1. Einleitung Die Idee zu dieser Arbeit kam durch die Lektüre von Jean Pauls „Siebenkäs“, der zu den Doppelgängerdichtungen gezählt werden kann. Mit Lust auf mehr, stürzte ich mich auf weitere Beispiele dieser Lektüreart und fand heraus, dass es doch erhebliche Unterschiede zwischen den Autoren und der Gestaltung (Realisation) und Verwendung des Motivs gibt. Vor allem in der Romantik findet sich eine Fülle von Doppelgänger– und Automatendichtungen; die Letzteren machen ebenfalls einen Teil der Arbeit aus. Aus diesem Interesse heraus ergab sich für mich das Thema dieser Magisterarbeit: Das Phänomen des Doppelgängers und des künstlichen Menschen in der romantischen Literatur. „Doppeltgänger* *So heißen Leute, die sich selber sehen.“1 Diese Definition Jean Pauls, die seinen eigens erfundenen Begriff für ein schon lange bekanntes Phänomen beschreibt, besticht durch ihre Einfachheit. Sich selber sehen, sich in etwas oder jemandem erkennen, mehr ist nicht nötig, um einen Doppelgänger ins Leben zu rufen. Etliche der Romangeschöpfe Jean Pauls zeugen davon, dass er einer der führenden Köpfe bezüglich des Doppelgängermotivs war. An deren Beispiel wird ersichtlich, dass oft nur der Schein ausreicht, um einen Doppelgänger entstehen zu lassen. Manchmal genügt es, nur ganz einfache äußerliche Merkmale zu kopieren, um für eine andere Person gehalten zu werden. Die Grenzen für eine eindeutige Bestimmung – also wann jemand zu einem Doppelgänger von jemand anderem wird (oder umgekehrt) – bleiben letztlich subjektiv bestimmt und unterscheiden sich von Mensch zu Mensch. Das ist wohl auch der Grund, weshalb komplizierte Definitionen immer unstimmig und ergänzungswürdig erscheinen. Die einfachere Erklärung bleibt deshalb wohl die bessere. Die zahlreichen Möglichkeiten, die das Motiv literarisch eröffnet, sind sicherlich ein Grund für die so vielfältige und heterogene Realisation des Motivs. Das gilt vor allem für die Schriftsteller der Romantik, aber auch für die anderer Epochen. Dabei ist es egal, ob der Doppelgänger als reale, lebende Person, als Schatten, als Spiegelbild, als Porträt oder als Golem realisiert wird. Wichtig ist nur die Tatsache, dass man sich selbst in ihm erkennt bzw. dass andere den Doppelgänger nicht vom Original unterscheiden können. Aus diesem Grunde halte ich es für richtig, Spiegelbilder, Schatten oder Wachsbüsten zu den Doppelgängern zu zählen, da man sich, oder einen Teil des Ichs, in ihnen wiedererkennt. Wie unterschiedlich die Gestaltung und die Funktion des Doppelgängers in der romantischen Literatur sein können, soll diese Arbeit anhand weniger ausgewählter Beispiele zeigen. Die 1 Zitat und Definition aus: Jean Paul: Siebenkäs, Reclam, Stuttgart, 1994, S. 67. 1 Arbeit soll nur als begrenzte Forschungsleistung angesehen werden, da sie keinesfalls das gesamte Arsenal der Doppelgängerdichtungen bearbeiten und abdecken kann. Weil gerade die literarisch produktive Romantik für ihren häufigen Gebrauch des Motivs bekannt ist, wäre das auch unmöglich. Vielmehr soll an den Beispieltexten das Motiv in seiner Form und Funktion näher untersucht werden, um dadurch die Vielfalt, die dem Motiv innewohnt, zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck ist es vorteilhaft, die Texte an den Stellen miteinander zu vergleichen, an denen es sich als möglich und sinnvoll erweist. Die Beispiele sind breit gefächert und können als exemplarisch für eine bestimmte Gestaltungsart des Motivs stehen. Es werden mehrere Arten des Doppelgängers untersucht, die sich von konkreten, lebenden Menschen, über nicht mehr so lebendige, bis hin zu abstrakteren Formen erstrecken. Leider ist es nicht zu erwarten, irgendwelche besonderen Neuigkeiten ans Licht zu befördern, doch manche Texte sind in der Literaturforschung immer noch Neuland, welches es zu entdecken gilt. Die ausgewählten Texte stammen von vier verschiedenen Schriftstellern und zeigen verschiedene Spielarten des Doppelgängermotivs. Ziel soll es sein, mittels der einzelnen Untersuchungen und Darstellungen zu beweisen, dass es in der Romantik keine stereotype Verwendung des Motivs gab, sondern dass der Spielraum, den das Motiv innehat, in alle Richtungen genutzt wurde. Das heißt, es ist keine eindeutige Verwendungsrichtung vorherrschend. Eine Stereotypie ist eher im Opus einzelner Autoren festzustellen, wobei aber nur einzelne Aspekte des Phänomens solch stereotype Züge aufweisen. Die Arten und Funktionen der Doppelgänger sind sehr verschieden. Vom komischen Verwechslungsmotiv über gemeine Usurpatoren bis hin zum Auslöser psychischer Störungen und Krankheiten ist so ziemlich alles vertreten. Wie bereits erwähnt, beschränken sich die Dichter nicht nur auf lebende, fleischliche Doppelgänger; das Motiv kann beliebig mit einem anderen sehr beliebten Motiv der Romantik kombiniert werden: mit dem des künstlichen Menschen. Hier geht die Bandbreite vom Golem, über den Alraun, bis zum Automaten. Eine weitere Ausnahme sind die abstrakteren Doppelgänger, wie der Schatten, den wir uns noch näher ansehen werden. Überall Doppelgänger, so die Feststellung. Wie sich diese offenbaren und was für ein Ziel sie verfolgen, zeigt sich am einzelnen Beispiel. Die Texte werden nur auf das Doppelgängermotiv, und auf das Motiv des künstlichen Menschen näher und eingehender untersucht. Selbstverständlich wird stellenweise etwas weiter ausgeholt werden, doch eine vollständige Interpretation der Texte ist nicht vorgesehen. Zwangsläufig bildet sich dadurch eine einseitige Perspektive, die viele interessante Details der Werke außer Acht lassen muss. Neben der Funktion sollen auch mögliche Einflüsse und 2 Vorbilder genannt werden. Die Vergleiche unter den Autoren und innerhalb der Romantik sollen die epochentypische Bearbeitungs- und Verwendungsweise der Motive erhellen. Die eingesetzten Methoden und Ansätze sind nicht immer gleich und ändern sich z.T. von Werk zu Werk. Diesen Methodenpuralismus halte ich für vorteilhaft, weil dadurch die Vorzüge aller Methoden genutzt werden können. Grundsätzlich werden ein funktionaler sowie ein beschreibender (deskriptiver) Ansatz verwendet, da die Funktion des Doppelgängers von hoher Wichtigkeit ist. 2. Motivische Vielfalt: Der Doppelgänger als künstlicher Mensch Der erste Dichter, an dessen Werk wir uns mit dem Doppelgängermotiv eingehender befassen wollen, ist Achim von Arnim. Die folgenden Beispiele offenbaren einen durchwegs ernsthaften Gebrauch des Motivs. Der Doppelgänger dient als Ersatz des Originals, ihm wird aber keine dauerhafte Ersatzrolle zugestanden. Arnim hat sehr weit gedacht und dabei einen neuen Typ des Doppelgängers geschaffen. Er ist in jedem Falle außergewöhnlich, jedoch nicht abstrakt, wie Chamissos Schatten-Doppelgänger. Arnim speist seine Ausführung aus verschiedenen literarischen Quellen, vor allem aus seinem literarischen Umfeld. Bei ihm wird immer eine übernatürliche bzw. exoterische Macht benötigt, um den Doppelgänger zu schaffen. Keine geborenen Menschen werden zu Doppelgängern, es sind stets künstliche Wesen. Hier besteht ein Unterschied zu Hoffmann, der fast durchgängig lebende, bereits existierende Menschen verwendet, um die Doppelgängerei zu realisieren. Eigenartig ist, dass der Doppelgänger durch seine Anwesenheit keine gravierende Ich–Problematik auslöst. Er nimmt keinen psychischen Einfluss auf das Original. Das deutet auf eine gewisse Erhabenheit der Individuen. Es könnte aber auch daran liegen, dass seine Heldinnen an eine positive, prophetische Mission gebunden sind, was ihr Scheitern nicht erlaubt. So z.B. bei Isabella, die ein ganzes Volk retten und vereinen soll. Sie kann und darf nicht scheitern, denn es wäre nicht in Einklang mit der Prophezeiung, auf die Arnim sehr viel Wert gelegt hat. Ähnlich verhält es sich auch bei Hoffmann in diesem Punkte. Bei ihm sind die Helden, die an eine Mission gebunden sind, ebenfalls erfolgreich, doch ihr Leben bleibt trotzdem nicht dauerhaft verschont. Die Ich– Problematik hat bei Arnim mehr mit der Liebe zu tun, als mit dem Doppelgänger. Wie sich das Motiv bei Arnim vorstellt, soll im Folgenden genauer analysiert werden. 3 2.1 Achim von Arnim: „Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe“2 2.1.1 Allgemeines zu Dichter und Werk Die Erzählung entstand im Jahre 1811, Arnims Hochzeitsjahr, in dem er Bettine Brentano heiratete. Die „Isabella“ ist die erste von vier Erzählungen im Erzählband von 1812, der von einer relativ lockeren Rahmenhandlung3 zusammengehalten wird. Zum Thema der Doppelgänger und der künstlichen Menschen findet sich hier vielfältiges Material. Arnims Vorliebe für eine Vermischung aus historischen, realen und phantastischen Stoffen wirkt sich auch auf das Personal aus. Zusätzlich kommen transzendente, übernatürliche Einflüsse hinzu, wie beispielsweise die Prophezeiung, die Arnims eigene Erfindung war4. Er versucht in seinen Novellen, die er selbst nie genauer definiert hat, eine Vermischung von „Welt und Innenwelt“ zu erreichen5. Dieses Prinzip folgt seiner Ästhetik, die er leider nie als ein Gesamtwerk produzierte und die „fragmentarisch und aphorismenhaft“6 ist, denn er war nicht dem Typus der theoretisch orientierten Dichter zugeneigt. In der Tat bildeten Brentano, Eichendorff und er die praktische Fraktion der jungen Romantiker. Diese Vermischung von Innen und Außen ist im Sinne der Arnimschen Kunstauffassung durchaus programmatisch zu verstehen. In der Kunst sah er eine vermittelnde Instanz, ihre Funktion war die einer Mittlerin zwischen ihm und dem (Lese-) Publikum. Die Kunst und das Kunstwerk waren also Medium. Beim Kunstwerk unterschied er zwischen der „äußeren Form“ und dem „inneren Wesen“. Die Form ist einer zeitlichen Konstante untergeordnet und macht meist den historischen Kontext, also den Rahmen der Geschichte aus. Das innere Wesen ist daher das Überzeitliche, das Transzendente, welches nach seiner Auffassung in ausgewogenem Maße vorhanden sein muss, um der Geschichte „Tiefe“ zu verleihen. Das Transzendente ist deshalb so wichtig, weil er an die Medialität des Auftrags glaubt. „Arnim denkt das gelungene Kunstwerk – wie wir 2 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe, Reclam, Stuttgart, 2002. 3 Die Rahmenhandlung fehlt bei den Einzelausgaben oftmals, weshalb es sich empfiehlt die Gesamtausgabe zu lesen. 4 Von Werner Vordtriede: Achim von Arnim, in: (Hrsg.) Benno von Wiese: Deutsche Dichter der Romantik, Schmidt, Berlin, 1983, S. 327. 5 Aus Johannes Klein: Geschichte der deutschen Novelle, Steiner, Wiesbaden, 1960, S. 138. 6 Roswitha Burwick: Achim von Arnims Ästhetik. Die Wechselwirkung von Kunst und Wissenschaft, Poesie und Leben, Dichtung und Malerei, in: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation, mit unbekannten Dokumenten, hrsg. von Roswitha Burwick und Bernd Fischer, Bern u.a. 1990 (=Germanic Studies in America No. 60), S.102. 4 sahen – als überzeitlichen »Stoff« in zeitlicher »Form«.“7 Der Gehalt bzw. die Tiefe der Geschichte wird durch die unbewusste Inspiration gewonnen, während die Form nur das Ergebnis einer bewussten Tätigkeit ist, die jeder Dichter besitzen muss. „Arnim war der Ansicht, dass er das Leben am besten einfangen könne, wenn er seiner poetischen Phantasie, die er als Ausdruck einer höheren Inspiration ansah, freien Lauf ließe und ihren Strom nicht durch rationale Erwägungen und Reflexionen störe.“8 Mit dem Begriff der Inspiration hatte Arnim auf eine Definition aus der Zeit vor Goethe zurückgegriffen, denn für ihn war es „göttliche Inspiration“, die den transzendenten Gehalt des Werkes sicherte. Inspiration war also eine konkrete Erscheinung der Bindung des Dichters an eine transzendente Quelle der Dichtung und Kunst9. 2.1.2 Einflüsse zur Entstehung der Erzählung 1811, im Jahre des Kometen über Deutschland, erwarteten Achim und seine Frau Bettina ihr erstes gemeinsames Kind. Dieses Ereignis spiegelt sich in der „Isabella“ wieder, als der Hofmeister Adrian in den Sternen sieht, „daß diese Nacht den wunderbarsten Sohn der Venus und des Mars gezeugt habe“ (S. 82). Gemeint ist damit Lrak, der Sohn Karls und Isabellas. Offensichtlich reale Begebenheiten werden leicht verändert verarbeitet, so wie Arnims Rheinfahrt, die er mit Brentano machte, und die für die Konstruktion des Rahmens diente. Arnim nahm sehr viele Einflüsse auf und trachtete danach, sie alle für seine Dichtung auszunutzen. Dies gilt vor allem für literarische Impulse. Die Heterogenität des Stoffs ist in der „Isabella“ deutlich zu erkennen. Einen wichtigen Teil macht der jüdische Kulturkreis aus, der, wie sich noch zeigen wird, eher negativ behandelt wird10. Vor allem die Kabbala und ihre mystisch–magischen Inhalte, die zur Schaffung des Golems beitragen, wurden benutzt. Die materielle Besessenheit und ihre natürliche Prädisposition zum Geld wurden ebenso von Arnim thematisiert. Den Gegenpol zur jüdischen Seite bilden die Zigeuner. Dass Arnim sie mochte, ist aus seinen Angaben anzunehmen: „Warum zieht es uns in Büchern an, was wir von den ersten Entdekkungsreisen, von den Weltfahrten, von ziehenden Schauspielern, insonderheit was wir von dem wunderbaren Wandel des Zigeunerreichs lesen, im Kriege echte Soldaten, im Frieden zutrauliche Ärzte (dessen die gelernten sich jetzt fast alle entwöhnt); ich erinnere mich noch ihrer nächtlichen Feuer im Walde, wie sie mir aus der Hand wahrsagten: Und sagten sie mir etwas Gutes, so sage ich wieder Gutes von ihnen.“11 Martin Neuhold: Achim von Arnims Kunsttheorie und sein Roman „Die Kronenwächter“ im Kontext ihrer Epoche. Niemeyer, Tübingen, 1994, S. 43. 8 Ernst Schürer: Quellen und Fluß der Geschichte: Zur Interpretation von Arnims „Isabella von Ägypten“, in: Lebendige Form, Festschrift für Heinrich E. K. Henel, Fink, München, 1970, S. 190. 9 M. Neuhold, S. 29. 10 Siehe bei Gonthier-Louis Fink: Pygmalion und das belebte Marmorbild. Wandlungen eines Märchenmotivs von der Frühaufklärung bis zur Spätromantik, in: Aurora 43, 1983, S. 105. 11 Zitat aus: Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn, Band 1, hrsg. von Heinz Rölleke, Reclam, Stuttgart, 1987, S. 393f. 7 5 Aus dem Aberglauben, aus Sagen und Märchen, wurde ebenfalls geschöpft, genauso wie aus dem christlichen Kulturkreis. Als Quellen für die Zigeunerthematik (so genannte „Zigeunerromantik“) diente wohl u.a. Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns „Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart und Verfassung, Sitten und Schicksale dieses Volks in Europa, nebst ihrem Ursprunge“12 (1787), denn es finden sich etliche Übereinstimmungen zur „Isabella“, die Arnim freilich stark abgewandelt hat. Doch auch von Miguel de Cervantes und aus Martin Crusius „Schwäbischer Chronik“ (1733) gab es Einflüsse. Viel Material schöpfte er aus der „Zeitung für Einsiedler“, in der seine Freunde veröffentlichten. So verwendete er Jacob Grimms Golemsage13, die er noch leicht modifizierte, um seine Doppelgängerin zu kreieren. Grimmelshausens „Der erste Bärnhäuter“ (1670) und Brentanos „Geschichte und Ursprung des ersten Bärnhäuters“ standen für seine Version Patenschaft. Ebenso Grimmelshausens „Simplicissimi Galgen – Mannlin oder Ausführlicher Bericht, woher man die genannten Alräungen oder Geld Männlein bekommt“ (1673). Informationen zum historischen Karl V. hat er wohl aus den Werken Antoine Varillas und William Robertsons „History of the Reign of the Emperor Charles V.“ (1769), dessen Ausgabe er tatsächlich besaß14. Wichtig für das Doppelgängermotiv scheint Brentanos „Frontalbo und die beiden Orbellen“15 zu sein. Auf Jacob Grimms Anreiz hin schrieb Brentano das Stück und ließ es im 11. Heft der „Zeitung für Einsiedler“ drucken. Schon die Namen klingen ähnlich, vor allem die häufiger verwendete Kurzform Bella. Der Text bietet also historische Elemente, die aber mit sehr stark phantastischen Motiven und Zügen durchflochten sind. Dass die Phantastik einen großen und wesentlichen Teil von Arnims Texten ausmacht, betont nicht nur Neuhold. In der „Isabella“ vermischen und durchdringen sich kabbalistische Mystik, Zigeunerromantik, altdeutscher Aberglaube, Prophezeiungen, Träume und noch viele verschiedene Motive und Ideen zu einem sehr heterogen Konglomerat. 2.1.3 Das Doppelgängermotiv und seine Realisation Das Doppelgängermotiv wird bei Arnim ganz frei behandelt und mit einigen anderen Motiven 12 Vgl. Renate Moering: Achim von Arnim, Werke, Band 3, DTV Werkausgabe, im Nachwort S. 1254 und E. Schürer, S. 193f. 13 Gedruckt im 7. Heft, am 23. April 1808 in der „Zeitung für Einsiedler“, vgl. dazu Neumann, S. 304. 14 Siehe bei R. Moering, S. 1255. 6 kombiniert. In unserem Falle wird der Doppelgänger mit einem künstlichen Geschöpf verbunden. Damit verknüpft er das Motiv des künstlichen Menschen mit dem Doppelgängermotiv; beide waren äußerst beliebte Motive der Romantik. Dabei bleibt es aber nicht, denn Arnim lässt noch das Venusmotiv16 in die Gestalt mit einfließen. Durch ihre Rolle als Verführerin kann die Golem-Bella in diese Kategorie gezählt werden. Daraus ergibt sich eine Parallele zu E.T.A. Hoffmanns Olimpia („Sandmann“). Mit dem Doppelgängermotiv will Arnim aber keine Ich–Problematik im Stile Hoffmanns darstellen, sondern es dient dazu, die Liebe zwischen Bella und Karl zu ermöglichen, oder sie später zu stören. Obwohl die Doppelgängerin zunächst nützlich ist, wird sie später zum Störfaktor der Liebe. Von der Verwechslungsfunktion wechselt sie zu einer zerstörerischen Funktion, bis sie vernichtet wird. So haben wir drei an sich verschiedene Motive, die auf eine Person projiziert sind. Künstliche Menschen und künstliche Zeugungen gibt es mehrere in der Erzählung. „In »Isabella von Ägypten« ist in der Tat eine ganze Reihe von solitären Zeugungen belegt, deren künstliche menschenähnliche Produkte dazu dienen, eine wunderbare einmalige Zeugung zwischen zwei Mesalliancepartnern und damit die Weiterexistenz des Zigeuner – Künstlervolks zu ermöglichen.