1 Prof. Dr. Gerd E. Schäfer Einführung in die Pädagogik der Frühen Kindheit Anthropologische Grundlagen und Konzepte Kapitel 3: Die Früherziehung M. Montessoris [ 3.1 ] » 3.2 » 3.3 » 3.4 » 3.5 » Inhalt 3.1 Biographische Skizze 3.1.1 Die politische Lage in Italien Im Jahr 1870 war aus den Königreichen, Fürsten- und Herzogtümern der Halbinsel durch die Annexion des päpstlichen Staates die territoriale Einheit Italien geworden. Österreicher und Franzosen waren aus dem Land vertrieben. Eine bürgerliche Revolution hatte nicht stattgefunden. Dennoch hatte die Bewegung des Risorgimento (Wiedergeburt) den Gedanken der Einheit und Freiheit Italiens vorangetrieben. Die politische Ordnung Italiens hatte sich verändert, doch die sozialen Strukturen waren erhalten geblieben. "Nur eine winzige Minderheit - weniger als fünf Prozent der männlichen Bevölkerung - hatte das Wahlrecht; die ortsansässige Bürokratie wurde durch einen neuen Überbau von zentralstaatlichen Vorschriften nur verstärkt, und eine vorwiegend konservative Monarchie war an der Macht. Die Bürger des neuen Landes waren noch immer zutiefst uneins. Reiche und Gebildete genossen Macht und Vorrechte, während die Arbeiter und die riesige Bauernschaft im gleichen Elend lebten wie bisher. Die Vereinigung hatte weder politische Demokratie noch soziale Revolution mit sich gebracht. Tatsächlich war das Problem der Gleichheit nie erwogen worden. Die unterschiedlichen Klassen waren starr geschichtet, und es gab scharfe Abgrenzungen zwischen Nord und Süd, städtischen Geschäftsleuten und ländlichen Gutsbesitzern, Monarchisten und Republikanern, den Befürwortern eines losen Staatenbundes und denen, die eine starke Zentralregierung wünschten - und außerdem bestand ein ständiger Konflikt zwischen Kirche und Staat, zwischen Katholiken und atheistischen Liberalen darüber, wer über die Jugenderziehung und folglich über den Geist der Jugend bestimmen sollte. Das Papsttum rächte sich an der weltlichen Macht, die seine Ländereien annektiert hatte, dadurch, dass es den Gläubigen verbot, bei den Nationalwahlen zu wählen, und ein großer Teil der Bevölkerung nahm an der Politik auf nationaler Ebene bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht teil. Mitte der siebziger Jahre ging die Regierungsgewalt von den Rechten an die Linken über, und aus einer neuen Zusammenarbeit von Liberalen und Konservativen ging ein als trasformismo bekanntes gemäßigtes Programm hervor, das grundlegende Reformen, wie eine Erweiterung des Wahlrechts, die Herstellung der bürgerlichen Freiheiten, mehr Steuergerechtigkeit und die Unterstützung des öffentlichen Schulsystems zum Ziel hatte" (Kramer S. 22/23). 2 Die siebziger Jahre waren eine Zeit der Hoffnung, die sozialen Probleme durch Veränderungen in der Erziehung und das hieß vor allem veränderungen des öffentlichen Erziehungswesens anzugehen, durch die Einführung der Elementarschulpflicht (1877) für Jungen und Mädchen, durch die Einrichtung öffentlicher Mädchenschulen und Lehrerseminare. Das Denken der führenden Schichten war weitgehend antiklerikal eingestellt und offen für den Geist der Naturwissenschaften. Die pädagogische Aufbruchstimmung, aber auch ihre Problematik, zeigte sich darin, dass es zwischen 1860 und 1900 in Italien dreiunddreißig Unterrichtsminister gab, "...von denen jeder seine eigene Politik vertrat und keiner genug staatliche Mittel zur Verfügung hatte, um etwas erreichen zu können. Was sie hervorbrachten, war eine Unzahl von Gesetzen, Vorschriften und Rundschreiben, von denen viele einander widersprachen" (Kramer S. 30/31). 3.1.2 Die Kindheit Am 31.8.1870 in Chiaravalle (Provinz Ancona) geboren "...im gleichen Jahr, in dem die neue Nation entstand" (Kramer, S. 24), gehörte Maria Montessori zu der ersten Generation, die in den Jahren nach der "Vereinigung" aufwuchs. Sie war ein Kind, als die Hoffnungen des Risorgimento noch in Blüte standen, und ihr Charakter und ihre Lebensanschauung wurden schon geformt, ehe die Enttäuschung einsetzte. Ihr Selbstvertrauen, ihr Optimismus, ihr Interesse an Veränderungen und ihre Überzeugung von der Möglichkeit, sie zu bewirken, kamen sicher durch die Wechselwirkung ihrer robusten, aggressiven Anlagen und den Methoden der Kindererziehung zustande, die ihre Mutter praktizierte. Aber wenn ihr Grundgefühl in bezug auf das Leben durch jene früheste Beziehung bestimmt wurde, kann es durch das kulturelle Klima der Jahre nur verstärkt worden sein, in denen sie sich der Welt bewusst wurde, zur Schule ging, den Gesprächen der Erwachsenen lauschte und unter ihnen ihre Rollenvorbilder fand. Es war eine Zeit, in der die Leute gern den Staatsmann Massimo d'Azeglio zitierten: "Italien ist fertig; nun müssen wir die Italiener machen" (Kramer, S. 34/35) Ihre Mutter, Tochter einer Gutsbesitzersfamilie, war für die damalige Zeit "ungewohnt gebildet; in einer Stadt, in der man stolz darauf sein konnte, seinen Namen schreiben zu können, war sie ein Mädchen, das Bücher verschlang!" (Kramer, S. 26). Sie sollte auch diejenige sein, die den für die damalige Zeit ungewöhnlichen Bildungs- und Berufsweg Maria Montessoris offensichtlich ohne Einschränkungen gut hieß und unterstützte. Der Vater Maria Montessoris "...war ein altmodischer Herr mit konservativem Naturell und militärischen Gewohnheiten. Als junger Mann war er Soldat gewesen, später wurde er Beamter. Er gehörte einer Generation an, die die Schaffung des neuen Italien begrüßte, sich aber durch viele der mit ihr verbundenen Veränderungen beunruhigt fühlte. Er trug seine Auszeichnungen einschließlich der eines Cavaliere mit Stolz; ebenso stolz war er auf seine hübsche Frau und ihre beachtenswerte Herkunft" (Kramer, S. 25). Ihm widerstrebte die Energie, mit der Maria Montessori ihren Bildungsgang zielstrebig verfolgte und damit soziale Schranken überwand, die den Frauen damals auferlegt waren. Er versöhnte sich, den Berichten nach, mit seiner Tochter erst wieder, als sie erfolgreich ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte. Die Legende von der Mutter, die ihre Tochter auf ihrem Lebensweg bedingungslos unterstütze, während der Vater, den Banden der sozialen Tradition verhaftet, den emanzipatorischen Bestrebungen seiner Tochter misstraute, ja ihnen entgegentrat, ein Bild, wie es von den Biographen Maria Montessoris gezeichnet wird, scheint mir zu klar, zu widerspruchslos, um den Tatsachen entsprechen zu können. Es zeigt sich hier das deutliche Bestreben, Biographieforschung als Erfolgsgeschichte zu betreiben, als eine Recherche, die hauptsächlich antritt, den Erfolg der Heldin als Konsequenz ihrer Biographie zu belegen, als Ergebnis des individuell ungewöhnlichen Lebensverlaufes. Doch, wie es scheint, gibt es über Kindheit und Aufwachsen Maria Montessoris wenig verlässliche Zeugnisse. Weshalb eine heftige Legendenbildung versucht ist, die Lücken in den Informationen zu füllen. Man wird also vorsichtig bei der biographischen Lektüre sein müssen. 3.1.3 Studium der Medizin 3 Nach dem Abschluss der technischen Schule dachte sie daran Ingenieur zu werden. Den Lehrberuf als künftige Laufbahn zu wählen, wie dies ihre Vater sich noch vorstellen konnte, kam für sie nicht in Betracht. Statt dessen, angeblich aufgrund eines etwas mystischen Erlebnisses, beschloss sie Medizin zu studieren, ein Studienfach, welches bis dahin nur den Männern offenstand.(1) "Die Verwandten und die Freunde der Familie waren schockiert und voller Missbilligung, besonders ihr Vater. Er ging jedoch nicht so weit, tatsächlich ein Verbot auszusprechen, und es gelang ihr, eine Unterredung mit Guido Baccelli herbeizuführen, dem Professor für klinische Medizin an der Universität Rom. Baccelli war nicht nur Dekan der medizinischen Fakultät, sondern auch Angehöriger der Deputiertenkammer, wo er in elegantem klassischem Rhetorikstil ein Gesetz zur Reform des gesamten Bildungssystems einschließlich der Universität eingebracht hatte. Aber die Neuerungen hatten offenbar ihre Grenzen, und sie ermöglichten es nicht, ein Frau zur medizinischen Fakultät zuzulassen [...] aber bei dieser Gelegenheit bestand ihr Gespräch nur aus seiner entschiedenen Weigerung, ihren Plan, sich um die Zulassung an der medizinischen Fakultät zu bewerben, zu fördern" (Kramer, S. 41/42). Sie schrieb sich schließlich in Physik, Mathematik und Naturwissenschaften ein, bis es ihr gelang in die Abteilung für klinische Medizin überzuwechseln. "Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, wie sie es fertigbrachte, was auf die Beine gestellt wurde, an welche offiziellen Stellen man sich wandte, bis die Vorschriften für sie gelockert wurden. Wir wissen nur, dass sie es mit einer für sie charakteristischen Beharrlichkeit erreichte" (Kramer, S. 42). Durch ihre Sonderstellung als Medizinstudentin hatte sie erschwerte Studienbedingungen auf sich zu nehmen. "Sie musste nicht nur auf dem Weg zur Universität und wieder nach Hause begleitet werden; sie durfte auch den Vorlesungssaal erst betreten, nachdem die anderen Studenten ihre Plätze eingenommen hatten. Eine junge Frau konnte sich anständigerweise im engen Kontakt mit Männern nicht frei bewegen. Ihre Kommilitonen waren am Anfang gegen sie und taten zunächst alles, was sie konnten, um ihr das Leben schwerzumachen. Sie war eine Frau, die in einen bisher ausschließlich männlichen Berufszweig eingedrungen war, sie bewährte sich dort besser als die meisten von ihnen, und sie tat dies auch noch mit scheinbarer Leichtigkeit. Ihr Erfolg bedrohte nicht nur ihren männlichen Stolz, sondern ihre Selbstsicherheit und Kompetenz waren ärgerlich für eine Männergesellschaft, die an schmeichelhaft hilflose Frauen gewöhnt war Sie behandelten sie entsprechend"(Kramer, S.49). 3.1.4 Nach dem Studium Als Assistenzärztin arbeitet sie in den letzten zwei Jahren am Kinderkrankenhaus, in der Frauenklinik und in einem Hospital für Männer. An der psychiatrischen Klinik sammelte sie ihr Material für die Doktorarbeit (ein klinische Studie über Verfolgungswahn). Dabei entwickelte sie sich zur Expertin für Kinderkrankheiten (vgl. Kramer, S. 58). Ihren Abschluss machte sie mit großem Erfolg und wurde damit zur ersten Ärztin Italiens. Danach schreibt sie an eine Freundin: "Nun ist alles vorbei [...] Aber ich muss dir sagen, dass ich einen sehr seltsamen Eindruck mache. Lass mich erklären: In der Frühe geh' ich in den Pincio. Alle Leute sehen mich an und folgen mir, als wäre ich eine Berühmtheit: Manche alten Damen sprechen meine Mutter an und fragen sie, ob ich die einzige Medizinstudentin in Rom bin. Meine Berühmtheit kommt so zustande: Ich wirke zart und ziemlich schüchtern, und man weiß, dass ich Leichen ansehe und berühre, dass ich ihren Geruch gleichgültig ertrage, dass ich nackte Körper ansehe (ich ein Mädchen, allein unter so vielen Männern!), ohne ohnmächtig zu werde. Dass mich nichts erschüttert, nichts; nicht einmal eine öffentliche Prüfung; dass ich laut über schwierige Dinge spreche, mit solcher Unbeteiligtheit und so kaltblütig, dass selbst die Prüfer verwirrt werden; dass ich die moralische Kraft besitze, die man von einer sehr viel älteren und derberen Frau erwarten könnte; dass ich mit der gleichen Teilnahmslosigkeit eine verweste Leiche berühre und öffentlichem Lob einer wissenschaftlichen Berühmtheit lausche. 