Abrahams Wanderung - 29. Deutscher Evangelischer Kirchentag 2001

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Dokument:
Sperrfrist:
Freitag, 15. Juni 2001; 09:00 Uhr
Programmbereich:
Bibelarbeiten
0/313 PF
Veranstaltung:
Referent/in:
Dr. Jörg Zink, Pfarrer, Stuttgart
Ort:
Messe, Halle 1.2, Ludwig-Erhard-Anlage 1
Abrahams Wanderung
1. Mose 11,27–12,20
Ich wünsche Ihnen einen hellen, schönen, gesegneten Morgen, liebe Freunde, liebe
Schwestern und Brüder. Den Segen eines neuen Tages aufnehmen, das kann man im
Stehen besser als im Sitzen. Dazu muss man aufstehen vom Schlaf und vom Stuhl. Ich
denke, wir tun es. Wir stellen uns aufrecht auf die Erde, atmen tief durch, heben unsere
Arme wie Menschen, die etwas aufnehmen, das von oben kommt. Nicht von der
Hallendecke, sondern aus dem Himmel und aus seinem Licht. Lassen die Arme wieder
hängen. Und während wir nun so stehen, lese ich Ihnen ein Lied aus der Bibel:
Gott, deine Güte reicht,
so weit der Himmel ist,
und deine Wahrheit,
so weit die Wolken gehen.
Wie die Berge feststehen über den Tälern,
steht deine Gerechtigkeit fest über der Welt.
Wie das Meer unendlich sich breitet,
so ohne Grenzen ist deine Macht.
Wie kostbar ist deine Güte, o Gott.
Bei dir finden wir Menschenkinder Schutz.
Wir werden satt von den reichen Gütern,
die die Erde darreicht,
und du tränkst uns mit Wonne
wie mit einem Strom.
Denn bei dir ist die Quelle des Lebens,
und in deinem Lichte sehen wir das Licht.
Und nun singen wir miteinander, und Hans Jürgen macht uns die Musik dazu:
Liebe Freundinnen, liebe Freude, liebe Kirchentagsgemeinde,
eine alte, eine sehr alte Geschichte sollen wir heute Morgen hören, aus der Bibel. Sie
berichtet aus einer Zeit von vor 3500 Jahren und aus einem sehr fremden Land. Wir werden
wohl eine ganze Weile nachdenken müssen, um zu sehen, wie dicht sie uns angeht. Ich will
sie erzählen:
Im heutigen Irak, am Unterlauf des Euphrat, in der Stadt Ur, lebte damals ein Mann namens
Abraham. Der löste sich eines Tages aus seiner Sesshaftigkeit und wanderte mit seinem
ganzen Familienclan und mit seinen Viehherden den Euphrat aufwärts bis nach Haran in der
heutigen südlichen Türkei. Während er dort lebte, hörte er in einer Nacht eine Stimme, die er
Text wie von Autor/in bereitgestellt.
Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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als die Stimme Gottes erkannte, die sagte ihm: Auf! Geh! Aus diesem Land und aus deiner
Sippe, in ein anderes Land. Ich will es dir zeigen. Du sollst dort zum Ahnherrn eines großen
Volks werden. Ich will dich segnen, und durch dich sollen alle Völker Segen empfangen.
Abraham also brach auf, zusammen mit seiner Frau Sara, und wanderte nach Süden, in das
Land, dass wir heute je nach unserem Blickwinkel, Palästina nennen oder Israel. Er
durchzog das Land und kam nach Sichem, das beim heutigen Nablus liegt, nach Jerusalem
und bis in den Süden, in den Negeb.
Aber dort geriet er in eine Zeit der Hungersnot. Und er tat, was vor und nach ihm
jahrtausendelang die Bewohner jener Länder taten: Er flüchtete nach Ägypten und bat dort
um Asyl. Er kam als Wirtschaftsflüchtling in das Land am Nil, wo immer etwas wuchs, und
wurde aufgenommen. Aber da gab es eine Schwierigkeit. Wenn damals ein Flüchtling eine
schöne, junge Frau bei sich hatte, dem konnte es passieren, dass man den Mann totschlug
und die Frau einbehielt. So wandte sich Abraham an Sara: „Du bist eine schöne Frau. Wenn
dich die Ägypter sehen, dann schlagen sie mich tot, aber dich lassen sie am Leben. Sage
doch, du seist meine Schwester, damit es mit – zwar auf deine Kosten, aber immerhin – gut
geht und ich am Leben bleibe.