“17 Der Golem, der Alraun und der Bärenhäuter werden durch Sprachschöpfung erschaffen. Wichtig erscheint auch das Liebeskonzept, weil es für die Handlung und ihren Ablauf verantwortlich ist. Selbstverständlich spielt die Prophezeiung auch noch eine bedeutende Rolle. Moralische Punkte werden ebenso angesprochen, vor allem das Thema Geld und Umgang mit selbigem wird angerissen. Parallelen zu Chamissos „Schlemihl“ und zu Brentanos „Wehmüllern“ werden dadurch sichtbar, die auch eine sozial- und gesellschaftskritische Note aufweisen und vom Umgang mit Geld handeln. Ein ganz deutlicher Unterschied zwischen Arnim und Hoffmann besteht in ihrer unterschiedlichen Erzählweise, sowie in ihren Quellen und Einflüssen. Bei Arnim werden die Personen wenig oder gar nicht psychologisch profiliert. Ganz anders dagegen Hoffmann. In der „Isabella“ kommt es so gut wie nie zu einer ernsthaften Ich–Problematik, zumindest nicht für Bella18. Sie durchlebt zwar Probleme, zeigt aber keine psychische Störung, wie das bei Vgl. bei Peter Horst Neumann: Legende, Sage und Geschichte in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 1968, S. 304. 16 Vgl. G.L. Fink, S. 103. 17 Volker Hoffmann: Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, in: Aurora 46, 1986, S. 161. 18 Die einzige Stelle, bei der sie wirklich richtig erschüttert gewesen zu sein scheint, ist nach der Liebesnacht, als sie von Karl verstoßen wurde und alleine durch die Gegend zieht. Die Verhältnisse werden aber relativ zügig geklärt und es gibt kein tragisches Ende, was auch direkt gegen die Prophezeiung sprechen würde. Es ist anzumerken, dass der Doppelgänger bei ihr keine Identitätskrise auslöst. Hier ist die Liebe ein schwerwiegenderer Faktor. 15 7 Hoffmanns Doppelgängern sehr oft der Fall ist. Man erfährt reichlich wenig vom Innenleben, was zum Teil an der auktorialen Erzählform liegt. Deshalb wird die Untersuchung auf die Doppelgänger und den Aalraun beschränkt. Die persönliche Entwicklung Bellas, muss außer Acht gelassen werden, weil sie in unserem Rahmen nichts wirklich Wichtiges zur Ich– Problematik beiträgt. Daran erkennt man die grudsätzlichen Unterschiede zwischen Arnim, Hoffmann und Chamisso. Obwohl Isabella wie Medardus letztlich die Prophezeiung, die über ihnen liegt, erfüllen, sind ihre psychischen Gemütszustände völlig verschieden. Isabellas Doppelgängerin wirkt nur auf ihre Liebesbeziehung negativ. Ihre Psyche bleibt unberührt und unbeschrieben. 2.1.4 Künstliche Zeugungen Einen großen Stellenwert für die Romantik hatten Wort, Schrift und Sprache. Arnim bildet hierin keine Ausnahme. Die geläufige Vorstellung von Weltschöpfung als Sprachschöpfung19 wird auch in dieser Erzählung durchgesetzt. Die auffälligste unter diesen Schöpfungen ist der Golem. Er wird mittels kabbalistischer Mystik durch das Wort, nämlich das „Aemeth“, auf seiner Stirn, und durch die Belebungsformel, das „Schemhamphoras“ (S. 73), zum Leben erweckt. Also durch Schrift und Sprache. Dabei vermischen sich Oralität und Literarität. Diese Zeugungen sind „außergenital“20 und erfolgen in dem Falle des Golems auch noch zusätzlich durch einen Blick, den die echte Bella in den Spiegel wirft, um aus einem Golem ihren Doppelgänger zu machen. Das zweite Geschöpf in dieser Reihe ist der Alraun. Der Alraun, der aus dem althochdeutschen „rune“21 hervorgeht, was gleichzeitig „alte Schrift“ bedeutet, wird tatsächlich aus den alten Schriften von Isabellas Vater entnommen. Erst als Isabella die „Zauberbücher“ (S. 21, 43) und Schriften ihres Vaters liest, stößt sie auf den Alraun und das Geheimnis seiner Gewinnung. Damit ist das Buch, und dessen Inhalt, die Schrift, als Initiator der Schaffung zu sehen. Ohne das Buch kein Alraun. Doch kommen wir nun erst einmal zum inhaltlich wichtigeren Doppelgängermotiv, welches im Zentrum dieser Arbeit steht. 2.1.5 Bella und Golem-Bella: Das Doppelgängermotiv kombiniert mit anderen Motiven Was uns bei diesem Doppelgängerpaar auffällt, ist die Tatsache, dass ein künstlich geschaffener Mensch zum Doppelgänger eines echten Menschen wird. Außer bei Arnim, der 19 Von Detlef Kremer: Romantik, J.B. Metzler, Stuttgart, 2001, S. 170. V. Hoffmann, S. 162. 21 Vgl. D. Kremer, S. 170. 20 8 ähnliches auch in der „Melück“ macht, kommt das bei keinem anderen Autor in dieser Untersuchung vor. Künstliche Menschen bleiben in der Regel individualisiert, sie können zwar, wie im „Sandmann“, den Menschen täuschen und sich als Menschen ausgeben, doch sie versuchen niemals, eine konkrete, lebende Person zu ersetzen, sprich zu jemandes Doppelgänger zu werden. Diese Schwierigkeit liegt in der Realisation der Sprachgabe und Gedanken, was Arnim erkannte und durch phantastische Utensilien zu überbrücken suchte. Wenn man so will, ging Arnim, dessen Erzählungen die ältesten innerhalb der Untersuchung sind, am weitesten, denn dem künstlichen Menschen werden die Macht der Täuschung und die Ersatzfähigkeit zugesprochen. Ja, sogar der vollständige Ersatz einer lebenden Person ist möglich und denkbar. Aber trotz allem will sich bei Arnim nie ein rechter Schrecken einstellen. In dieser Hinsicht ist Hoffmann ihm überlegen, allerdings glaube ich nicht, dass es Arnims Anliegen war, das Motiv in der Art einzusetzen, wie Hoffmann es später tat. Dafür sind ihre dichterischen Ziele und Praktiken zu verschieden. Ein wichtiger Unterschied zu Hoffmann ist der psychologische Gehalt der Erzählung, der bei Arnim sehr gering ist. Der Doppelgänger, der eigentlich nur als Ablenkung gedacht war, stiftet Verwirrung, mehr aber auch nicht. Selbst als Bella ihrer Doppelgängerin gegenübersteht, kommt es zu keinerlei bedeutendem psychischen Kollaps. Der Golem wird mit negativen Attributen behaftet, was ganz klar an der antisemitischen Tendenz Arnims lag. Er wird zur bösen Schwester Bellas, die nur „Hochmut, Wollust und Geiz“ (S. 75) kennt. Damit werden diese schlechten Eigenschaften direkt mit den Juden verknüpft. Diese Thematik hat einen großen Raum im Werk bekommen, und die Entscheidung für das Geld oder für die Liebe ist ein zentraler Punkt. In der vorliegenden Erzählung finden wir durch eine geschickte und durchdachte Weise die Golemsage, die mit dem Doppelgängermotiv kombiniert wurde, in einem weiterentwickelten Zustand. Um diese Kreuzung der Motive im textinternen Kontext aufrechterhalten zu können, bedarf es eines bestimmten Wissens, welches die Golem-Bella von der echten Bella mittels eines „Zauberspiegels“22 erhält. Dieses Wissen ist notwendig, weil sie als Ersatz der echten Bella zwangsläufig in die Situation kommt, in der sie sprechen und ein vorausgesetztes Wissen zeigen muss. Sie soll schließlich den Alraun täuschen und beschäftigen. Dieses Wissen, oder eine einfache Art des Bewusstseins, wird ihr mit Hilfe des Rabbis von der echten Bella transferiert. Sie entsteht durch Magie und „Blickzeugung“23. „Als er das gesprochen, hatte der alte Jude sein Werk beendigt, er hauchte die Bildsäule an, schrieb das Wort auf ihre Stirn, das sich unter Haarlocken versteckte, und eine zweite Bella stand vor beiden, die alles 22 Hier wird die Vorliebe der Romantiker für optische Hilfsmittel deutlich. Bei Hoffmann und Chamisso sind es Fernrohre oder ebenfalls Spiegel, die eine magische Wirkung haben können. 23 V. Hoffmann, S. 162. 9 durch jenen Spiegel wußte, was Bella bis dahin erfahren, die aber nichts Eignes wollte, als was in des jüdischen Schöpfers Gedanken gelegen, nämlich Hochmut, Wollust und Geiz, drei plumpe Verkörperungen geistiger, herrlicher Richtungen, wie alle Laster; daß diese hier ohne die geistige Richtung in ihr sich zeigten, das unterschied sie selbst vom Juden, überhaupt aber von allen Menschen, die sie übrigens so wunderbar täuschen konnte, wie jenes alte Bild von Früchten alle Vögel, daß sie an die Leinwand flogen und davon zu naschen suchten.“ (S. 75/76) Die Konsequenz ist schließlich eine Verknüpfung dreier Motive, die unter dem Aspekt der Verdopplung alle in einer Reihe stehen. Der Doppelgänger, der Spiegel und der Golem stehen für eine Verdopplung, bzw. Potenzierung einer ursprünglichen Person. Dadurch ist eine Konzentrierung dieser Motivik im Text spürbar. Doch Arnim begnügt sich nicht damit, sondern er geht noch weiter mit seinen Spiegelungen und Multiplikationen. Dabei zeigt der Text wahrlich Interessantes. Der Golem und die Golemgeschichte, waren Arnim bestens vertraut. Nicht nur, dass die Grimms es literarisch verwerteten, sondern auch sein „Herzbruder“ Brentano, mit dem er zuvor schon an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeitete, hat die Golemgeschichte gekannt und in kurzer Form unter dem Titel „Erklärung der sogenannten Golem in der Rabbinischen Kabbala“24 herausgegeben. Eines ist deshalb ganz besonders auffällig, nämlich die Tatsache, dass der Golem in allen literarischen Vorlagen zusehends wächst. Selbst Arnim bringt diese Warnung in der Erzählung, doch bei der Golem-Bella fehlt diese Eigenschaft. Es wird nicht einmal erwähnt, dass sie wachsen würde. Damit blendet Arnim diese Eigenschaft funktional aus, denn eine wachsende Golem-Bella wäre schnell enttarnt und könnte ihre Verwechslungsfunktion nicht erfüllen25. Es ist kaum vorstellbar das Arnim dieses Attribut aus Unachtsamkeit oder Zufall weggelassen hat. Wenn H.M. Kastinger Riley von einem „Kontaminationsstil“ bei Brentano spricht, können wir das in diesem Falle auch Arnim zusprechen, wenn es heißt: „die Kontamination ist daher die romantische Umwandlung einer fremden Idee und deren Ausweitung durch eine neue Perspektive und neue Facette“26. Dass Arnim ein wirklich guter Erzähler und geschickter Dichter war, ist bekannt. So ist auch in seinen Texten eine gewisse Zeichenhaftigkeit vorhanden. Bei der Spiegelung als Motiv hat Arnim ganze Arbeit geleistet. Die erste Spiegelung (also Verdopplung) kommt ganz am Anfang, als die beiden verfolgten Völker dieser Welt angesprochen werden, nämlich die Juden und die Zigeuner. Zwei Völker, ein Dualismus, der sich in einigen Spiegelungen zeigen wird. Schauen wir auf die wichtigste Spiegelung der Erzählung, die Doppelgängerin GolemBella. Sie wird von einem Rabbi geschaffen, der als Jude schon zu einen der beiden 24 Nachzulesen in: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen, hrsg. von Klaus Völker, Hanser, München, 1971, S. 8f. 25 Im Sinne einer logischen Motivierung, hatte Arnim besonders auf eine streng kausale Folgerung Wert gelegt. Deshalb ist es nachvollziehbar, weshalb er einige unpassende Eigenschaften weglässt und andere wie die Sprachgabe hinzufügt. 10 genannten Völker zählt. Die Golem-Bella entsteht aus der Intention heraus, eine Täuschung des Alrauns zu bewirken. Somit ist ihre Aufgabe von vornherein geklärt. Wie sich später herausstellt, verhält es sich nicht ganz so einfach, und ihre Rolle wird eine ambivalente, da sie auch Karl verführt. Ihre ursprüngliche Aufgabe erfüllt sie zwar und tut damit anfangs Gutes, doch später verkehrt sich ihre Rolle; und anstatt des Alrauns verführt sie den Prinzen. Diese Umkehrung ihrer Wirkung zeigt die Unkontrollierbarkeit eines künstlichen Geschöpfs, vor allem eines Golems27. Diese Eigenschaft ist in Arnims Erzählung auch anderen Geschöpfen eigen, so auch dem Alraun. Ihre Ersatzrolle spielt die Golem-Bella ganz gut, niemandem – außer dem Bärenhäuter28 – fällt die Usurpation auf. Die restlichen Golemeigenschaften weist sie nur z.T. auf. Interessant erscheint ihre Abscheu gegen ihr Original (Bella). Bei der ersten Begegnung kann sie das Original schon nicht leiden und ist dafür verantwortlich, dass Bella verjagt wird. Als sie sich zum zweiten Mal begegnen, versucht Golem-Bella sogar, die echte Bella zu verletzen. Sie reagiert ausgesprochen schlecht, feindselig und aggressiv auf ihre Gegenwart. „Muß ich dich wiedersehen, du Vorgeschaffene Gottes, muß ich an dir schaudern, daß ich nicht lebe?“ schrie Golem und stach mit einer pfeilförmigen, goldnen Haarnadel nach ihr. Der Erzherzog aber, dem alles im Augenblicke schrecklich klar wurde, was er sich bisher abgestritten hatte, hielt Golem Bella bei den Haaren zurück, deren Flechten niederfielen; er sah die Schrift auf der Höhe der Stirn, das Aemeth, löschte die erste Silbe rasch aus, und im Augenblicke stürzte sie in Erde zusammen.“ (S. 108/109) Dieses Verhalten könnte man als eine Form der Gewalt gegen den Konkurrenten sehen. In diesem Falle gegen die Konkurrentin. Identisch mit den Vorlagen bleibt ihre unvermeidbare Vernichtung, wie bei allen Golemsagen. Die Vernichtung erweist sich als relativ unproblematisch, was durch den ausbleibenden Wuchs unterstützt wird. Neben den aussparenden Veränderungen erweisen sich die Erweiterungen als sehr interessant. Der Golem, der üblicherweise nicht viel spricht und der eher Satzfragmente als richtige Sätze formulieren kann, erhält bei Arnim eine voll ausgebildete Sprachgabe. Sie spricht ganz normal und hat auch ein eingeschränkt funktionierendes Gedächtnis. Dieses hat sie aber nur, weil es ihr mittels eines „Kunstspiegels“ verliehen wurde: „Der Jude verlangte, sie [Bella, Z.M.] nur einmal in seinen Kunstspiegel einsehen zu lassen, so bleibe ihr Bild darin festgemalt.“ (S. 74) Dieses wird dann dem Golem eingepflanzt, wodurch er, in diesem Falle sie, eine Identität bekommt und zum Doppelgänger eines lebenden Menschen avanciert. Der Spiegel kann hier als romantisches Spezial gelten, der innerste Gedanken registrieren und 26 Von Helene M. Kastinger Riley: Clemens Brentano, Metzler, Stuttgart, 1985, S. 21. Es bestehen wesentliche Unterschiede zwischen künstlichen Geschöpfen. So gilt der Golem als äußerst gefährlich, was öfters erwähnt wird, da er im Unterschied zu einem Automaten z.B. nicht so leicht kontrollierbar ist. Er besitzt in der Tat ein Eigenleben, was auch sein Wuchs (im Normalfall) beweist. 27 11 festzuhalten vermag29. Das ist wichtig, weil es wohl das erste Mal ist, dass ein Golem gleichzeitig zu einem realen Doppelgänger wird. Ansonsten hat er zwar die Qualität eines Ersatzes als Diener oder Ähnliches, doch eine konkrete, lebende Person hatte er erst hier zu ersetzen. Es gibt verschiedene Doppelgängerarten; eine davon ist der lebende, reale Doppelgänger, der uns in Form eines Körpers vorkommt. Der reale, der also im Normalfall aus Fleisch und Blut besteht, ist in diesem Falle gar nicht so lebendig beschaffen, sondern er besteht aus Lehm. Gerade in dieser eigenwilligen, bunten und prächtigen Mischung aus allem liegt die Schönheit und Phantasiekraft von Arnims Werken. Zurück zur Bella, die Zigeunerin hoher Abstammung ist, und deren Schicksal es laut einem Gelübde ist, die zerstreuten und vertriebenen Zigeuner als freies Volk nach Ägypten zurückzuführen. Gleich zu Beginn wird dies erwähnt, da es eine große Rolle spielt: „Halt´ doch fest, daß du die Unsern, wenn unser Gelübde vollbracht, zurückführen sollst; [...]“ (S. 4). Ein weiterer Bestandteil der Prophezeiung ist die Geburt eines gemeinsamen Kindes von Bella und Karl. Das Kind wird später die Aufgabe Bellas übernehmen und das Zigeunervolk führen: „Du sollst ihn haben, du mußt ihn haben, denn sieh, liebes Kind, das ist schon lange mein versteckter Plan mit dir, den auch die Oberhäupter unsres Volkes billigen. Du mußt von diesem künftigen Erben der halben Welt ein Kind bekommen, das durch die Liebe seines mächtigen Vaters den zerstreuten Überbleib deines Volkes in Europa sammelt und in die heiligen Wohnplätze unseres Ägypterlandes zurückführt.“ (S. 55) 2.1.6 Spiegelungen / Verdopplungen Über mehrere Umwege erfüllt sie schließlich ihr Gelübde und tut damit sehr viel Gutes für ihr Volk. Deshalb kann sie am Ende der Erzählung auch einen versöhnlichen Tod sterben, indem sie zu einer Art Apotheose gelangt. Sie stirbt übrigens am selben Tage (dem 20. August 1558) wie Karl. Karl legt sich lebendig in den Sarg, und Isabella lässt noch während sie lebt ein Totengericht über sich halten. So findet eine indirekte Zusammenführung im Tode statt. Auf diese Weise erreicht Arnim wieder eine Spiegelung, denn beide sterben gleichzeitig. Eine noch eindeutigere Konstellation von Spiegelungen hat Arnim durch die beiden Völker erreicht. Wie schon angedeutet, stehen die Juden und die Zigeuner von Beginn der Erzählung an in einer Art Spiegelung. Diese wird konsequent durchgesetzt und manifestiert sich auch wieder im Doppelgängerpaar. Bella, eine Zigeunerin, die für ihr Volk steht, wird eine jüdische Doppelgängerin gegenübergestellt, weil die falsche Bella eigentlich ein Golem ist, der von einem polnischen Rabbi geschaffen wurde. Diese Erschaffung gründete sich auf „Es begegnete ihr aber in der Nähe des Kirchhofes der arme Bärnhäuter, [...] er habe es gleich bemerkt, daß sie von einer falschen, nachgebildeten Figur verdrängt sei, aber aus Furcht, seinen Dienst zu verlieren, habe er nichts zu sagen gewagt.