4 Also hier bin ich: berühmt! Andererseits, meine Liebe, ist es nicht sehr schwierig, wie du siehst. Ich bin nicht berühmt wegen meines Könnens oder meiner Klugheit, sondern wegen meines Mutes und meiner Kaltblütigkeit gegen alles. Das ist etwas, was man immer erreichen kann, wenn man will, aber es kostet schreckliche Anstrengung" (Zit. nach Kramer, S. 60). Nach ihrem Examen erhielt sie eine Assistentenstelle am Krankenhaus San Giovanni und gründete eine eigene Praxis. Der erfolgreiche Studienabschluss versöhnte sie auch wieder mit ihrem Vater. Ich skizziere diesen frühen Lebensweg, um einige Merkmale herauszustellen, die mir für die Einschätzung von Maria Montessoris Persönlichkeit wesentlich zu sein scheinen. Da ist zunächst eine starke Arbeitskraft, bereit sich intensiv in die unterschiedlichsten Bereiche hineinzuarbeiten. Sie wird unterstützt von einer unbeirrbaren Zielstrebigkeit, den Weg zu gehen, den sie sich vorgenommen hat. Dabei überwindet sie mit großer Hartnäckigkeit auch starke Widerstände und nimmt persönliche Zurückweisungen und Kränkungen in Kauf. In allem scheint ein - zuweilen mystisch wirkender - Glaube an ein Schicksal zu wirken, welcher sie sicher lenkt. Wir erleben einen Menschen, der sich in seiner Arbeit verwirklicht, persönliche Empfindungen hintenanstellt und soziale Bedenken zu überwinden weiß. Einen Gutteil ihres späteren Erfolges wird sie wohl diesen Eigenschaften zu verdanken haben. Man wird aber auch fragen müssen, ob nicht gerade diese Wesenszüge sie für andere Dinge unempfindlicher gemacht haben, z.B. gegenüber menschlichen Eigenschaften und Tätigkeiten, die sich nicht unter dieses Arbeitsethos subsumieren lassen, wie Phantasie, spielerische Lebensfreude, persönliche oder soziale Wirrnisse, die das Denken ebenso (produktiv) umkrempeln können, wie Disziplin und Arbeitsethos. Im folgenden Lebensabschnitt, der Zeit ihres beginnenden beruflichen Aufstiegs, wird man zwei Linien verfolgen müssen: Ihre Karriere als Frauenrechtlerin und ihren Weg von der Medizin zur Pädagogik. 3.1.5 Die Frauenrechtlerin Zunächst einige kurze Bemerkungen zur Frauenrechtlerin, zu der sie durch ihren bisherigen Lebensweg prädestiniert war. 1896, nur einen Monat nachdem sie ihr Medizinexamen abgelegt hatte, vertrat sie die italienischen Frauen auf einem internationalen Kongress in Berlin. Den Erfolg, den sie dabei errang, verdankte sie vor allem der Brillanz ihrer Rede und ihrem Aussehen: Sie sprach völlig frei von den Lebens- und Arbeitsbedingungen der italienischen Frauen. Und trotz ihrer kämpferischen Positionen, wusste sie diese wohl mit weiblichem Charme und ohne das aufgetragene Pathos einer kriegerischen Kämpferin für die Ungerechtigkeit vorzutragen. Ihr Aussehen unterstützte sie darin: Sie war das Gegenteil einer militanten Frauenrechtlerin, die man sich als eine Art Mannweib vorzustellen pflegte: "Knochige Gestalt, strenger Gesichtsausdruck, maskuline Kleidung, mit der Lorgnette auf der Adlernase" (Kramer, S. 63). "Die Zartheit einer begabten jungen Frau, kombiniert mit der Kraft eines Mannes", so eine Reporterin, "waren ein Ideal, dem man nicht alle Tage begegnet" (Kramer, S. 64). Weiter Auftritte in Sachen Frauen in Italien folgten, begleitet von einer begeisterten Presse, die ihre Botschaft gerne aufnahm, vor allem weil sie in dieser attraktiven Gestalt vorgetragen wurde. Ich zitiere stellvertretend einen Korrespondent des Mailänder Corriere della Sera: "...der Auftritt der Doktorin Montessori überwand den Spott der anwesenden Herren und machte sie vor Vergnügen lächelnd. Mit einer solchen Delegierten war der Erfolg des Kongresses gesichert. In der anmutigen Römerin war das ewig Weibliche glänzend verkörpert. Was für eine entzückende emanzipierte Frau! Es schien, als wolle jeder sie umarmen. Selbst jene, die nicht verstehen konnten, was sie sagte, waren bezaubert von ihrer musikalischen Stimme und ihrem Ausdruck" (zit. nach Kramer, S. 68). 1899 setzte sie ihr Öffentliches Wirken für die Sache der Frauen bei Vorträgen in Mailand fort und verband sie dort auch mit der Sache der Kinder. Damit fügte sie zwei sozial benachteiligte Gruppen, die Frauen und die Kinder, in ihrem Engagement zusammen, eine Position, die in der heutigen Kindheitsdiskussion wieder aufgenommen wurde. Eine Würdigung ihrer Argumente hinsichtlich frauenrechtlicher Position, nimmt Kramer nicht vor und dies scheint auch an anderer Stelle nicht zu geschehen. 5 » 3.1 [ 3.2 ] » 3.3 » 3.4 » 3.5 » Anfang » Inhalt 3.2 Die Entwicklung des pädagogischen Denkens 3.2.1 Von der Medizin zur Pädagogik Ihre zweite berufliche Linie, die sie schließlich berühmt gemacht hat, entfaltet sich entlang ihrer beruflichen Laufbahn, die einer Medizinerin, die sich zu einer Pädagogin entwickelt. Gerade dieser besondere Zugang zur Pädagogik dürfte die Eigenständigkeit ihres pädagogischen Zugangs wesentlich beeinflusst haben. Neben ihren Tätigkeiten in der eigenen Praxis, an den Krankenhäusern Santo Spirito und San Giovanni arbeitete sie freiwillig an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom weiter. Dabei bestand eine ihrer Arbeiten darin, andere psychiatrische Klinken zu besuchen, um dort geeignete Kranke für die Behandlung in der Universitätsklinik auszuwählen. "In den Anstalten sah sie schwachsinnige Kinder, die man, da sie in der Familie oder in der Schule untragbar waren, in die Irrenanstalten abschob, da es keine andere öffentliche Anstalt für sie gab; sie waren dort neben den steinernen Katatonen, den kriminelle tobenden Irren und allen Arten menschlichen Elends, das dazwischenlag, eingesperrt [...] Ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie [...] für diese Begegnung mit den sogenannten "idiotischen Kindern" empfänglich gemacht" Jahre später berichtete sie von einem Erlebnis, das sie in jenem Jahr beim Besuch einer der Irrenanstalten hatte, als diese Kinder sie schon beunruhigten, als sie sich aber noch nicht sicher war, welche Richtung ihr Interesse nehmen würde. Man hatte sie in einen Raum geführt, wo eine Gruppe schwachsinniger Kinder wie Gefangene gehalten wurden; sie bekamen niemanden außer einander zu sehen und taten nichts; sie starrten in die Luft, schliefen und aßen das Essen, das ihnen die Wärterin brachte. Diese erzählte Montessori mit Abscheu, dass die Kinder sich nach dem Essen auf den Boden warfen und nach schmutzigen Brocken grapschten. Maria Montessori hörte zu und dachte über die Kinder nach, die nach den Brotbrocken griffen, sie in den Händen quetschten und im Mund herum bewegten. Sie sah sich in dem kahlen, leeren Raum um. Und ihr ging auf - nicht als geheimnisvolle Offenbarung, sondern in einem Akt problemlösender Intelligenz, der durch ihr Verständnis für Kinder und eine glückliche Überschneidung von Verstand und Intuition möglich wurde - dass die Kinder nicht nach Brot hungerten, sondern nach Erfahrungen. In ihrer Umgebung war nichts, was sie berühren befühlen oder woran sie ihre Hände und Augen üben konnten. Sie hatten nichts zum Spielen, nichts zu tun. Sie griffen nach dem einzigen Spielzeug, das ihnen in den Weg kam, nach dem einzigen Mittel, das sie von ihrer schrecklichen Langeweile befreien konnte" (Kramer, S. 71/72). Dieses Ereignis gilt als der Impuls, alles an Schriften zu lesen, was sie über Kinder mit geistigen Behinderung bekommen konnte. Dabei stieß sie auf die Arbeiten von Jean-MarcGaspard Itard und Edouard Séguin. 3.2.2 Itard Herausgefordert durch den Wilden von Aveyron - ein Junge von 11-12 Jahren, von dem man annahm, dass er von wilden Tieren aufgezogen worden - war Itard der Meinung, dass die Wildheit des Jungen, sein tierisches Benehmen und seine Unfähigkeit zum Denken nicht die Folge eines angeborenen Mangels war, sondern Ergebnis seines primitiven Aufwachsens in der tierischen Umwelt, einer Umwelt, die keine höheren geistigen Reize bot. Um diesen Mangel an Begegnung mit der Kultur auszugleichen ging er davon aus, dass zunächst einmal die sinnliche Wahrnehmung zu schulen sei und zwar von einfachen Unterscheidungen zu immer feineren und differenzierteren. "Itard begann mit dem Versuch, den Jungen zu zivilisieren, seine Sinne anzuregen und zu kanalisieren, und er hoffte, ihm schließlich den Gebrauch der Sprache beizubringen. 6 Als er schließlich feststellte, dass die bestehenden Methoden, die verwendet wurden, um Taubstummen die Verbindungen von Wörtern mit Gegenständen beizubringen, bei dem "wilden" Jungen nicht funktionierten, erfand Itard eine eigene Methode. Er klebte einen roten Kreis, ein blaues Dreieck und ein schwarzes Viereck auf ein Brett und gab dem Jungen drei Stücke Pappe der gleichen Größe, Form und Farbe, die er auf die Figuren legen sollte. Von dieser Übung ging er zu komplizierteren über, und schließlich zu einem Satz von Pappbuchstaben, die einem Satz von Metallbuchstaben entsprach. Das Sortieren und Ordnen zu gleichen Paaren führte schließlich dazu, dass der Junge die Buchstaben LAIT heraussuchte, wenn er Milch wollte. Leider kamen Schüler und Lehrer nie über diese einfache Leistung hinaus" (Kramer, S. 73). Darauf versuchte er es mit anderen Methoden, die bei der Erziehung geistesschwacher Kinder verwendet wurden und entwickelte dabei eine Erziehung, die von der Entwicklung der Sinne und ihrer Tätigkeiten ausging. Grundlage seiner "ärztlichen Erziehung" war dabei die Beobachtung der Kinder. Dabei entwickelte er zwei Prinzipien, die von Séguin und später von Maria Montessori aufgegriffen und weiterentwickelt wurden: Zum ersten, die Isolierung des einzelnen Sinnes beim Training , zum zweiten, von grob unterschiedlichen Sinneseindrücke zu immer feiner Unterschieden fortzuschreiten (vgl. Heiland, S. 40). Auch wenn ihm nur ein teilweiser Erfolg beschieden war, hat er damit für die Erziehung geistig behinderter Kinder Pionierarbeit geleistet, indem er sie mit Hilfe eines Systems trainierte, das medizinische und pädagogische Gesichtspunkte in sich vereinte. 3.2.3 Séguin Séguin setzt die Arbeit seines Lehrer fort. Indem er die Methoden der normalen Erziehung für die Betreuung geistig Behinderter umdachte, erweiterte und systematisierte er die Arbeit Itard. Dabei blieb der Ausgang von der Sinnestätigkeit ein wesentliches Zentrum der Arbeit. Das bedeutet gleichzeitig, der eigenen Tätigkeit des Kindes einen hohen Wert einzuräumen. Beides war in einer Zeit revolutionär, in der in den Schulen hauptsächlich mechanisch vorgegebene Lektionen gelernt werden mussten, d.h. sich die Erwachsenen nicht für das interessierten, wie die Kinder die Welt und das, was sie lernen sollten selbst sahen und in Angriff nehmen konnten. "Séguin unterteilte die Erziehung des Kindes in eine Abfolge von Entwicklungsstufen, beginnend mit der körperlichen Bewegung bis hin zum geistigen Training des Intellekts; die erste Stufe war die Erziehung der "Aktivität". Er entwickelte eine Reihe abgestufter Übungen zur Schulung der Motorik und verwendete einfache Turngeräte, wie Leitern und Schaukeln, wie auch Geräte, die man im Alltagsleben benützt - Spaten, Schubkarren und Hammer -, um die sinnliche Wahrnehmung und die motorischen Fähigkeiten des Kindes anzuregen. Er benützte verschieden große Nägel, die in Löcher entsprechender Größe in einem Brett gesteckt werden mußten, geometrische Figuren, die in entsprechende Aussparungen eingepaßt werden mußten, Perlen zum Aufziehen, Kleidungsstücke, die zugeknöpft und geschnürt werden sollten, um die Sinne der Kinder zu üben und ihnen die Alltagsfertigkeiten beizubringen. Er entwickelte den Tastsinn des Kindes, indem er Gegenstände verschiedener Beschaffenheit zur Verfügung stellte, das Sehvermögen, indem er farbige Kugeln verwendete, die in Halter der gleichen Farbe gelegt werden sollten, und Stöcke verschiedener Länge, die in einer Reihe vom längsten bis zum kürzesten anzuordnen waren. Seine Kinder zeichneten erst Striche und kopierten dann Buchstaben, eine Methode, die - im Gegensatz zu dem, was in den Schulen üblich war - zu Schreiben vor dem Lesen führte" (Kramer, S. 75). Durch ihn wurde die geistige Behinderung von einem vorwiegend medizinischem zu einem pädagogischen Problem. Während also Itard die Weichen für eine gezielte, an den Sinneserfahrungen ansetzende, pädagogische Betreuung geistig behinderter Kinder stellte, bezog Séguin stärker die alltäglichen Erfahrung in diesen sinnlichen Erfahrungsbereich mit eine und verbreiterte damit die pädagogischen Schulungsmöglichkeiten für diese Kinder ganz wesentlich. Beide, Itard und Séguin konnte bei ihrem Vorgehen auf Rousseau zurückgreifen, für den die Sinneserfahrung die Grundlage allen Wissens bildete. 