Und so ging es dann auch. Die Ägypter sahen: Da ist eine wunderschöne Frau, die bringen
wir dem Pharao für seinen Harem. Abraham aber, der Bruder und das heißt der Besitzer der
Sara, bekam einen üppigen Brautpreis, ganze Viehherden, Knechte und Mägde. Aber der
Pharao geriet danach in ein schweres Leiden, und er begriff: Das kommt von Gott. Das ist
wegen Sara. Er ging der Sache auf den Grund und erkannte: Abraham hat mich betrogen.
Sie ist nicht seine Schwester. Sie ist seine Frau. Und er sprach ihn an: Was hast du mir da
angetan? Warum hast du mich belogen? Nimm deine Frau und geh! Und er bestimmte
Männer, die ihn mit allem, was er hatte, außer Landes brachten.
Liebe Freundinnen und Freunde, was soll uns diese Geschichte sagen, die so großartig mit
einem heroischen Aufbruch beginnt und die danach so typisch nach Mannesart und so mies
weitergeht bis an ihr normales, mieses Ende? Außer, dass wir sehen: Das ist nicht neu. Das
ist üblich seit Jahrtausenden. Die Frauen werden verraten, damit es den Männern gut geht.
Das kennen wir zur Genüge.
Und heute? Heute leben wir in einer Welt, in der gewandert wird wie nie in der Geschichte.
Millionen und Millionen Menschen sind unterwegs von irgendeiner Heimat in irgendeine
Fremde. Und alle Begleitumstände sind uns täglich vor Augen: das Elend, die
Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung, die schrecklichen Umstände, die Verbrechen und die
miesen Lösungen.
Es ist überhaupt nicht abzuschätzen, wie viele Menschen in unseren Tagen irgendwohin
gehen. Aus dem Deutschland der dreißiger Jahre nach Frankreich oder Schweden oder in
die USA, öfter die Länder als die Schuhe wechselnd, wie einer von ihnen, Bert Brecht, sagt.
Aus den früheren Ostgebieten in den Westen. Aber weiter aus unzähligen Kriegs- und
Elendsgebieten in den sicheren Westen. Auf Flüchtlingsschiffen, die an irgendeiner fremden
Küste stranden. Millionen ziehen die Gefahr dem Elend vor und das Schicksal von
Unerwünschten. Einwanderung, Zuwanderung, Auswanderung, das tägliche Thema rund um
die Erde: Soll man bleiben, soll man gehen?
Wir versetzen uns also zunächst einmal zurück um 3500 Jahre in jenes Land, in dem damals
eine der großen Urkulturen der Menschheit zur Blüte gekommen war, das Land der Sumerer
und der Babylonier. In das Land mit den grandiosen Bauten der Stufenpyramiden, in dem
unsere Wissenschaft entstand, unsere Mathematik, unsere Astronomie und auch die Schrift,
das Land, in dem die ersten Städte entstanden, die erste Ackerbaukultur und, neben
Ägypten, der erste Staat.
Dort lag an der Mündung des Euphrat in den persischen Golf eine blühende Hafenstadt. Ur.
Wer dort lebte, dem ging es gut. Ihn umgab ein gesicherter Wohlstand. Nun wird uns erzählt,
dort habe ein junger Mann namens Abraham gelebt. Dessen Familie habe Ur eines Tages
und aus unbekannten Gründen verlassen, sei den Euphrat aufwärts gewandert und habe
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sich dann in Haran, im Grenzgebiet zwischen dem heutigen Syrien und der heutigen Türkei,
niedergelassen.
Nachdem er wohl einige Jahrzehnte dort gelebt hatte, habe es wieder einen Aufbruch
gegeben. Diesmal aus einem erkennbaren Grund. Abraham, inzwischen ein alter Mann,
habe eine Stimme gehört, die ihm sagte: Lass alles hinter dir, deine ganze Sippe, brich auf,
begib dich auf die Wanderung. Ich will dich führen.
Wenn heute etwas Derartiges geschieht, sagt man dort: Er geht nach links. Links ist die
Seite der Not, der Mühsal, des Unglücks, der Gefahr. Ich habe einen irakischen Zahnarzt
kennen gelernt, der mit dem Regime Husseins Schwierigkeiten bekam, sein Haus und seine
Praxis verkaufte, sich ein Zelt und eine Ziegenherde anschaffte und nach links ging. Er
verschwand in der ungeheuren Weite der syrisch arabischen Wüste und lebt nun dort, arm,
aber frei. Denn die Regierungen dieses Raums haben keine Mittel zu kontrollieren, was sich
in den Wüsten abspielt.