“ (S. 100) 28 12 kabbalistischer Kunst. Dies kann keinesfalls Zufall sein. Arnim spielt bewusst die beiden Völker gegeneinander aus. Dadurch erreicht er eine doppelte Spiegelung: die erste ist allgemein gehalten, wird am Anfang geschildert und betrifft generell die beiden Völker. Die zweite ist konkreter und besteht im Einzelfall, hier zwischen Isabella und dem Golem, die beide jeweils als Stellvertreter für ihre Völker stehen. Solche Zeichen der Verdopplung gibt es noch mehr. Eine ganz auffallende und wohl auch wichtige ist der Name des gemeinsamen Sohnes von Isabella und Karl. Sein Name ist Lrak und ist somit eine Art Anagramm von Karl, hier sogar eine direkte Spiegelung. Diese Tatsache trägt auch zeichenhafte Züge und steht für die Verbindung des Vaters zum Sohn. Der Sohn ist etwas ganz besonderes, denn wie Adrian prophezeit, wird Bella ihn in einer Nacht empfangen, die Positives verheißt: „[...] diese Nacht den wunderbarsten Sohn der Venus und des Mars gezeugt habe.“ (S. 82) Die Frucht dieser Nacht ist Lrak und er soll die befreiten Zigeuner als ihr Anführer durch ihre zukünftige Freiheit in Ägypten führen. Demnach ist er auch ein Anführer. So wie Karl der Anführer von seinem Volke ist, so soll auch sein Sohn einmal ein Volk regieren. Weitere Verdopplungen hat Arnim beim Personal vorgenommen. Hier ist ebenso eine Potenzierung zu beobachten. Angefangen bei den zwei Helferfiguren, Braka und Cenrio, die als Berater und Ideengeber tätig sind und jeweils auf der ihrigen Seite tätig sind. Auch Karl wurde mehrfach potenziert; nicht nur in Form des Sohnes, sondern im Text ist auch die Rede von einer Puppe Bellas30, in der sie ihren Geliebten erkannte. Daneben wird er nochmal durch eine ausgestopfte Puppe ersetzt, um sich vor Adrian zu schützen, und in diesem Augenblick mit der falschen Bella sein vergnügen zu haben. Ganz am Ende der Erzählung ist es der fahrende Schüler, der in Konkurrenz zu Karl tritt. Selbst die Verführer in Frau Nietkens Haus sind zu zweit, denn „Alles Doppelte entzückt Arnim“31. 2.1.7 Künstliche Menschen als Sprachschöpfungen Ein ganz wichtiger Teil der Erzählung ist der Alraun. Er entsteht aus dem Medium der Schrift bzw. der Sprache. Schon im Mittelalter war der Alraun bekannt32. Arnim sah in Herzog Ferdinands Wunderkammer 1802 einen Alraun. An Einflüssen fehlt es also nicht unbedingt. Auch bei dieser Figur hat er einige Änderungen eingeführt, die ihm unerläßlich schienen. Er 29 D. Kremer, S. 170. „Bella durchlief noch einmal das Zauberbuch, ihr Herz schlug heftig, als es langsam eilf schlug, der schwarze Hund schleppte ihre Puppe, in der sie ihren Prinzen sah und verehrte, herbei, zerrte und biß darin: das brachte sie zum Entschluß; diesen Schimpf, den er ihrem Liebling angetan, mußte er büßen;...“ (S. 21) 31 Werner Vordtriede: Nachwort zur „Isabella von Ägypten“, Reclam, Stuttgart, 2002, S. 139. 32 Hanns Bächtold – Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, de Gruyter, Berlin, 1987, Bd.1, unter dem Stichwort „Alraun“, S. 312f. 30 13 schwächt die Herkunft des Alrauns ab, indem er ihn nicht aus dem männlichen Samen eines Gehängten entstehen lässt, sondern aus deren Tränen. „[...] und trotz allem Geschrei dieser Wurzel, die keineswegs natürlicher Art, sondern ein Kind der unschuldigen Tränen des Erhenkten ist [...]“ (S. 18) Die Transformation hat eine Verharmlosung zur Folge und dadurch vermeidet er von vornherein jede Art einer sexuellen Konnotation mit Bella. Am Alraun bestehen auch, wie im gesamten Text, Verdopplungen. Bei ihm sind es die Augen, denn anstatt eines Augenpaares besitzt der Alraun dank Isabellas Übereifer jetzt zwei Augenpaare. Das zweite Augenpaar sitzt im Nacken und mit ihnen hat es etwas ganz eigenes auf sich. Nicht nur die Augen im Nacken, welche eine unheimliche, durchdringende Fähigkeit besitzen, sind besonders, nein, auch der Tag an dem er aus der Erde gezogen wurde, ist besonders, denn es ist Karls Geburtstag33. Das dies zeichenhaften Charakter besitzt ist anzunehmen, genau wie der gemeinsame Todestag. Zu den Augen heißt es: „Bella erschrak wie eine überwiesene Sünderin, diese Allwissenheit oder vielmehr dieses ahnende Augenpaar in dem Kleinen setzte sie tief in Verzweiflung [...]“(S. 30). Woher diese Fähigkeit seiner Augen herkommt wird im Text selbst nicht ausdrücklich geklärt. Dieses Augenpaar wird ihm später durch die Golem Bella eingedrückt, was ihm natürlich die Möglichkeit raubt einen tieferen „Einblick“ ins Innere der Menschen, oder in diesem Falle des Golems zu erlangen und den Betrug zu durchschauen. Eine Funktion, die der Alraun übernimmt, ist der Ersatz des Menschen, denn als solcher gibt er sich ja durch die gesamte Erzählung hindurch aus. Diese wird ihm aber nicht ohne weiteres abgekauft, und so muss er verschiedene Aussagen zu seiner Menschlichkeit sammeln, um am Hofe eine Stellung zu bekommen, was außerordentlich lustig geraten ist34. Eine witzige Antwort im Text erhält man auch, als der Alraun nach seinem Wesen gefragt wird. »Bist du denn ein Geist oder ein Mensch lieber Cornelius? Fragte Bella.- „Ich“, stammelte der Alraun, „das ist eine dumme Frage, ich bin ich und ihr seid nicht ich, und ich werde Feldmarshall und ihr bleibt was ihr waret [...]« (S. 42) Diese Antwort könnte durchaus in Absprache mit Fichte entstanden sein, was sicherlich auch kein Zufall ist, sondern ein privater Spaß auf Fichtes Kosten35. In gleicher Weise steht der Alraun auch für eine Kritik der damaligen Zeit und ihrer Vorgänge, spezieller: er könnte eine Gestalt sein, auf der sich eine „Jetzt war sie oben, und sie sah über die reiche Stadt hin, wo noch manches Licht brannte, ein Haus war aber hell erleuchtet, und da, meinte sie, müsse der Prinz wohnen: so hatte ihr die Alte sein Haus beschrieben, und sie wußte, daß sein Geburtstag gefeiert wurde. Sie hätte alles bei dem Anblicke vergessen, selbst die trocknen Gehenkten über sich, die einander fragend anzustoßen schienen, hätte nicht der schwarze Hund aus eigener Lust unter dem Dreifuße gegraben.“ (S. 22) 34 Zu dieser Szene lässt sich aus Arnims Leben eine Parallele finden, die ihn womöglich zu diesem Einfall gebracht hat. Mehr dazu bei Neumann, S. 301f. 35 Vgl. (Hrsg.) F. Schulz: Geschichte der deutschen Literatur, VII/2, C.H. Beck, München, 1989, S. 407. 33 14 kapitalismuskritische Sichtweise manifestiert. Arnim hat auch dem Alraun jüdische Tendenzen zugewiesen, die in der damaligen Zeit gängige Stereotype dem jüdischen Volk gegenüber darstellten. Er hat einen besonderen Bezug zum Geld, denkt nur an Ansehen und Erfolg und ist Egoist. Dabei ist er ebenso ambivalent wie der Golem. Zunächst wird er geschaffen, um an Geld und damit an den Prinzen heran zu kommen; doch vom ursprünglichen Mittel zum Zweck gerät er zusehends zum Störfaktor. Seine Einmischung, seine Eifersucht und sein zu weit entwickeltes Eigenleben führen schließlich zum Bruch der Liebe zwischen Bella und Karl. Dieser „domestizierte Dämon“36, der so gut wie alle negativen Seiten eines Juden aufweist, wird sogar mir einer Jüdin verheiratet. Im Glauben, Bella zu heiraten, nimmt er irrtümlich die Golem-Bella zur Frau. Damit sind die zwei Geldgierigen vereint und Braka, die ihnen in dieser Hinsicht in nichts nachsteht, begleitet sie zusammen mit dem Bärenhäuter, der zuletzt als Ahasver, der ewige Jude, entlarvt wird. Soviel Antisemitismus ist kein Zufall. Schließlich wird oder soll der Alraun Finanzminister werden, als seine Fähigkeiten ans Licht treten. Alle sehen in ihm nur eine Möglichkeit, an Geld zu kommen. An dieser Stelle äußert sich auch Karls moralische Schwäche, weil er mehr an den Alraun und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten denkt als an Bella, also an die Liebe und sein Herz. Mit einer abschließenden Bemerkung zum engeren Doppelgängerthema möchte ich diese Erzählung ruhen lassen. Wir sahen, dass Arnim nicht auf konventionelle Doppelgängerarten zurückgreift, sondern durch neue Motivzusammenführungen einen neuen Typ des Doppelgängers entwirft. Im funktionalen Zusammenhang ist der Doppelgänger hier als reine Verwechslungs- bzw. Täuschungsfigur zu sehen. Durch seine Einführung erfolgen einige Verwechslungen, vor denen fast keine Person verschont bleibt. Nicht einmal der Auftraggeber (Karl). Jeder fällt auf sie herein (außer dem Bärnhäuter, der als halbtotes Wesen gleich durchschaut was los ist). Das Anliegen des Doppelgängers ist es nicht, die echte Bella vollständig zu ersetzen, auch wenn es solche Anzeichen gibt, die sich in Aggression gegenüber Bella manifestieren. Sie besitzt bei Arnim, im Unterschied zu Hoffmann, keine psychologische Funktion. Durch ihre Einführung kompliziert sich das Verhältnis zwischen Bella und Karl erheblich. Schließlich schaffen sie es nicht, zusammen zu bleiben. Sie trägt zu einer Entzweiung bei, genau wie der Alraun, der auch negativ auf ihre Beziehung wirkt. Dadurch erscheinen die künstlichen Menschen durchwegs als negativ handelnde Charaktere. Golem-Bella ist als ein realer Doppelgänger unterwegs, ist sichtbar und fühlbar für jeden und verbreitet trotzdem keinen Schrecken und keine existentiellen Ängste. Das mutet doch etwas 15 merkwürdig an, ist aber im Vergleich mit Chamissos „Schlemihl“ noch eher harmlos. Charakteristisch bleibt ihr notwendiges Ableben, dass aus zwei Ursachen notwendig wird. Als Golem muss sie ohnehin irgendwann vernichtet werden, und als Doppelgänger auch, denn in den meisten Fällen verschwindet oder stirbt einer der Doppelgänger (meistens die Kopie), oder sogar beide. Das gehört zu diesem Motiv fast immer dazu. Ausnahmen gibt es sicherlich einige, z.B. Hoffmanns Erzählung „Die Doppeltgänger“, welche im Rahmen dieser Arbeit noch genauer analysiert wird. 2.2 „Melück Maria Blainville, die Hausprophetin aus Arabien“37 2.2.1 Allgemein Das zweite Beispiel, an dem Arnims Gestaltung des Doppelgängermotivs betrachten werden kann, ist die zweite Erzählung des Erzählbandes von 1812, die gleich auf die „Isabella“ folgende „Melück“. Die relativ kurze ‚Anekdote’ gilt als „Zwillingsschwester“(S. 744) der Isabella. Hoermann weist darauf hin, dass beide „heimatlose Außenseiterin[nen] aus dem »Orient«“38 sind und das „Beide Heldinnen sind [die, Z. M.] an eine prophetische Mission“ gebunden sind. Das Prinzip der Vermischung von historischen und phantastischen Elementen wird beibehalten, wobei die Handlung zur Zeit der französischen Revolution stattfindet. Eine zweifellos wichtige Zeit, vor allem auch für die Generation der jungen Romantiker. Das Phantastische wird diesmal mittels morgenländischer Zauberei bewerkstelligt. Der jüdische Hintergrund der „Isabella“ wird hier ersetzt. Erneut speist Arnim seine phantastischen Elemente aus dem mystischen Bereich. Hinzu kommt noch das Puppenmotiv bzw. das Motiv des künstlichen Menschen, das zur Gestaltung des Doppelgängers beiträgt. Eigentlich ist es wieder eine Vermischung von beiden Motiven. Aufgrund der Kürze sind die Motive allesamt nicht tiefgehend durchgeführt worden. Mehr als zu Andeutungen dessen, was möglich wäre, reicht es nicht. Zu den Einflüssen lässt sich nur wenig sagen. Arnim hat die ‚Anekdote‘ zu Ehren Caroline von Günderodes geschrieben, die sich 1806 selbst das Leben nahm. Soviel lässt sich aus der Rahmenhandlung erkennen. Im Folgenden soll nur das Doppelgängermotiv und das Puppenmotiv näher untersucht werden. Die Revolutionsthematik und alle Details der Liebeskonzeption werden nicht mit einbezogen. 36 Neumann, S. 301f. Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Achim von Arnim: Sämtliche Werke, Band 3, Hrsg. von Renate Moering, DTV, Frankfurt, 1990, S. 744. 38 Roland Hoermann: Achim von Arnims Erzählung „Melück Maria Blainville; die Hausprophetin aus Arabien“, in: Aurora 44, 1984, S. 178. 37 16 2.2.2 Die Zueignung – der Weg zur Entstehung des Doppelgängers Das Doppelgängermotiv wird diesmal in einer anderen Konstellation eingesetzt, als es bei der „Isabella“ der Fall war, denn es wird nicht die Titelheldin verdoppelt. Nein, diese selbst, Melück, erschafft mittels ihrer besonderen Fähigkeiten einen Doppelgänger ihres Geliebten. Seine Rolle wird, ebenso wie bei den anderen untersuchten künstlichen Geschöpfen Arnims, eine ambivalente. Doch zunächst einmal dazu, wie sich die ganze Geschichte ereignete. Melück, die Emirstochter, kommt auf einem Schiff aus dem Orient nach Frankreich. Dabei spielt der Wind eine große Rolle, denn er rettet ihr Schiff vor den Feinden, die sie ausrauben wollen. Der Erzähler spielt früh auf übernatürliche Ereignisse an, als er eine „türkische Windbeschwörerin“ (S. 745) für dieses Glück verantwortlich macht. Was wäre passender, als diese Anspielung später auf Melück zu beziehen? Sie rückt dadurch in die Nähe des magischen, phantastischen Bereichs, und der Verdacht wird sich bestätigen. In nächster Zeit bleibt sie unnahbar für alle männlichen Verehrer, die heißblütig auf sie warten. Niemand schafft es, sich ihr zu nähern, bis der Graf Saintree sie plötzlich erobert. Der bereits verlobte Graf gelangt durch seine künstlerische Ader zu ihrem Herzen und versäumt es nicht, ihre erwachte Liebe auszukosten. Dabei ist er von Anfang an unehrlich zu ihr, denn er stellt Melück innerlich unter seine Verlobte Mathilda: „Er behauptete, die ganze Welt sei von zweierlei Liebe besessen; unbeschadet der höheren, glaubte er sich der Araberin in dem niederen Sinne ergeben zu können, wenn es Mathilden nur verschwiegen bliebe, und dies wurde seine einzige Sorge.“ (S. 755) Doch wie kommt es zur ersten Liebesnacht? Graf Saintree findet sich in Melücks Haus ein, unterrichtet sie in der Schauspielerei und demonstriert dabei den modischen Faltenwurf von Mänteln, wobei ihm recht heiß wird; er entschließt sich, seinen blauen seidenen Rock auszuziehen, um sich besser bewegen zu können. Mit diesem Rock hat es etwas Besonderes auf sich. Er ist ein Andenken an seine Verlobte Mathilda, die bei ihrer unfreiwilligen Trennung Tränen darauf vergoß. Für Saintree hat er schon Fetisch-Charakter, denn er trennt sich niemals von ihm und trägt ihn ständig. Für Melück und Saintree wird er noch äußerst bedeutend. Melück weiß um die Geschichte des Rocks, zudem verbirgt Saintree die Tatsache auch nicht, dass der Rock eine große Bedeutung für ihn hat. Als Saintree den Rock auszieht, will er ihn einer Gliederpuppe in Isabellas Zimmer anziehen. Die Gliederpuppe wird später zu seinem Doppelgänger und wird noch gute und schlechte Seiten offenbaren. Melück warnt Saintree davor, die Puppe mit seinem Rock zu bekleiden und sich darin zu bespiegeln. Doch er schlägt die scherzhafte Warnung aus und zieht der Puppe seinen Rock und Hut an und legt ihr zuletzt noch einen Granatkranz auf den Kopf. Auffällig 17 ist, dass Arnim die Herkunft der Puppe nicht klärt und auch mit keinem Wort erwähnt. Sie wird einfach vorausgesetzt und erfüllt ihre zugewiesene Funktion. Es bleibt unklar ob Melück sie machte, kaufte oder verzauberte, was sich aus der folgenden Handlung vermuten ließe. Das bleibt völlig im Dunkeln. Das einzige, was sicher ist, ist Melücks Wissen um die Fähigkeiten der Puppe, die sie später und am Schluss beweist, als sie Mathilda in die Arme der Puppe einschließt. Saintree bekleidet jedenfalls die Puppe, die nach seinem energischen Auftritt plötzlich kurzzeitig zum Leben erwacht, dreimal klatscht, den Granatkranz auf seinen Kopf wirft, die Arme verschränkt und danach wieder leblos erstarrt. Beide scheinen zunächst erschrocken und überrascht über das eben Erlebte. Saintree glaubt Melück dafür verantwortlich, die durch eine „künstliche Einrichtung“ (S. 753) die Bewegung hervorgebracht haben soll. Für Saintree entsteht dadurch ein großes Problem, weil er seinen Rock jetzt nicht mehr von der Puppe bekommt. Da er es vorzieht den Rock nicht auseinanderschneiden zu lassen, bleiben sowohl er als auch auch sein Rock erst einmal bei Melück im Haus. Alle Versuche, die Arme der Puppe zu öffnen, scheitern. Aus Angst, sich so, unbekleidet‘ in der Öffentlichkeit zu zeigen, bleibt er bis zum Abend. Letztlich kommt es zur Liebesnacht. Nochmal zurück zum Rock, denn er hat eine besondere Funktion. Aufgrund des weiteren Verlaufs der Handlung scheint es so, als ob Melück die Puppe dazu veranlasst hat, den Rock nicht wieder frei zu geben, denn er wird später dazu benötigt und benutzt, um Saintrees Herz zu verzaubern. Nach Frenels Angabe wird dafür „ein Liebeszeichen von jener Glücklichern“ (S. 761) benötigt, um den Zauber auszuführen. Weil der Rock mit Mathildas Tränen benetzt wurde, ist er ein solches Objekt bzw. „Liebeszeichen“. Zunächst bleibt er noch uneingesetzt, doch als Saintree mit Melück bricht und sich noch öffentlich gegen sie stellt, zögert sie keinen Augenblick und beschließt, ihn zu strafen und zu zerstören. Sie verzaubert aus Liebeskummer sein Herz. „Melück nahm es im Augenblicke wahr, und blickte auf ihn, daß er für einige Augenblicke erblindete und in seinem Krampfe niederstürzte.