7 "Maria Montessori übernimmt Theorie und Praxis ihrer "Lehrmeister" und führt doch zugleich über sie hinaus. Sie verfeinert und systematisiert das Ganze der Materialien. Es entsteht das didaktische Material. Und sie überträgt die Funktion dieser Materialien auf die Normalerziehung" (Heiland, S. 41). Dabei schließt sie sich auch in ihrer Kritik an der Schule ihren beiden Vorgängern an, indem sie das Problem der Schule darin sieht, dass diese die ihr anvertrauten Kinder nicht genügend geistig aktivieren kann. 3.2.4 San Lorenzo und die Casa dei Bambini Maria Montessoris Arbeit in der Medizin, ihre Studien der Anthropologie, die Erfahrungen in den römischen, psychiatrischen Anstalten sowie die Beschäftigung mit den Werken von Itard und Séguin führten sie zu der Überzeugung, dass den geistig zurückgebliebenen und psychisch geschädigten Kindern geholfen werden muss, dass sie eine Betreuung verdienen, die ihre eigenen Lebensmöglichkeiten entwickelt. Diese Vorstellung vertrat sie bei vielen Gelegenheiten in der Öffentlichkeit (1897, Ärztekongress in Turin, 1898 Pädagogikkongress in Turin, Vorträge vor Lehrern und Lehrerstudenten der Scuole Normali di magistero, der Lehrerbildungsanstalt des Collegio Romano, ein Vortragsreise durch mehrere Städte Italiens 1899, auf einem Frauenkongress in Rom 1899, vor Mitgliedern der Gesellschaft zur Förderung des Wohlbefindens der "Schwachsinnigen" in London, wo sie auch von Königin Victoria empfangen wurde; darüber hinaus veröffentlichte sie Artikel in Zeitungen und Zeitschriften) und wurde dadurch zu einer bekannten, öffentlichen Persönlichkeit. "Überall lauteten die Kommentare gleich - die Zuhörer waren durch ihre Jugend ihre Schönheit, ihren Charme, ihre Aufrichtigkeit völlig gewonnen worden. Manchmal hatte man den Eindruck, dass sie eine Opern- oder Bühnengröße beschrieben. Aber es gab nicht nur Lob für die Rednerin, sondern auch für ihre Botschaft. Sie war eine bekannte Persönlichkeit geworden, und das Publikum kam, um die charmante Ärztin und Feministin zu sehen und zu hören, die "schöne Gelehrte", von der man gelesen hatte. Mitlerweile wurde sie völlig mit der Sache der Sondererziehung für geistig behinderte Kinder identifiziert" (Kramer, S. 97). Ende 1998 war in Rom eine nationale Liga für die Erziehung behinderter Kinder gegründet worden, der Maria Montessori als aktives Mitglied angehörte. 1900 wurde die Scuola Magistrale Ortofrenica, ein medizinisch-pädagogisches Institut zur Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für die Betreuung geistig behinderter Kinder eingerichtet. Sie wurde mit einer Modellschule verknüpft. Zur Direktorin ernannte man Maria Montessori. Zusammen mit Dr. Monsanto, mit dem sie auch bisher schon zusammengearbeitet hatte, ergriff sie nun die Gelegenheit mit dem "sensorischen Lehrmaterial zu experimentieren, wie es von Itard und Séguin entwickelt worden war: dreidimensionale Körper und Buchstaben, die man betasten, paarweise ordnen, in entsprechend geformte Löcher einfügen konnte; Perlen, Tuchstücke und Litzen, die man aufziehen, aneinanderknöpfen und schnüren konnte; eine ganze Reihe von Gegenständen verschiedener Größe, Form, Farbe und Oberflächenbeschaffenheit, die zu unterscheiden und zu handhaben waren, um Wahrnehmung und praktische Geschicklichkeit zu schulen. Sie hatte die Möglichkeit, dieses Material auf ihre Weise abzuwandeln, während sie die Reaktionen der Kinder beobachtete, und die Gegenstände laufend den Bedürfnissen der Schüler anzupassen, wenn sie ihr klar wurden" (Kramer , S. 107). Ausprobieren, beobachten, variieren und verändern, das war das Vorgehen Maria Montessoris bei der Weiterentwicklung dieser Materialien. Dazu las sie alles, was sie aus Medizin und Pädagogik an Anregungen vorfand. Sie schrieb ihre Beobachtungen auf und überprüfte Material, Denken und Vorgehen, bis sie es stimmig fand. 1901 verließ sie das Institut wieder, obwohl sie in ihrer Arbeit sehr erfolgreich vorankam. Der Grund war aller Wahrscheinlichkeit nach das Verhältnis zu ihrem Kollegen Dr. Monsanto, das zu einer engen Beziehung geworden war, aus der ein uneheliches Kind, ihr Sohn Mario hervorging. Es scheint so, als sei der Vater dieses Sohnes nicht in der Lage gewesen, die damals für den Vater und noch mehr für die Mutter sehr schwierigen Konsequenzen eines unehelichen Kindes auf sich zu nehmen. So war es wohl die Enttäuschung über den Treuebruch des Mannes, der Maria Montessori zum Verlassen des Ausbildungsinstitutes 8 bewog. Maria Montessori brachte das Kind heimlich zur Welt, gab es in die Obhut einer Familie auf dem Land und besuchte es viele Jahre als geheimnisvolle, namenlos Dame. Sie gab jedoch nicht nur die Leitung der Schule auf, sondern auch ihre ärztliche Praxis und begann erneut zu studieren, diesmal Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie. Genauer, sie musste sich das Studium, das sie brauchte, um ihr medizinisch-pädagogisches Denken und Handeln weiterzuentwickeln, selbst zusammensuchen. In Neapel, auf dem zweiten nationalen Pädagogenkongress, fasste sie die Ergebnisse ihrer Studien und ihres Experimentierens erstmals in einem Bericht zusammen und differenzierte sie in einer Vorlesung an der Universität Rom. Hieraus ist später ihre Schrift L' Antropologia Pedagogica hervorgegangen. Hier führte sie auch aus, dass ihre Überlegungen sich nicht nur auf die Erziehung geistig behinderter Kinder beziehen, sondern Grundsätze enthalten, welche jeglicher Erziehungsarbeit zugrunde liegen. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts war Rom durch Zuzüge vom Land mächtig angewachsen. Dies hatte einen Bauboom entfacht, mit allen Randerscheinungen eines solchen Geschehens: Es wurden nicht nur Wohnungen und Arbeitsplätze geschaffen, sondern es wurde auch am Bedarf vorbeigeplant oder auch vorbei Spekuliert. Mietshäuser standen leer. So war es auch mit dem Viertel San Lorenzo, in dem sich eine Baugesellschaft verplant hatte und schnell Bettler und Kriminelle in den unfertigen Bauten Unterschlupf fanden. "Schließlich beschloß eine andere Gruppe reicher Bankiers, das Instituto romano di beni stabili (das römische Institut für "gutes Bauen"), einen Stadterneuerungsplan zu verwirklichen, der sich sowohl als Bürger-Großtat erweisen als auch Gewinn einbringen konnte. Sie nahmen es auf sich, einige der Häuser zu renovieren, und zwar so viele, dass etwa tausend Menschen - arme Leute allesamt - dort untergebracht werden konnten. Nur arme Leute - das bedeutete, man konnte die Ausbesserungsarbeiten auf ein Mindestmaß reduzieren: etwas Tünche genügte, die Anbringung von Türmen und Fenstern, Wasserleitungen und Abflussrohren [...] Als Mieter wählten die Direktoren Ehepaare, bei denen beide Partner einer Arbeit nachgingen, da sie ihnen als die stabilsten Elemente der lokalen Bevölkerung erschienen. Zu den Familien gehörten etwa 50 Kinder, die für die Hauseigentümer ein gewisses Problem darstellten. Tagsüber, wenn ihre Eltern zur Arbeit gingen, liefen die Kinder, die laufen konnten, für die Schule aber noch zu klein waren, unbeaufsichtigt im ganzen Gebäudekomplex herum, beschmierten die neugetünchten Wände und setzten ihre Erfindungsgabe für so viele kleine vandalistische Handlungen ein, wie ihnen nur einfielen. Mit ihnen musste etwas geschehen, damit die Investitionen der Baugesellschaft geschützt wurden. Die Direktoren entschieden sich dafür, sie alle an einem Ort zu sammeln und dort den ganzen Tag zu beschäftigen. Man könnte eine Frau anstellen, die sie in einem leeren Raum im Erdgeschoss beaufsichtigen könnte [...] Die Kosten wären minimal und die Ersparnisse erheblich" (Kramer, 134/135). Da Montessori eine Gelegenheit suchte, ihre Ideen mit normalen Kindern auszuprobieren und weil sich bei der Wohnungsgesellschaft große Entwicklungsmöglichkeiten für die schnelle Erweiterung des Vorhaben ergaben, nahm sie das Angebot an, die Kinder zu versorgen und sie an dem zu hindern, was den Geldgebern zusätzlich Kosten verursachte. Ihren Freunden und ihrem gesellschaftlichen Umfeld jedoch war dieser Entschluss völlig unverständlich, ja eine Deklassierung des Ärztestandes, wenn sich Maria Montessori zur Kinderpflegerin machte. Eine Ausstattung war nicht vorhanden. Maria Montessori übernahm es Spenden zu sammeln und so für Nahrung, sanitäre Einrichtungen und geeignete soziale Maßnahmen zu sorgen. Es fand sich die Frau eines Hausmeisters, welche die Aufsicht über die Kinder übernahm und die unter der Anleitung von Maria Montessori arbeitete. Am 6. Januar 1907 wurde die erste Casa dei Bambini eröffnet. [Maria Montessori] "...selber war noch mit ihren vielen anderen Pflichten beschäftigt - Lehre, Forschung, Praxis. Die Kinder wurden die Obhut einer Beauftragten überlassen; Maria Montessori schaute herein, wenn sie konnte - manchmal nur einmal in der Woche -, um sich berichten zu lassen, was geschehen war, und ihre eigenen Beobachtungen zu machen. Sie brachte einen Teil des Lehrmaterials mit, das dem nachgemacht war, das Itard und Séguin für die Schwachsinnigen entworfen hatten, und das sie bei ihrer Arbeit mit den Kindern an der Scuola Ortofrenica abgewandelt hatte; sie forderte ihre Helferin auf, diese Materialien den Kindern zugänglich zu machen" (Kramer, S. 138). Dabei erwartete sie lediglich, dass die 9 Reaktionen der Kinder nicht gestört wurden. Ansonsten erlegte sie keine Beschränkungen auf. "Die mürrischen, interesselosen und in sich zurückgezogenen und die rebellischen Kinder zeigten ein bemerkenswertes Interesse an dem didaktischen Material, das sie dem Spielzeug und den Zeichenutensilien vorzogen [...] Sie zogen diese Materialien nicht nur den Puppen oder Bällen oder Wägelchen vor, sondern sie blieben, wenn sie sich einmal mit ihnen eingelassen hatten, bei einer Aufgabe, bis es ihnen gelungen war, alles an die richtige Stelle zu bringen, und dann wiederholten sie den Vorgang immer wieder. Während sie ungeahnte Konzentrationsfähigkeit entwickelten, begannen sie, sich auch in sozialer Hinsicht zu verändern" (Kramer, S.139). "Montessori strebt in San Lorenzo drei Ziele an: Sie will zum einen eine wissenschaftliche Leistung erbringen. Sie legitimiert ihre Tätigkeit als exakte Forschung, als Experimentalprogramm. Sie will ferner verwahrloste Kinder bzw. Kinder im Vorschul- und Schulalter überhaupt zu "ihrer Natur", ihren Kräften verhelfen, indem diese durch Anregungen entfaltet werden [...] Und schließlich will sie ein verändertes Bewusstsein der Lehrer in den Schulen bzw. der betreuenden Personen in Vorschuleinrichtungen erzeugen" (Heiland, S. 55/56). 