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Predigt am 18. April 2010 in der Neustädter Hof- und Stadtkirche
Predigten zur Literatur: Thomas Mann und die Religion
Pastorin Martina Trauschke
Liebe Gemeinde!
Thomas Mann und die Religion – ist das eine Predigt um sieben Ecken? Warum fragen wir
nach Thomas Manns Religion? Hat er sich als Christ verstanden? Hat er zum christlichen
Glauben etwas Wichtiges zu sagen? Er hat einen großen Roman zu einer biblischen
Geschichte geschrieben: Joseph und seine Brüder. Wollen wir aber heute etwas davon wissen,
wenn seit Monaten täglich die moralische Korruptheit der Kirchen aus der Deckung ins Licht
der Öffentlichkeit gehoben wird? Das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs und der
Gewaltanwendungen als erzieherisches Handeln ist sicher im katholischen Kontext
verbreiteter, aber nachdem die Spitze des Eisbergs sichtbar geworden ist, fällt auf eine
schwerer fassbare, aber immer gespürte emotionale und geistige Unwahrhaftigkeit ein Licht,
das uns als evangelische Kirche genauso trifft. Kann es sein, dass in unseren Kirchen sich
Menschen vorzugsweise gesammelt haben, die sich vor den elementaren Widersprüchen des
Lebens und der eigenen Person so schützen wollten, dass sie diese einfach ausblendeten? Wir
sehen heute genauer wie in unseren Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten ein Klima, in
dem moralische Unwahrhaftigkeit gedeihen konnte, kultiviert wurde. Eine Haltung als ob im
Fordern des Guten und eines Mitgefühls, das die Komplexität der menschlichen Natur nicht
wahrhaben will, schon das Gute in der Welt sei. Mit dieser Erschütterung im seelisch
geistigen Gefüge unserer Kirche haben wir es zu tun und lesen Thomas Mann in der Predigt?
Ja, ich will es versuchen. Thomas Mann hat im Dezember 1926 mit dem Schreiben seines
großen Romans begonnen und im Januar 1943 abgeschlossen. Es war eine Zeit der politischen
Unruhe ( Ende des Kaiserreichs, Revolution, Errichtung der parlamentarischen Demokratie
waren virulent) und der gesellschaftlichen Tiefenerschütterung, die in der Zustimmung zur
Nazi-Ideologie und zu Hitler sich entlud. In dieser Zeit entscheidet sich Thomas Mann für
einen biblischen Stoff aus dem Alten Testament; er geht in die Tiefe unserer Herkunft. Er
geht zu den Wurzeln der aufgeregten Oberfläche. So hat er es selber gesagt: Er sucht das
Mythische als zeitlose Immer-Gegenwart. Das Mythische ist für ihn die Ur-Form des Lebens,
der unbewusste Kernbestand des Menschseins. Er flieht nicht aus der Gegenwart wie man
kurzsichtig meinen könnte. Die Elemente, die jetzt durcheinander gewirbelt nach oben gespült
werden, will er in ihrem ursprünglichen Zusammenhang verstehen und durch die
schöpferische Berührung mit der Gegenwart der Ur-Form neue Gestalt geben. In der
schöpferischen Arbeit am Alten Testament schafft Thomas Mann einen Gegenmythos zu den
Gespenstern von Rasse, Blut und Boden. Er sucht keine politische Reaktion auf Hitler, aber
eine geistige. In einem Brief schreibt er 1941:
„Wir sprachen über Gott und Religion heute, und ich erklärte, beim besten Willen nicht sagen
zu können, ob ich glaube oder nicht. Ich habe mich aber zuweilen im Verdacht, dass ich
glaube; denn ohne einen Glauben kann man l’Infame ( damit meint er Hitler ) wohl nicht so
hassen wie ich es eingestandenermaßen tue.“
Aus dem Haß, aus der Gegnerschaft gewinnt Thomas Manns eigener Glaube Kontur. Wenn
man unter Glauben nicht ein Fürwahrhalten von theologisch richtigen Sätzen versteht,
sondern die sinnstiftenden Grundlagen eines Lebens, dann relativiert sich die Trennung von
Menschen, die in der Kirche sind und denen außerhalb. So hat Thomas Mann ein völlig
entspanntes Verhältnis zur Gültigkeit der biblischen Texte. Die wissenschaftliche Einordnung
und historische Kritik zur Entstehung der Bibel destruiert nicht ihre Wahrheit. Denn er weiß:
Das Herz hat Gründe, von denen der Verstand nichts weiß. So beginnt er zu erzählen im
besten Vertrauen auf die Gründe des Herzens bis in die feinsten Verästelungen, was im ersten
Buch Mose in knappen Geschichten sich dargestellt. Dafür nutzt er das historische Wissen
über diese Epoche, aber niemals besserwisserisch gegen die biblischen Texte. Das Mythische
als Ur-Form des Menschen zeigt er in Abraham. Abraham steht am Beginn mit seiner
Entscheidung, nur dem Höchsten zu dienen mit seinem Leben. Abraham entwickelt diese
Haltung in Unterscheidung von den Menschen seiner Umgebung. Die Menschen in der
Tradition Kanaans geraten in Furcht und Anbetung zu den großen Wirkungen der Natur, von
denen sie in ihrer Lebenswelt abhängig sind. Aber Abraham will nur den Herrn der Natur
verehren; den, der die Natur hervorgebracht hat. Nur dem Höchsten bereit sein zu dienen –
das ist das Erbe Abrahams. In dieser Entscheidung entdeckt Abraham Gott, denkt ihn hervor.
