1 Predigt über Phil 2,3 Einander achten ‚Einander achten‘ ist das Thema der heutigen Besinnung. Ich lese dazu einen Text aus dem Philipperbrief, einen Teil davon (Phil 2, 3-8) haben wir bereits in der Schriftlesung gehört. Phil 2 1 Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, 2 so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr "eines" Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. 3 Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den andern höher als sich selbst, 4 und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. 5 Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht. „Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ In der Stadt Bern, auf dem Schosshaldenfriedhof steht ein Grabstein, dessen Inschrift sich einem nicht ohne Weiteres erschliesst: Diesseitig bin ich gar nicht faßbar. Denn ich wohne grad so gut bei den Toten wie bei den Ungeborenen. Etwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblich. Und noch lange nicht nahe genug. Diese geheimnisvollen Worte stehen im Tagebuch eines Menschen, der es gewohnt war, nicht oder falsch verstanden zu werden. Das ging so weit, dass sein Einbürgerungsgesuch an die Schweiz von den Behörden monatelang verschleppt wurde. Erst einige Tage nach seinem Tod wurde ihm stattgegeben, als es eigentlich schon zu spät war. Die Grabstätte auf dem Schosshaldenfriedhof, es ist die letzte Ruhestätte des Kunstmalers Paul Klee. Klee starb an Sklerodermie, grob gesagt, einer Verhärtung und Verdickung der Haut und der Schleimhaut, die unter Umständen auch innere Organe betreffen kann. Viele Fachleute vermuten hinter dieser Krankheit unter anderem psychische Ursachen. In seinem letzten Lebensjahr hatte Klee kein einziges Bild mehr verkauft. Seine Einzigartigkeit war zugleich sein Schicksal: Er war seiner Zeit voraus, in gewisser Weise ein Heimatloser. 2 Wenn Heimat dort ist, wo ich verstehe und verstanden werde (Karl Jaspers), so ist die Liste der Unverstandenen gerade unter Menschen, die von der Norm abweichen, endlos. Denken wir nur an Van Gogh, der in seinem Leben nur ein einziges Bild verkauft hatte oder an Robert Walser zum Beispiel, der sein Leben in einer Psychiatrischen Klinik in Herisau beschloss und gegenüber seiner Umgebung immer unzugänglicher wurde. Das nicht verstanden werden kann unter Umständen groteske und amüsante Formen annehmen wie in einer meiner Lieblingsanekdoten: Sie handelt von einer Begegnung zwischen Friedrich Nietzsche und Gottfried Keller in Zürich. Der gemeinsame Bekannte, der die Begegnung in die Wege geleitet hatte, fragte die Beiden nachträglich nach ihren Eindrücken. Es sei sehr schön gewesen, erklärte Nietzsche, nur entsetze ihn das fürchterliche Deutsch, das Keller spreche, und die schwerfällige Art, mit der sich der grosse Schriftsteller mündlich ausdrücke. Am nächsten Sonntag fragte der Bekannte dann Gottfried Keller, ob Herr Nietzsche ihn besucht habe. Keller bejahte und fügte lakonisch hinzu: „Ich glaub’ dä Kerl isch verruckt.“ Es ist schon so. Der zwischenmenschliche Kontakt führt zwangsläufig zu gegenseitiger Beurteilung. Das ist ja an sich nichts Schlechtes, denn es ist uns Orientierung im Umgang mit unseren Mitmenschen und bewahrt uns unter Umständen vor Enttäuschungen, vor Fehlleistungen und ungerechtem Handeln einem Mitmenschen gegenüber. Doch jedes Urteil birgt unweigerlich eine grosse Gefahr in sich. Eine deutsche Arbeitskollegin gebrauchte ein bestimmtes Wort auffällig häufig; es war das Wort ‚typisch‘. Das sind typisch diese Schweizer, meinte sie, sie entschuldigen sich beständig: „Entschuldigung, ist dieser Platz noch frei?“ . „Entschuldigung, könnten sie mir sagen, wo ich hier die Magermilch finde?“. „Entschuldigung, wie komme ich zum Bahnhof?“ Daneben gab es dann noch in ihren Augen das typisch Männliche und, quasi als Feintarierung, die Feststellung „Typisch Lanz“. Und mit der Zeit wurde mir klar: Das Wort ‚Typisch‘ bezeichnete im Grunde genommen eine Schublade. Und ich habe mir im Geheimen gedacht: „Typisch Rosi.“ Das Denken in Schubladen, es ist weit verbreitet und beliebt, übrigens auch bei mir selbst! Es schafft eine scheinbare Ordnung in unsere Gedanken. Es hat einmal jemand (William James) gesagt: „Viele meiner Mitmenschen glauben, sie denken. In Wirklichkeit ordnen sie nur ihre Vorurteile neu.