3.2.5 Ausgangspunkt Wissenschaftliche Pädagogik Maria Montessoris Verständnis von Pädagogik ist durch ihre Vorgeschichte als Medizinerin geprägt. Zum einen liegt hier eine Voraussetzung für ihr empirisches Verständnis von Pädagogik als einer experimentellen Wissenschaft vor, wobei experimentell hier nicht im Sinn von Experimenten verstanden werden darf. Gemeint ist jedoch ein steter Wechsel zwischen Beobachten, Erarbeiten von Handlungsmodellen, Erproben und Variieren der Handlungssituation. Die entsprach wohl dem damaligen naturwissenschaftlichen Verständnis, jedoch nicht dem der Pädagogik, welche noch lange stark philosophischem Denken verhaftet blieb. Zum anderen ging Montessoris Weg zur Pädagogik über ihre klinische Erfahrung mit behinderten Kindern, aus der sie im Laufe der Zeit die Grundlagen herausdestillierte, die für die Pädagogik insgesamt fruchtbar schienen. Die Basis ihrer naturwissenschaftlicherfahrungsorientierten Einstellung bildet die Anthropologie Sergis, Professor der Anthropologie in Rom. Er gründete das erste Institut für Experimentalpsychologie in Italien. Seine Arbeitsschwerpunkte waren die Verteilung der Rassen (insbesondere Arier und der mediterranen Rassen), sowie die Kranioskopie, die geometrische Beschreibung des Schädels. "Seit vielen Jahren kämpfe ich für eine Idee, die ich desto mehr als richtig und nützlich für die Ausbildung und die Erziehung des Menschen halte, je länger ich darüber nachdenke; dass wir nämlich um natürliche Methoden zu gewinnen und diese Ziele zu erreichen, über zahlreiche exakte und rationale Beobachtungen des Menschen verfügen müssen, ganz besonders über seine Kindheit, in der die Grundlagen für Erziehung und Bildung zu legen sind Kopf, Größe usw. zu messen ist natürlich keine Pädagogik, sondern ein Mittel zum Zweck, weil man niemand erziehen kann, ohne ihn genau zu kennen" (Sergi, zit. nach Montessori, Entdeckung, S. 4). Doch von Sergi übernahm Montessori nicht die Ideen, sondern die Methoden des wissenschaftlichen Untersuchens, eine Art Phänomenologie des Menschen, die sich zunächst auf seine biologischen Merkmale bezog, aber als Grundlegung einer wissenschaftlichen Pädagogik, die Maria Montessori anstrebte, nicht ausreichte. 10 Nach Maria Montessoris Meinung führte diese anthropometrische Auffassung von den Grundlagen der Pädagogik , genauso wie eine psychometrische, zwar zu möglicherweise wissenschaftlich gebildeten Lehrern, aber nicht unbedingt zu einer wissenschaftlichen Pädagogik: Man untersuchte wohl die Kinder, aber nicht die Pädagogik, bzw. das pädagogische Geschehen. Für die Lehrer sei daher mehr der Geist des Wissenschaftlers und weniger der Mechanismus des Wissenschaftlers zu schulen. Dabei nennt Montessori den Wissenschaftler einen "Menschen, der empfindet, dass der Versuch die Möglichkeit bietet, die tiefgründigen Wahrheiten des Lebens zu erforschen, ein Stückchen vom Schleier seiner faszinierenden Geheimnisse zu lüften, und der dabei in seinem Innersten eine so leidenschaftliche Liebe für die Geheimnisse der Natur in sich aufkommen fühlt, dass er sich selbst darüber vergißt. Der Wissenschaftler ist kein Mensch, der mit Instrumenten hantiert, sondern jemand, der die Natur kennt. Dieser sublim Verliebte trägt wie ein Mönch die äußeren Zeichen seiner Leidenschaft..." (Montessori.., Erfindung, S. 7). Dieser Geist des Wissenschaftlers hätte sich der Beobachtung von Menschen zu widmen. "Stellen wir uns nun einen glühend mystischen Geist vor, der das kleine Kind in allen seinen Lebensäußerungen beobachtet, um mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Liebe, heiliger Neugier und Sehnsucht nach den höchsten Gipfeln des Himmels den Weg zur Erlangung der Vollkommenheit zu erlernen, und führen wir ihn mitten in eine Klasse voller kleiner Kinder. Dies wäre gewiß nicht der neue Erzieher, den wir heranbilden wollen. Was wir versuchen, ist, den einzelnen Menschen mit dem strengen Opfergeist des Wissenschaftlers und dem Geist unaussprechlicher Verzückung eines solchen Mystikers zu erfüllen - dann haben wir den "Geist des Lehrers" vollkommen vorbereitet. Denn er wird vom Kind selbst die Mittel und den Weg für seine eigene Erziehung lernen, das heißt, er wird vom Kind lernen, sich als Erzieher zu vervollkommnen" (ebenda, S. 11). Aber es geht bei diesem Beobachten und Daraus-Lernen nicht um Menschen an sich, sondern um solche, die sich in einer Situation befinden, in der sie frei nach ihrer Natur lernen können. Die findet der beobachtend lernende Lehrer nicht einfach in den Schulen, an Orten, in denen Kinder durch Ersticken des spontanen Ausdrucks ihrer Persönlichkeit zu toten Wesen werden und auf ihrem festen Platz in der Schulbank sitzen, wie in Reih und Glied aufgespießte Schmetterlinge, welch die Flügel des hart erkämpften Wissens ausbreiten - ein Wissen, das durch diese Flügel, welche Eitelkeit bedeuten, symbolisiert werden kann" (ebenda, S. 12). Vielmehr muss man gleichzeitig die Situation schaffen, in der das Kind sich auf freie Weise betätigen kann. "Es hat also keinen Wert, den wissenschaftlich gebildeten Lehrer zu schulen, man muß die Schule für ihn bereit machen. Die Schule muß die freie Entfaltung der kindlichen Aktivität ermöglichen, damit dort die wissenschaftliche Pädagogik entsteht..." (Montessori, Entdeckung, S. 12). Montessori fordert also ein verschränktes wissenschaftliches Verfahren. Einen wissenschaftlich geschulten Lehrer, der in einer veränderten Schule Kinder in ihren autonomen Äußerungen erfahren und daraus für die Erziehung lernen kann. "Eine Grundlage der wissenschaftlichen Pädagogik muß deshalb eine Schule sein, wo die Entwicklung spontaner Äußerungen und individueller Lebhaftigkeit des Kindes gestattet sind. Falls sich eine Pädagogik aus dem individuellen Studium des Schülers entwickeln soll, so muß dieses Studium wie folgt verstanden werden: es hat sich aus der Beobachtung von freien, das heißt beobachteten und überwachten, aber nicht unterdrückten Kindern zu ergeben." (ebenda, S. 23) Man findet bei Maria Montessori also eine charakteristische Mischung von erfahrungswissenschaftlichem und utopisch-spekulativem Denken. "Das Frühwerk scheint strengsten naturwissenschaftlich-empirischen Kriterien verhaftet zu sein. Die späteren 11 Arbeiten tendieren scheinbar zum Spekulativen [...] Die genauere Betrachtung korrigiert jedoch diesen Eindruck. Auch die frühen Werke beschreiben letztlich eine Erziehungspraxis, deren Ergebnisse nur begrenzt empirisch messbar, wohl aber erfahrbar sind. Und die späteren Schriften integrieren die frühen Ansätze in einer umfassenderen Schau des Kindes, ohne die empirischen Befunde und die Methoden und Mittel der Frühzeit aufzugeben. Man wird daher in der Geprägtheit Montessoris als naturwissenschaftlich ausgebildete Ärztin und als Mensch mit einer tiefen, aber nicht ausschließlich katholisch-christlichen Religiosität die beiden Wurzeln ihrer Pädagogik sehen müssen" (Heiland, S. 9). » 3.1 » 3.2 [ 3.3 ] » 3.4 » 3.5 » Anfang » Inhalt 3.3 Das Material 3.3.1 Warum Sinnesmaterialien (1) Ausgangspunkt für die Entwicklung des Materials ist die Notwendigkeit, die kindlichen Sinne zu entwickeln und zu differenzieren. Ein Kind, welches den Mutterleib verlässt, muß "sich schließlich mit dieser Welt verständigen. Das kann es nur anhand von Erfahrungen. Die Erwachsenen müssen ihm die Freiheit lassen, diese Erfahrungen auf seine eigene Weise zu machen. Zugleich müssen sie ihm - wenn möglich - helfen, seine Welt und die darin herrschenden Prinzipien zu erkunden und sich zu assimilieren. Sie müssen deshalb eine Brücke zwischen ihrer Welt und der des Kindes schlagen. Die Montessori-Erziehung schlägt diese Brücke in Gestalt einer besonders vorbereiteten Umwelt. In dieser Umwelt spielen die Montessori-Materialien eine besondere Rolle" (Mario Montessori, S. 41). (2)"Der naheliegende Wert einer Erziehung und Verfeinerung der Sinne gibt durch die Erweiterung des Feldes der Wahrnehmungen eine immer zuverlässigere und reichhaltigere Grundlage für die Entwicklung der Intelligenz. Durch den Kontakt mit der Umgebung und ihre Erforschung baut der Verstand diesen Schatz wirkender Gedanken auf, ohne die seinem abstrakten Funktionieren Grundlagen und Präzision, Genauigkeit und Inspiration entzogen wären. Dieser Kontakt wird durch die Sinne und die Bewegung hergestellt. Es ist zwar möglich, die Sinne zu erziehen und zu verfeinern, auch wenn es sich dabei nur um einen zeitlich begrenzten Gewinn im Leben des einzelnen handelt, der davon später nicht ständig und in so großem Umfang Gebrauch macht, wie in manchen spezifisch praktischen und sensoriellen Berufen. Der Wert dieser Erziehung der Sinne wird jedoch deshalb nicht geringer, denn gerade während dieser Entwicklungsperiode nehmen die Grundgedanken und gewohnheiten des Verstandes Gestalt an" (Montessori, Entdeckung, S. 112-113). (3) "Das zweienhalb- oder dreijährige Kind, das in unsere Kinderhäuser kommt, hat während der vorhergehenden Jahre seines Lebens, in denen es sehr aktiv und geistig wach war, eine Menge von Eindrücken gesammelt und absorbiert. Diese bemerkenswerte Tatsache, deren Bedeutung sich schwerlich übertreiben läßt, ergab sich jedoch ohne jegliche Hilfe oder Führung von außen. Wesentliche und zufällige Eindrücke sind zusammen angehäuft und schaffen einen zwar konfusen, doch außerordentlich großen Reichtum in seinem Unterbewußtsein. Mit dem sich allmählich äußernden Bewusstsein und Willen ergibt sich ein zwingendes Bedürfnis, Ordnung und Klarheit zu schaffen und zwischen Wesentlichem und Zufälligem zu unterscheiden [...] Um dieses Bedürfnis zu erkennen, braucht das Kind eine exakte wissenschaftliche Führung, wie sie durch unsere Ausstattung mit Anschauungsmaterial und unsere Übungen möglich wird" (Montessori, Entdeckung, S. 113). Das letzte Argument sieht Maria Montessori dabei als das wichtigere an. 12 3.3.2 Einige Beispiele Der rosa Turm "Zehn rosa Würfel von ein bis zehn cm Kantenlänge werden vom Kind aus dem Regal genommen und auf einen Teppich gelegt. Zunächst wird sich das Kind allein damit spielerisch beschäftigen und ausprobieren, was man damit machen kann. Die aufmerksame Erzieherin tritt dann hinzu und gibt dem Kind eine "Einführung" oder "Lektion" wie Montessori sagt, indem sie dem Kind in methodischer Weise zeigt, welche Baumöglichkeiten in diesem Turm stecken. Vor- und Nachmachen sind hier die Lehr- und Lernformen. Dann "arbeitet" das Kind allein. Es wird dabei lernen, dass sich die Würfel im Gewicht und in der Größe unterscheiden, dass sie sich vom größten zum kleinsten in eine Serie bringen lassen, dass man den größten und den kleinsten, die drei größten, die drei kleinsten kombinieren kann, dass die Dimensionen einen Namen haben, den die Erzieherin nennt (groß - klein, der größte kleinste, größer als - kleiner als usw.) Und dass sie eine sog. Fehlerkontrolle haben, wenn man z.B. den Turm errichtet [...] Im "rosa Turm" steckt aber auch das Dezimalsystem: Es sind zehn Würfel. Hier lernt das Kind zwar noch nicht rechnen, aber im Rahmen des Dezimalsystems ordnen usw., also die geistige Voraussetzung für das Rechnen" (Schmutzler, M. Päd., S. 15). Die braune Treppe Sie "...schließt sich an den Rosa Turm systematisch an: 10 Prismen von 20 cm Länge und 10 cm Kantenbreite, die von 10 cm bis 1 cm