Abraham also, den wir durchaus für eine historische Figur halten dürfen, geht nach „links“. Er
wandert durch die syrische Wüste, vielleicht über Palmyra und Damaskus und den Golan
nach Kanaan und führt auf diesem Weg über eine lange Zeit sein Leben zwischen den
Randgebieten der Wüste und dem Umland der Städte. Er weiß sich auf rätselhafte Weise
gerufen. Er kennt zwar weder die Wege noch das Ziel, aber er soll vertrauen und soll gehen.
Er soll glauben, dass dieser Weg ins Unbekannte ein Ziel hat: ein Land, das für seine
Nachkommen bestimmt ist. Er soll darauf vertrauen, dass Gott ihn führen und dass er ihn
segnen wird. Und er wird dabei zur Urfigur eines Menschen, der aufbricht. Der hört. Der sich
löst. Der in die Nacht geht und der auf den Morgen hofft.
Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker, hat gesagt: „Wer seinen Weg sicher
gehen will, der muss die Augen schließen und im Dunkeln gehen.“
Aber warum ist das so? Weil Entscheidungen, welchen Weg ich gehe und wie ich gehen will,
von innen kommen müssen. Von einer Stimme her, die wir hören. Wir sagen das so hin. Gott
sprach zu Abraham – und wir stellen fest, dass Gott zu uns nicht spricht. Oder jedenfalls nur
zu wenigen und nur manchmal. Und wir müssen vielleicht in einem langen Leben achtsam
werden auf die Stimme, mit der er spricht. Es ist der Sinn einer langen Einübung,
Erfahrungen der inneren Art zu machen, wach zu werden für die Erfahrung, was denn da in
uns unsre eigenen Wünsche und Ängste und Hoffnungen sind und was die Stimme eines
ganz Anderen, der uns meint.
Es kann mir zum Beispiel geschehen, dass ich unter dem plötzlichen, schockierenden
Eindruck stehe: Was da auf mich zukommt, das geht mich an! Das meint mich! Und im
selben Augenblick ändert sich meine Sicht der Dinge und die Sicht meiner selbst.
Es kann mir geschehen, dass ich unter dem Eindruck stehe: Da kennt mich einer! Da ist
einer, der mir sagen, will, wie mein Weg weitergehen soll.
Es kann mir auch widerfahren, dass ich plötzlich sehe: Da bin ich geführt worden. Da hat
mich einer bewahrt. Und zwar ganz unabhängig davon, ob ich im übrigen religiös orientiert
bin oder nicht. Mir gehen die Augen auf und ich sehe: Da ist eine Linie in meinem Schicksal.
Das sind Kräfte, die mir helfen. Da ist ein Plan in meinem Leben. Da hat mir einer geholfen
oder da muss wohl eine Absicht sein, da muss es ein Ziel geben, dem ich zugeführt werde.
Oder: Da meint es einer gut mit mir, und der bestimmt, was mir widerfährt. Ich kann also
vertrauen. Ich habe Grund, dankbar zu sein.
Wir müssen, meine ich, überhaupt ein wenig sensibler werden für die inneren Erfahrungen,
die wir machen, und die durchaus nicht alle aus unseren Wünschen oder Ängsten
hervorgehen.
Es kann uns durchaus eine Art von Überfall geschehen. Ein plötzlicher Zwang, auf die Knie
zu gehen und irgendwie zu beten. Oder der Anruf: Hier geht es nicht mehr um mein Leben
und meine Sicherheit. Hier muss ich mich hingeben. Hier ist ein Opfer verlangt. Ich kann
dann sagen: Ja, ich bin einverstanden. Ich weiß, dass ich muss und nicht anders kann.
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Oder: Ein Anruf: So geht es nicht weiter. Du musst aufstehen, du musst andere Lösungen
finden. Du musst einen neuen Weg einschlagen. Aber wirst, wenn du aufstehst und diesen
neuen Weg gehst, bewahrt sein.
Wir müssen jedenfalls aufmerksam werden auf Situationen, in denen uns irgendetwas
Fremdes, das wir Gott nennen mögen oder auch anders, anspricht.
Das alles kann auch in einem Traum zu uns kommen. Oder in einer Stimme, die wir hören,
oder in einer Vision, die wir schauen. Ich habe dem Leben lange genug zugesehen, um zu
wissen, was es in ihm an Stimmen gibt.
