Prof. Dr. Dres.h.c. Ulfrid Neumann Sommersemester 2016 Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie Zusammenfassung 3. Stunde (4. Mai 2016) Zusammenfassung 1) Der Gedanke eines Gesellschaftsvertrags, also einer (fiktiven) Vereinbarung zwischen den Menschen zur Begründung einer staatlichen Ordnung, gibt nicht nur eine Antwort auf die Frage nach der Legitimation des Staates. Er kann auch herangezogen werden, um die Frage nach einer gerechten gesellschaftlichen Ordnung zu beantworten. Das geschieht in der Rechtsphilosophie von John Rawls (1921-2002, Hauptwerk „A Theory of Justice“, 1971). Gerecht sind nach Rawls diejenigen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, auf die sich die Menschen in einem Urzustand, in dem niemand seine Rolle in der künftigen Gesellschaft kennt („veil of ignorance“), einigen würden. Dabei sei davon auszugehen, dass die Menschen eine Sicherheitsstrategie wählen würden („Maximin-Regel“). Nach Rawls wären die Resultate einer solchen Einigung: - Grundfreiheiten sind gleich zu verteilen; - Wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur akzeptabel, wenn - - Chancengleichheit besteht, und - - die Ungleichheiten mit Vorteilen für alle verbunden sind. 2) Im Staatsmodell von Hobbes (Leviathan, 1651) führt der vertragstheoretische und damit in der Konstruktion liberale Ansatz im Ergebnis zu einem absolutistischen System und damit zu einer Bedrohung der Freiheit. Dies verdeutlicht die Dialektik der Schutzfunktion des Staates: Der Staat, der den Bürger schützt, wird gleichzeitig zur Bedrohung der Freiheiten dieses Bürgers. Damit stellt sich die Frage: Wer schützt den Bürger vor dem Staat? Quis custodiet custodes ipsos? 3) Die mögliche Gefährdung von Interessen und Rechten der Bürger durch die Staatsmacht muss auch jenseits von Ansätzen problematisiert werden, die den Staat von vornherein einer gezielten Unterdrückungsfunktion verdächtigen (so insbesondere die marxistische Rechts- und Staatstheorie). Zwar kann man im Rechtssystem auch Mechanismen der Unterdrückung bestimmter Gruppen durch andere identifizieren (so in der Kriminologie der „konflikttheoretische“ im Gegensatz zum „konsenstheoretischen“ Ansatz). Es geht aber entscheidend um die mit der Schutzfunktion des Staates notwendig verbundene Gefährdung der Freiheiten des Bürgers und die Versuche der Eindämmung dieser Gefährdung. Die Ansätze zur Domestizierung des Super-Wolfes Staat lassen sich auf die drei Nenner bringen: Gewaltenteilung, Demokratie, Menschenrechte. 4) Gewaltenteilung und das mit ihr verbundene Prinzip der Gesetzesbindung sind zentrale Elemente des Rechtsstaats. Exekutive und Judikative sind an Recht und Gesetz, die Gesetzgebung ist an die verfassungsgemäße Ordnung gebunden (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Allerdings bestehen zwischen den Gewalten auch verfassungsrechtliche Verschränkungen. Außerdem wird die Kontrollfunktion des Parlaments gegenüber der Regierung durch den Umstand relativiert, dass Regierung und Parlamentsmehrheit im Regelfall von der gleichen Partei/den gleichen Parteien gestellt werden. 5) Demokratie bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem: Kontrolle der Regierung durch die Opposition, durch die Möglichkeit der demokratischen Abwahl. Die Demokratie basiert wohl nicht auf dem Gedanken, dass die Mehrheit schon „das Richtige“ finden werde, sondern auf der Idee, dass es im Bereich des Politischen „das Richtige“ nicht gibt (Position des Relativismus) und deshalb nach dem formalen Kriterium der Mehrheit entscheiden werden muss. Systeme, die auf Wahrheitsansprüchen basieren (Kommunismus, zahlreiche Religionen und deren Institutionen) stehen demokratischen Entscheidungsprozessen jedenfalls tendenziell ablehnend gegenüber. 6) Ein Bollwerk gegen den Zugriff der Exekutive wie auch parlamentarischer Mehrheiten (!) auf Freiheitsrechte einzelner bildet die Anerkennung von Menschen- und Bürgerrechten, die ihre Schutzfunktion insbesondere auch gegenüber Minderheiten entfalten. Berühmtes Beispiel: die KruzifixEntscheidung des BVerfG (BVerfGE 93, 1). Gegen die Argumentation der Bayerischen Staatsregierung, eine überwältigende Mehrheit in Bayern akzeptiere das Kruzifix in der Schule, betont das BVerfG den Minderheitenschutz durch das Grundrecht der negativen Religionsfreiheit. 7) Ein wichtiges Element des Rechtstaates liegt in der Bereitstellung von institutionellen (prozeduralen) Möglichkeiten zur Durchsetzung individueller Rechte. Soweit es um die Beeinträchtigung individueller Rechte durch den Staat geht, eröffnet das GG den Weg zu den Gerichten (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG). Bei der Verletzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten ist die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde gegeben (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Die Effizienz des Rechtswegs wird durch das Prinzip der Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG) gesichert. 8) Auch bei der Beeinträchtigung der Rechte eines Bürgers durch einen anderen Bürger hat der Staat dem Betroffenen Rechtsschutz zu gewähren. Versagt die Justiz einem Bürger systematisch und systembedingt (nicht nur punktuell) diesen Rechtsschutz, dann stellt sich die Frage eines Selbsthilferechts des Bürgers, weil der Staat seine Verpflichtung aus dem Gesellschaftsvertrag nicht erfüllt und deshalb eine komplementäre Befreiung des Verletzten von der Friedenspflicht (Gewaltverzicht) in Betracht kommt. (unter diesem Gesichtspunkt zu Michael Kohlhaas Voßkuhle [Präsident des BVerfG] in einem Karlsruher Vortrag; vgl. FAZ v. 11. 10. 2013). Diese Argumentation setzt allerdings voraus, dass man den Gesellschaftsvertrag (mit Locke, gegen Hobbes) als Vertrag (bzw. vertragsähnliches Verhältnis) auch mit dem Souverän (und nicht nur als einen Vertrag zugunsten des Souveräns) konstruiert.