abnehmen. Hier lernt das Kind dick und dünn zu unterscheiden und erweitert seine Ordnungsstrukturen auf der Grundlage eines weiteren Materials. Es kann die "Braune Treppe" mit dem Turm kombinieren und verschiedene Bauwerke errichten" (ebenda). Die roten Stangen "Mit den "Roten Stangen", 10 cm bis 100 cm Länge und 2,5 cm Kantenlänge, erfährt das Kind den Begriff von lang und kurz: Die Stangen lassen sich gegenseitig ergänzen; die 90 cm lange mit der 10 cm langen Stange, die 80er mit der 20er Stange usw" (ebenda). Die Einsatzzylinder "Vier Holzblöcke mit 10 unterschiedlichen Bohrungen und entsprechenden Holzzylindern. Im Block A bleibt der Durchmesser gleich, aber die Höhe nimmt ab, im Block B verändern sich gleichmäßig Durchmesser und Tiefe, im Block C nehmen Höhe und Durchmesser gleichmäßig ab und in Block D nimmt die Höhe gleichmäßig ab und der Durchmesser gleichmäßig zu. "Die Holzzylinder sind mit kleinen Knöpfen ausgestattet, so dass hier schon der Schreibgriff beim Stifthalten indirekt vorbereitet wird [...] Das Kind lernt das Unterscheiden von Dimensionen bei gleichbleibender Form und erkennt die Beziehung zwischen Hohlraum und Körper..." (ebenda). Lesen Metallene Einsatzfiguren dienen der Vorbereitung der Schreibmotorik. "Es sind 10 quadratische rosa Metallplatten mit herausnehmbaren blauen geometrischen Einsätzen: Quadrat, Rechteck, Kreis, Ellipse, Trapez, Fünfeck, Kreisbogendreieck, Dreieck und Vierpass. Sie haben wie bei den Einsatzzylindern einen Knopf zum Anfassen. Hier lernt das Kind weitere geometrische Formen, aber vor allem durch das Ausmalen der figurenumrisse die Schreib-Feinmotorik üben" (ebenda, S. 15/16). Die Hand wird feinmotorisch für das Schreiben vorbereitet. Diese frühen Vorübungen zum Schreiben werden später durch die Sandpapierbuchstaben und ein Bewegliches Alphabet weitergeführt. Vom Schreiben führt der Weg zum Lesen. Rechnen 13 "Mit den blau-roten "Numerischen Stangen", Sandpapierzahlen und Plättchen mit aufgemalten Zahlen wird dem Kinder der Zusammenhang von Anzahl und Symbol (Ziffern), erschlossen [...] Mit dem Goldenen Perlenmaterial wird der Zehnerraum überschritten" (ebenda, S. 16). Für viele andere Sinnesfunktionen - Farben-, Tast-, Gewichtssinn, Übungen des Gehörs - gibt es ebenfalls Materialien, die nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind. Sie stehen in Verbindung mit begrifflichen Übungen, solchen des Transfers und der weiteren, situationsunabhängigen Anwendungen. 3.3.3 Qualitäten des Sinnesmaterials Isolierung Das Material ist so gestaltet, dass jeweils eine Eigenschaft dabei isoliert wird. "...es müssen Gegenstände vorbereitet werden, die untereinander vollkommen gleich sind, mit Ausnahme der sich ändernden Eigenschaft. Falls wir Gegenstände zurechtlegen wollen, die zum Beispiel zur Unterscheidung von Farben dienen, müssen sie gleich in Stoff, Form und Abmessungen sein und nur in der Farbe differieren. Oder falls Gegenstände zu dem Zweck vorbereitet werden sollen, die verschiedenen Töne der Tonleiter hervorzuheben, müssen sie vollkommen gleich aussehen, wie zum Beispiel die bei unserem System gebräuchlichen Glocken, die alle die gleiche Form und Größe haben und auf gleichen Ständern stehen; doch werden sie mit einem kleinen Hammer angeschlagen, erklingen verschiedene Töne, und diese sind der einzige für die Sinne wahrnehmbare Unterschied" (ebenda, S.115). Abstufung "Das Sinnesmaterial besteht aus einem System von Gegenständen, die nach bestimmten physikalischen Eigenschaften der Körper, wie Farbe, Form, Maße, Klang, Zustand von Rauheit, Gewicht, Temperatur usw. geordnet sind. Z.B.: eine Reihe von Glocken, welche die musikalischen Töne widergeben; eine Gruppe von Täfelchen in verschiedenen Farbschattierungen; eine Serie von Körpern in gleicher Form und abgestuften Abmessungen, andere dagegen, die sich untereinander durch ihre geometrische Form unterscheiden; Dinge verschiedenen Gewichts und gleicher Größe usw. Jede einzelne Gruppe verfügt über die gleiche Eigenschaft, jedoch in verschiedenen Abstufungen; es handelt sich also um eine Abstufung, bei der sich der Unterschied von einem Gegenstand zum anderen gleichmäßig verändert und, wenn möglich mathematisch festgelegt ist" (Montessori, Entdeckung, S. 114). Kindliches Interesse "Es wird nur ein Material ausgewählt, das sich erfahrungsgemäß für die Erziehung eignet, das kleine Kind auch tatsächlich interessiert"(ebenda). Fehlerkontrolle Wenn möglich, soll das Material eine selbständige Fehlerkontrolle durch das Kind selbst ermöglichen. Die Einsatzblöcke, beispielsweise, sind zu diesem Zweck "mit Aushöhlungen versehene Holzblöcke, in die Zylinder mit abgestuften Abmessungen passen [...] Da jede Öffnung genau dem dort hineinzusteckenden kleinen Zylinder entspricht, ist es unmöglich, sie alle verkehrt einzustecken, da am Ende einer übrig sein müßte, und dies verrät den begangenen Fehler. Genau wie sich bei einer Knopfreihe die falsche Reihenfolge oder der vergessene Knopf am Schluß durch ein leeres Knopfloch bemerkbar macht" (ebenda, S. 116). Diese Fehlerkontrolle erstreckt sich dabei nicht nur auf das Material, sondern auf die gesamte Umgebung: ...alles in der Umgebung ist so vorbereitet, dass die Fehlerkontrolle leicht 14 gemacht wird. Von den Möbeln bis zu dem Entwicklungsmaterial sind alle Gegenstände Verräter, vor deren warnender Stimme man nicht fliehen kann" (117). Ästhetisch Das gesamte Material, wie auch die Umgebung sind harmonisch und ästhetisch ansprechend gestaltet, so "...dass sie die Kinder anzieht, genauso wie in der Natur die farbigen Blütenblätter dies bei Insekten tun, damit sie den verborgenen Nektar aussaugen" (117). Aber diese Ästhetik dient nicht in erster Linie der Freude oder der Vervollkommnung des sinnlichen Eindrucks. Bedeutsamer scheint, dass diese Ästhetik eine Mahnung ausspricht: "Behandle mich pfleglich", sagen die hellen glänzenden Tischchen, "lass mich nicht müßig herumstehen", sagen die kleinen Besen, deren Stiel mit Blümchen bemalt ist, "tauche deine Hände hier ein", sagen die mit ihren Seifenstückchen und Bürstchen bereitstehenden sauberen Waschbecken" (117). Anregend Das Material sollte Anregung zum Handeln geben, die Tätigkeit des Kindes hervorlocken. "Zum Beispiel müssen kleine Gegenstände zum Verrücken da sein, und in diesem Fall ist es die Bewegung der Hand, mehr als die Dinge selbst, die das Kind beschäftigt hält, viele Male nacheinander die Sachen zusammen- und auseinanderzustellen, umzurücken und neu zu ordnen, und dadurch eine Längere Dauer der Betätigung ermöglicht" (118). Begrenzt Schließlich wird das Material mengenmäßig begrenzt, zum einen, um ein äußeres Chaos durch zu viele Materialien zu verhindern. Das meint aber zum anderen auch, Kinder brauchen Begrenzungen, damit sie einen Weg für ihre Entdeckungen finden, ohne Umwege machen zu müssen. Organisiertheit Mario Montessori fügt dem noch eine wesentliche Eigenschaft hinzu: Das Material "soll doch auch das Ausmaß an Organisation und Ordnung widerspiegeln, das in einer Gemeinschaft für deren wirkliches funktionieren erforderlich ist"(Mario Montessori, S. 41). Zusammengefasst: Material und Umgebung werden so gestaltet, dass Kinder eigenständig und ohne grobe Fehler, wenn sie es denn wollen, einen Weg der Entdeckungen gehen können. "Der zunächst sich selbst überlassene Entdecker wird dann ein aufgeklärter Mensch, der bei jedem Schritt Neues findet und vorwärts schreitet mit der inneren Kraft, die ihm Befriedigung gibt" Aber, so werden wir fragen müssen, kann und darf er nur das entdecken, was er entdecken soll. Die Aktivität des Kindes besteht im Handeln, im möglichst richtigen Handeln. Das stiften zu große Komplexität und Phantasie nur Verwirrung. Es geht auch nicht um ein eigenständiges Suchen, Finden und vielleicht sogar Erfinden, denn das setzte voraus, dass man etwas aus einem komplexen Ganzen herauszusuchen hätte. Hier wird nur gesucht, was eindeutig gefunden werden kann und hier wird nur erfunden, was sich aus der zwingenden Logik des Materials und seiner Organisation in der wohl vorbereiteten Umgebung ergibt. Dies wird der entscheidende Punkt sein, der Maria Montessoris damals revolutionären Ansatz aus heutiger Sicht nicht mehr ausreichend macht, auch wenn wir viele Grundannahmen mit ihr immer noch oder wieder mit ihr teilen müssen. » 3.1 » 3.2 » 3.3 [ 3.4 ] » 3.5 » Anfang » Inhalt 15 3.4 Die Anthropologie Maria Montessoris 3.4.1 Die Natur des Kindes "Der Gegenstand unseres Studiums ist die menschliche Natur" Die psychische Entwicklung des Kindes gemäß den Naturgesetzen zu fördern, bedeutet, dass man seine Gesundheit und sein Wachstum unterstützt; wenn man seine natürlichen psychischen Neigungen fördert, macht man es intelligenter" (Pedacogical Anthropology, S. 341 und 443, nach Kramer, S. 123). Wir finden bei Maria Montessori ein Naturverständnis in der Tradition Rousseaus: Das Kind entwickelt sich in Übereinstimmung mit seiner Natur, wenn man es nicht in sklavische Zwänge einpasst. Diese Übereinstimmung gilt es daher im Umgang mit ihm zu ermöglichen. Das impliziert, dass das Kind von Natur aus alle Möglichkeiten in sich trägt und der äußeren Bedingungen bedarf, die diese Möglichkeiten hervorlocken. Diese Auffassung vom Kind entwickelte sich zu einem romantischen Ideal des Kindes, als einem noch unverfälschten, kreativen Wesen, welche all die Hoffnungen noch rechtfertigt, die Erwachsene hinter ihren Anpassungen und Ritualen längst begraben haben. Von diesem romantischen Bild geht auch Maria Montessori aus. Auch heute noch unterstellen wir diesen Eigenwert des Kindes Auch wir neigen dazu, alle unsere Zukunftshoffnungen in die Kinder zu projizieren, um sie dort pädagogisch zu nähren. Allerdings sind wir etwas realistischer geworden. Wir wissen, dass das Kind nur einen Anfang enthält. Was aus ihm wird, das verdankt es auch zu nicht genau bestimmbaren Anteilen den Möglichkeiten, die ihm in seiner Um- und Mitwelt eröffnet werden, die es ergreift, um seine Entwicklung voranzutreiben. Wir sollten inzwischen auch wissen, dass auch die Kinderseele mancherlei Möglichkeiten enthält, die an ihrer grundsätzlichen Gutheit zweifeln lassen. Aber auch der Anspruch Maria Montessoris, dem Kind eine geeignete Umwelt zu schaffen, in der es seinen Geist aufbauen kann, ist dadurch nur noch größer geworden. Auch wenn in unserer heutigen Gesellschaft deutliche Tendenzen wahrnehmbar sind, die Grenzen zwischen Erwachsen- und Kindsein zu verwischen, so haben uns unsere sozial- und humanwissenschaftlichen Einsichten in der These bestärkt, die auch Maria Montessori ihrer Arbeit zugrunde legt, dass Kinder anders sind, anders als die Erwachsenen. Ihre Möglichkeiten liegen darin, dass wir ihr Anderssein ernst nehmen. Wenn sich die "wahre Natur des Kindes" von der Natur der Erwachsenen unterscheidet, dann können Erwachsene nicht einfach von eigenen Erlebnis- und Denkweisen auf die der Kinder umstandslos schließen. Vielmehr gilt es, die eigenen Lebensformen der Kinder in ihrem besonderen Charakter zu erfassen und zu erforschen. MM war eine frühe pädagogische Vertreterin dieser Auffassung. 