Ich muss nicht eigens betonen, es ist selbstverständlich: Jede Erfahrung dieser Art gilt nur
für den, der sie macht. Sie anderen beweisen zu wollen, ist Unsinn. Sie beweisen zu
müssen, ist schrecklich. Genau hinhören ist wichtig, kritisches Hinschauen. Aber solche
Erfahrungen leugnen zu wollen, ist einer der Grundfehler, die uns Kindern der Aufklärung
unser Bild vom Dasein bis auf den Grund zu fälschen vermögen.
Abraham also, so wird erzählt, wusste sich gerufen. Wusste sich geführt. Wusste sich
bewahrt, wusste sich gesegnet. Aber wie ging seine Geschichte weitert?
Hundert Jahre später leben in jenem Land Kanaan zwölf Sippen von halbsesshaften
Viehzüchtern. Wir kennen sie unter dem Namen der Söhne Jakobs oder der Brüder Josephs.
Von ihnen wird erzählt, sie seien in eine Hungersnot geraten und hätten in Ägypten um
Nahrung nachgesucht. Schließlich suchten sie dort Zuflucht, aber ihre Kinder und Enkel
wurden dort nicht reich gemacht wie Abraham, sie wurden versklavt. Sie wurden als
Zwangsarbeiter beim Bau von Palästen und Kasernen eingesetzt.
Unter ihnen trat einer auf, der sich vornahm, das Elend zu wenden. Mose. Der führte sie in
einer Nacht mit allen ihren Habseligkeiten durch die flachen Lagunen dort, wo heute der
Suezkanal ist, und in die Wüste Sinai. Und in dieser Wüste lebten sie mehr schlecht als recht
vierzig Jahre lang, bis es ihnen gelang, in Kanaan, Palästina oder Israel, wie immer wir
sagen wollen, einzudringen. Dort gründeten sie später einen Staat. In David erstand ihnen
um 1000 vor Christus ein König, der ihnen Macht gab und Sicherheit. Und nach David
regierten die Könige Israels und Judas vierhundert Jahre lang, allerdings immer weniger in
Glanz und Herrlichkeit, und immer ärmer und bedrohter. Bedrängt durch die Großreiche im
Osten wie im Westen, und schließlich wurde das Volk und sein Staat zwischen ihnen
zerrieben. Im 8. Jahrhundert kamen die Assyrer, im 7. die Babylonier, zerstörten Jerusalem
und trieben die Bevölkerung in einem ungeheuren Treck nach Osten. Und schließlich
endeten die Söhne Israels als Sträflinge, als Arbeitssklaven im Land zwischen Euphrat und
Tigris. Der Buchdeckel der Geschichte war über ihnen zugeschlagen. Es gab sie praktisch
nicht mehr.
Viele Monate später saßen sie an den Wasser zu Babel und sangen ihr Elend hinaus:
An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten,
wenn wir an Jerusalem dachten.
An die Weiden dort hängten wir unsere Harfen.
Dort verlangten unsere Bewacher, wir sollten singen.
Jubel forderten unsere Bedrücker: Singt uns ein Lied von Zion.
Aber nie könnten wir ein Gotteslied singen
auf fremder Erde?
Und hier, im Gefangenenschicksal dieses Volks, stoßen wir auf das Thema Abraham. Dort
wird es plötzlich aktuell. Und wie?
Es gibt ja drei Möglichkeiten in einer solchen Situation: Es gibt den Blick zurück. Den Blick in
die augenblickliche Situation. Und den Blick voraus. Man kann also restaurieren. Man kann
sich anpassen. Und man kann in eine offene Zukunft schauen. Das dritte ist bei weitem das
Schwierigste, aber das einzig Aussichtsreiche.
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Nun müssen damals in Babylon unter den Gefangenen einige aufgetreten sein, die dieses
Dritte versucht haben. Wir kennen ihre Namen nicht. Aber diese Leute retteten nicht nur der
Menschheit den geistigen Ertrag der israelitischen Überlieferung, sie führten auch die
Gotteserkenntnis der früheren Zeit in eine neue, reifere Phase. Sie eröffneten nicht nur dem
späteren Judentum eine neue Blütezeit, und sie brachten auf dem Wege auch über das
später entstehende Christentum die moderne Welt, wie sie heute kennen, mit hervor. Es
muss eine Zeit einer ungeheuren geistigen Fruchtbarkeit und Lebendigkeit gewesen sein,
einer ungeheuren Horizonterweiterung. Der kleine Lokalgott von Jerusalem wurde ihnen zu
dem einen Schöpfer Himmels und der Erde. Der Nationalgott Israels wurde ihnen zum Gott
aller Menschen und aller Völker. Und der Blick in die Vergangenheit schuf eine
Geschichtsschreibung, wie sie die alte Welt zu jener Zeit nicht kannte, und die Erfahrungen
dieser Geschichte wurden zu Modellen der Pläne für die Zukunft.