“ (S. 760) Dieses Zusammenbrechen erinnert an eine Art magnetischer Praktik, die uns später bei Hoffmann sehr oft begegnet. Daran wird deutlich wie Saintree unter Melücks Einfluss gerät. Sie wirkt auf eine wunderbare, unerklärliche Weise (Zauberei) auf ihn ein. Er wird von Tag zu Tag schwächer und droht zu sterben, als sein alter Freund Frenel plötzlich von einer Orientreise zurückkehrt und erkennt, womit Saintrees Krankheit zu tun hat. Kurzerhand entschließt er sich, zu Melück zu gehen und den von ihr hervorgerufenen Zauber zu beenden. Mittels einer List schafft er es, sie als die Übeltäterin zu identifizieren und bringt sie dazu, dem Grafen zu helfen. 18 „Bei diesen Worten schlug sie den Vorhang zurück und Frenel sah mit Staunen, die Gliederpuppe, die im Gesichte durch das Bildnertalent der Melück ein getreues Abbild des Grafen, sowohl in Form, wie in Farbe geworden war, ganz wie er in blühendster Zeit ihr erschienen. Dies Bild trug den mit Tränen bezeichneten Rock des Grafen noch mit festverschlungenen Armen. Ein leiser Druck der Melück, löste die übereinandergeschlagenen Arme der Statue. Sie zog den Rock schnell herunter, sah in eine dunkle Höhlung in der Gegend des Herzens, sah bedenklich aus und sprach: Geht schnell Frenel, denn in einer Stunde ist es zu spät, er lebt von der letzten Faser seines Herzens. Zieht schnell eurem Freunde diesen tränengeweihten Rock an, nicht Nachts, nicht Tags soll er ihn verlassen, bis er äußerlich ganz genesen; sein Herz erhält er aber nicht wieder, als wenn ich bei ihm bin, denn es ist in mir. Sagts ihm, daß er mich unglücklich gemacht: ich wolle nichts weiter von ihm, als seine stete Nähe. Seine Frau möge sich seines kosmischen Daseins freuen; in mir sei sein Herz, ohne mich könne er nicht leben, und nur so lange wie ich, würde er leben!-„ (S. 763f.) Diese Passage ist in vielerlei Hinsicht informativ. Zunächst einmal tritt hier das Doppelgängermotiv am stärksten und deutlichsten hervor. Die vorher gesichtslose Puppe bekommt durch Melücks Hilfe Saintrees Gesichtszüge verpasst. Sie erschafft sein Bildnis, so ähnlich wie Pygmalion ein Bildnis schuf, welches zum Leben erweckt wurde39. Zusätzlich trägt die Puppe auch noch seinen Rock, also seine Kleidung. In einer „dunklen Höhlung“ (S. 763) der Puppe sieht Melück, wie es um sein Herz bzw. sein Leben bestellt ist. Die doppelgängerische Puppe hat die Funktion einer Art Lebensanzeige. Durch die zumindest Teilweise äußerliche Übereinstimmung und die innerliche Verbundenheit (sein Herz ist in der Puppe zu erkennen), die irgendwie bestehen muss, wird die Puppe zu seinem Doppelgänger. Die ganze Konstellation erinnert an einen Teil des Voodoo-Kults, in welchem mittels einer Voodoo-Puppe und anderer Fetische40 Menschen verzaubert werden können. Dieser Kult stammt allerdings nicht aus dem Orient, wo Melück ja her kommt, sondern aus dem karibischen Raum (Haiti), allerdings basiert ein Großteil des Voodoo auf Glaubensrichtungen aus Zentral- und Westafrika41, damit dem morgenländischen näher. In Wirklichkeit gibt und gab es nie solche Praktiken im Voodoo. Vorstellbar ist allerdings eine willkürliche Erfindung Arnims, der bekanntlich vieles aufgreift und umformt42 - wieso also nicht auch hier. Arnim verwendet wieder einen künstlichen Menschen – eine Puppe – um das Doppelgängermotiv, hier leider nur ansatzweise, zu realisieren. Es fällt auch auf, dass Melück der Puppe die Arme ohne Gewalt öffnet, nämlich durch genaues Wissen, wie man sie öffnet. 39 Die Behauptung stellt R. Hoermann auf, S. 190. Der Unterschied ist allerdings deutlich, da die Puppe hier jeweils nur kurzzeitig zu leben scheint. Eigentlich wird sie aber gesteuert, so dass sie eher in die Reihe der Automaten zu klassifizieren ist. 40 In diesem Falle Saintrees blauer Rock, der als Fetisch gilt. Allerdings ist es ganz und gar nicht so, dass es im Voodoo Rituale gibt, die so etwas wie hier vollbringen könnten. Die Variante dort ist eine harmlosere. Die Puppen können nur als Überbringer von Nachrichten an die Toten fungieren. Die Vorstellung von der durchstochenen Voodoo-Puppe, ist ein Aberglaube und entspricht nicht der Realität. Siehe bei Leah Gordon: Voodoo. Magie und Rituale, Bassermann, 2000, S. 34/35. 41 Nachzulesen bei L. Gordon, S. 10f. Das heutige Voodoo ist eine Mischung aus verschiedenen Gebräuchen und Praktiken, die von den Sklaven, die aus verschiedenen Völkern Afrikas stammen, auf der Insel Haiti entwickelt und geglaubt wurde und noch bis heute praktiziert wird. 42 Vgl. mit der Golemsage in der Isabella, die ebenfalls verändert wird und nicht mehr mit ihrem Vorbild vollkommen übereinstimmt. 19 Bei der ersten Puppenszene mit Saintree tat sie das nicht. Sie beteuerte sogar Unwissenheit. Diesmal sieht sie sich gezwungen, ihr geheimes Wissen einzusetzen und dadurch den Rock wieder frei zu geben, wodurch sie Saintrees Leben vorerst rettet. Bis hierher hat die doppelgängerische Puppe eigentlich nur negative Sachen bewirkt, doch ihre Rolle ändert sich bald. Ähnliches kennen wir schon aus der „Isabella“. Das liegt vor allem daran, dass Melück ihr Verhalten gegenüber Saintree ändert. Sie steuert die Puppe, kennt ihre Eigenschaften und setzt sie, wie sich noch zeigen wird, bewusst ein. Nachdem Saintree körperlich gesundet, offenbart Frenel ihm und Mathilda jetzt die ganze Wahrheit um den Zauber Melücks und seine weitreichenden Folgen für ihr Leben. So kam es denn letztendlich dazu, dass Melück in das Haus der beiden Eheleute aufgenommen wurde, um die „Lücke“ (S. 764) in seinem Herzen zu füllen. Wie verbunden ihre Herzen sind, beweisen die Kinder Saintrees und Mathildas, die gewisse Ähnlichkeiten mit Melück aufweisen43: „Zu gleicher Zeit wartete sie den Kindern der Mathilde auf, die nicht bloß eine besondre Ähnlichkeit mit ihr, sondern auch eine auffallende Vorliebe zu ihr, mit auf die Welt brachten. Oft rühmte Melück scherzend ihr Glück, ohne den Schmerz, der seit dem Sündenfalle mit den Mutterfreuden verbunden, Mutter geworden zu sein, und Mathilde fand diese morgenländischen Augen und langen Augenwimpern ihrer Kinder so reizend, daß sie das Rätselhafte darin vergaß und dagegen ihre Freundin in ihren Kindern zärtlicher lieben lernte.“ (S. 766) V. Hoffmann bezeichnet dies eine visuelle (Mit-)Zeugung der Kinder44. Die Kinder haben Melücks Augen. Das ist ungewöhnlich und weist ganz klar auf eine übernatürliche, übersinnliche Verbindung hin. Eine Erklärung wäre die Verbundenheit von Melücks und Saintrees Herzen, so dass ein Teil von ihr, durch ihn hindurch, in die Kinder übergegangen ist. Magnetismus bzw. in diesem Falle Zauberei, wäre auch eine Erklärung. Eine leichte Ähnlichkeit zeigt sich auch in den „Doppeltgängern“ E.T.A. Hoffmanns, bei denen nur der Gedanke an einen Ehebruch ausreicht, um ein Kind dem andern völlig gleich werden zu lassen. Auf Melücks „durchdringenden beweglichen Blick, der viele Verhältnisse zugleich aufzufassen und zusammenzustellen vermochte“ (S. 766), wurde bereits hingewiesen. Die Augen und der Blick haben bei Arnim, ebenso wie bei Hoffmann, eine besondere Bedeutung45. Melück bezeichnet sich selbst als glücklich, so schmerzfrei Mutter geworden zu sein. Wie dieser Einfluss auf die Kinder zustande kam, lässt Arnim leider auch offen, wie so Dieses Motiv begegnet uns in ähnlicher Art in Goethes „Wahlverwandschaften“. Auch Hoffmann hat es in seinen „Doppeltgängern“ aufgegriffen, aber auch etwas modifiziert. Bei jedem Autor scheint es zumindest geringfügig anders gestaltet zu sein. Es scheint aber beliebt gewesen zu sein. 44 Volker Hoffmann: Künstliche Zeugung und Zeugung von Kunst im Erzählwerk Achim von Arnims, in: Aurora 46, 1986, S. 161. 45 Bei der späteren Befreiung Mathildas aus den Armen des Doppelgängers merkt Frenel erst anhand der Augen mit Gewissheit, dass es sich um keinen lebendigen Mensch handelt. „Aber bald erkannte er die starren Augen des Bildes, jene zauberische Gestalt, die schon einmal das Schicksal des Hauses getragen hatte; [...]“ (S. 774) 43 20 einige Details der Anekdote. Das Melück zwar „scherzhaft“ (S. 766) ihre Mutterschaft andeutet, muss nichts heißen, da sie auch scherzhaft Saintree bat, die Puppe nicht zu bekleiden. Auf nur fünf Seiten spielt sich der Großteil der in unserer Hinsicht relevanten Handlung ab. Die vorher negativ handelnde Doppelgängerpuppe ändert jetzt ihre Wirkung und Funktion. Sie wird zum gelegentlichen Spielzeug für die Kinder. Diese Änderung entschärft die bisherige Rolle der Puppe, denn diese beginnt jetzt für die Familie, vor allem aber für die Kinder, nützlich zu werden. Der Grund ist Melücks erneute positive Einstellung der Familie gegenüber. Die Reichweite dieser Liebe wird noch Leben retten. „Jene furchtbare Kleiderpuppe, die einst so entscheidend auf das Schicksal des Hauses eingewirkt hatte, stand jetzt mit andern Erinnerungen der Art, auf einer versteckten Bodenkammer des Schlosses, wo sie von der Melück zuweilen an Sonntagen den Kindern zum Spiel und zur Belohnung guter Aufführung gezeigt wurde.“ (S. 766) Die nächste wichtige Stelle ist Melücks Prophezeiung, deren Inhalt letztlich erfüllt wird46. Das beweist eigentlich ihre Fähigkeiten aufs Neue. Diese Prophezeiung rückt sie wieder ein Stück weiter ins Übernatürliche, Wunderbare. Dabei fällt besonders die Tatsache auf, dass sie sich kurze Zeit später an ihre Worte nicht mehr erinnern kann47. „Dem Grafen verging die Geduld; er nahm gewaltsam die Hand der Melück und führte sie rasch nach Hause, wo sie nach einer Stunde beinahe das ganze Gespräch ableugnete, und nichts davon wissen wollte.“ (S. 769) Das zeigt eine Parallele zum somnambulen Traum oder zum Magnetismus. Auf jeden Fall zeigt es uns einen Zustand äußerster psychischer Erregung an. Auch wenn Arnim hier diese Verbindung durchaus herstellen könnte, lässt er es doch sein. Ganz im Gegensatz zu Hoffmann. Arnims direktes Interesse für diese Phänomene ist anscheinend gering. Dafür wird Hoffmann diese Seite ansprechen und ausführen. Als letzter zu besprechender Punkt bleibt der Tod Melücks und Saintrees. Bevor die aufgebrachten Revolutionäre mit ihrem Anführer Saint Lük und Frenel die beiden töten, schafft es Melück, Mathilde in die Arme des Doppelgängers einzuschließen und sie so außer unmittelbarer Gefahr zu bringen. Damit wird der Doppelgänger ihres Mannes zu ihrem Beschützer und erfüllt so eine positive Funktion, die der echte Ehemann nicht mehr ausüben kann. Melück macht etwas Vergleichbares und verkleidet sich als Mathilde, um die Leute zu täuschen und Mathildas Leben zu verschonen. Sie stirbt an ihrer Stelle und ermöglicht so durch zwei großherzige Taten das Überleben der Kinder und Mathildas. Mit Hilfe von 46 Melück und Isabella erfüllen damit beide das ihnen vorausgesagte Schicksal. Der Unterschied ist jedoch der, dass Melück eher eine tragische Heldin ist, da sie einen frühen Tod erleiden muss. 47 Vgl. Hoermann, S. 183. 21 Melücks verstecktem Hinweis gelingt es Frenel, Mathilda zu befreien, wobei der Doppelgänger zerstört wird. Ein klassisches Ende eines künstlichen Menschen 48 also, denn Frenel muss die Puppe zerschlagen, um Mathilde aus ihrer Umarmung zu befreien. Was bleibt schließlich noch zum Doppelgängermotiv bei Arnim zu sagen? Zunächst einmal ist es in dieser Erzählung sehr sparsam eingesetzt worden. Der Doppelgänger ist hier am allerwenigsten mit einem lebenden Doppelgänger vergleichbar, was natürlich an seiner Beschaffenheit liegt. Seine Entstehung ist wieder einmal dem mystischen Bereich zuweisbar, wie schon in der „Isabella“, doch diesmal ist es nicht die kabbalistische Mystik, sondern die orientalische Zauberei. Beide Male ist es aber das Motiv des künstlichen Menschen, das mit dem Doppelgängermotiv verbunden wird49. Arnim hat wohl nicht an eine natürliche Möglichkeit eines doppelgängerischen Verhältnisses geglaubt. Ganz anders dagegen Hoffmann, dessen Doppelgänger fast durchwegs richtige Menschen sind. Eine bekannte Eigenschaft des Motivs behält Arnim aber bei, denn die Puppe wird am Ende zerstört. Bis auf wenige spätere Ausnahmen sterben die Doppelgänger stets in der romantischen Literatur. De facto stirbt hier auch das Urbild, also werden beide ausgelöscht. Etwas radikaler als bei der „Isabella“, wo nur die Doppelgängerin (Golem) vernichtet wird. Wie wenig profiliert der Doppelgänger ist, wird aus seinen Fähigkeiten deutlich. Zweifellos ist das Doppelgängermotiv nicht das zentrale Motiv des Textes. Der Doppelgänger kann nicht sprechen, sich nur schwerlich bewegen und außer einem Klatschen und dem steten Verharren in ein und derselben Position, leistet er nicht viel. Er dient nur zu bestimmten Zwecken und ist wohl eher als ein Götzenbild anzusehen, als ein Versuch einer Ersetzung des Urbilds. Seine Ambivalenz der Taten wird letztlich durch Melücks Steuerung erklärbar, da die sonstigen künstlichen Menschen Arnims durchwegs negative Charaktere sind. Seine Kontrollierbarkeit zerstört seine mögliche Individualität und stempelt ihn zum Werkzeug ab, so wie das die Automaten in Hoffmanns Werk sind. Diese haben auch immer einen geheimen Lenker. Soviel zu Arnim und seinen zwei Varianten des Doppelgängermotivs. 3. E.T.A. Hoffmann: Die Abgründe des Doppelgängermotivs – menschliche Doppelgänger und unheimliche Automaten Bei E.T.A. Hoffmann stoßen wir auf eine wahre Fundgrube der Doppelgänger und Automaten. Mit Sicherheit hat Hoffmann, neben Jean Paul, am häufigsten diese Motive 48 Zumindest für Arnims untersuchte Erzählungen gilt das. Vielleicht liegt das an Arnims Vorliebe für das Tote. Schon Heine stellte dies so fest: „Etwas fehlte diesem Dichter, und dieses Etwas ist es eben, was das Volk in den Büchern sucht: das Leben. [...] Er war kein Dichter des Lebens, sondern des Todes.“ Aus Heinrich Heine: Die romantische Schule, Könemann, Köln, 1995, S. 117. 49 22 verwandt. Dabei greift er auf viele, ja fast alle bekannten Formen und Variationen zurück. Das Motiv bei ihm wird aber sehr ernst und zum Teil auch erschreckend und unheimlich gestaltet, und zwar auf eine wirklich spürbare Art und Weise. Die Doppelgänger wie auch die Automaten üben einen psychischen Einfluss auf den Menschen aus. Die Ich-Problematik tritt bei Hoffmann am deutlichsten und am häufigsten auf. Das liegt auch an seinen Kenntnissen und persönlichem Interesse an der menschlichen Psyche und den Methoden, die auf jene Einfluss nehmen können. Doppelgänger bedrohen die Existenz des Menschen, sind zumeist Feinde oder Konkurrenten. Vor allem in der Liebe. Die Individualität wird in Frage gestellt, sie erscheint nicht als selbstverständlich. Das Motiv wird genutzt um psychologische Prozesse in Gang zu setzten. Das Ich wird zur Reflexion gedrängt. Bei Hoffmann ist alles möglich, so entlockt er dem Motiv seine abgründige, schauerliche Seite. Er gestaltet seine realen Doppelgänger aber niemals mittels künstlicher Menschen, so wie das bei Arnim der Fall war. Seine Doppelgänger sind Menschen wie Du und ich. Hinter ihnen stecken immer bestimmte, besondere Geschichten oder Geheimnisse, welche es zu erfahren gilt. Die Automaten haben ebenso immer etwas Unheimliches an sich. Sie können auf den Menschen und seinen Verstand wirken, doch sie sind keine selbständig handelnden Geschöpfe. Sie werden gelenkt, sind also nur Werkzeug einer sich dahinter versteckenden Macht. Auch hier beweist Hoffmann ein enormes Wissen und Interesse, welches sich in der Anzahl und Art der Automaten in seiner Dichtung auswirkt. Sehen wir uns zunächst das Doppelgängermotiv und seine Gestaltung an einem der bekanntesten Beispiele Hoffmannscher Dichtung an. 3.1. „DIE ELIXIERE DES TEUFELS“50 3.1.1 Allgemein Zum Doppelgängermotiv und zugleich zur Ich-Problematik findet sich in E.T.A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“ so viel, wie selten an anderer Stelle. Der Held und Mittelpunkt der Autobiographie ist der Kapuzinermönch Medardus. Im Verlaufe der Handlung, und dadurch auch seines Lebens, wird er zum Objekt von zahlreichen Verstrickungen, Spiegelungen, Verdopplungen und zum Bezugspunkt einer versteckten aber durchgängigen Zeichenhaftigkeit, die den Roman durchzieht und ihm seinen besonderen Reiz verleiht. Nicht umsonst ist es laut Detlef Kremer „der einzige Schauerroman der deutschen 50 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels, hrsg. von Wolfgang Nehring, Reclam, Stuttgart, 2002. 23 Romantik mit weltliterarischer Wirkung.“51 Das Doppelgängermotiv ist ein sehr wichtiges und weit ausgearbeitetes Motiv des Romans. Es bestimmt z.T. den Aufbau und die Handlung. Neben den äußerlichen Verwechslungen löst der Doppelgänger hier auch innere, psychische Prozesse aus, die den Helden ständig plagen. Natürlich trägt er nur dazu bei, die bei Medardus ohnehin schon vorhandene psychische Störung zu verschlimmern. Für die Ich-Spaltung ist das Motiv aber bestimmend. Der Vorteil liegt auf der Hand und besteht aus der großen Funktionalität und Kompatibilität des Doppelgängermotivs, was auch der Grund ist, weshalb dieses Motiv in der Romantik so oft verwendet worden ist. Das Motiv kann also nicht nur zu bloßen Verwechslungszwecken benutzt werden, um z.B. einen kurzzeitigen Schrecken auszulösen, sondern auch dazu, um richtige Bewusstseinsstörungen hervorzurufen. Ob scherzhaft oder ernst, das Motiv verträgt sich – nicht nur wegen seiner antiken Vorläufer – mit beidem. Dies soll kein Versuch einer Gesamtinterpretation dieses Werkes werden, dazu ist der Umfang der Arbeit viel zu klein. Doch an manchen Stellen muss verständnishalber etwas weiter ausgeholt werden. Dabei können wir uns auch etwas außerhalb der Ich-Problematik und des Doppelgängermotivs bewegen. 