3.4.2 Absorbierender Geist (1) Absorbierender Geist, das ist "das Vermögen sich selbst zu bilden" ( Montessori, Das kreative..., S. 3) und dabei die Angebote aufzugreifen, die sich bieten. Diese Sellbstbildung des Kindes erfasste MM in ihrer besonderen Qualität. (2) "Kraft dieses absorbierenden Geistes vollbringt das Kind in seiner Frühphase das Werk seines personalen Selbstaufbaus. In dieser Hinsicht ist gerade die frühe Kindheit eine "schöpferische Periode" [...], und jedes Kind ist seiner Natur nach ein kreatives Wesens (und zwar kreativ in einem viel ursprünglicheren Sinn, als er in der gegenwärtigen Diskussion gemeint ist, wenn von kreativen Persönlichkeiten, Prozessen und Produkten die Rede ist), weil es den Aufbau seines Menschseins gleichsam aus dem Nichts heraus selbst leisten muß, ein Werk, an dem es ununterbrochen durch Jahre hin tätig ist und das es doch mit Lust und Freude vollbringt. Hier ist Leistung nicht Last, sondern Lust" (Oswald/Schulz-Benesch, Vorwort zu "Das kreative Kind", S. VII/VIII) 16 (3) Der "absorbierende Geist ist nach Montessoris Überzeugung ein ausgesprochenes Sondergut des Menschen in seiner Kindheitsphase ..." (Oswald, Anthropologie, S. 15). (4) "Man könnte auch sagen, dass wir (die Erwachsenen - Anm. d. Authors) unser Wissen mit Hilfe unserer Intelligenz aufnehmen, während es das Kind mit seinem psychischen Leben absorbiert [...] Wir sind Aufnehmende; wir füllen uns mit Eindrücken und behalten sie in unserem Gedächtnis, werden aber nie eins mit ihnen, so wie das Wasser vom Glas getrennt bleibt. Das Kind hingegen erfährt eine Veränderung: Die Eindrücke dringen nicht nur in seinen Geist ein, sondern formen ihn. Die Eindrücke inkarnieren sich in ihm. Das Kind schafft gleichsam sein "geistiges Fleisch" im Umgang mit den Dingen seiner Umgebung. Wir haben seine Geistesform absorbierender Geist genannt" (S. 23). "Es gibt nichts Wichtigeres als diese absorbierende Form der Psyche, die den Menschen bildet und ihn sich an jede soziale Lage, jedes Klima und Land anpassen läßt. Darauf bauen wir unser Studium auf" (S. 58). (5) "Es fehlen ihm wesentliche Merkmale unserer Erwachsenengeistigkeit: Bewusstsein, kritische Reflexivität, willentliche Steuerung, ausgeprägte Individualität; und doch ist es nach Montessoris Überzeugung wirklicher menschlicher Geist. Für das, was ihm auf der einen Seite im Vergleich zum Geist des erwachsenen Menschen fehlt, hat der absorbierende Geist auf der anderen Seite Eigenschaften, die dem bewussten Geist abgehen. Der absorbierende Geist des Kindes vermag in ungemein komplexer Simultanerfassung die menschlich-geistigen Gegebenheiten in seiner Umgebung ganzheitlich zu erfassen" (Oswald, Anthropologie, S. 15). (6) Das bedeutet aber auch, dass - in dem Maße, wie das Kind heranwächst - der absorbierende Geist verloren geht (vgl. Oswald, Anthropologie, S. 16). So sehr es zu begrüßen ist, wie Maria Montessori die Intensität beschreibt, mit welcher das Kind sich selbst, die Welt absorbierend, hervorbringt, so scheint es heute doch gerechtfertigt, zu fragen, ob diese Qualität im Umgang mit der Wirklichkeit, welche die Seele des Kindes bis in ihre tiefsten Winkel prägt, im Verlauf seiner Entwicklung tatsächlich für immer verloren gehen muss. Im Gegenteil mir scheint zu fragen, ob es nicht notwendig ist, diese Qualität wenigstens da zu erhalten, wo wir produktiv und eigenständig mit unserer Wirklichkeit umgehen. Gewiss sind wir als Erwachsene nicht mehr in diesem Umfang auf den absorbierenden Geist angewiesen, wie das Kind. Aber überall da, wo wir Neues erfahren, wo wir bislang Unbekanntem neue Möglichkeiten abgewinnen müssen, wo aus solchen Begegnungen heraus unser Selbst sich erweitert, da könnte es ja sinnvoll und notwendig sein, wenn wir diese absorbierende Qualität des Kindes in seinem Realitätsumgang nicht verloren haben. Da sich außerdem unser Entwicklungsverständnis heute über die gesamte Spanne des menschlichen Lebenslaufs erstreckt, sind wir auch darauf angewiesen, die Prozesse in ihren besonderen Qualitäten zu erhalten, die uns diese lebenslange Entwicklung auch ermöglichen. Man kann MMs Begrifflichkeit als einen fortwährenden Versuch ansehen, mit verschiedenen Bildern, die besondere Qualität und Intensität des kindlichen Selbstbildungsprozesses zu beschreiben. Wir haben zwar Forschritte in der wissenschaftlichen Betrachtung der kognitiven Entwicklung des Kindes gemacht. Zur Erfassung ihrer besonderen Qualitäten hat unsere Form der Wissenschaft bislang jedoch keine geeigneten Instrumente hervorbringen können. Es scheint von daher auch heute nocht nützlich, sich dafür auf die Beschreibungen Maria Montessoris (wie auch anderer Vorläufer unseres frühpädagogischen Denkens) einzulassen, wenn wir heute über Bildungsqualität diskutieren. 3.4.3 Geistiger Embryo Da der Säugling kraft des absorbierenden Geistes sich selbst erst bilden muss, bezeichnet ihn Maria Montessori als geistigen Embryo. Dabei verweist der Begriff des Embryos darauf, dass kleine Kinder nicht nur ein Wissen über die Welt in sich aufnehmen, sondern dabei zur gleichen Zeit auch die Werkzeuge ihrer Weltwahrnehmung und Weltveränderung mit hervorbringen, beziehungsweise ausformen. "Das Neugeborene muß demzufolge auf psychischem Gebiet eine formative Tätigkeit entwickeln, die an die embryonale Periode des Körpers erinnert [...] Diese postnatale Periode, 17 die man als "formative Periode" bezeichnen kann, ist eine embryologisch aufbauende Lebensperiode, die das Kind einen geistigen Embryo sein lässt. Somit durchläuft der Mensch zwei embryonale Perioden: eine ist pränatal und ähnelt der der Tiere - und die andere ist postnatal und tritt nur beim Menschen auf. Dadurch erklärt sich das Phänomen, das den Menschen vom Tier unterscheidet: die lange Kindheit" (Montessori, Das kreative Kind, S. 55). Wir finden hier eine Idee, die von Portmann durch den Vergleich der vorgeburtlichen und der nachgeburtlichen Zeit verschiedener Säugetierarten weiter ausgearbeitet wurde. Für ihn sind Neugeborene einerseits mit Nesthockern zu vergleichen, weil sie einer langen Zeit nach der Geburt bedürfen, in der sich ihre körperlichen, sinnlichen und geistigen Instrumente erst entwickeln müssen, um in ihrer Umwelt handeln zu können. Andererseits sind sie im Vergleich zu den Nesthockern bei den Säugetieren weit entwickelt - z.B. funktionieren ihre Sinne bereits nahezu in vollem Umfang, - so dass sie von Anfang an in der Lage sind auf ihre Umwelt zu reagieren. Misst man ihre Entwicklung jedoch an den Nestflüchtern, so müssen sie noch viele Lernschritte außerhalb des Embryos hinter sich bringen, bis sie deren geburtliches Entwicklungsniveau eingeholt haben. Deshalb bezeichnet Portmann die Menschen als "physiologische Frühgeburt", die zur Ausbildung ihrer menschlichen Eigenschaften auf den Umgang mit anderen Menschen angewiesen sind und eine sehr lange Zeit der Entwicklung ihrer Werkzeuge benötigen, bis ein selbständiges Leben unter den jeweiligen soziokulturellen Bedingungen bewältigt wird. Der Vorzug dieser Zwischenstellung der Menschen im Bereich der Säugetiere liegt einmal darin, dass eine flexible, individuelle und kollektive Anpassung an jeweils verschiedene Umweltbedingungen möglich wird. Zum anderen sind Menschen nicht auf durch die Evolution fertig ausgeformte Programme der Lebensbewältigung (instinktmäßig) angewiesen, sondern lernfähig und in einem großen Rahmen bleiben sie dies auch ein Leben lang, wenn erforderlich. Dieser Begriff vom "geistigen Embryo" impliziert einige wichtige weitere Gedankengänge: Aktivität Diese besteht nicht nur darin, dass das Kind selbst etwas tut, sondern dass es auch die Grundlagen dieses Tuns in Verbindung mit seiner Um- und Mitwelt erwirbt: "Somit haben wir ein vollständigeres Bild von der Aktivität des Kindes. Es bildet ein Verhalten heraus, das nicht nur der Zeit und dem Ort, sondern auch der jeweiligen Mentalität entspricht" (Montessori, Das kreative Kind, S. 58/59). "Der geistige Organismus ist für uns eine dynamische Einheit, die ihre Struktur durch aktive Erfahrung in der Umwelt wandelt und von einer Energie (Horme) geleitet wird..." (ebenda,S. 74). Die "Aktivität des Kindes offenbart sich nach Montessoris Beobachtung zunächst in seinem starken Bewegungsdrang [...] Sich bewegend arbeitet das Kind am Aufbauwerk seiner Selbstverwirklichung" (Oswald, Montessoris Beitrag S. 13). Etwas später beschreibt Maria Montessori diese Aktivität dann noch umfassender und gibt ihr den Namen Horme, also den einer zielgerichteten Aktivität. "Im psychisch bewussten Bereich könnte diese Horme mit der Willenskraft verglichen werden, wenn auch nur eine geringe Ähnlichkeit zwischen beiden besteht. Die Willenskraft ist zu begrenzt, zu sehr an das individuelle Bewusstsein gebunden, während die Horme etwas ist, was zum Leben im allgemeinen gehört, zu dem, was wir als göttliche Kraft bezeichnen können, Förderer jeglicher Entwicklung. Diese vitale Entwicklungskraft regt das Kind zu verschiedenen Handlungen an. Wenn das Kind normal aufgewachsen ist und seine Tätigkeit nicht behindert wurde, zeigt sich in ihm das, was wir als Lebensfreude bezeichnen" (Montessori, Das kreative Kind, S. 77). 18 Fähigkeit zur Anpassung Dabei gewinnt dieser Begriff eine doppelte Bedeutung: Zum einen meint er den Erwerb, der geeigneten Mittel, um mit einer gegebenen Umwelt umzugehen. Dies ist die Anpassung des kleinen Kindes über den absorbierenden Geist. Zum anderen bedeutet Anpassung aber auch die Variation gegebener Handlungs- und Denkmuster, je nachdem, wie es eine Situation erfordert. Es (das kleine Kind, Anm. d. Authors) inkarniert die Dinge, die es hört und sieht. Während sich bei uns Erwachsenen nichts ändert, finden beim Kind Veränderungen statt. Wir Erwachsenen nehmen die Umwelt nur in unser Gedächtnis auf, während sich das Kind an die Umwelt anpasst" Montessori, Das kreative Kind, S. 57). Um diese grundlegende Art der Anpassung geeignet zu beschreiben, wählt Maria Montessori den Begriff der Inkarnation. "Wenn wir das Wort Fleischwerdung gebrauchen, so drücken wir damit die Vorstellung aus, in dem Körper eines Neugeborenen sei ein Geist Fleisch geworden, um auf dieser Erde zu leben. Diese Vorstellung ist im Christentum als eines der verehrungswürdigsten Mysterien der Religion lebendig, als die Inkarnation des göttlichen Geistes [...] Hingegen betrachte die Wissenschaft das Neugeborene als ein Wesen, das aus dem Nichts gekommen ist. Demnach ist es lediglich Fleisch, kein fleischgewordener Geist..." (Montessori, Kinder sind..., S. 48). Diese Auffassung impliziert, - dass bereits das kleine Kind von der Geburt an seelisches Leben besitzt und - dass daher Erziehung bereits mit der Geburt beginnt, wenn man - wie Maria Montessori unter Erziehung eine Unterstützung der seelischen Entwicklung des Kindes versteht, und - dass der Entwicklungsplan eines Lebewesens sich in körperliche Strukturen umsetzt. Die Anpassung, die aus der aktiven Tätigkeit des Kindes hervorgeht und die sein Selbst grundlegend strukturiert, verlangt auch eine Form des Gedächtnisses, die sich nicht nur auf einzelne Funktionen und Inhalte bezieht. (3) Eine besondere Form des Gedächtnisses Maria Montessori unterscheidet dieses kindliche Gedächtnis von dem der Erwachsenen: "Diese besondere Form vitalen Gedächtnisses, das sich nicht bewusst erinnert, sondern das Bild in das Leben des Individuums absorbiert, erhielt von Percy Nunn einen besonderen Namen: "Mneme". (Montessori, Das kreative Kind, S. 57). Dieses Gedächtnis reicht weit ins Unbewusste hinein. So werden die Charakteristika der Umgebung des Kindes "...vom Kind absorbiert, um für immer fixiert zu sein, so dass, auch wenn der Verstand sie ablehnt, doch stets etwas davon im Unterbewusstsein