Aber die Gefangenschaft dauerte und dauerte. Zehn Jahre, zwanzig, dreißig, vierzig Jahre.
Aus den Sträflingen wurde am Ende eine Art babylonischer Bevölkerung. Sie kauften Land.
Sie bauten Häuser. Ihre Söhne heirateten babylonische Mädchen, ihre Töchter heirateten in
babylonische Familien ein. Viele gehörten nach einer Generation des Lebens am Euphrat
zur wohlhabenden Oberschicht. Man hat in Keilschrift die Aufzeichnungen eines jüdischen
Bankhauses in der dortigen Stadt Nippur gefunden mit Namen Muraschu und Söhne, das
seine Filialen an vielen Orten hatte. Babylonische Wohnkultur, Sprache, Schrift,
Staatsgesinnung und Religion waren vielen bald selbstverständlich. Die wirtschaftliche Blüte
des Landes, in dem sie lebten, war auf die Dauer das realere Gut als die verträumte
Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, die viele schon nicht mehr gesehen hatte, oder nach
der verlorenen Identität. Anpassung war das Gebot der Zeit. Und sicher begann man bald
Stolz darüber zu empfinden, dass man der führenden Militär- und Wirtschaftsmacht der
damaligen Welt angehörte, dem Land mit der modernsten Wissenschaft und den
mächtigsten Göttern. War die babylonische Welt nicht die Leitkultur, nach der sie sich zu
richten, der sie ihre Überzeugung, ihre Geschichte, ihre Identität zu opfern hatten? Vielleicht
haben die Jungen gefragt: Werden wir es schaffen, richtige Babylonier zu werden? Und die
Älteren: hängen wir nicht doch zu sehr am Vergangenen? Wenn wir es aber preisgeben,
wissen wir dann noch, wer wir sind?
Hans Jürgen Hufeisen will versuchen, diese Situation der Hoffnung und der
Hoffnungslosigkeit mit seiner Flöte ein wenig zu beschreiben.
In dieser Situation, in der ein Volk seine Identität zu verlieren drohte, trat einer der Großen
unter seinen Propheten auf. Der rief den orientierungslosen Menschen zu:
Schaut in euere Geschichte! Schaut in eure Anfänge! Sie liegen dort, wo ihr euch jetzt
befindet. Sie liegen hier in Babylon.
Denkt tausend Jahre zurück. Da lebte hier einer in guten Verhältnissen. Ihm fehlte es an
nichts. Aber die Verhältnisse konnten ihn nicht festhalten. Eines Tages brach er auf mit
seinem ganzen Familienclan und wanderte den Euphrat aufwärts, auf dem selben Weg, den
eure Eltern und Großeltern hierher getrieben worden sind, in umgekehrter Richtung. Denn
ihn traf eines Tages ein Ruf: Das hier ist nicht dein Platz! Geh los! Lass alles hinter dir! Geh!
Er fragte: Wohin? Und die Stimme sagte ihm: Das will ich dir zeigen Du sollst ein Land
finden, und in diesem Land sollen deine Nachkommen ein großes Volk werden. Und als er
lange genug gewandert war, erreichte er das Land, aus dem man eure Eltern vertrieben hat,
das Land zwischen Galiläa und Jerusalem und dem Negeb. Das Land, aus dem ihr
vertrieben worden seid. Eure Heimat.
Er rief den Juden in Babylon damals das grandiose Wort zu:
Schaut den Felsen an, aus dem ihr gehauen seid,
Abraham, euren Vater.
Schaut die Tiefe des Brunnens an, der eure Quelle war:
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Sara, die euch geboren hat.
Denn Abraham wurde von Gott gerufen.
So wird Gott auch euch trösten,
er wird euer Land zu einem Garten machen.
Sein Segen bleibt in Ewigkeit
und seine Treue vergeht nicht.
Werdet wach! Steht auf, ihr Bürger von Jerusalem.
Macht euch los von dem, was euch hier festhält.