“ Schön und humorvoll ausgedrückt! Doch kehren wir zum Text aus dem Philipperbrief zurück. Unser Bibelwort hat in mir zuerst einen verständlichen Widerstand geweckt: „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Wenn ich mir vergegenwärtige, was alles auf dieser Welt geschieht, an Grausamkeit, an Entsetzlichem, an Gottlosem, an Widernatürlichem, wo Menschen auf grausame Weise umgebracht werden, wo jahrtausende alte Kulturgüter von primitiven Fanatikern mit dem Vorschlaghammer zerstört 3 werden, so frage ich mich zunächst unwillkürlich: Soll ich die Urheber all dessen höher achten als mich selbst? Diese Frage beantwortet sich von selbst, wenn wir unser Augenmerk auf den Adressaten dieser Zeilen richten: Das Pauluswort ist nämlich an die Gemeinde in Philippi gerichtet! Erst mit der Erkenntnis dieses Adressaten erschliesst sich uns das eigentliche Anliegen dieses Textes. Die Gemeinde in Philippi war die erste Gemeinde, die Paulus auf europäischem Boden gegründet hatte. Die Stadt Philippi war für Paulus mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden, und der Apostel schreibt denn auch (1. Thessalonicher 2,2), dass er in Philippi gelitten hatte und misshandelt worden war. Auch Zwangsarbeit musste er verrichten. In seinem wohl in Rom geschriebenen Brief denkt er aber überaus dankbar an die von ihm gegründete Gemeinde, die ihn nach Kräften, auch finanziell, unterstützte. Dankerfüllt schreibt er: „Ich danke meinem Gott, so oft ich euer gedenke.“ Wir dürfen jedoch annehmen, dass auch in der Gemeinde in Philippi, ähnlich jener in Korinth, nicht alles eitel Freude war. Die Gemeindeglieder lebten im Alltag des ersten Jahrhunderts, in welchem es gewiss mitunter nicht sehr gesittet zuging. Wir können das gut verstehen denn auch in unserem Alltag geht es bisweilen ja auch nicht sehr gesittet zu…Und so mag für manchen, wohl für jeden, der Schritt in die christliche Gemeinde der Beginn eines langen Lernprozesses gewesen sein. Hinter den Ratschlägen des Apostels an jene Menschen, die Paulus und seine Gefährten ihrem Herrn, Christus zugeführt haben, erkenne ich jedoch nicht nur eine Sorge um das Wohl dieser Gläubigen, sondern ebenso sehr eine grenzenlose Liebe und eine tiefe Menschenkenntnis. Paulus weiss, was das Zusammenleben in der Gemeinde fördert und was einem erspriesslichen Gemeindeleben im Wege steht: „Denkt nicht immer zuerst an euch, sondern kümmert und sorgt euch auch um die anderen“ ist einer der Kernsätze, welcher die Bedeutung, den Sinn der christlichen Gemeinschaft betont. Mir ist beim Nachdenken über diesen Satz plötzlich etwas klar geworden, über das ich bis jetzt noch viel zu wenig nachgedacht hatte: Menschen, die immer zuerst an sich selbst denken, sind im Grunde genommen keine glücklichen Menschen! Es liegt darin so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit. Wer glücklich sein will, der sucht den anderen, sucht das Du. Nicht das ich, das Du ist der Sinn, die Erfüllung der Gemeinschaft. Und in diesen Zusammenhang gehört auch ein weit verbreitetes und zählebiges Missverständnis: Eine Gemeinschaft wird nämlich nicht aus Gleichgearteten oder gar Gleichgeschalteten gebildet. Wir müssen uns deshalb stets im Klaren darüber sein, dass andere Menschen ein Recht haben, anders zu sein als wir! Was uns verbindet, ist nicht unsere Vorbildung, nicht unsere Klugheit, nicht unser musikalische Geschmack , sondern es ist unser gemeinsames Ziel, Christus Deshalb wird der Schlüssel zum Herzen der Menschen nie unsere Klugheit, sondern immer unsere Liebe sein. (Hermann Bezzel). 4 Und damit kommen wir zu jenem Satz, der für mich der Kernsatz des ganzen Abschnitt ist: „…sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Da sei doch zunächst die Frage gestattet: Kennen wir einander wirklich? Albert Schweitzer hat dies einmal ganz klar formuliert: “Dass wir eines dem anderen Geheimnis sind, damit müssen wir uns abfinden.