Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann Wintersemester 2004/05 Öffentliches Recht I (Staatsorganisationsrecht) Di, 13 - 16 Uhr Hörsaal V § 32 Grundgesetz und europäische Integration Grundsätzlich beansprucht jeder Staat die volle Hoheitsgewalt über sein Staatsgebiet und seine Staatsangehörigen. Völkerrechtliche Vereinbarungen mit anderen Staaten ändern hieran in der Regel nichts, da sich die so eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen nur auf die Ausübung der Hoheitsgewalt beziehen, nicht aber auf ihren Bestand oder ihren Umfang: Die Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Regeln im innerstaatlichen Recht bedarf eines entsprechenden nationalen „Umsetzungsaktes“ aufgrund dessen eine völkerrechtliche Regelung innerstaatlich Anwendung findet (vgl. Art. 25, 59 GG). Anders ist es, wenn die Befugnis zur Ausübung hoheitlicher Gewalt in einem bestimmten Bereich „weggegeben“ und auf eine „supranationale“ Organisation übertragen wird: Dann können die Organe dieser Einrichtungen durch den Erlass von Rechtsnormen oder Individualentscheidungen unmittelbar in den innerstaatlichen Bereich hineinwirken, insbesondere ohne einen jeweiligen nationalen Umsetzungsakt. Die durch Kompetenzübertragungen geschaffene „Hoheitsgewalt“ solcher Organisationen wirkt also anstelle der „geschrumpften“ nationalen Hoheitsgewalt. Hierfür bedarf es aus verfassungsrechtlicher Sicht einer Ermächtigung im Grundgesetz: Diese bestand zunächst in Art. 24 I GG (Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen). Im Zusammenhang mit der ganz erheblichen Erweiterung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft und der Schaffung der Europäischen Union im Maastrichter Vertrag von 1992 ist die Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union (und damit in ihren „drei Säulen“: Europäische Gemeinschaften bestehend aus Europäischer Gemeinschaft, EURATOM und Montanunion – seit 2002 in EG aufgegangen; Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik; Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres) mit dem neuen Art. 23 GG auf eine spezielle verfassungsrechtliche Grundlage gestellt worden. Zu betonen ist aber, dass bislang nur im Bereich der „ersten Säule“ (Europäische Gemeinschaften) nationale Hoheitsrechte übertragen wurden; in den Bereichen der „zweiten“ und „dritten“ Säule handelt es sich immer noch um Formen institutionalisierter Zusammenarbeit von Regierungen, d.h. hier können keine den jeweiligen Staat gegen seinen Willen bindende Maßnahmen beschlossen werden. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaften stellt einen Einbruch in die Ordnung der Verfassung dar: Die Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte ist nämlich kein Akt deutscher Staatsgewalt mehr und daher auch nicht an das Grundgesetz gebunden. Hinzu kommt ferner, dass dem Gemeinschaftsrecht (Anwendungs-)Vorrang vor entgegenstehendem nationalen Recht zukommt. Diesem Zustand haben die Zustimmungsgesetze zu den die Gemeinschaften gründenden Verträgen zugestimmt. Dies bedeutet aber auch, dass die Gemeinschaften nur diejenigen Kompetenzen ausüben dürfen, die ihnen von den Mitgliedstaaten übertragen worden sind (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung); andernfalls handeln sie ultra vires und solche Rechtsakte sind rechtswidrig. Allerdings hat das BVerfG mehrfach festgestellt, dass die Übertragung deutscher Hoheitsrechte nicht schrankenlos zulässig ist; nach der Rechtsprechung zu Art. 24 I GG endet die Zulässigkeit dort, wo die Identität der deutschen Verfassungsordnung, d.h. ihre „tragenden Strukturprinzipien“ aufgegeben würden (E 37, 271; 73, 339). Hierzu gehört auch ein Mindeststandard an Grundrechten. In Anknüpfung an diese Rechtsprechung ist Art. 23 I GG formuliert: Die Mitwirkung Deutschlands an der künftigen Entwicklung der Europäischen Union ist Staatsziel, jedoch nur solange wie hierbei bestimmte Standards (Achtung demokratischer, rechtsstaatlicher, sozialer, föderativer Grundsätze und Gewährleistung eines „diesem Grundsatz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz“) eingehalten werden. Eine weitere, auch im Wege der Verfassungsänderung nicht zu überschreitende Grenze bildet Art. 79 III GG, auf den auch Art. 23 I 3 GG verweist; insoweit ist vor allem umstritten, ob diese Bestimmungen dem „Aufgehen“ Deutschlands in einem echten europäischen Bundesstaat entgegensteht. Besondere Probleme wirft die Frage der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Rechtsakten der Gemeinschaft auf: Diese können grundsätzlich in entsprechender Anwendung von Art. 100 I GG vom BVerfG auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundstrukturen der Verfassung überprüft werden (E 37, 271). Eine wesentliche Einschränkung gilt für die Überprüfung am Maßstab der deutschen Grundrechte: In Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung (E 37, 271) hat das BVerfG 1986 entschieden (E 73, 339), dass es seine – grundsätzlich bestehende Kompetenz – nicht mehr ausüben wird, solange die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einen Grundrechtsschutz garantiert, der dem vom Grundgesetz unabdingbar gebotenen Schutz im wesentlichen gleichkommt. Es zieht sich damit auf eine „generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards“ (E 89, 155) zurück. Dies bedeutet m.E., dass die „latente“ Überprüfungskompetenz dann wieder aktualisiert werden kann, wenn der EuGH in einem wichtigen Grundrechtsbereich unter das Niveau des aus deutscher Sicht unabdingbaren Grundrechtsschutzes sinkt (vgl. auch E 102, 147). Nach dem BVerfG (E 89, 155) haben Rechtsakte der Gemeinschaft in Deutschland dann keinen Anspruch auf Anwendung, wenn sie ultra vires – Akte sind. Unklar blieb, ob jede Behörde oder Gericht dies feststellen kann (m.E. nicht haltbar) oder ob dem BVerfG insofern – entsprechend Art. 100 I GG – ein „Verwerfungsmonopol“ zukommen soll (m.E. geboten). Allerdings setzt dies m.E. voraus, dass das BVerfG zuvor dem EuGH im sog. Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EGV eingeschaltet hat.