Ich habe euch bei eurem Namen gerufen. Ihr seid mein! (Jesaja 51)
Er nennt die heimatlosen Menschen „Bürger von Jerusalem“. Er spricht sie auf ihre
Geschichte an. Er fasst sie bei ihren Wurzeln. Dem innersten Punkt ihrer Identität. Über die
deutsche Identität ging in den letzten Monaten eine unsäglich törichte Debatte. Ob man etwa
darauf stolz sein könne oder vielleicht müsse, dass man ein Deutscher ist. Wobei keiner so
recht zu sagen wusste, worauf man eigentlich stolz zu sein habe. Aber woran hängt denn die
Identität eines Volkes? Die nationale oder die kulturelle oder die religiöse Identität? Sie hängt
doch gewiss nicht nur daran, dass man mit einer gewissen Selbstgefälligkeit den Ort
beschreibt, an dem man sitzt. Sie hängt doch gewiss auch nicht an dem Versuch, den
eigenen Wert durch Vergleich mit anderen weniger wertvollen Völkern herauszustellen und
so auf seine eigenen höheren Werte stolz zu sein.
Sie hängt für ein Volk schon viel stärker damit zusammen, ob man ein Gespür dafür
bekommt, was eigentlich mit dieser eigenen Geschichte gemeint war und ist. Ob man weiß,
was für Schritte, die die eigene Geschichte zeigt, heute zu gehen sind. Ob man nicht
vielleicht eine Menge von dem, was bisher die eigenen Geschichte ausmachte, verlassen
muss, damit einem die wirkliche Identität nicht verloren geht, sondern den weiteren Weg
bestimmt.
Ist es das Wesentliche der deutschen Geschichte, dass sie einen Goethe hervorgebracht hat
– oder dass sie für einen Hitler gesorgt hat, dem die Deutschen blind und unterwürfig
nachgelaufen sind? Darauf geben doch die allseits abgelassenen Sprechblasen keine
Auskunft. Ich liebe mein Land, und ich weiß, dass ich diesem Volk angehöre. Aber diese
Liebe hat immer auch einen schmerzlichen Zug. Wenn ich auf der Schwäbischen Alb
wandere, dann weiß ich, dass dies mein Vaterland und meine Muttererde ist und bin tief
dankbar dafür. Aber Stolz ist mir ganz fremd. Wenn ich Jesus höre, dann redet er kein Wort
von Stolz, sondern immer eher davon, was sein Gegenteil ist. Nämlich von Liebe und von
Hingabe.
In Babylon jedenfalls hatte das jüdische Volk keinen Anlass, auf irgendetwas stolz zu sein.
Aber es hatte eine Vergangenheit. Und von dieser Vergangenheit aus, von dieser Grundlinie
seiner Geschichte, fand es den Weg in seine Zukunft.
Da sagte also einer: Schaut Abraham an. Tausend Jahre sind seit ihm vergangen. Und nun
zieht die Linie weiter aus. Ihr habt noch eine Zukunft. Ihr habt euer Wesen, eure Identität
nicht verloren. Geht also diesen uralten Weg, den Abraham vor tausend Jahren gegangen
ist, in euer Land. Es soll euch wieder gehören. Eure Zukunft wird gesegnet sein, und dieser
Segen wird von euch auf alle Menschen ausgehen. Und so wurde Abraham zum prägenden
Leitbild für jene Menschen in der späteren Zeit der Gefangenschaft.
Bald danach brach das Großreich Babylon unter dem Angriff des Perserkönigs Kyros
zusammen. Nach fünfzig Jahren der Gefangenschaft. Und ein großer Teil dieser
babylonischen Juden brach auf und zog auf jenem Weg zurück in das Land der Väter. Sie
wussten: Wir treffen keinen Glanz und keine Herrlichkeit an, sondern die Mühe und das
Elend. Wir finden kein freies Land. Auf den Äckern unserer Großeltern sitzen längst andere
Leute. Aber wir wagen es. Und aus diesem armseligen Neuanfang erwuchs danach das
jüdische Volk mit seinem unglaublichen geschichtlichen Stehvermögen, erwuchs die jüdische
Kultur, der jüdische Glaube – und später die christliche und die islamische Geschichte, die
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miteinander die letzten zweitausend Jahre im Umkreis unserer westlichen Kultur bestimmt
haben.