3.1.2 Einflüsse Der erste Teil des Romans entsteht in nur vier Wochen. Vom 4. März bis zum 30. April 1814 ist er schon druckfertig52. Wichtig für den Roman scheint das Hintergrundwissen Hoffmanns zu sein, das ihm die nötigen Kenntnisse, Impulse und Anreize gab, die in dieses Werk mit eingeflossen sind. Eine ganz wichtige Lektüre war wohl Matthew Gregory Lewis´ „The Monk“ (1796) gewesen zu sein53. Aus ihm stammt die Sexualitäts-Thematik, und die fatalistische Familiengeschichte scheint auch aus ihm entlehnt. Zusätzlich spielt Hoffmann ganz eindeutig im Werk darauf an, als er Aurelie aus der deutschen Übersetzung lesen lässt und dadurch ihre Phantasie angeregt wird. „In meines Bruders Zimmer sah ich ein fremdes Buch auf dem Tische liegen; ich schlug es auf, es war ein aus dem Englischen übersetzter Roman: „Der Mönch!“ – [...]“ (S. 220) Auch Karl Grosses „Genius. Aus den Papieren des Marquis C* von G*.“ (1791-95) hat auf 51 Detlef Kremer: Romantik, Metzler, Stuttgart, 2001, S. 143. Siehe im Nachwort H.J. Kruses, in: E.T.A. Hoffmann: „Die Elixiere des Teufels“, hrsg. von Hans-Joachim Kruse, Aufbau, Leipzig, 1982. 53 Siehe bei R. Heinritz/S. Mergentheim: Abgründe des Schauerromans: Hoffmann, Hogg und Lewis, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 4, 1996, S. 33f. und Wolfgang Nehring: Gothic Novel und Schauerroman, Tradition und Innovation in Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1, 1992–1993, Schmidt, S. 36f. 52 24 Hoffmann gewirkt54. Allein schon der Titel weist eine große Ähnlichkeit auf. Den Kern für seine psychologische Seite des Romans hat er durch die Schriften G. H. Schuberts, wie den „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften“ (1808) und der „Symbolik des Traums“ (1814)55, aber auch durch persönliche Gespräche und Beobachtungen von psychisch gestörten Patienten. In seiner Bamberger Zeit, hatte er Umgang mit Dr. Marcus; er war einer seiner engeren Freunde. Marcus war Leiter der Anstalt „St. Getreu“, wo Hoffmann die persönlichen Einblicke gewinnen konnte, die mit den Phänomenen des Wahnsinns zu tun hatten56. Er las auch Carl August Ferdinand Kluges „Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmethode“ (1811) und Johann Christian Reils „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“ (1803), in denen er viel über Psychiatrie, Magnetismus und Somnambulismus erfahren hat57. Vor allem der tierische Magnetismus und der Somnambulismus hatten seine Phantasie stark beansprucht. Die Lehren, die auf Franz Anton Mesmer und seine Fluidenlehre zurückgehen, übten, nicht nur auf ihn, sehr starken Einfluss in der damaligen Zeit aus. Der Niederschlag davon ist in vielen seiner Erzählungen nachzulesen. Mit diesen Phänomenen hat er sich privat auseinandergesetzt, genau wie mit dem Automatenmotiv, welches er etwa zur selben Zeit in Angriff nahm. 3.1.3 Die Liebeskonzeption Die Liebeskonzeption des Romans ist ein ganz wichtiger Faktor, weil sie im gesamten Erzählwerk Hoffmanns ähnlich aufgebaut ist. Sie ist insofern für den Roman wichtig, weil sie, bzw. die Sexualität insgemein, die Triebfeder der Handlung ist. Daneben trägt sie zu einer psychologischen Lesart der Ereignisse bei. Das Ideal der Liebe (für Hoffmann) ist als eine „geistig – seelische Liebe“58 zu verstehen. Diese Liebe ist an ein Ideal geknüpft und zunächst nicht an eine reale Person gebunden. Sobald sie es aber wird, entsteht eine Diskrepanz, die schließlich Medardus’ Inneres zerreißt. Zunächst ist es ein „Bild“ das geschaut werden muss, Siehe bei Klaus Kanzog: E.T.A. Hoffmann und Karl Grosses „Genius“, in: Mitteilungen der E.T.A: Hoffmann - Gesellschaft 7, 1960, S. 16f. 55 Vgl. Altrud Dumont: Die Einflüsse von Identitätsphilosophie und Erfahrungsselenkunde auf E.T.A. Hoffmanns „Elixiere des Teufels“, in: Zeitschrift für Germanistik I – 1/1991. Hoffmann hat wohl schon im März 1814 das Werk gelesen, indem er es sich vom Verleger Kunz hat schicken lassen, so dass es für die „Elixiere“ auf jeden Fall Wert hat. Das bestätigt auch H.J. Kruse, S. 364f. 56 Vgl. Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, Hanser, München, 1984, S. 220 und Franz Loquai: Kampf gegen das Böse. Zur Bedeutung literarischer Exorzismen bei E.T.A. Hoffmann, in: Aurora 57, 1997, S. 57. 57 Vgl. A. Dumont, S. 37. 58 Aus Cornelia Steinwachs: Die Liebeskonzeption in E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 8, 2000, S. 38. 54 25 das eine innere Kraft auslöst59. In unserem Falle ist es das Altarbild der heiligen Rosalie. Die Imagination wird geweckt, es entsteht die „Künstlerliebe“, die noch ohne Sexualität auskommt, da sie keine konkrete Materialisation (Verkörperung in der Realität) besitzt. Sobald diese aber zustande kommt, treten Probleme auf. Eine unüberbrückbare Kluft zwischen innerem und äußerem „Bild“ entsteht. Bei Hoffmann bekommt die Sexualität eine starke Macht, die es schafft, den Mönch zum Mörder zu machen. Der Trieb ist so stark und gewaltig, dass er seine Persönlichkeit spaltet, bis zu dem Moment, an dem die Versuchung in Form des fleischgewordenen Ideals stirbt. Mit ihr stirbt die Versuchung und die Sexualität besänftigt sich, das „wahre Ich“ kann wieder an seine Stelle treten. Die Tragik dieses Prozesses wurzelt in seiner Jugend. Medardus’ Eintritt in den Orden erfolgt nach seinem ersten erotischen Erlebnis, quasi als Abwehr- oder Schutzreaktion. Durch die Erregung seines Körpers gerät er in einen bisher nicht gekannten Zustand. Als ihn die Frau dann zurückstößt, überträgt er seinen Zorn, seine Unsicherheit, auf sie, das Bild der Frau. Schließlich verdrängt er die hässliche Erfahrung, doch das macht sie nicht ungeschehen. Eingesperrt in die Klostermauern vergeht einige Zeit, bis die Sexualität wieder hervortritt. Um es erneut zu diesem Durchbruch kommen zu lassen, bedarf es zweier Dinge: eines „Bildes“, also der Motivation, und zweitens der willentlichen Hingabe, die Medardus durch den Konsum des Elixiers bestätigt. Medardus führt auch schon vorher Ersatzhandlungen aus, wie das Predigen, das ihm sehr viel bedeutet. Dadurch wirkt er insbesondere auf die Frauen; zwar nicht körperlich, aber durch sein Wort nimmt er Einfluss auf sie. „Medardus kompensiert mit seinen rauschhaften Predigten die Verdrängung seiner sinnlichen Begierden […]“ 60. Als seine Liebe zu Aurelie entflammt, ist es aus mit dem Verstecken. Sie ist für ihn eine Heilige, wie mehrmals betont wird. Die Diskrepanz zwischen der körperlichen Begierde und der höheren Liebe bricht aus. Dass er diesen Zustand überwinden muss, wird ihm ziemlich schnell klar. Öfters betont er seine Absicht, sie umbringen zu müssen. „Aurelie muß getötet werden, damit Medardus sein sexuelles Verlangen zur religiösen Verehrung läutern kann. Die Sublimierung gelingt nur auf dem Hintergrund eines Mordes.“ 61 3.1.4 Zum Aufbau und wichtigen Elementen des Romans Mittels der Variante der „Motivschichtung“62 vermischt Hoffmann das (für uns wichtige) Doppelgängermotiv mit verschiedenen anderen Motiven. So belegt er die gesamte Familie mit einem jahrhundertealten Fluch, zu dessen Beendung schließlich Medardus „berufen“ wird. 59 These nach R. Safranski, S. 408f. Vgl. A. Dumont, S. 39. 61 Vgl. R. Safranski, S. 346. 62 Silvio Vietta: Das Automatenmotiv und die Technik der Motivschichtung im Erzählwerk E.T.A. Hoffmanns, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 26, 1980, S. 25. 60 26 Als weiteres wichtiges Funktionsmotiv kommt das Teufelselixier dazu, welches als äußerlicher Anstoß für seine Identitätskrise dient. Die beiden gegensätzlichen Seiten Medardus’, die im Roman zum Vorschein kommen, könnten durch Vererbung zustande gekommen sein63. So wie der Fluch sich von Generation zu Generation vererbt, so hat Medardus einerseits das temperamentvolle Wesen seines Vaters geerbt, andererseits das stille, fromme Wesen seiner Mutter. Für das Verständnis seiner Handlungen, kann das ein durchaus wichtiger Gedanke sein. Leidenschaft und Frömmigkeit sind seine Erbteile, die so abwechselnd in seinem Leben zum Vorschein kommen. Wichtig für das Verständnis des Romans scheint auch der Einfluss einer „höheren, dunklen Macht“, oder eines „geistigen Prinzips“ (z.B. S. 204, 208, 222, 224, 225, 226) zu sein, dem Medardus willenlos zu folgen scheint. Dieses Prinzip oder diese Macht findet sich in fast allen Hoffmannschen Werken, insbesondere in den hier untersuchten. Die dualistische Weltauffassung hat im Werk durch viele Gegenüberstellungen ihren Ausdruck gefunden. „[...] der Doppelgänger ist die Personifikation seines denkerischen Dualismus [...]“, dies behauptet Paul Heinemann über Jean Paul, könnte hier aber auch durchaus für Hoffmann gesagt werden64. Es steht sich das Gute/christliche Prinzip, dem Bösen/teuflischen Prinzip gegenüber, welches unter anderem durch das Elixier repräsentiert wird. Ähnlich verhält es sich mit den Orten. Das Kloster steht für das Christliche, das Gute, während die Großstadt als ihr Gegenpart die negative Seite repräsentiert. Dabei spielt Hoffmann bewusst auf die veränderten Verhältnisse und die aufkommende Anonymität des großstädtischen und bürgerlichen Raums an. Die „Duplizität“65, die Hoffmann in allem sah, wurde hier nebenbei in Gestalt eines Doppelgängerpaares dargestellt. Wie es im Vorwort heißt, geht es dem Herausgeber wie dem Helden um „Erkenntnis“ (S. 6), die aber unter keinen Umständen dazu benutzt werden kann, etwas am Schicksal zu ändern: „[...] war es mir auch als könne das, was wir insgemein Traum und Einbildung nennen, wohl die symbolische Erkenntnis des geheimen Fadens sein, der sich durch unser Leben zieht, es festknüpfend in allen seinen Bedingungen, als sei der aber für verloren zu achten der mit jener Erkenntnis die Kraft gewonnen Vgl. Susanne Olson: Das Wunderbare und seine psychologische Funktion in E.T.A. Hoffmanns “Die Elixiere des Teufels”, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 24, 1978, S. 26f. Auch Magdolna Orosz weist auf die “genetisch” begründete Doppelgängererei hin. Magdolna Orosz: Identität, Differenz, Ambivalenz: Erzählstrukturen und Erzählstrategien bei E.T.A. Hoffmann, Frankfurt am Main, Lang, 2001, S. 62. 64 Paul Heinemann: Potenzierte Subjekte – Potenzierte Fiktionen. Ich–Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Saarbrücker Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 16, Königshausen & Neumann, Würzburg, 2001, S. 194. 65 Aus: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 4, Die Serapions-Brüder, hrsg. von Wulf Segebrecht, DTV, Frankfurt am Main, 2001, S. 68. Die „Duplizität“, die Hoffmann als Maxime seines „serapiontischen Prinzips“ sah, hat sich H. Pfotenhauer genauer angesehen und dabei entdeckt das: „Hoffmanns exoterische Poetik, die er das serapiontische Prinzip nennt, mit einer esoterischen übereblendet werden [kann]; [...]“ Aus: Helmut Pfotenhauer: Exoterische und Esoterische Poetik in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, in: Jahrbuch der Jean PaulGesellschaft 17, 1982, S. 135. Damit differenziert Pfotenhauer das Prinzip und die ‚Duplizität‘, und teilt sie in das genannte Begriffspaar. 63 27 glaubt, jenen Faden gewaltsam zu zerreißen und es aufzunehmen mit der dunklen Macht die über uns gebietet.“ (S. 6) Dieser Erkenntnis entzieht sich Medardus ständig, so dass ihm in Form Viktorins eine Art Spiegel vorgesetzt wird. Der Roman enthält ein System von Spiegelungen und symbolischen Überkreuzungen, welches so dicht gestrickt ist, dass man sich leicht darin verfängt und verlorengeht. Durch die Anwesenheit von Figuren aus verschiedenen Fiktionsebenen, die sich in Form von realen Erscheinungen, Visionen und Träumen offenbaren und in der Erzählgegenwart treffen, wird ein Durchbruch der verschiedenen Ebenen erreicht. Der Text wird heterogener und öffnet sich dadurch, was eine gewisse Diffusion zur Folge hat. Auch seine Deutung wird dadurch offener und vielfältiger, da nicht nur weltliche Mächte am Werk sind, sondern auch „höhere Mächte“; das Transzendente selbst sich anscheinend einmischt: „Die Ambivalenz erscheint bei E.T.A. Hoffmann als dominierendes textstrukturierendes Verfahren: seine Texte sind eigenartig »gespalten« und dadurch mehrdeutig, wie es auch viele Analytiker der verschiedenen Aspekte seines Erzählens festgestellt haben.“66 Das Doppelgängermotiv kann beide Teile integrieren, einerseits durch die Familienanamnese (was die Ähnlichkeit zwischen Medardus und Viktorin erklärt), andererseits durch die Vorbestimmtheit (das Schicksal, welches ihnen gewissermaßen auferlegt wird). Hoffmann steigert die Doppelgängererlebnisse dadurch, dass er den Traum und die Vision als zusätzliches Mittel der Zusammentreffen von Medardus und Viktorin (aber auch anderen Personen, wie dem alten Maler) ausnutzt. Auf diese Weise kann er psychologisch wichtige Elemente von Medardus’ Motivierung in sein Werk aufnehmen. 3.1.5 Die verbrüderten Doppelgänger Das Doppelgängermotiv wird unter anderem verwendet, um eine Ich-Problematik auszulösen, die Medardus’ Interesse nach innen zieht, ihn also zur Auseinandersetzung mit sich selbst zwingen soll. Zugleich erscheint Medardus aufgrund äußerer Umstände, bzw. durch „höhere“, „unbekannte“, „dunkle“, „böse“, „feindliche“ Mächte (z.B. S. 204, 208, 222, 224, 225, 226) beeinflusst. Man könnte das Geschehen deshalb auf zwei Ebenen unterscheiden 67. Auf der einen geht Medardus seinen eigenen Weg, wie er anfangs noch denkt, auf der anderen Seite führt er aber alles irgendwie nach einem geheimen Plan aus. Dieser Dualismus durchzieht den gesamten Roman. Die Auflösung geschieht aber erst am Ende, als klar wird, dass all seine Opfer aus seinem eigenen Geschlecht stammen. Hier liegt uns also eine verschärfte Version des Doppelgängermotivs vor, bei der übernatürliche Kräfte mit dem bekannten 66 M. Orosz, S. 55. Das gilt vor allem auch für seinen „Sandmann“, der auf einer Ambivalenz aufgebaut ist. 28 Verwechslungsmotiv verbunden werden. Die Doppelgängerkonstellation von den verbrüderten Doppelgängern hat Hoffmann wohl aus Plautus’ „Menaechmi“ entlehnt, der als Urvater des Doppelgänger- und Verwechslungsmotivs gilt. Zusätzlich wird ihnen aber noch ein dritter „Bruder“ an die Seite gestellt, nämlich Hermogen, der an mehreren Stellen im Roman auf seine Zugehörigkeit anspielt. Hier erweitert Hoffmann also den Rahmen der doppelgängerischen Gestalten. Aufgrund der augenscheinlichen Komplexität des Romanaufbaus und seiner motivischen Vielfalt und Verworrenheit stellt sich in der Forschung, wie auch innerhalb der Parameter dieser Arbeit, die Frage: Wie verwendet Hoffmann das Doppelgängermotiv und welche Funktion hat es? Um endlich das Doppelgängermotiv näher auszuleuchten, ist es Zeit, sich mit dem Text und seinen Eigenheiten zu befassen. Im Text kommt ein zentrales Doppelgängerpaar vor. Das Paar setzt sich aus Medardus und seinem Halbbruder Viktorin zusammen. Zu ihnen können wir aber unter Umständen auch Hermogen zählen, der wie die beiden, ein Teil der sündigen Familie ist. Damit wird das Verhältnis zu einer Dreierkonstellation erweitert. Das lässt sich auch zumindest ansatzweise zeigen. Zunächst ist es auffällig, dass Hermogen eine gegensätzliche Tendenz zu Medardus aufweist. Als Medardus nach seinem ersten ViktorinErlebnis auf das Schloss kommt, wird er Zeuge einer Unterhaltung, die andeutet, dass Hermogen ins Kloster gehen will. Das genaue Gegenteil ist mit Medardus der Fall, der froh ist, aus dem Kloster herausgekommen zu sein. Damit sind sie in ihrer Entwicklung gegenläufig. Der eine will der Fleischeslust entsagen, während der andere sie erst jetzt richtig ausleben will. „Dieses in der Romantik und auch bei Hoffmann beliebte Motiv kann als Thematisierung von Identitätsspaltung angesehen werden, es akzentuiert nämlich eine Abspaltung verschiedener und einander entgegengesetzter Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsmöglichkeiten des eigenen Ich und der Welt in zwei (in einigen Fällen sogar drei oder mehr) verschiedene Figuren, die einander entgegengesetzt sind, indem sie oppositionelle Lebensmodelle (Weltmodelle) vertreten.“68 Hermogen ist eine Art reziproker Doppelgänger, der die Entwicklung Medardus in umgekehrter Richtung zu durchlaufen scheint. Eine weitere Verbindung besteht auf einer anderen, höheren, psychischen Ebene, womit wir beim psychologischen Teil des Motivs wären. Hermogen scheint Medardus zu durchschauen, denn Medardus selbst äußert sich folgendermaßen: „Er schien tief in meine Seele zu dringen und meine geheimsten Gedanken zu erspähen.“ (S. 68) Ähnlich, wie es später mit Viktorin der Fall ist. Nach Johannes Harnischfeger: Das Geheimnis der Identität. Zu E.T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 36, 1990, S. 5. 68 M. Orosz, S. 61. 67 29 Im Roman wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Wahnsinnigen anscheinend über die Gabe oder Möglichkeit verfügen, dem Menschen in sein Inneres zu schauen und seine geheimsten Gedanken zu erspähen. In den „Serapions-Brüdern“ lässt Hoffmann seinen Theodor einmal sagen, dass der Wahnsinn „Blicke“ in die „schauerlichste Tiefe“ der menschlichen „Natur“ gewähre69. Später spricht Hermogen eine Warnung aus, die Medardus verängstigt: „[...] der du selbst vergeblich ringen wirst nach der Entsündigung, nach der Seligkeit des Himmels, die sich dir auf ewig verschloß? [...]