“ Jeder Mensch ist ein ganzes Universum. Und wir können, wie vom wirklichen Universum, nur jeweils einen Teil davon sehen. Wir sehen von allen Dingen nie die ganze Wahrheit; jede unserer Erkenntnisse ist Abstraktion, Vereinfachung. Wir haben eine Perspektive, einen Blickwinkel. Und bei jedem Blickwinkel gibt es etwas, das verborgen, das nicht sichtbar ist. Antoine de St Exupery hat einmal geschrieben: Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung Jeder Mensch hat uns etwas zu sagen. Von jedem können wir etwas lernen. Und jeder Mensch hat Beachtung, hat Achtung verdient. Worauf gründen wir unsere Beurteilung eines Mitmenschen? Auf frühere ‚Erfahrungen‘, auf die Gegenwart? Auf seine Möglichkeiten? Ich habe einmal an mir selbst etwas Merkwürdiges erlebt. Ich traf einen ehemaligen Klassenkameraden, erstmals nach 50 Jahren. Er war damals Klassenprimus gewesen und hat es dann entsprechend weit gebracht. Als Vierzehnjähriger war ich selbst dagegen mehr an Sport als an Grammatik und Französisch interessiert welches jetzt zu meiner Lieblingsfremdsprache geworden ist. Der ehemalige Schulkollege zeigte sich völlig erstaunt, dass ich einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen hatte, denn er sah mich im Grunde genommen immer noch als Vierzehnjährigen, der seinen Deutschlehrer sowie den Französischlehrer unausstehlich fand und dessen Interessen mit denen seiner Lehrer in keiner Weise übereinstimmten. Und irgendwie gewann ich während unseres Gesprächs den Eindruck, dass der gute Mann automatisch annahm, bei mir habe sich in den vergangenen 50 Jahren nichts, jedenfalls nichts Erwähnenswertes getan. Oft scheint es, als wären wir in unserer eigenen Biographie gefangen, (übrigens eines der Hauptthemen des Schriftstellers Max Frisch) und es ist nicht einfach, dem Bild zu entfliehen, welches jemand sich über uns gemacht hat. Dabei sind wir nicht bloss Menschen mit einer Vorgeschichte, sondern auch solche mit einer Zukunft! Unter anderem diese ganzheitliche Betrachtungsweise hat Paulus wohl im Sinn, wenn er schreibt: „Sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Das will auch heissen: „Kümmert euch umeinander und geht aufeinander ein! Betrachtet den ganzen Menschen und nicht bloss einzelne Aspekte, zum Beispiel einen Versager, der ihm einmal widerfahren ist oder seine Vorgeschichte, die ihn ja mitunter selbst belastet!“ Wir werden auch in unserer Gemeinde immer wieder Menschen begegnen, die falsche beziehungsweise irreführende Signale aussenden, sei es, dass sie mit sich selbst Schwierigkeiten haben oder dass sie zu scheu sind oder einfach deshalb, 5 weil sie sich nicht so gut ausdrücken können oder weil sie meinen, ihre Gedanken seien für andere sowieso nicht besonders interessant. Von jedem Menschen können wir etwas lernen und jeder Mensch hat etwas zu sagen und eine Orchidee, selbst wenn sie im Verborgenen blüht, bleibt eine Orchidee! Paulus schreibt über die Voraussetzung zur gegenseitigen Achtung ein ganz wichtiges Wort, es ist das Wort ‚Demut‘. „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Im Neuen Testament wird uns diese Demut eindrücklich vorgelebt. Etwa von Paulus, wenn er schreibt: „ …denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er sei der Herr, wir aber eure Knechte um Jesu Willen.“ Und von Jesus schreibt der Apostel:“…er entäusserte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein andrer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz.“ Ja, solches erlitt der, von dessen Name sich unser christlicher Glaube ableitet. Er erduldete unsagbare Demütigungen, wurde verhöhnt, ausgepeitscht und ans Kreuz geschlagen. Die entsetzlichen Leiden unseres Herrn lassen uns verstummen , aber gleichzeitig daran denken, wie vielen Menschen im Verlauf der Jahrhunderte Ähnliches widerfuhr und bis auf den heutigen Tag widerfährt! In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Die christliche Gemeinde ist es, in welcher Demut gelebt werden muss, und zwar nicht die zur Schau gestellte Demut, wie sie mancherorten, auch innerhalb der Kirche, praktiziert wird und die keine wirkliche Demut ist. Wahre Demut herrscht dort, wo wir uns selbst zurücknehmen, wo wir uns selbst nicht so überaus wichtig nehmen, wo wir aufeinander zugehen, wo wir Sorge tragen zueinander, wo uns der andere Mensch ungeachtet seiner Andersartigkeit wichtig ist. Denn wir haben eine Aufgabe aneinander als Menschen, die auf einem gemeinsamen Weg gehen, den uns Christus vorgezeichnet hat, indem er sagte: Folget mir nach. Und wir können diese Aufgabe nicht besser erfüllen, als uns nach diesen Worten des Apostels Paulus auszurichten: In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Denn leben wir nach diesem Rat des Paulus, dann werden wir einander eine grosse Hilfe sein. Ich schliesse mit einer Weisheit von Mutter Teresa: Das Schlimmste sind nicht Pest und Cholera. Das Schlimmste ist, von niemandem beachtet und geliebt zu werden. 2.März 2015