Es darf uns doch zu denken geben, woher das unglaubliche geschichtliche Stehvermögen
dieses Volks kommt, diese Dauerhaftigkeit, die kein anderes Volk erreicht hat. Dieses
Bewusstsein, Jude zu sein, das nun mehr als dreitausend Jahre durchgehalten hat. Und wie
es kommt, dass diese Dauerhaftigkeit mit dem Urbild zusammenhängt, das dieses Volk vor
Augen hat: Mit Abraham, dem Wanderer. Dieses Volk war immer nur für kurze Zeit irgendwo
zu Hause. Es war immer nur kurze Zeit unabhängig, nur kurze Zeit ein Staat. Und es blieb
mit sich selbst identisch. Es hat verstanden, loszulassen, aufzubrechen, und es ist ungemein
charakteristisch für seine Frömmigkeit, dass ihr Gott nicht eine feststehende Macht im
Hintergrund dieser Welt war, sondern immer viel eher ein Gott im Unterwegs, die wandernde
Schechina, von der die jüdische Mystik spricht, der wandernde Begleiter der Menschen im
Unterwegs durch die Geschichte. So konnten es auch die schwersten Katastrophen nicht
brechen, und so fand es immer aufs neue wieder den Anfang für einen neuen Weg.
Denken wir an uns selbst. Uns Deutsche. Uns Christen. Ist es denn das, was uns hilft, dass
wir auf etwas stolz sind, das wir sind oder das wir haben? Carl Spitteler hat vor hundert
Jahren gesagt: „Ich sehe ein Volk auf ausgehockten Schemeln hocken.“ Muss es sein, dass
wir das auf uns selbst beziehen müssen, auf unsere Parteien, auf unsere politischen
Meinungen, unsere Kirche und unseren christlichen Glauben? Lautet nicht eine
Grundwahrheit unseres Menschenlebens ganz anders, etwa so: Du kannst dein Leben nicht
sichern, du kannst es nur leben. Du kannst es nur wagen. Du kannst auch deine Freiheit
nicht sichern, du kannst nur wagen, ein freier Mensch zu sein. Du kannst nicht festkleben, du
kannst nur unterwegs sein.
Da gab es doch einmal einen, der gesagt hat: Lass liegen, was dich festhält. Was dich
beschwert, was dich hindert. Lass deine gewohnten Gedanken liegen. Deine falschen
Hoffnungen. Schau auf den Weg, den ich gehe, und folge mir nach. Du wirst das Leben
anders nicht gewinnen und das Reich Gottes sowieso nicht. Dein Ziel liegt nicht in einem
ausgehockten Schemel, es liegt vorn. Wer sein Leben sichern will, wird es verlieren, ihr aber
seid dazu bestimmt, es zu gewinnen. Und der das sagt, gehörte nicht zu den Sesshaften. Er
lebte mehr auf den Straßen als in den Häusern. Er war die Urfigur eines Menschen, die im
Unterwegs lebt. Und wir Christen, das sollten wir hin und wieder erwägen, tragen immerhin
seinen Namen.
Was liegt denn vor uns? Auf was haben wir denn zuzugehen?
In den sechziger Jahren haben wir einen Kirchentag erlebt, der das Thema Gerechtigkeit auf
sehr neue Weise zur Debatte stellte. Und heute haben wir einen Bericht der Regierung über
den zunehmenden Abstand der Reichen von den Armen.
In den siebziger Jahren sind wir dem sehr neuen Thema Umwelt begegnet. Und heute sehen
wir, dass rund um die Welt keine Umkehr stattfindet, sondern alles immer weiter in die
falsche Richtung läuft.
In den achtziger Jahren erlebten wir Kirchentage, die mit ungeheurer Energie von den
Mächtigen einen eindeutigen Friedenswillen einforderten. Ist es erfüllt, was wir damals
gesehen haben?
In den neunziger Jahren kam das Thema der Fremden in unserem Land mit bisher
unbekannter Schärfe auf uns zu. Heute ist es die Gentechnik. Heute ist es das Thema der
Sterbehilfe. Und kaum einer weiß für irgendeine dieser Anfragen die lösende Antwort.
Was wollen wir denn tun, wenn heute von uns verlangt wird, wir sollten nicht mehr nur
deutsch, wir sollten europäisch denken? Was tun wir, wenn immer deutlicher wird, dass die
Konfessionen der Kirche insgesamt ein Museum vergangener Zeiten sind? Was tun wir,
wenn die fremden Religionen uns nahe rücken und wir sehen: Wir müssen ihnen anders
gegenübertreten als dies unter Christen bisher üblich war? Was tun wir, wenn wir sehen, es
sei eigentlich dem Wesen unserer Kirche nicht angemessen, dass ein Staat für sie die
Steuern einzieht? Wie finden wir Schritte in eine veränderte Zukunft? Was tun wir, wenn wir
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Mühe haben, uns mit dem Glaubensbekenntnis unserer Kirche einverstanden zu erklären?