“ (S. 69) Bevor Medardus ihn dann ermordet, bezeichnet Hermogen ihn als „verruchten Mordbruder“ (S. 83). Noch ein deutliches Anzeichen für ihre Verwandtschaft. Als Medardus seine zweite Begegnung mit Viktorin hat, scheint es ihm, als würde er in diesem Hermogen erkennen, „[...] gewisse Züge erinnerten entfernt an Hermogen.“ (S. 115). An späterer Stelle weist Medardus auf eine wichtige Verbindung und Ähnlichkeit zwischen den Dreien hin: „Den Hermogen habe ich nur nicht gut getroffen, er hat solch ein verdammtes Kreuz am Halse, wie wir beide, aber mein flinkes Messerchen ist noch scharf und spitzig.“ (S. 207). Durch einen äußeren Makel sind sie gekennzeichnet. Eine Korrespondenz zwischen den Dreien lässt sich zweifellos erkennen. Die Tatsache, dass sich die unglücklichen Ereignisse innerhalb eines Geschlechts abspielen, verweist auf die Schicksalhaftigkeit des Lebens. Im Vorwort werden wir schon darauf hingewiesen. Medardus muss erkennen, dass sein Treiben doch nicht so willkürlich war, wie er es annahm. Er bleibt geknüpft an den unsichtbaren Faden, den er nicht zerreißen kann. Lediglich fehlt ihm der Wille zur Einsicht in die Erkenntnis, um sich damit abzufinden. Doch nicht nur die Drei stehen in einem doppelgängerischen Verhältnis, sondern auch der Revenant und Urvater Francesko, aber auch andere Personen, haben gewisse Ähnlichkeiten untereinander70. So sieht Aurelie aus wie die heilige Rosalie, mit der sie im Roman ständig verglichen wird. „Ja nicht Aurelie, die heilige Rosalia selbst war es, und ich stürzte zu ihren Füßen und rief laut [...].“ (S. 205, 307, 320...). Bei ihrem Ordenseintritt bekommt sie den Namen Rosalia. Damit werden Aurelie und Medardus zur Verdopplung des Urpaares, von welchem der Fluch ausging. Aurelie als Doppelgängerin der Frau Venus und Medardus als Doppelgänger und Nachfahre des Malers. Tatsächlich schaffen es erst die beiden, den jahrhundertealten Fluch zu brechen. 69 E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, S. 37. Aus der Genealogie und einzelnen Aussagen wird klar, dass fast alle männlichen Nachkommen der Familie sich ähnlich sehen, ja sogar für Doppelgänger gelten können. 70 30 Doch das System von Spiegelungen geht weiter und drückt sich in auffälligen Übertragungen aus. Eine davon ist z.B. der Name Francesko, dessen Variationen viele der männlichen Nachfahren der Familie tragen. Es ist der Name des Ahnherrn, der frevelhaft gesündigt und so den Fluch auf die gesamte Familie gelegt hat. Sein Name ist auch schließlich Medardus’ Geburtsname, der als Franz zur Welt kommt – so wie die Hälfte seiner männlichen Vorfahren. Diese Parallele weist schon auf eine innigere Verbindung zum Ahnherrn hin, dessen ‚Retter’ er letztendlich wird, als er sich selbst „den Geist der Rache“ (S. 81) nennt. Kommen wir nun zur Analyse des eigentlichen Doppelgängerpaars, zu Medardus und Viktorin. Als Medardus das Kloster auf Anordnung des Priors verlässt, trifft er zum ersten Mal seinen Doppelgänger. Kurz vorher nimmt er noch einen kräftigen Schluck aus der Korbflasche, in der das Elixier ist und unter dessen Einfluss er ohnehin schon steht. Die Wirkung bekommt ihm gut, er erlangt neue Kräfte, und kurz danach kommt es zum Schlüsselerlebnis: Als Medardus einen schlafenden Mann in Uniform (Viktorin) wecken will, stürzt dieser einen Abhang herunter und wird durch den Aufprall – wie sich später herausstellt – schwer verletzt, aber nicht getötet. Allerdings wird er schwer geschädigt und zum Wahnsinnigen. Medardus erkennt in dem Antlitz des Fremden seine eigenen Züge, sein eigenes Gesicht! Medardus, der von Viktorins Diener gleich darauf gefunden wird, reagiert blitzschnell und lässt es nicht zu, entlarvt zu werden. Im Gegenteil, er nimmt Viktorins Stelle ein und antwortet zielstrebig auf die Fragen seines Dieners. Danach behauptet er zwar, es sei nicht er, der diese Worte sprach: „[...] antwortete es aus mir hohl und dumpf, denn ich war es nicht, der diese Worte sprach, unwillkürlich entflohen sie meinen Lippen.“ (S. 50); er erkennt aber sofort die Zusammenhänge und erschließt seine Ähnlichkeit zu dem gerade Gestürzten Grafen und sieht es als „ein wunderbares Verhängnis“ (S. 50) an, welches ihn an die Stelle des Grafen rückte. Hier fängt die eigentliche Identitätsproblematik an. Medardus wird zu Viktorins Doppelgänger, gleichzeitig aber auch zu seinem eigenen. Wie kommt es dazu? Medardus entschließt sich kurzerhand, den Platz Viktorins einzunehmen und auf das Schloss zu gehen; gleichzeitig hatte sich Viktorin die Identität eines Mönchs ausgesucht, um seine Tarnung im Schloss aufrecht zu erhalten. Zu Medardus’ Verwunderung wird er dort als er selbst, nämlich als der berühmte Kanzelredner Medardus erkannt, so dass er äußerlich diese Rolle weiter spielen muss. Öffentlich ist er also gezwungen, seine eigentliche Identität weiterhin beizubehalten, während er in Euphemies Gesellschaft die Identität und Rolle Viktorins übernimmt und erstmals exzessiv auslebt. „Medardus leidet unter der »fixen Idee«, sein eigener Doppelgänger zu sein (was medizinisch dem sogenannten »partiellen Wahnsinn« 31 entspricht).“71 Dadurch wird er zwiespältig, zerrissen. Dieser Zufall der äußerlichen Übereinstimmung macht den Rollentausch perfekt, weil sich Viktorin nach seinem Sturz wirklich für einen Mönch hält und so in der Öffentlichkeit Medardus’ Platz einnimmt – was noch Folgen für beide haben wird. Medardus ist bei seinem Schlossaufenthalt also gezwungen, weiterhin sich selbst (einen Mönch) zu ‚spielen’, was ihn zum eigenen Doppelgänger macht, denn er fühlt sich eigentlich nicht mehr als Mönch, er will keiner mehr sein. „Mein eignes Ich, zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufalls geworden und in fremdartige Gestalten zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich hineinbrausten. – Ich konnte mich selbst nicht wiederfinden! – Offenbar wurde Viktorin durch den Zufall, der meine Hand, nicht meinen Willen leitete, in den Abgrund gestürzt! – Ich trete an seine Stelle, aber Reinhold kennt den Pater Medardus, den Prediger im Kapuzinerkloster in ..r-, und so bin ich ihm das wirklich, was ich bin! – Aber das Verhältnis mit der Baronesse, welches Viktorin unterhält, kommt auf mein Haupt, denn ich bin selbst Viktorin. Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!“ (S. 63) Am Rollentausch erkennt man, wie unsicher sich Medardus seiner Identität ist, und es folgen noch zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie er zwischen mehreren Identitäten hin und her wechselt, gerade so, wie es ihm passt und nützlich ist. Einerseits wird sein Wahn innerlich vorangetrieben, vor allem durch seine sexuelle Triebhaftigkeit, andererseits wird der Wahn durch äußerliche Übereinstimmungen begünstigt. Dem ohnehin mit sich unzufriedenen Medardus muss das noch zusätzlich belasten. Momentan ist er ohne festen Halt. So verhält es sich auch, als er nach dem Doppelmord das Schloss verlässt und wieder einen Rollentausch vornimmt. Er kann die Last des Frevels, der Sünde und der Schuld nicht verkraften und sieht in einer Vision Viktorin, nicht sich selbst, als den Übeltäter. „Aber – des gräßlichen Anblicks! – vor mir! – vor mir stand Viktorins blutige Gestalt, nicht ich, er hatte die Worte gesprochen.“ (S. 84) Damit projiziert er seine Schuld auf eine andere Person, auf sein Alter Ego Viktorin, der öfters als „Sündenbock“72 herhalten muss. Es lässt sich sagen, dass, unter psychologischem Aspekt, Viktorin eine Art anderes Ich Medardus’ ist. Obwohl er als reale Person zweifellos existiert, übernimmt er trotzdem diese Rolle für ihn. „Victorin, der Halbbruder, ist in der Romanwelt beides: jemand anderes als Medardus und dessen anderes Selbst.“73 Sein Verschwinden und Auftauchen bei Bedarf deutet auf so etwas hin. Er erscheint nicht unwillkürlich, sondern dann wenn Medardus im Begriff ist, sich selbst zu verleugnen, oder wenn Medardus etwas Schlechtes tun will. Die konkrete Theorie geht von einer Ich-Spaltung Medardus’ aus, die auf die These gestützt wird, dass Viktorin letztlich verschwindet, als Medardus seine Krise, seine innere Spaltung 71 Vgl. Franz Loquai, S. 57. Vgl. Karin Cramer: Bewusstseinsspaltung in E.T.A. Hoffmanns Roman „Die Elixiere des Teufels“, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 16, 1970, S. 9. 72 32 überwunden hat74. Verstärkend kommt hinzu, dass Viktorin genau das macht, was Medardus wollte und was ihm gleichzeitig hilft. Der Tod Aurelies bringt Medardus wieder einigermaßen ins psychische Gleichgewicht. Medardus’ Unterbewusstsein wird in Viktorins Gestalt verwirklicht. Viktorin übernimmt ab dem Sturz in den Abgrund, der seine eigentliche Einführung in den Roman bedeutet, die Identität eines wahnsinnigen Mönchs und wird somit Medardus’ Doppelgänger. Im Verlaufe des Romans, bekennt er sich zu Medardus’ Taten oder vollstreckt sie sogar selbst. Die Schuld fällt jedesmal ihm zu, womit er zum Sündenbock wird. Damit erfüllt er auch eine Art Gewissensreinigung Medardus’. Gleichzeitig scheint er für die böse, schlechte Seite Medardus’ zu stehen. Dessen „Ich erfährt nicht nur eine einfache Auf-Spaltung in zwei entgegengesetzte Figuren; sondern über bestimmten Abschnitten seines Lebens stehen nicht zufällig die verschiedenen »Seinsformen« repräsentierenden Namen Franz, Medardus, Viktorin, Leonard.“75 In Anlehnung an Schubert, können sich dem Menschen und seinem Gewissen, welches „als geistiges Organ des Menschen“ bezeichnet wird, verschiedene „Stimmen“, bzw. „besondre, selbständige Wesen“ bemerkbar machen. Laut Schubert wird diese „Doppelseitigkeit“ in Form von „gutem oder bösem Dämon“ veranschaulicht76. Unter Verwendung eines solchen Schemas lässt sich der alte Maler als guter Dämon und positive Kraft einstufen, während Viktorin, aber auch andere Personen, als das Negative empfunden werden müssen. Viktorin wirkt keinesfalls als einheitliche Person. Er besitzt irrationale Züge. An seiner keinesfalls eindeutigen Zuordnung sieht man die Komplexität, die Hoffmann seinen Figuren verleiht. Ganz klar übernimmt Viktorin verschiedene Funktionen. So verschieden wie die Funktionen, so verschieden sind ihre Zusammentreffen. Neben den realen Treffen finden auch in Träumen und Visionen Zusammenkünfte statt. Die Realität derer ist aber nicht minderwertig. Wie sich zeigen wird, können diese ebenso nützlich und ‚real’ sein. Entscheidend ist ihre Verbundenheit, denn es scheint als Fakt zu gelten, dass die beiden eine ‚übersinnliche’ Verbindung besitzen. Nicht nur, dass beide Charaktere Sachen wissen, die sie normalerweise nicht wissen könnten, nein, auch ihr Rollentausch und ihre ständigen Visionen deuten auf eine Art telepathische Beziehung hin. Hoffmanns Vorliebe für den Magnetismus und Somnambulismus tritt hier klar ans Licht. Durch die Übernahme einer fremden Rolle gerät Medardus in einen aufgewühlten Zustand, der oft dem Wahnsinn nahe kommt. Ihn muss er überwinden, um seine inneren Probleme zu lösen. Die Stelle nach dem Doppelmord an Hermogen und Euphemie wird eine ganz 73 Aus: R. Safranski, S. 343. Karin Cramer, S. 9f. 75 Vgl. A. Dumont, S. 42. 74 33 schwierige für ihn. Aufgrund der Umstände muss er nun erneut die Identität wechseln und schiebt somit jemand anderem die Schuld an den Taten zu – dem Sündenbock. Doch damit arbeitet er nichts von seinen inneren Konflikten und Problemen auf und erzielt somit keinen Fortschritt in seiner Entwicklung. Die Spaltung und der Doppelgänger bleiben bestehen. Seine Situation wird treffend im Lied dargestellt, welches sich regelmäßig an Stellen ihrer Zusammentreffen im Werk wiederholt. Ziel ist es den „Bruder“ zu ermorden, denn nur so wird man zum Herr im eigenen Haus, und die entstandene Ich-Spaltung kann wieder überwunden werden. Das Lied erzählt vom Kampf. Dieser Kampf könnte nach Schubert die schon angesprochene Metamorphose, in welcher sich Medardus befindet, beschleunigen. Der „Kampf zweyer Prinzipien, welche ursprünglich einander befreundet, eins das andere voraussetzend, bey einem gegebenen Punkte sich feindlich gegeneinander entzünden, … bis zuletzt das zerstörende Princip von dem ihm entgegengesetzten besiegt wird, und wo sich gleichsam perspectivisch … eine Periode der Vollendung, frey vom Kampfe, und ein Reich des Friedens darstellt.“77 Problematisch erscheint dabei nur, dass sich das ganze doch nicht so eindeutig verhält. Nach dem Kampf ist Medardus keineswegs so in „Frieden“, dazu stört ihn noch Aurelie. Zurück zu Viktorin, der nicht nur ein Sündenbock ist, sondern für Medardus gleichzeitig als ein Spiegel fungiert. „Mir war wohl und leicht, daß der Mönch, dessen Erscheinung mein eignes Ich in verzerrten, gräßlichen Zügen reflektierte, entfernt worden.“ (S. 129) Das macht er sowohl mit seinem Aussehen, als auch mit seiner Identität, durch die völlige Identifikation mit Medardus, in der er alle von Medardus begangenen Verbrechen zugibt. Dadurch nützt es Medardus gar nichts, alles zu verneinen, denn er wird von der Welt trotzdem als schuldig erfahren. Er sieht sich aber durch höhere Machte geleitet und verweigert so seine Schuld hartnäckig durch Berufung auf die Vorbestimmtheit seiner Taten. Damit bremst er zugleich seine Selbsterkenntnis. Immer wenn Medardus Probleme mit seiner Identität bekommt, taucht Viktorin auf. So ist es auch im Gefängnis. Dort hat er zwei Visionen von seinem Doppelgänger. Durch die auftretenden Visionen sieht man genau, was sich in seinem Inneren abspielt. Sie sind psychologisch wertvoll. Beide Visionen haben mit Medardus’ Wunsch nach einem baldigen Ende dieser Situation zu tun. Medardus sieht in Viktorin seine leibhaftige Vergangenheit verkörpert. 76 77 Gotthilf Heinrich Schubert: Symbolik des Traums, Bamberg, 1814, S. 56, 60f. Ebd. S. 37. 34 Als er schon so weit ist, vor dem Richter alles zuzugeben, rettet ihn wieder das Schicksal, woraufhin Medardus noch einmal den gleichen Fehler macht und sein egoistisches Spiel weiter treibt. Das nächste Zusammentreffen der beiden findet in der Residenzstadt statt, wo Medardus erneut in Form Viktorins ein Spiegel vorgesetzt wird. Viktorin wird als der wahnsinnige Mönch Medardus den Menschen vorgeführt, was Medardus wahnsinnig werden lässt. Es folgt der Angriff auf Aurelie und die Befreiung Viktorins. Später kommt es zum Kampf im Wald, der als Verwirklichung des Liedtextes gelten kann, da es eine offene physische Auseinandersetzung zwischen ihnen gibt. Nach der offenen Auseinandersetzung mit seinem zweiten Ich fängt Medardus’ Genesungsprozess an. Seine Bereitschaft, Schuld zuzugeben, wächst und er findet schließlich noch seine Identität und Ruhe, aber „Das andere Selbst anzuketten gelang durch härteste Bußübungen und Todesgefahr nur scheinbar.“78 Eine letzte Hürde bleibt in der Gestalt Aurelies, die ihm doch noch im Wege steht. Erst als sie tot und somit dem Zugriff Medardus’ entzogen ist, kann er eins mit sich werden. Schließlich ist sie als Verkörperung seines Liebesideals für den Ausbruch seines Triebes ausschlaggebend. Solange er der Versuchung ausgesetzt ist, kann er ihr unterliegen, das hat sich gezeigt. Als Viktorin bei Aureliens Ordenseintritt auftaucht und sie umbringt, ist Medardus erst wirklich erlöst. Sein Idealbild ist vergeistigt. Gleichzeitig verschwindet Viktorin für immer. Medardus stirbt ebenfalls, genau ein Jahr später – so ist der Fluch beendet und das Schicksal erfüllt. Diese Tatsache bekräftigt die Vorbestimmtheit des Lebens, so wie es im Vorwort steht. 3.1.6 Weitere wichtige Motive Das Teufelselixier ist das erste Funktionsmotiv, das näher erläutert wird. Im Roman nimmt es eine wichtige Stellung ein. Mit seiner Einführung in den Roman ist auch ein klärendes Gespräch verbunden, das zwischen dem jungen Medardus und dem alten Bruder Cyrillus stattfindet. Dabei geht es um die Klärung der Echtheit der Reliquien und um die Art und Weise ihrer Wirkung. Medardus bezweifelt zuerst deren Echtheit und schreibt ihnen deshalb ihre Wirkung nicht zu, doch Cyrillus belehrt ihn eines besseren: „»Es geziemt uns wohl eigentlich nicht«, erwiderte der Bruder Cyrillus, »diese Dinge einer solchen Untersuchung zu unterziehen, allein, offenherzig gestanden, bin ich der Meinung, daß, [...] wohl wenige dieser Dinge das sein dürften, wofür man sie ausgibt. Allein es scheint mir auch gar nicht darauf anzukommen. [...] aber den Gläubigen, der, ohne zu grübeln, sein ganzes Gemüt darauf richtet, erfüllt bald jene überirdische Begeisterung, die ihm das Reich der Seligkeit erschließt, das er hienieden nur geahnet; und so wird der geistige Einfluß der Heiligen, dessen auch nur angebliche Reliquie den Impuls gab, erweckt, und der Mensch vermag Stärke und Kraft im Glauben von dem höheren Geiste zu empfangen, den er im Innersten des Gemüts um Trost und Beistand anrief.«“ (S. 26) 78 A. Dumont, S. 41. 35 Medardus ändert daraufhin seine Meinung und „[...] betrachtetet nun die Reliquien, die [ihm, Z.M.] sonst nur als religiöse Spielerei erschienen, mit wahrer innerer Ehrfurcht und Andacht.