des Menschen bleibt, denn was sich im Kind gebildet hat, kann nie ganz zerstört werden. Diese "Mneme", die als ein höheres natürliches Gedächtnis betrachtet werden kann, schafft nicht nur die Charakteristika, sondern hält sie im Individuum wach. Das, was vom Kind geformt wird, bleibt für immer in der Personalität erhalten..." (ebenda, S. 60). In diesen Punkten wie der Aktivität, grundlegender Anpassung und tiefgreifendem Gedächtnis schließen sich unsere heutigen Auffassungen vom Kind und seiner Entwicklung ziemlich bruchlos an die Maria Montessoris an. Ja man muss Maria Montessori als eine frühe und entschiedene Vertreterin unsere heutigen, von den Human- und Sozialwissenschaften 19 geprägten, Einstellung Kindern gegenüber ansehen. Das Bild vom aktiven und kompetenten Säugling wird heute so stark betont, dass man dabei die Grenzen dieser Kompetenzen vergisst wahrzunehmen (Vgl. z.B. Dornes, Der kompetente Säugling, 1993). Die flexible Anpassung wird durch die Kognitionstheorien im Ausgang von Piaget als gegeben angenommen (vgl. z.B. Piaget, Über Pädagogik, 1999). Die moderne Hirnforschung hat Modelle von Gedächtnisformen entwickelt, die sich nicht nur auf bestimmtes geistiges Vermögen beziehen, sondern unsere Erfahrungen in die grundlegenden Muster unserer Lebensführung einbetten (vgl. z.B. S. J. Schmidt, Hrsg., Gedächtnis, 1991). (4) Ein spezifisches Entwicklungsverständnis Der Begriff der Inkarnation enthält im Kern Maria Montessoris Entwicklungsverständnis: Entwicklung als Eigenschöpfung des Individuums durch den Geist, der den Körper durchdringt und in Austausch mit seiner Umwelt tritt: "Die Aufbauarbeit, in der sich die menschliche Persönlichkeit formt, stellt das verborgene Werk der Fleischwerdung dar" (Montessori, Kinder sind ..., S. 52). "Man könnte sagen, der Schöpfer habe der Natur allein nicht völlig vertraut und daher die höheren Aufgaben, die des Aufbaues und der Leitung - der Energie des Individuums überantwortet, einer Energie, die sich der Natur überlagert und in diesem Sinne über-natürlich genannt werden darf. Das ist die Grundtatsache der menschlichen Entwicklung: Der Menschengeist muss Fleisch werden, um den Weg ins Dasein zu erschließen und zu ermöglichen, und dieser Vorgang der Fleischerdung stellt das erste Kapitel im Leben des Kindes dar"(ebenda S. 53). "Fleischwerdung bezeichnet ein Stück Schöpfung, welches dem einzelnen Individuum überlassen bleibt" (vgl. S. 51). Diese Schöpfung wird dadurch möglich, dass das Individuum in Austausch zu seiner Umwelt tritt (vgl. S. 57). Es entsteht ein merkwürdiger Widerspruch: Das Kind ist das, was es mit Hilfe seines Geistes im Austausch mit seiner Umwelt aus sich macht. Aber indem es dies tut, folgt es seiner Natur. Die Pädagogik kann diese Natur nur unterstützen oder behindern. Daraus folgt, dass die Erwachsenen die Pflicht haben, die seelischen Bedürfnisse der Kinder zu erforschen. Indem das Kind dieser Natur folgt und die Erwachsenen es dabei unterstützen, wird es zum Schöpfer seiner selbst: "Baumeister des Menschen ist das Kind. Das Kind ist der Vater des Menschen" (ebenda, S. 58). Durch Inkarnation - ergreift der Geist von seinem Körper Besitz, überlagert und prägt ihn nach seinem Bild; - dies geschieht bereits ab der Geburt; - das Kind durchläuft dabei eine Phase, in der es sich selbst als Subjekt bildet. 3.4.4 Das Konzept der sensiblen Perioden Zunächst eine Zusammenfassung des Bisherigen Man könnte also sagen: Im absorbierenden Geist betätigt sich ein geistiger Embryo, um sich aus der Auseinandersetzung mit seiner Um- und Mitwelt selbst zu bilden. Diese Selbstbildung bezieht sich nicht nur auf Inhalte, sondern ebenso auf den Erwerb und die Ausdifferenzierung der Werkzeuge, mit deren Hilfe solche Inhalte aufgenommen und verarbeitet werden. Den Ausgangspunkt dafür bildet das, was die Kinder von der Wirklichkeit wahrnehmen. Diese Wahrnehmung funktioniert nun nicht einfach gedankenlos und mechanisch, sondern wird in einem schöpferischen Prozess hervorgebracht, konstruiert, wie wir heute sagen würden. In Maria Montessoris Worten bedarf sie der "schöpferischen Sensitivitäten". "Wenn im Menschen diese schöpferischen Sensivitäten anstatt erblicher Verhaltensmodelle existieren und wenn sich durch sie die Funktionen der Anpassung an die Umwelt bilden müssen, ist es evident, daß diese Sensivitäten die Basis des ganzen psychischen Lebens 20 bilden; eine Basis, die sich in den ersten Lebensjahren stabilisiert." (S. 75, Hervorhebung des Authors) Diese Sensivitäten entwickeln sich in sensiblen Perioden "Es handelt sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter der Lebewesen auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen nur dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab. So entwickelt sich jeder Charakterzug auf Grund eines Impulses und während einer eng begrenzten Zeitspanne" (Montessori, Kinder sind ..., S. 61). "Beim Menschenkind handelt es sich dabei aber - im Unterschied zum Tier - um spezifische Dokumentationen des Geistes, da die sensiblen Perioden Zeiten besonderer Lernbereitschaft und Lernfähigkeit für grundlegende menschliche und kulturelle Gegebenheiten sind. So spricht Montessori z.B. von einer sensiblen Periode für Sprache ("Entdeckung", S. 191), einer sensiblen Periode für Ordnung ("Kinder", S. 77), einer solchen für die "Verfeinerung der Sinne" (Standing 1959, S. 130), einer für moralische Fragen' (Von der Kindheit zur Jugend, S. 29), einer für "Gerechtigkeit und persönliche Würde" ("Von der Kindheit zur Jugend", S. 97), schließlich gar von einer "sensitiven Periode der Seele" ("Entdeckung", S. 192), in der das Kind in besonderer Weise für religiöse Fragen geöffnet ist. Dabei ist es möglich, das zunächst relativ weitmaschige Interesse einer sensiblen Periode auf engere Gegenstände aus diesem Interessenbereich, etwas gewisse Kulturfertigkeiten wie Schreiben und Lesen oder gewisse Schulfächer, zu lenken. Wichtig ist es Montessori, darauf hinzuweisen, dass solche sensiblen Perioden nicht von außen verursacht werden können (Vgl. "Kinder", S. 66), dass sie vielmehr auf "inneren Anstoß" ("Kinder", S. 63) zurückgehen, vor allem aber, dass sie von "vorübergehender Dauer" ("Kinder", S. 61) sind" (Oswald, Anthropologie, S. 18). "Ist hingegen die Empfänglichkeitsperiode vorbei, so können weitere Errungenschaften nur mit reflektierender Tätigkeit, mit Aufwand von Willenskraft, mit Mühe und Anstrengung gemacht werden; und unter der Stumpfheit wird die Arbeit zu etwas Ermüdendem. Hierin besteht der grundlegende, wesensmäßige Unterschied zwischen der Psychologie des Kindes und der des Erwachsenen [...] Stößt das Kind jedoch während einer Empfänglichkeitsperiode auf ein Hindernis für seine Arbeit, so erfolgt in der Seele des Kindes eine Art Zusammenbruch, eine Verbildung" (Montessori, "Kinder", S. 64). In den sensiblen Perioden bilden sich also in der Auseinandersetzung mit einer geeigneten Umwelt die Kerne, aus denen das Subjekt in seiner Einzigartigkeit hervorgeht. Diese SelbstBildung vergleicht Maria Montessori mit den Prozessen, in denen sich aus den Materiewolken im Weltall neue Himmelskörper bilden. Deshalb nennt Maria Montessori diese vagen Ausgangsformen subjektiver Selbstbildung, die in den sensiblen Perioden strukturiert und konkretisiert werden, auch Nebule. Auch wenn das kleine Kind als "absorbierender Geist" verstanden wird, der sich seinen Geist selbst aus seinem Umgang mit seiner Mit- und Umwelt schafft, auch "...wenn im Kind nicht wie beim Verhalten der Tiere bereits stabilisierte Eigenschaften existieren, müssen jedoch bestimmte Potentialitäten zu ihrer Hervorbringung existieren. Das Kind erwartet nicht das Erwachen atavistischer Erinnerungen an ein bestimmtes Verhalten, sondern die Bildung nebelhafter Anregungen, die formlos, aber voller potentieller Energien sind, die das menschliche Verhalten in der Umwelt leiten und inkarnieren müssen und die wir als "Nebule" bezeichnet haben" (Montessori, "Das kreative Kind", S. 65). "... diese Nebule geben dem Kind nach der Geburt die Fähigkeit die bedeutsamen Muster einer bestimmten Kultur auf ihrem jeweiligen Niveau aus der Umwelt zu absorbieren" (ebenda, S. 74). 3.4.5 Die Polarisation der Aufmerksamkeit Oswald bezeichnet die Polarisation der Aufmerksamkeit als das zentrale Phänomen in der Anthropologie Maria Montessoris (vgl. S. 27). In ihm kulminieren alle diese Qualitäten eines 21 Selbstbildungsprozesses, wie er von Maria Montessori beschrieben wird. Wenn alle inneren und äußeren Bedingungen, wie sie hier bislang ausgeführt wurden, zusammenpassen, dann stellt sich der vorübergehende Zustand ein, den Maria Montessori als "Polarisation der Aufmerksamkeit" bezeichnet. Zunächst einmal sei die Episode berichtet, durch welche Maria Monzessori dieses Phänomen entdeckt haben soll: (1) Die Konzentration "Die erste Erscheinung, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, zeigte sich bei einem etwa dreijährigen Mädchen, das damit beschäftigt war, die Serie unserer Holzzylinder in die entsprechenden Öffnungen zu stecken und wieder herauszunehmen. Diese Zylinder ähneln Flaschenkorken, nur haben sie genau abgestufte Größen und jedem von ihnen entspricht eine passende Öffnung in einem Block. Ich erstaunte, als ich ein so kleines Kind eine Übung wieder und wieder mit tiefem Interesse wiederholen sah. Dabei war keinerlei Fortschritt in der Schnelligkeit und Genauigkeit der Ausführung feststellbar. Alles ging in einer Art unablässiger, gleichmäßiger Bewegung vor sich. Gewohnt, derlei Dinge zu beobachten, begann ich die Übung des kleinen Mädchens zu zählen. Auch wollte ich feststellen, bis zu welchem Punkt die eigentümliche Konzentration der Kleinen gehe, und ich ersuchte daher die Lehrerin, alle übrigen Kinder singen und herumlaufen zu lassen. Darauf ergriff ich vorsichtig das Sesselchen, auf dem die Kleine saß, und stellte es mitsamt dem Kinde auf einen Tisch. Die Kleine hatte mit rascher Bewegung ihre Zylinder an sich genommen und machte nun, das Material auf den Knien, ihre Übung unbeirrt weiter. Seit ich zu zählen begonnen hatte, hatte die Kleine ihre Übung zweiundvierzigmal wiederholt. Jetzt hielt sie inne, so als erwachte sie aus einem Traum, und lächelte mit dem Ausdruck eines glücklichen Menschen. Ihre leuchtenden Augen sahen vergnügt in die Runde. Offenbar hatte sie alle jene Manöver, die sie hätten ablenken sollen, überhaupt nicht bemerkt. Jetzt aber, ohne jeden äußeren Grund, war ihre Arbeit beendet. Was war beendet, und warum?" (Montessori, "Kinder", S. 165 /166) "Konzentration heißt, sich ganz auf einen dinglich-sachlichen Zusammenhang einzulassen und dessen Ordnungsgefüge, seine Struktur zu erfassen. Der Umgang mit den Dingen, mit Materialien vollzieht sich durch die Hände und die Sinne. Bewegungsabläufe werden gefordert. Aber dies leibliche Aktivsein des Kindes verbindet sich mit seinem Inneren. Konzentration bedeutet vollständige, auch geistig-intellektuelle Zuwendung zum Ding, zum Material. Diesen Zusammenhang entwickelt Maria Montessori zunächst von der Außenseite her und beschreibt eine Kindliche Umgebung, die das Kind zur Konzentration [...] herausfordert [...] Im späteren Werk wird die Struktur dieser inneren Aktivität des Kindes breit entfaltet und mit den Begriffen sensible Periode, Baumeister des Menschen, geistiger Embryo und absorbierender Geist genauer bestimmt" (Heiland, S. 27/28). Eine zweite Episode berichtet von einem anderen Erstaunen, dem über die Stille. Auch dieses ist ein Merkmal, welches zum Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit, oder dem der Normalisierung(2), wie sich Maria Montessori auch ausdrückt, gehört: (2) Die Stille "Eines Tages betrat ich das Schulzimmer, auf dem Arm ein vier Monate altes Mädchen, das ich der Mutter auf dem Hof aus den Armen genommen hatte. Nach dem Brauch des Volkes war die Kleine ganz in Windeln gewickelt, ihr Gesicht war dick und rosig und sie weinte nicht. Die Stille dieses Geschöpfes machte mir großen Eindruck, und ich suchte mein Gefühl auch den Kindern mitzuteilen. "Es macht gar keinen Lärm", sagte ich, und scherzende fügte ich hinzu: "Niemand von euch könnte ebenso still sein." Verblüfft beobachtete ich, wie sich der Kinder rings umher eine intensive Spannung bemächtigte. Es war, als hingen sie an meinen Lippen und fühlten aus tiefste, was ich sagte. "Sein Atem geht ganz leise", fuhr ich fort. "Niemand von euch könnte so leise atmen." Erstaunt und regungslos hielten die Kinder den Atem an. Eine eindrucksvolle Stille verbreitete sich in diesem Augenblick. Man hörte plötzlich das Ticktack der Uhr, das sonst nie vernehmbar war. Es schien, als hätte der Säugling eine Atmosphäre von Stille in dieses Zimmer gebracht, wie sie im gewöhnlichen Leben sonst nie besteht. 