Wir finden wir den Einstieg in ein neues Begreifen dessen, was Jesus Christus für uns ist?
Das alles, liebe Freundinnen und Freunde, sind Dinge, denen wir nicht ausweichen können.
Die von uns verlangen, dass wir aus irgendeiner festen Meinung aufbrechen und einen
ersten und zweiten Schritt auf einem neuen Weg tun. Haben wir diesen Mut? Haben wir das
Vertrauen, dass uns einer führt? Dass einer mit uns geht, der den Namen Jesus Christus
trägt?
Das bedeutet nicht, dass wir nun gegen alles, was gilt und bewährt ist, streiten müssten. Wir
müssen überhaupt nicht streiten, sondern nur klar sagen, was Sache ist. Es ist nicht wichtig,
ob wir damit Begeisterung auslösen oder Hass. Nötig ist nur, dass wir tun, was in die Zukunft
führt.
Die Frage an uns, gerade auch an uns Deutsche und auch an uns Christen, ist doch: Was
habt ihr noch für Träume? Habt ihr nur noch die Spaßgesellschaft? Habt ihr nur noch das
wirtschaftliche Wachstum? Habt ihr nur noch den technischen Fortschritt? Oder habt ihr noch
etwas zu sagen, für das es sich lohnt, dass es euch gibt.
Von uns ist kein Heldenweg verlangt, sondern ein geduldiger Weg durch die kleinen Dinge
des Tages. Von uns ist kein Sieg verlangt, keine Überlegenheit. Der Glanz, der über unserer
Geschichte liegt, war immer schon ein Produkt der Phantasie. Und ein geschichtlicher
Auftrag hat immer weniger mit Weihrauch zu tun und mehr mit der Bereitschaft zum Opfer.
Immerhin wissen wir, was Jesus Christus uns über das Aufstehen, das Aufbrechen und über
den Weg sagt:
Ich bin der Weg. Ich habe einen Weg für dich. Lass dich nicht festlegen. Lass dich nicht
einfangen von deinen Depressionen oder von deiner Mutlosigkeit. Es gibt eine Zukunft, die
sich lohnt. Ich werde dich begleiten bis ans Ende der Tage. Du bist behütet. Der Segen
Gottes ist mit dir. Das Leben liegt vor dir. Nimm es in die Hand. Komm!
Nach Abraham aber nahm auch die Kirche das Bild des wandernden Menschen auf, und sie
bezeichnete sich selbst als das wandernde Gottesvolk. Und wenn wir heute versuchen,
Kirche zu sein, auch auf diesem Kirchentag, dann haben wir weniger eine Kathedrale vor
uns und schon viel eher ein Zelt, das sie, immer wieder neu für eine Station ihres Weges
aufzuschlagen hat. Dann ist uns das Abendmahl weniger ein feierliches Ritual, als eine
Zwischenmahlzeit bei einer Rast unterwegs. Denn für uns ist der Mensch selbst nicht so sehr
der Sesshafte, sondern der Wanderer, für den auch der Tod nur ein Durchgang ist, eine
kurze Rast vor einem neuen Aufbruch
Als die Gefangenen von Babylon vor ihrem Aufbruch standen, als sie voraussahen auf einen
unbekannten und gefahrvollen Weg, da sagte ihnen ein Prophet:
So spricht Gott:
Fürchte dich nicht. Ich mache dich frei.
Wenn du durch Wasser gehst, bin ich bei dir.
Inmitten von Strömen halte ich dich fest.
Wenn du durch Feuer gehst, wirst du nicht brennen,
und die glühende Wüste wird dich nicht versengen.
Ich mache das Meer still, wenn seine Wellen brausen,
und schütze dich. Ich zeige dir einen Weg,
den Weg der Befreiten, die erlöst sind von Angst.
Freude gebe ich dir im Aufbruch.
Auf dem Weg aber Geleit in Frieden.
Liebe Freundinnen und Freunde, dass das gilt, Euch und mir, darauf wollen wir uns
verlassen. Ich danke Euch für Eure Geduld und Aufmerksamkeit und wünsche Euch einen
gesegneten Tag.
Lied: Aus Singvogel: Dein, Gott, ist diese große Welt
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