ist, „Halt!“ zu rufen – oder „Weiter so!“ ? Es ist kein Wunder, daß die Antwort in repräsentativen Demokratien nicht von der Exekutive oder von Gerichten erwartet wird, sondern vom Parlament. Ihm wird niemand vorgreifen wollen; sehr wohl können wir uns allerdings Gedanken machen, wie die Frage zu beantworten wäre, solange die Abgeordneten noch nachdenken. Spätestens seit der Geburt des ersten „Retortenbabys“ Louise Brown vor 23 Jahren, also seit der ersten erfolgreich abgeschlossenen In-vitro-Fertilisation, kreist die zeitgenössische, bioethische Debatte um die Fragen: “Was ist menschliches Leben, was ist Sterben, was ist eine Person, wo liegen die normativen Grenzen des Eingriffs in das Leben eines Einzelnen?“ Weder die Abtreibungsdebatten der 70er Jahre in Deutschland, England und Amerika, noch die gesetzliche Freigabe der sogenannten „Indikationslösung“, noch das Embryonenschutzgesetz mit dem ihm innewohnenden Verbot einer Präimplantationsdiagnostik nebst naheliegender Selektionsabsicht haben universal gültige Antworten erarbeitet, die jene normative Leerstelle der sogenannten „Lebensheiligkeit“ füllen könnten. Auch der von Gerhard Schröder berufene Nationale Ethikrat wird, nimmt er seine Disputationen ernst, allenfalls Abstimmungsergebnisse und Forschungsempfehlungen, nicht aber letzte Wahrheiten über das Geheimnis des menschlichen Lebens vorlegen wollen oder können. Der Verfassungsbegriff der unantastbaren „Würde des Menschen“ transportiert für manche Interpreten einen nicht mehr zu befragenden, religiös besetzten Begriff des Menschen. Dessen gesetzlich verfügte Unantastbarkeit finde ihre höchste Berechtigung in der theologisch-normativ postulierten Eigenschaft des Menschen als Ebenbild Gottes. Wer aber kennt die Wahrheit über die „Unantastbarkeit Gottes“ außer jenen, die in einer religiösen Erfahrung zu ihr vorgestoßen sind? Und warum soll Gott für diejenigen, die nicht an ihn glauben, die höchste normative Instanz sein? Die widersprüchliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in der Abtreibungsfrage („rechtswidrig, aber nicht strafbar“) spiegelt die Scheu der Richter wider, den ersten Artikel des Grundgesetzes auf seine brüchig gewordene religiöse Grundlage zu stellen. Ihr Begriff der „Rechtswidrigkeit“ von Abtreibungen, also der rechtswidrigen, jedoch nicht strafbaren Abtötung von Embryos und Föten, dient nur noch als geistesgeschichtlicher, rechtshistorischer Erinnerungsposten, nicht als Ausdruck einer transzendental fundierten, sanktionsbewährten, unumstößlichen Norm des Lebensschutzes und der Menschenwürde. Eine Norm, die nicht angewandt werden kann oder angewandt wird, ist aber im Bewußtsein der Gesellschaft nach einer gewissen Frist ausgebrannt. Mehr noch, sie droht gar eben jenen „Erinnerungsposten“ zu ruinieren. Die bioethische Diskussion führt zurück in die Debatten um §218, das sogenannte Abtreibungsgesetz und, in seinem Gefolge, das Embryonenschutzgesetz. Es dürfte keinen Parlamentarier geben, der sich eine Wiederaufnahme dieser Thematik im legislativen Prozeß wünscht. Bundestag und Verfassungsgericht, medizinische und kirchliche Praxis haben ihren Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 8 heiklen Frieden mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit geschlossen. Die Haltung des Papstes in dieser Frage stößt auf allgemeines Kopfschütteln. Daß die Frage nach der Heiligkeit des Lebens unvermutet wieder in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten ist, scheint allein dem biogenetischen Wissenschaftsfortschritt geschuldet. Es bedarf keiner Prophetie, daß das öffentlich so heiß umstrittene Thema in wenigen Monaten wieder im Orkus der Vergessenheit verschwunden sein wird – genauso wie unsere moralische Erregung über die niederländische Praxis der gesetzlich geduldeten, ja, geförderten aktiven Sterbehilfe. Doch im Zuge der unaufhaltsamen Harmonisierung europäischer Gesetze der Unionsmitglieder wird es wieder auftauchen und die Politiker, aber nicht nur sie, weiter beschäftigen. Die Routine legislativer und exekutiver Arbeit enthält keine automatische Begründung ihrer moralischen Rechtfertigung, sondern stellt sie im Gegenteil immer wieder in Frage. Gleichwohl weist das Movens von Politik auf ihre alten philosophisch-anthropologischen Begründungsnöte hin: Was ist gut, was ist gerecht in der Politik? Dies überzeugend zu beantworten, scheint gerade dort unvermeidlich, wo die Gesetzgebung unmittelbar in die Entstehung und Bewahrung des Lebens eingreift. Politik im Zeichen von Wahrheit und letzten Gewissheiten ist nach den deutschen Erfahrungen mit messianischen Bewegungen im 20. Jahrhundert nicht mehr möglich. Eine Politik fester moralischer Standpunkte, die aus dem Erfahrungsschatz unserer eigenen Geschichte erwachsen, ist indes sehr wohl denkbar – gerade angesichts der furchtbaren Entgleisungen des Dritten Reichs. Ohne zurückzugreifen auf theologische Normen zum Schutz einer offenbarten Lebensheiligkeit, an die sich die Forderung einer unantastbaren Menschenwürde anbreitet, können wir sehr wohl historische Lehren ziehen aus ihrer säkularen Elimination im Wissenszusammenhang der deutschen Gesellschaft. Dabei können wir uns verlassen auf moralische Intuitionen („das macht man nicht“), die in uns allen wohnen und die das Grundgesetz dem Abgeordneten, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, ohne weiteres unterstellt. Die einfache Frage, ob uns die Vorstellung erträglich ist, daß eine wissenschaftsindustrielle Forschung an Embryos im Namen zukünftiger Gesundheit und neuer Arbeitsplätze legitim sei, führt nicht – wie manche Kritiker behaupten – unmittelbar zur scholastischen Frage, wieviel Engel wohl auf einer Nadelspitze Platz hätten. Vielmehr führt sie zurück zu den ersten Fragen, was das Leben überhaupt ist und wie es in Gesellschaft vernünftig zu ordnen wäre. Es wäre arglos, die Antworten dem Lauf eines angeblich unvermeidlichen medizinischen und technischen Fortschritts zu überlassen. Unter dem Mikroskop sind sie nicht zu finden. Es hieße nur, die Frage nach Wert und Sinn des Lebens aus einer religiös formierten philosophischen Anthropologie in eine weltliche, wissenschaftlich verfaßte Zukunft zu verlagern, die auch keine Antworten für die Gegenwart gibt. Was bleibt? Zurückhaltung und Anstand in den Forschungslaboratorien, Vorsicht, Toleranz und Fortschrittsskepsis im Parlament wären die Sekundärtugenden, die sich auch dort bewähren könnten, wo die Gesellschaft auf transzendental begründete Seinsgewissheiten zu verzichten gelernt hat. Auf derlei Sekundärtugenden sollten wir bauen. Mehr haben wir nicht – abgesehen von der innenarchitektonischen Erinnerung im Reichstagsgebäude an andere, nicht mehr genutzte Wahrheitsquellen der europäischen Religionsgeschichte. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.