“ (S. 27) Damit wird er selbst anfällig für die Versuchung, der er später erliegt. Dem Elixier wird im Werk eine Wirkung zuteil, die sich unter anderem in einer Lockerung der Identität äußert. Eigentlich ist es aber ein Placebo, denn nur der Glaube an seine Wirkung hat die entscheidende Macht. Dadurch hat es eine klar psychologische Funktion. Nach dem ersten Konsum hält sich Medardus schließlich für den heiligen Antonius. Beim zweiten Konsum stößt er auf Viktorin, den er den Abhang hinab befördert und dessen Platz er einnimmt, ja, dessen Identität er zeitweise als die seinige glaubt. Diese Seite ist die psychologische, die dem Motiv innewohnt. Letztendlich geht es nur um die Bewährungsprobe, die Medardus nicht besteht. Willentlich nimmt er das Elixier zu sich, um sich an seiner kräftigenden Wirkung zu laben. Damit tritt zwar die erwünschte Stärkung auf, doch auch die mit dem Teufelselixier verbundenen Nebenwirkungen und Nachteile. Mit dem Konsum des Elixiers überlässt er dem triebhaften Inneren die Kontrolle über sein Selbst. Das unterdrückte sexuelle Verlangen wird entfesselt, wodurch die Einheit seiner Person nicht mehr länger zu existieren vermag. Unterstützt durch die äußeren Umstände und den Doppelgänger geht diese Entwicklung weiter. Sein Ich verschwimmt immer mehr und wird sich uneinig. Ein interessantes Phänomen sind die verschiedenen Phantome, die im Roman auftauchen. Als erstes sei Hermogen zu nennen, der nach seiner Ermordung durch Medardus im Roman herumgeistert. Ein weiteres ist das Messer, das sich immer zur richtigen Zeit in Medardus’ Besitz findet und nach seinem Gebrauch stets spurlos verschwindet. Mit ihm werden fast alle Verbrechen begangen. „Ein kleines, spitzes Messer, das ich schon von Jugend auf bei mir trug [...]“ (S. 82) Mit dem Messer ermordet er Hermogen, doch später findet es sich in Viktorins Besitz, der Erzählung des Försters zufolge: „[...] aber plötzlich, noch weiß ich nicht wie das zugegangen, blinkte ein Messer in des Mönchs Faust, [...]“ (S. 121) Schon in der Vorgeschichte wurde damit gemordet (S. 161). Damit ist es als eines der Familienphantome überführt. Seine Funktionsweise bleibt gänzlich ungeklärt und ist damit auch in der mystischen Sphäre anzusiedeln. Das wichtigste Phantom ist aber mit Sicherheit der Ahnherr und alte Maler Francesko, der als eine Art Revenant oder als „ewiger Jude“ durch die Handlung geht 79. „Ich habe alles geschaut, da zogen Sie, von Wut entbrannt, ein Messer, Verehrter, an dem schon diverse Blutstropfen hingen, aber es war ein eitles Bemühen, dem Orkus den zuzusenden, der dem 79 Ernst von Schenk: „E.T.A. Hoffmann. Ein Kampf um das Bild des Menschen.“, Berlin, 1939, S. 279. 36 Orkus schon gehörte, denn dieser Maler ist Ahasverus, der ewige Jude, oder Bertram de Bornis [...]“ (S. 106) Seine Zuordnung ist insbesondere schwierig, da er auch als reale Person aufzutauchen scheint. Die Rolle, die er hat, ist eine warnende und mahnende, wie er später selbst sagt: „Ich warnte dich, aber hast mich nicht verstanden!“ (S. 194) Darin stimmt er zum Teil mit Viktorin überein. Medardus sieht bis zu seiner inneren Wandlung trotzdem stets den Feind in ihm, der ihn ins Verderben stürzen will. Hier wird deutlich sichtbar, wie verzerrt Medardus’ Wahrnehmung ist (vergleichbar mit Nathanaels Wahrnehmung im „Sandmann“). Eine außerordentlich wichtige Rolle spielt der Wahnsinn im Roman. Ihm kommen mehrere Funktionen zu, die von immanenter Wichtigkeit für die Betroffenen sind. Eine Funktion ist die der erhöhten inneren Kraft, die durch den Wahnsinn hervorgerufen wird. Sie erlaubt es den ‚Wahnsinnigen‘, einen tiefen Blick ins Innere des Menschen zu werfen und all seine Geheimnisse ins Freie zu übertragen. Das zeigt sich anhand einiger eindeutiger Textstellen: „Es ist etwas Eignes, daß Wahnsinnige oft, als ständen sie in näherer Beziehung mit dem Geiste und gleichsam in ihrem eignen Innern leichter, wiewohl bewußtlos angeregt vom fremden geistigen Prinzip, oft das in uns Verborgene durchschauen und in seltsamen Anklängen aussprechen, so daß uns oft die grauenvolle Stimme eines zweiten Ichs mit unheimlichem Schauer befängt.“ (S. 72) So durchschaut Hermogen, der als wahnsinnig gilt, sofort Medardus’ Absicht und spricht ihm sogleich Drohungen aus. Schließlich schafft er es auch, Aurelie vor Medardus zu beschützen. Eine weitere Figur ist das alte Zeterweib, die auch über seherische Fähigkeiten verfügt und als wahnsinnig gilt: „Der Blutbruder hat mir keinen Groschen gegeben, seht ihr nicht den toten Menschen vor mir liegen? Über den kann der Blutbruder nicht wegspringen, der tote Mensch richtet sich auf, aber ich drücke ihn nieder, wenn mir der Blutbruder einen Groschen gibt.“ (S. 89) Das ist eine ganz eindeutige Anspielung auf Hermogen bzw. auf die Ereignisse auf dem Schloss. Auch das „Blutbruder“ klingt sehr nach dem „Mordbruder“ Hermogens. Medardus selbst erkennt, dass der Wahnsinn auch gute Seiten hat, so im Text: „Schien nicht der Wahnsinn, der überall sich mir in den Weg stellte, nur allein vermögend, mein Inneres zu durchblicken und immer dringender vor dem bösen Geiste zu warnen, der mir, wie ich glaubte, sichtbarlich in der Gestalt des bedrohlichen, gespenstischen Malers erschienen?“ (S. 128) Erstaunlich ist einerseits, dass Medardus sich ständig äußerlich verstellt, er aber immer irgendwo ‚entlarvt’ wird. Der Prior durchschaut ihn stets, genau wie andere Personen. Eine dieser weiteren, wichtigen Personen ist Belcampo/Schönfeld, der Friseur und Helfer Medardus’ wird, und der diesen gleichfalls durchschaut. Als sich Medardus von ihm verkleiden lassen will, fordert Belcampo ihn auf, einige Schritte zu machen. Darauf sagt er ihm: „Es liegt in ihrem Gange etwas, das auf einen Geistlichen hindeutet.“ (S. 93) Belcampo sagt selbst, er habe einen „Blick, der in die Tiefe schaut“ (S. 93). Er hilft Medardus, sich an die Gesellschaft so gut wie möglich anzupassen, und darüber hinaus hilft er ihm bei seiner 37 Flucht aus der Gesellschaft, als er zum dritten Mal den alten Maler sieht und dieser ihn öffentlich bloßstellt. Belcampo eröffnet ihm auch, was es mit dem alten Maler auf sich hat. Eine Parallele zu Medardus ist seine Zwiespältigkeit, die sich im Führen von zwei Namen schon ganz offen zeigt: „Ach, ehrwürdiger Herr, es steckt ein infamer, sündlicher Kerl in meinem Innern und spricht: »Peter Schönfeld, sei kein Affe und glaube, daß du bist, sondern ich bin eigentlich du, heiße Belcampo und bin eine geniale Idee, und wenn du das nicht glaubst, so stoße ich dich nieder mir einem spitzigen, haarscharfen Gedanken.« Dieser feindliche Mensch, Belcampo genannt, Ehrwürdiger! begeht alle mögliche Laster; [...]“ (S. 108) Eine weitere Funktion ist der Schutz(-mechanismus) der Ohnmacht. An verschiedenen Stellen verfällt Medardus in einen kurzzeitigen Wahnsinn, der immer in einer Ohnmacht endet und ihn so vor größeren Problemen bewahrt. Zu Beginn der Handlung, als ihm im Moment der Überheblichkeit und des Größenwahns der alte Maler erscheint, dringt dieser in Medardus’ Inneres und ihn überkommt ein kurzzeitiger Wahnsinn: „Da schrie ich auf in der Höllenangst wahnsinniger Verzweiflung: »Ha Verruchter! hebe dich weg! – hebe dich weg – denn ich bin es selbst! – ich bin der heilige Antonius!« – Als ich aus dem bewußtlosen Zustand, in den ich mit jenen Worten versunken [...]“ (S. 34)80 3. 2. „Die Doppeltgänger“81 3.2.1 Entstehung Die 1822 publizierte Erzählung, die vermutlich 1821 fertiggestellt wurde, zieht ihren Ursprung bis zum Jahre 1815 zurück. Damals lagen Pläne zu einem Gemeinschaftsroman vor, dessen Verwirklichung durch Hoffmann, Karl Wilhelm Salice Contessa, Adelbert von Chamisso und Julius Eduard Hitzig bewerkstelligt werden sollte. Der „Roman des Freiherrn von Vieren“, so sollte der Roman heißen, wurde allerdings nie geschrieben und gedruckt. Es gab zwar allerlei Pläne, doch Chamissos Weltreise ab 1815 verhinderte sein Zustandekommen. Es ist anzunehmen, dass die Pläne für den Hoffmannschen Teil später von ihm dazu verwendet wurden um „Die Doppeltgänger“ zu schreiben, die eine seiner vielen Auftragsarbeiten waren. Die Doppelgängerthematik sollte auch im Gemeinschaftsroman eine wichtige Rolle spielen82. Das muss nicht sehr verwundern, da sowohl Chamisso als auch Hoffmann schon vorher Doppelgängerdichtungen geschrieben hatten. Chamisso u.a. mit dem 80 Hierbei handelt es sich um einen Laienexorzismus, der in dieser Paraphrase aus der Bibel stammen könnte. Durch solche Verfahren stärkt Hoffmann die christliche Mystik und auch den Gut – Böse Dualismus innerhalb des Romans. Näheres zu diesem Thema, bei F. Loquai, S. 45 – 64. 81 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Späte Werke, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1965. 82 Chamisso hatte schon 1808 ein Kapitel zum Gemeinschaftsroman „Die Versuche und Hindernisse Karls“ verfasst, doch es kam zu spät und wurde nicht miteinbezogen. 38 „Peter Schlemihl“ und Hoffmann mit den „Elixieren“. Was nun die Doppelgängerthematik angeht, so rankt sich, wie so oft bei Hoffmann, ein großes Mysterium darum. Kernpunkt und Titel der Erzählung sind die Doppelgänger. Während es in den „Elixieren“ als Funktionsmotiv gebraucht wurde, ist es hier strukturbestimmend. Eine Entwicklung ins Zentrum hat stattgefunden. Hoffmanns „Doppeltgänger“ sind wahrlich etwas Besonderes unter seinen Doppelgängergeschichten. Das Motiv war ihm mittlerweile gut vertraut, was ihn aber nicht daran hinderte, es noch einmal zu bearbeiten. Es hat für ihn nicht an Attraktivität verloren, ganz im Gegenteil, er macht es zum Hauptthema. Mit fortschreitendem Alter haben sich auch das Motiv und dessen Handhabung verändert, bzw. weiterentwickelt. Verschiedene Einflüsse sind darin zu entdecken, vor allem aus Goethes „Wahlverwandschaften“ scheint er geschöpft zu haben. Wie das Motiv im Einzelnen aussieht, soll anhand des Textes genauer gezeigt werden. 3.2.2 Die Geschichte der ‚Doppeltgänger‘ Deodatus Schwendy ist ein junger Mann, der von seinem Vater nach Höhenflüh geschickt wurde, um, nach dessen Worten, dort „ein wunderbares Ereignis“ (S. 444), welches seine Zukunft verändern soll, zu erleben. Dort hält sich zu jener Zeit eine alte Frau mit einem weissagenden Raben auf, die alle Menschen in diesem Ort an sich zieht. Im Sinne des ‚serapiontischen Prinzips’ werden die Frau und ihre Orakelsprüche aus mehreren Perspektiven beleuchtet, und entweder akzeptiert oder abgelehnt83. An dieser Stelle sei angemerkt, dass wir wieder eine Figur vorfinden, die auf unerklärliche Weise die Zukunft voraussagt. Ob sie das nun wirklich kann oder nicht, sei dahingestellt. Damit knüpft Hoffmann an seine früheren Werke wie die „Automate“ an, doch auch an Arnim, der sowohl in der „Isabella“ als auch in der „Melück“ Prophezeiungen benutzt, um die Handlung voranzutreiben. Eine gewisse Stereotypie der Motive und ihrer Verknüpfungen lässt sich hier leider nicht weg reden. Als Deodatus des Auftritts der Alten und ihrer Orakelsprüche gewahr wird, „[d]a war es [ihm], als sei hinter jenen Vorhängen, durch die die Menschen hineinschlüpfen, wirklich eine dunkle, unheimliche Macht verborgen, die dem Fröhlichen die unheilbringende Zukunft enthülle und so schadenfroh jeden Genuß des Augenblicks töte.-„ (S. 444). Auch hier ist die stereotype Anwendung der „dunklen, unheimlichen Macht“ (S. 444), die wir aus allen seinen untersuchten Werken kennen, nicht zu leugnen. 83 Typisch für Hoffmann ist diese Art der Polarisierung, die wir auch im „Sandmann“ festgestellt haben. 39 Unbewusst kehrt er in ein Zimmer ein, wo er als Herr Haberland angeredet wird. Hier kommt es zur ersten Verwechslung, die den Großteil der Handlung bestimmt, denn die beiden Doppelgänger werden noch des Öfteren miteinander verwechselt. Die klassische Verwechslungssituation bleibt uns also natürlich nicht erspart. Insofern verläuft der Gebrauch erst einmal völlig ‚normal’. Deodatus, der noch unter dem Einfluss der alten Frau steht, merkt zwar die Verwechslung, die ihm geschieht, doch er klärt die Situation nicht auf. Das ist ungewöhnlich, da jeder Mensch normalerweise auf seine Individualität besteht. Ausnahmen bilden Menschen, denen dieser Umstand zu Gute kommt, so wie z.B. Medardus zeitweise. Es folgt eine ziemlich eindeutige Anspielung auf Brentanos „Wehmüller“: „Wäre doch nur zum vorigen Jahrmarkt ein Maler und Bilderhändler am Orte gewesen, in dessen Bude ein jeder sein wohlgetroffenes Porträt habe finden können.“ (S. 445). Aus diesem Zitat lassen sich einige Parallelen herauslesen. Beide Protagonisten sind Portätmaler und beide haben das passende Porträt für jedermann vorrätig. Diese Auffälligkeit sei nur am Rande erwähnt. Deodatus wird erneut als Herr Haberland angesprochen, wobei er noch als Porträtmaler bezeichnet wird. Wieder eine Künstlerfigur, die uns hier begegnet, denn Deodatus ist ja nicht der andere Mann, für den er gehalten wird. Er „konnte sich eines innern Schauers nicht erwehren[...]“ (S. 445). Nun musste ihm spätestens klar sein, dass es jemanden geben muss, dem er nicht nur ähnelt, sondern der im Aussehen völlig identisch mit ihm ist. Doch damit nicht genug; plötzlich umarmt ihn ein Mann, der ihn als George Haberland anspricht und sich als sein langjähriger Freund zu erkennen gibt. Zur Verwunderung des Lesers versucht Deodatus nicht wirklich, den Irrtum in seiner Person aufzuklären, sondern er spielt in gewisser Weise mit und lässt alle im Glauben, er sei derjenige, für den man ihn hält84. Seine Worte beschreiben seine Situation recht passend: „Ei du unbekannter Bruder, wie sollt ich nicht konfus aussehen, da ich soeben mit meinem Ich in einem andern Menschen gefahren bin, wie in einen neuen Überrock, der hin und wieder zu eng ist oder zu weit, der noch drückt und preßt. Ei du mein Junge, bin ich denn nicht wirklich der Maler George Haberland?“ (S. 446). Als der Fremde einen angeblichen Brief Georges herauszieht und ihn Deodatus zeigt, kommt es zum ersten großen Schock, denn: „[d]ie Handschrift des Briefes war ja ganz genau seine eigene.“ (S. 446). Zunächst verweist uns diese Parallele auf eine stärkere Verbindung zwischen den beiden Doppelgängern, als zunächst angenommen, denn das Aussehen, welches bisher das Merkmal der Zusammengehörigkeit war, kann man sich nicht selbst aussuchen oder bestimmen, doch die Schrift ist etwas Persönliches, das von uns selbst bestimmt und entwickelt wird. Eine 84 Eine Parallele zu Medardus’ Verhalten, nachdem er Viktorin den Abhang hinunter beförderte. 40 Übereinstimmung in diesem Punkt deutet stark auf eine ‚geheime’ Verbindung hin. Desweiteren ist dieses Motiv aus Goethes „Wahlverwandschaften“ entnommen, doch es bleibt nicht das einzige. Eines wird ganz schnell klar: zwischen Deodatus und seinem Doppelgänger George besteht eine Verbindung. Worauf diese Verbindung basiert, worauf sie zurückzuführen ist, bleibt eigentlich die interessanteste Frage, die sich der Leser wie auch die beiden Doppelgänger stellen. Wie schon berichtet wurde, ist Deodatus den wunderbaren Dingen gegenüber offen. Er glaubt an den Einfluss „dunkler Mächte“ (S. 444, 446,450...) die sich mit seinem Leben beschäftigen. Eben als sich Deodatus dem Kupferstecher Berthold zu erkennen geben will, wird er durch eine dritte Person dabei unterbrochen, und so bleibt Berthold der Überzeugung, er habe mit George gesprochen. Deodatus erfährt von einem abendlichen Auftritt der Alten im Garten, und auf dem Weg dorthin begegnet ihm ein Fremder, der ihn sonderbar anstarrt, so als ob er ihn kennen würde. Im Garten geschieht während des Auftritts der Alten etwas höchst Merkwürdiges: „»Die Hoffnung ist gestorben! Der Sehnsucht Lust war die Hoffnung, Sehnsucht ohne Hoffnung ist namenlose Qual!« Tief seufzte die Frau und rief wie in Verzweiflung: »Die Hoffnung ist der Tod! – Das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!« Da schrie Deodatus unwillkürlich aus dem Innersten heraus: »Natalie!« Rasch wandte sich die Frau um und ein altes fürchterlich verzerrtes Weiberantlitz starrte ihn an mit glühenden Augen. Grimmig mit ausgespreizten Armen auf ihn losfahrend, kreischte das Weib: »Was willst du hier? – Fort! Fort! – Der Mord ist hinter dir her! – Rette Natalien!« – Der Rabe rauschte durch die Bäume herab auf Deodatus und krächzte gräßlich: »Mord - Mord!« Von wildem Entsetzen gepackt, halb sinnlos, rannte Deodatus fort nach seiner Wohnung.