22 Niemand machte auch nur die leiseste wahrnehmbare Bewegung, und als ich die Kinder später aufforderte, diese Übung der Stille zu wiederholen, gingen sie sogleich darauf ein - ich will nicht sagen mit Begeisterung, denn die Begeisterung hat etwas Impulsives an sich, das sich nach außen hin kundtut. Was sich hingegen hier kundgab, war eine innere Übereinstimmung, geworden aus einem tiefinneren Wunsch. Die Kinder saßen still bis zur Regungslosigkeit, beherrschten sogar ihre Atemzüge und hatten dabei heiter-angespannte Züge, so als seien sie in Meditation versunken. Inmitten der eindrucksvollen Stille wurden allmählich selbst die schwächsten Geräusche vernehmbar: das ferne Tropfen von Wasser, das Zirpen eines Vogels draußen im Garten" ("Kinder", S.172/173). Konzentration und Stille sind die Voraussetzungen dafür, dass der intensive Bildungsprozess im Kind zustandekommen kann, der mit Hilfe des absorbierenden Geistes und über den Prozess der Inkarnation den geistigen Embryo bildet. Doch der Polarisationsprozess enthüllt noch andere Fassetten eines Bildungsprozesses: "Jedesmal, wenn eine solche Polarisation der Aufmerksamkeit stattfand, fing das Kind an, sich vollständig zu verändern, ruhiger, man könnte fast sagen, intelligenter und mitteilsamer zu werden; es zeigte außerordentliche innere Eigenschaften, die an die höchsten Seelenphänomene, wie die der Bekehrungen, erinnerten. Es war, wie wenn in einer gesättigten Lösung sich ein Kristallisationspunkt bildet, um den sich dann die ganze chaotische und unbeständige Masse zu einem Kristall von wunderbarer Form vereinigt. Hatte einmal das Phänomen der Aufmerksamkeit stattgefunden, dann schien alles, was von Unordnung und Unbeständigkeit in der Seele des Kindes existierte, sich in einer inneren Schöpfung zu organisieren ..." (Montessori, Montessorierziehung für Schulkinder, S. 73, zit. Nach Oswald, Anthropologie, S. 22). Wenn dieses Polarisation der Aufmerksamkeit eintritt, "...dann erscheint das wahre Kind: vor Freud strahlend in unermüdlicher Tätigkeit begriffen, denn in seinem Leben ist Tätigkeit gleichbedeutend mit einer Art seelischen Stoffwechsels, womit alle Entwicklung eng zusammenhängt. Von jetzt an verläuft alles gemäß seiner eigenen Wahl: es spricht stürmisch auf bestimmte Übungen an, wie etwas auf die der Stille, es begeistert sich für gewisse Anleitungen, die ihm den Weg zur Gerechtigkeit und Würde wiesen. Eifrig nimmt es alles in sich auf, was der Entwicklung seines Denkens förderlich ist. Hingegen weist es andere Dinge zurück: Belohnung, Süßigkeiten, Spielsachen. Ferner gibt es zu erkennen, dass Ordnung und Disziplin ihm lebenswichtige Bedürfnisse und Kundgebungen sind. Zugleich bleibt es ein Kind: frisch, aufrichtig, heiter, ein Kind, das hüpft, das schreit, wenn es von etwas beglückt ist, das in die Hände klatscht, läuft, laut grüßt, überschwänglich dankt, zu allen zärtlich ist, sich allen nähert, alles bewundert, sich allem anpasst" (Montessori, Kinder, S. 193). Die Polarisation der Aufmerksamkeit hängt eng mit den sensiblen Perioden zusammen: "Das Kind macht seine Erwerbungen in seinen Empfänglichkeitsperioden. Diese sind einem Scheinwerfer vergleichbar, der einen bestimmten Bezirk des Inneren taghell erleuchtet, vielleicht auch einem Zustand elektrischer Aufladung. Auf Grund dieser Empfänglichkeit vermag das Kind einen außerordentlich intensiven Zusammenhang zwischen sich und der Außenwelt herzustellen und von diesem Augenblick an wird ihm alles leicht, begeisternd, lebendig. Jede Anstrengung verwandelt sich in einen Machtzuwachs. Erst wenn während einer solchen Empfänglichkeitsperiode die entsprechende Fähigkeit errungen worden ist, senkt sich ein Schleier der Gleichgültigkeit und Müdigkeit über die Seele des Kindes" (ebenda, S. 64). Die zweite wichtige Voraussetzung zum Zustandekommen der Polarisation der Aufmerksamkeit besteht darin, dass das Kind in seiner Umgebung die Dinge, Gegebenheiten, Bedingungen vorfinden muss, die diesen aufgebrochenen inneren Sensibilitäten entsprechen. Dies ist das Geheimnis der wohlvorbereiteten Umgebung und der Materialien Maria Montessoris: Beides soll auf die Perioden der Empfänglichkeit des Kindes abgestimmt sein und so zur Verfügung stehen, dass das Kind, wenn es sie braucht, ergreifen kann. Maria Montessori nimmt also eine direkte Korrespondenz zwischen den sensiblen Perioden und dem Material an. Wenn diese Korrespondenz greift, dann tritt die Polarisation der 23 Aufmerksamkeit ein, die ein tiefes Ergriffensein des Kindes durch die Sache bezeichnet und nicht bloße Konzentration (vgl. Oswald, Anthropologie, S. 20/21). "Standing [...] hat [...] einmal den Versuch unternommen, in einer gewissen Zusammenfassung alle Eigenschaften des normalisierten Kindes im Sinne Montessoris darzustellen. Dabei geht diese Darstellung trotz einer gewissen Vollständigkeit doch kaum über eine aneinanderreihende Aufzählung hinaus: Ordnungsliebe, [...] Arbeitsliebe, [...] Spontane Konzentration, [...] Liebe zur Wirklichkeit, [...] Liebe zur Stille und zur Einzelarbeit [...] Verfeinerung des Besitzsinnes [...] Besitzenwollen hat sich in Liebe verwandelt, und Liebe will den Gegenstand nicht haben, sondern ihm dienen [...] Wahl statt Neugier, [...] Unabhängigkeit und Initiative, [...] Spontane Selbstdisziplin, [...] Freude" (Oswald, Anthropologie, S. 23/24). Aber dies ist nicht mehr als eine Aufzählung relativ abstrakter Begriffe. Um sie zu erfassen, muss man mehr tun, als sie logisch einzusehen. Man muss ihren Nachwirkungen auf den eigenen Körper und Geist nachspüren, auch um die pädagogische Fragestellung zu erahnen, die sich daraus ableiten lassen. Man wird bemerken, dass wir über das dabei spürbare Zusammenwirken der individuellen Kräfte kaum noch Aussagen machen können, die über Maria Montessoris Versuche, die diese Dimensionen nachvollziehbar machen, hinausreichen. » 3.1 » 3.2 » 3.3 » 3.4 [ 3.5 ] » Anfang » Inhalt 3.5 Zusammenfassung: Montessoris Beschreibung des Bildungsprozesses All diese anthropologischen Begriffe kann man als unterschiedliche, sich teilweise auch überschneidende Fassetten eines Beschreibungsversuche von (Selbst-)Bildungsprozessen verstehen. Die Polarisation der Aufmerksamkeit, die eintritt, wenn die Sensibilitäten der Kinder vorgespannt auf Umweltbedingungen treffen, die ihnen entgegenkommen. Der absorbierende Geist, der aus diesem Zusammenspiel von Sensibilitäten, den Nebule, und vorbereiteter Umwelt den geistigen Embryo bildet. Die Horme, die als aktive Lebenskraft diesen Prozess vorantreibt. Auch wenn diese Beschreibung auf uns heute recht blumig oder mystisch wirkt, so wird daraus doch deutlich, dass der kindliche Bildungsprozess mehr ist, als nur ein funktionales Lernen; dass sich das kindliche Individuum aus diesem Prozess selbst aufbaut und dass es der Bedingungen bedarf, die diesen Prozess unterstützen. » 3.1 » 3.2 » 3.3 » 3.4 » 3.5 » Anfang » Inhalt Empfohlene Literatur Originaltexte von Maria Montessori: Die Entdeckung des Kindes. Freiburg, Basel, Wien. Herder; Kinder sind anders. Stuttgart. Klett/Cotta; Das kreative Kind - Der absorbierende Geist. Freiburg, Basel, Wien. Herder; Textsammlung: 24 Böhm, W. (Hg): Maria Montessori. Texte und Gegenwartsdiskussion. Bad Heilbrunn. Klinkhardt; Biographien: Kramer, Rita: Maria Montessori. Frankfurt/Main. Fischer TB; Heiland, H.: Maria Montessori. Reinbek. rororo Monographie; Sekundärliteratur: Oswald, P.: Die Anthropologie Maria Montessoris- Münster 1970. Coppenrath; Schmutzler, H-J.: Montessori-Pädagogik im Elementarbereich. Verband Bildung und Erziehung (VBE), Landesverband Nordrhein-Westfalen. 44141 Dortmund, Westfalendamm 247; Hellmich, A., Teigler, P. (Hg): Montessori-, Freinet-, Waldorfpädagogik. Weinheim/Basel 1995;3 Sonstige Literatur: Portmann Fußnoten 1. Sie begegnete einer Frau mit einem Baby, "...das einen langen, schmalen, roten Papierstreifen in der Hand hielt - so berichtet Maccheroni" (zit. nach Kramer, S. 41). Standing berichtet vom gleichen Erlebnis und fügt an: "... ohne sich deuten zu können, was sie empfand, machte sie kehrt und ging geradenwegs in die Anatomie zurück, wo sie feststellte, von Stund an war ihr Widerwille gegen die unsympathische Stätte erloschen und erwachte niemals wieder [...] Sie fühlte sich berufen" (Zit. nach Kramer, S. 54). Der eine Berichterstatter verlegt dieses Ereignis vor den Entschluss, Medizin zu studieren, der andere danach. Dieses etwas mystisch erscheinende Ereignis bekommt einen verständlicheren Sinn, wenn man Maccheronis zusätzliche Informationen mit bedenkt, die von Kramer nicht berichtet werden. In der Frau begegnet Maria Montessori das Bild der Armut (des Südens), der Mühe, des gelebten Lebens, das keine größeren Hoffnungen mehr hegt, während das Baby in ihren Armen lächelnd, freudig mit dem Papierstreifen spielt, ein Bild der Hoffnung, welche sich mit dem Kindsein verbindet. 2. Normalisierung bedeutet, dass Maria Montessori die Polarisierung der Aufmerksamkeit für etwas hält, wozu Kinder in der Lage sind, wenn sie nicht durch Unaufmerksamkeit, Desinteresse oder ungeeignetes Verhalten ihrer Umwelt davon abgebracht werden. Das übliche Verhalten der Erwachsenen - aus Unkenntnis der wahren Natur des Kindes - scheint jedoch zu sein, den Kindern die Möglichkeit zu einem derart intensiven Sich-Einlassen auf ihre Welt nicht zuzutrauen und es daher nicht nur nicht zu ermöglichen, sondern es zu stören oder gar zu verhindern. Daraus rührt eine Art Krankheit des kindlichen Weltbezugs, die Maria Montessori nicht näher beschreibt. Diese macht es notwendig, das Kind durch eine geeignete Umwelt wieder in seine Möglichkeiten einzusetzen, es zu normalisieren. Im normalen Leben scheinen die Kinder also in ihrer Aufmerksamkeit geschädigt zu sein. "In der medizinische bestimmten Heilpädagogik [...] liegt der Ansatz ihrer Überlegungen, dem Kind, jedem Kind, zu seinem wahren Wesen zu verhelfen. Dieses wahre Wesen äußert sich in der Konzentration, die Montessori zunächst als Polarisation der Aufmerksamkeit und im Spätwerk dann als Normalisation bezeichnet" (Heiland, S. 27).