So lautet es im Roman:
„Ja, Abram hatte den Seinen von seiner Hochgemutheit mitzuteilen gewusst. ... Denn
gewissermaßen war Abraham Gottes Vater. Er hatte ihn erschaut und hervorgedacht, die
mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschrieb, waren wohl Gottes ursprüngliches Eigentum.
Abram war nicht ihr Erzeuger. Aber war er es nicht dennoch in einem gewissen Sinne, indem
er sie erkannte, sie lehrte und denkend verwirklichte? Gottes gewaltige Eigenschaften waren
zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber waren sie auch in ihm und von
ihm; die Macht seiner eigenen Seele war in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu
unterscheiden, verschränkte sich und verschmolz erkennend in eines mit ihnen, und das war
der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abraham schloß und der nur die
ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache war.“
Nicht nur der Mensch braucht Gott. Für Thomas Mann ist Gott ein Bedürftiger; er braucht den
Menschen, der ihn hervordenkt. Der Bund zwischen Gott und Mensch – ein echter
Wechselprozeß. Gott braucht den Menschen für seine Entwicklung. Das ist Thomas Manns
schöpferische Aneignung der Ur-Form des jüdisch christlichen Gottesglaubens. Wie leuchtet
diese Fassung des Abraham-Erbes, nur dem Höchsten bereit sein zu dienen, aus diesen
dreißiger Jahren hervor!
Als Lesung haben wir von der dramatischen Wendung in Abrahams Gottesverhältnis gehört.
Das Opfer seines Sohnes Isaak wird von Gott abgelehnt. Es markiert das Ende des
Menschenopfers zur Ehre Gottes; das Ende einer bestimmten Furcht vor Gott. Diese
Aufmerksamkeit für die Entwicklung Gottes nennt Thomas Mann Gottesklugheit, nämlich die
Wachheit für die Ablösung des Menschenopfers. In viel früheren Stadien haben die Menschen
die Übermacht Gottes drastisch erlebt. Durch ein Opfer von Ihresgleichen wollten sie den
Übermächtigen befrieden. Laban – eine Person im Roman – verpasst den Moment, da das
Menschenopfer zum Greuel und zur Dummheit wird. In der Figur des Laban, des
Schwiegervaters von Jakob, zeigt er einen, der auf einer abgelebten Stufe hängen bleibt. Um
sich zu demütigen und Segen zu erbitten, hat er einen seiner Söhne im jungen Alter geopfert
und bewahrt die konservierte Leiche als Hausgott im Keller seines Hauses. Laban ist der
Vertreter der Gottesdummheit, der an überlebten Formen des Gottesglaubens verbissen
festhält und fehlgeht. Abraham hat seine Gottesklugheit an seine Nachkommen weitergegeben
und die Verehrung Gottes aus dem Dämonischen ins Geistige und Heilige entwickelt.
Aufmerksamkeit für innere Veränderungen in der Welt und der Gehorsam, Leben und
Wirklichkeit dem neuen Bild der Wahrheit anzupassen, sind für Thomas Mann religiöse
Haltungen. Und Sünde ist, gegen den Geist zu leben; aus Unachtsamkeit am Veralteten
festzuhalten.
Ich für mein Teil bin sehr froh zu wissen in diesen wilden, schwierigen, schrecklichen Jahren
von 1926 bis 1943 waren Einzelne da, die tief und weit und hoch genug gedacht und geglaubt
haben, um in schlimmster Zeit ein solches Werk zu schaffen wie der Roman ‚Joseph und
seine Brüder’ es ist. Thomas Mann nennt ihn ein Menschheitssymbol. Bis auf die
Gottesdummheit und Gottesklugheit hin hat er die Menschen erkannt, so dass wir uns darin
erkennen können. In aufgeregten Zeiten muß man in größere Tiefen vorstoßen, um die
Gleichgewichte neu auszutarieren wie der Mensch in der Welt leben kann ohne sich an Gang
der Dinge vollends auszuliefern oder in haltlosen Gottesdummheiten hängen zu bleiben.
Eine unserer Gottesdummheiten liegt jetzt vor unseren Augen: die moralische Korruptheit in
den Kirchen. Die geistigen Bequemlichkeiten, die wir uns verschafft haben mit dem hehren
moralischen Anspruch, den wir für uns reklamieren. Das Trostbedürfnis, das sich ruhig stellen
möchte im eigenen Gutsein. Es ist gut, dass diese abgestandene, stickige Luft jetzt vor die
Nase der Öffentlichkeit gekommen ist. Nicht das Gute allein hat Gott uns anvertraut, sondern
das Ganze mit seinen harten, anstrengenden Widersprüchen. Gott hat uns Herz und Verstand
gegeben, es aufzunehmen und zu ordnen. Niemand hält uns, in der Gottesdummheit sitzen zu
bleiben.
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