“ (S. 449) Aus der Passage wird klar das Deodatus anscheinend in einer Art telepathischer oder somnambuler Beziehung steht, die ihm den Namen Natalie eingibt. Gleichzeitig weiß die Alte darüber Bescheid und spricht ihm eine Warnung aus. Es muss also eine Verbindung zwischen beiden existieren. In der gleichen Nacht trifft er zum ersten Mal Natalie und auch seinen Doppelgänger. Die Begegnung ist sehr interessant (jedoch nur einseitig, da nur Deodatus seinen Doppelgänger bemerkt), weil der Leser erfährt, dass der Doppelgänger sogar die gleiche Stimme besitzt wie er. Diese Tatsache bestärkt zwei mögliche Erklärungen dafür. Entweder sie sind eineiige Zwillinge, was aber später widerlegt wird, oder ihre Zeugung stand unter höheren, fremden Einfluss, so dass vielleicht ein ehebrecherischer Gedanke alleine ausreicht, um ein Kind dem anderen völlig anzugleichen. Auf jeden Fall ist es höchst unheimlich, was Deodatus erlebt. An dieser Stelle greift der Erzähler ein und erklärt zunächst etwas aus der Vorgeschichte der Geschehnisse, da ansonsten außer neuen Fragen keine neuen Informationen kommen und die Vorkommnisse unerklärlich werden. Eine ähnliche Taktik hat Hoffmann schon in den 41 Elixieren praktiziert. Eine weitere Parallele zum Roman ist das brüderliche Verhältnis der Doppelgänger. Dieses ist hier viel weiter entwickelt und besteht eigentlich in keiner fleischlichen Verwandtschaft (sie haben verschiedene Väter und Mütter), sondern in einer psychischen. Die Ähnlichkeit ergibt sich aus der psychischen Verbundenheit der Fürstin (die Alte mit dem Raben) zum Grafen Törny. Es wird ausdrücklich betont, dass es keinen körperlichen Kontakt zwischen beiden gab. Vorstellbar ist auch ein Einfluss des Grafen auf die Fürstin, denn der Graf schickt seinen Sohn nach Höhenflüh mit einer Ankündigung auf bevorstehende Ereignisse. Woher kann er das wissen? Es könnte also sein, dass der Graf über magnetische Fähigkeiten verfügt, die es ihm erlauben, einen tieferen Blick in die Welt und die Ereignisse zu nehmen. Der Graf wird aber nie ausdrücklich mit solchen Attributen behaftet. Der kurze Bericht verrät die Vertreibung der Fürstin und des Sohnes, sowie das Verschwinden des Grafen samt seiner Familie. Der Fürst residiert seit dem alleine, und eben, als er durch den Park spaziert, trifft er auf das streitende Paar vom Anfang (das silberne Lamm und der goldene Bock). Sie tragen ihm ihre Sache vor und kommen dabei auf die Alte zu sprechen: „Insonderheit rühmte der Bock die weise Frau, von der die gescheutesten brillantsten Herren, die größten Genies von Höhenflüh, die er täglich an seiner Tafel bewirten die Ehre, behaupteten, sie sei ein überirdisches Wesen und höher zu achten, als die ausgebildetste Somnambüle.“ (S. 454) Wieder bringt Hoffmann durch seine Figuren den Somnambulismus mit ins Spiel, der in der Tat für viele Erklärungen gar nicht abwegig ist. Vor allem, weil die Alte ja die Fürstin ist, die einen der Doppelgänger gebiert. Ein magnetisches oder somnambules Verhältnis könnte also für die Gleichheit gesorgt haben. Die Verwechslung der Doppelgänger beginnt sich nun langsam zu lösen. Dabei kommen neue Details über Natalie ans Licht. George malte sie einst und verliebte sich in sie, doch ihr Vater verhinderte eine Beziehung. Ihr Vater ist der Graf Hektor von Zelias, der später Deodatus einen Besuch abstattet. Deodatus beteuert, es läge eine Verwechslung vor, da er nicht der Maler George ist, doch beim Namen Natalies zeigt er Gefühle. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen den Doppelgängern am stärksten, denn George hat Natalie schon gesehen, sie ist sein künstlerisches Ideal, das er in die Wirklichkeit holte. Für Deodatus ist sie bloße Vorstellung, er sah sie nur damals kurz in der Kutsche. Als der Fürst Deodatus holen lässt, gerät er in höchste Erregung und erlangte die Überzeugung, er sei sein Sohn, als es plötzlich ruft: „»Die Hoffnung ist der Tod, das Leben dunkler Mächte grauses Spiel!« und krächzend flatterte ein schwarzer Rabe auf und hinein ins Gebüsch.“ (S. 471) Das Zitat ist schon aus der Gartenszene bekannt. Der Fürst stürzt in Ohnmacht und muss 42 ärztlich versorgt werden, wobei Deodatus ebenfalls auf dem Schloss bleibt. Er entdeckt eine alte Ruine, in der öfters Licht brennt und vermutet ein Abenteuer dahinter, welches er unbedingt erforschen will. Er läuft zu den Ruinen als er plötzlich einen Brief zugeworfen bekommt, in welchem sein Doppelgänger George von Natalie angerufen wird. Deodatus will seinen Jugendtraum sehen, doch es scheint ihm nicht sicher ob er derjenige ist, den Natalie meint. „- Aber! – bin ich es denn? – bin ich der George?“ (S. 478) Er geht zu ihr und will ihr erklären, wer er ist, doch irgendwie klingt es wie bei Arnims Fichte-Parodie („ich bin ich und du bist nicht ich“ s.o.). „Ich heiße auch nicht George, aber doch bin ich selbst mein Ich und kein anderer.“ (S. 479) Die Begegnung wird nur kurz, er muss vor ihrem Vater fliehen und wird dabei von Männern seines Vaters gerettet. Der Fürst setzt vor seinem Tod ein Testament auf, in welchem er den jungen Deodatus Schwendy als seinen Sohn erkennt und ihm sein Reich zur Regierung vermacht. Daraus folgt eine Tatsache, die keiner, außer dem Grafen Törny und dem Fürsten weiß. Deodatus ist sein Sohn, der Vater erkennt trotz all der Jahre seinen Sohn, obwohl er dem anderen Jungen völlig gleich ist. Doch wie kann er das? Eine mögliche Begründung ist vielleicht die Melancholie, in die der Fürst verfallen war. Sie ist, neben der Hysterie und dem Wahnsinn, bei Hoffmann oft für höhere Bewusstseinszustände verantwortlich. Nach dem Erbrechen des Testaments folgt das große Finale, die Zusammenführung aller Akteure. Die beiden Doppelgänger stehen sich zum ersten Mal Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es folgt eine letzte Aufklärung der Verhältnisse und ein Rückbezug auf die vergangenen Ereignisse. Beide Elternpaare heiraten am selben Tag, beide sind langjährige, beste Freunde. Um die ungewöhnliche Geburt zu erklären, spielt Hoffmann sein Wissen um die Möglichkeiten des Psyche aus: „An beiden, an der Fürstin und an der Gräfin, hatte man schon in ihrer früheren Jugend zuzeiten eine an Hysterismus grenzende Überspannung bemerkt.“ (S. 484) Eine weitere Doppelung ist der Zeitpunkt der Entbindung. Dass jedoch die Kinder nur einem Vater, nämlich dem Grafen, ähneln, zeigt eine weitere Parallele zu Goethes „Wahlverwandschaften“. Hoffmanns Motivation ist ganz klar psychischer Natur. Der Fürstin gedankliche Abhängigkeit zu Törny ist so stark, dass die Frucht ihres Körpers von ihrem Geist beherrscht und verändert wird. Die psychischen Prädispositionen besitzt sie, wie Hoffmann selbst erwähnt. Auch die Söhne erbten gewisse Prädispositionen, was sich im Bild ihrer Geliebten manifestiert: „Wunderbar ist es, daß beide, Haberland und Schwendy, das geliebte Wesen längst träumten, das ihnen dann in vollem Leben entgegentrat; wunderbar, daß eben dieses Wesen Natalie, die Tochter des Fürstin Isidors war [...]“ (S. 486) Auch hier 43 ist die Familiengeschichte ein wichtiger Faktor, der durch die psychische Profilierung Glaubwürdigkeit gewinnen soll. Die Identität der beiden Doppelgänger wird jetzt endgültig geklärt, doch es steht noch ein Problem zur Lösung an. Die Doppelgänger müssen sich noch um Natalie bemühen. Sie wollen sich gegenseitig vernichten, nur um sie zu bekommen. Natalie entsagt jedoch beiden, und so kann das tragische Ende vermieden werden – niemand muss sterben. Dadurch, dass keiner von ihnen die idealisierte Geliebte bekommt, gehen sie der Gefahr aus dem Weg und enden nicht in Wahnsinn und Vernichtung. Im Vergleich hierzu die unterschiedliche Herangehensweise Hoffmans an die ähnliche Liebeskonzeption in den „Elixieren“. Hier ist das Ende viel versöhnlicher. Ein lange getrenntes Paar wird zusammengeführt und zwei Leben werden gerettet und auf die richtige Bahn gebracht. Das Doppelgängermotiv bzw. die Doppelgängerei zweier sehr ähnlicher, teilweise identischer Personen und ihre Geschichte steht im Zentrum. Wie es für Hoffmann typisch ist, schwingt in dem ganzen Verhältnis etwas Unheimliches und Übernatürliches mit. Obwohl das Motiv auch konventionell zu Verwechslungszwecken genutzt wird, steht es mit der Wahrheit um die Ereignisse anders. Kein bloßer Zufall steht hinter allem, sondern eine Art Bestimmung. Wie gesagt, stützt sich Hoffmann auf psychische Phänomene und auf sein Wissen über die menschliche Psyche, um die Erklärung der Ähnlichkeit der Doppelgänger zu erklären. In der Tat musste er auf etwas Vorstellbares zurückgreifen, um dem Inhalt Plausibilität zu verleihen. Auch in den „Elixieren“ muss Hoffmann durch das Verwandtschaftsverhältnis die Grundlage für diese Möglichkeit schaffen. Da er sich nicht wiederholen wollte, erfand er eine interessante neue Möglichkeit. Gerade in solchem Vorstellungsvermögen liegt seine Stärke. Dass er dabei ein fremdes Motiv aufgreift und umformt, spricht, ähnlich wie bei vielen anderen Romantikern, nicht gerade gegen ihn. Hoffmanns Interesse und Beschäftigung mit dem Motiv äußert sich auffällig im Ausgang der Erzählung. Beide Doppelgänger bleiben am Leben und setzen es fort. Die unausweichlich scheinende Eliminierung mindestens eines Doppelgängers, wie es in den vorigen Beispielen der Fall war, bleibt aus. Hoffmann kann dem Motiv nun nicht nur Schreckliches und Zerstörerisches abgewinnen, nein, auch ein versöhnlicher, harmonischer Ausgang ist möglich. Der Schrecken scheint durch langjährige Beschäftigung verschwunden, das Diabolische fällt weg. Seine Neigung, Geschehnisse aus der Psyche des Menschen zu erklären, bleibt allerdings immer noch wichtiger Bestandteil. 44 3.3 „Die Automate“85 3.3.1 Allgemein Hoffmanns frühe Erzählung, die wohl im Winter 1813/1814 entstanden ist, hat in der Forschung wenig Resonanz und Anerkennung gefunden. Das mag am deutlich erklärten Thema liegen, welches der Titel schon verrät, kann aber auch an der fragmentarischen Form liegen, die uns keine befriedigende Aufklärung der Geschehnisse bringt 86. Im Hinblick auf die Fragestellung der Arbeit ist das Automatenmotiv hier also von größter Wichtigkeit. Schon in dieser Erzählung, die erst Jahre später in die „Serapions-Brüder“ aufgenommen wurde, lässt sich, wie im später geschriebenen „Sandmann“, eine doppelte Perspektivierung feststellen, auch „Duplizität“ genannt. In unserem Falle wird sie durch die beiden Freunde Ludwig und Ferdinand hervorgebracht. Die auktoriale Erzählweise wird dadurch gestört, was zu einer subjektiveren Perspektive führt. Eine Anzahl von Dialogen zwischen den Freunden unterbricht den Erzählfluss des Erzählers. Einflüsse, die zur Entstehung dieser Erzählung geführt haben könnten, sind nicht eindeutig zu nennen. Vielleicht hat Wieglebs „Natürliche Magie“ auf Hoffmann gewirkt, vielleicht hat er auch Anreize aus Zeitungen und persönlichen Diskussionen zu diesem Thema erhalten. Hoffmann hat sich schon in jungen Jahren mit Automaten beschäftigt. Er spielte sogar mit dem Gedanke, selbst einen Automaten zu bauen87. Persönlich hatte er im Jahre 1813 einen Musikautomaten von Vater und Sohn Kaufmann gesehen88, also kurze Zeit, bevor diese Erzählung entstand. Die Erzählung beschränkt sich nicht nur auf einen Automatentyp, sondern bietet uns eine breitere Palette an, von denen der Orakelautomat mit Sicherheit am interessantesten ist. Zur Geschichte der Automaten gibt es zahlreiche Vorbilder die bis in die antike Literatur zurückgehen89. Im Verlaufe der Jahrhunderte gab es immer wieder neue Zentren der Automaten-Baukunst auf der Welt. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts ist ein Franzose für die Neubelebung dieser Kunst verantwortlich, der im Paris der 30er Jahre seinen ersten Automaten baute. Sein Name ist Jacques Vaucanson, und er ist mit Sicherheit das prominenteste Beispiel eines 85 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Sämtliche Werke, Bd. 4, Die SerapionsBrüder, hrsg. von Wulf Segebrecht, DTV, Frankfurt am Main, 2001. 86 Eine ähnliche unaufgeklärte Situation beendet seinen „Sandmann“. 87 Siehe im Nachwort der Sämtlichen Werke von DTV, Band 4, S. 1391. 88 Renate Böschenstein: Doppelgänger, Automat, Serielle Figur, in: Androide. Zur Poetologie der Automaten, Lang, Frankfurt am Main, 1997, S. 172/173. 45 Automatenbauers. Vaucanson war der mechanistischen Philosophie zugeneigt. Damals gab es noch keinen Idealismus und die mechanistische Philosophie hatte eine Übermachtstellung. 1738 baut er seinen weltberühmten „mechanischen Flötenspieler“, der in Paris und später in ganz Europa ausgestellt wird90. Es folgte 1741 seine „mechanische Ente“, die ein anatomischphysiologisches Modell war. Wie sich später herausstellte war die „Ente“ aber eigentlich ein Trickautomat, weil der Verdauungsprozeß, der als der Höhepunkt des Automaten und der Wissenschaft galt, fingiert war. Vaucanson baute noch weitere Automaten, doch seine großen Ziele waren der „mechanische Sprecher“ und die „Menschmaschine“91. Er schaffte es leider nicht, sie zu verwirklichen, doch Hoffmann tut das und stellt uns in seiner Erzählung einen sprechenden Türken vor. Ob es auch hier ein Trick ist, bleibt offen. Werfen wir also einen näheren Blick auf die Beschaffenheit des Automatenmotivs bei Hoffmann. 3.3.2 Das Automatenmotiv Die Erzählung fängt gleich mit der Beschreibung des Automaten an. Auffallende Merkmale sind seine Sprachgabe und seine geheimnisvollen Orakelsprüche, die er den Fragenden gibt. Sein Äußeres wird beschrieben, wobei eine frappierende Ähnlichkeit zum Kempelenschen „Schachspieler“ (Schachtürken) besteht. Geschickt räumt Hoffmann die bekannte Vermutung aus, es könne sich eine kleine Person im Inneren des Automaten aufhalten, die ihn eigentlich steuert. Eine vorbeugende Maßnahme Hoffmanns, die dem Automaten Eigendynamik bzw. Eigenleben verleihen soll. Seine Bewegungen und Reaktionen werden genau beschrieben, und der Erzähler kommt zum Schluss dass: „[...] die Rückwirkung eines denkenden Wesens unerläßlich schien.“ (S. 397). Trotz aller Bemühungen, die Täuschung aufzudecken, schafft es niemand, das Geheimnis des redenden Türken zu lüften. An dieser Stelle werden die beiden Protagonisten eingeführt: Ferdinand und Ludwig. Ludwig, der musikalisch Begabte, nimmt eine negative Perspektive ein. Durch seine Person werden uns die Kritik und die Furcht vor dem Phänomen der Automaten näher gebracht: „»Mir sind«, sagte Ludwig, »alle solche Figuren, die dem Menschen nicht so wohl nachgebildet sind, als das Menschliche nachäffen, diese wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens, im höchsten grade zuwieder.«“ (S. 399) Sein Freund Ferdinand nimmt eine etwas andere Stellung ein. Er hat nicht so sehr Angst vor 89 So z.B. Hephaistos, der als Erbauer der ersten Automate gilt. Seine Pandora und die goldenen Jungfrauen sind bekannt. Vgl. im Nachwort von (Hrsg.) Klaus Völker: Künstliche Menschen. Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen, Hanser, München, 1971, S. 467. 90 Alex Sutter: Vom spektakulären Objekt zum Produktionsmittel – Der Automat im 18. Jahrhundert am Beispiel des Werks von Jacques Vaucanson, in: Androide. Zur Poetologie der Automaten, Lang, Frankfurt am Main, 1994, S. 134. 46 dem Lebendigtoten, vielmehr möchte er gerne herausfinden was es mit dem redenden Türken, und vor allem mit seinen Orakelsprüchen, auf sich hat: „Was mir aber viel wunderbarer scheint und mich in der Tat recht anzieht, das ist die geistige Macht des unbekannten menschlichen Wesens, vermöge dessen es in die Tiefe des Gemüts des Fragenden zu dringen scheint –„ (S. 401) Aus seiner Aussage wird ganz klar, dass er ein Enthusiast ist, der übernatürlichen Phänomenen gegenüber offen und zugänglich ist. Dadurch könnte man ihn von seiner Anlage her mit Nathanael (aus dem „Sandmann“) vergleichen. Die Freunde entschließen sich zum Türken zu gehen, um sich den Orakelautomaten anzusehen. Nach einer Reihe Fragen und Antworten, die niemanden wirklich befriedigen konnten, versucht es Ferdinand noch einmal, und er bekommt diesmal eine für ihn erschütternde Antwort, die ihn von der seherischen Fähigkeit des Automaten (oder dessen, was dahintersteckt) überzeugt. Ludwig versucht, den aufgebrachten Freund zu beruhigen und ihm die Situation als eingebildet darzustellen, doch Ferdinand bleibt überzeugt von der „magischen Gewalt“ (S. 403) des Automaten. Um es Ludwig zu beweisen, verrät er ihm seine Frage und die darauf folgende Antwort des Automaten. Dafür muss er etwas weiter zurückgehen und sein Erlebnis mit der herrlichen Sängerin erzählen. Aus der Vorgeschichte und der Antwort des Orakels ersieht Ferdinand, wie eine „fremde Macht feindselig in [s]ein Inneres gedrungen“ (S. 408) ist. Die Prophezeiung hinsichtlich seiner geliebten Sängerin lautet: „Unglücklicher! In dem Augenblick, wenn du sie siehst, hast du sie verloren!“ (S. 408). Ob sich die Prophezeiung erfüllt, wird sich noch zeigen92. Durch Zufall erfahren die beiden von einem Professor X, der angeblich für den Automaten und seine jetzige Fähigkeit verantwortlich sein soll. Sie beschließen, ihn zu besuchen, um dadurch einige Antworten zu erhalten und Licht ins Dunkel dieser Sache zu bringen. Immer wieder wird über das Wesen des Automaten diskutiert und er wird immer genauer analysiert. Alle Möglichkeiten der Täuschung werden durchgespielt, woraus der vorhandene Skeptizismus solchen Phänomenen gegenüber offensichtlich wird. Mit Hilfe von Schellings Naturphilosophie versuchen beide nun, die Vorgänge zu erklären. Sie gehen von einem „psychischen Einfluss“ (S. 414) aus und erwähnen den „geistigen Rapport“ (S. 414), mit Hilfe dessen sich eine „psychische Macht“ (S. 414) ihrer innersten Gedanken und Gefühle 91 Ein gleichnamiges Buch, hat der zu Vaucansons Zeiten lebende Julien Offray de La Mettrie geschrieben. Damals war die mechanistische Philospohie für den Trend der Mechanisierung verantwortlich. 92 Genau wie in den „Elixieren“ wird hier aufgrund einer Prophezeiung etwas Zukünftiges vorausgenommen. Die Voraussagbarkeit der Zukunft ist oft vorhanden. Diese Technik erinnert auch an Arnim und seine Vorbestimmtheit, die wir in den beiden Erzählungen betrachten konnten. Die Prophezeiung oder das Orakel war also äußerst beliebt bei den Romantikern. 47 bemächtige. Das klingt sehr nach Schellings Naturphilosphie und dem Prinzip des Magnetismus, der uns immer wieder bei Hoffmann begegnet. Damit wird der Magnetismus als mögliche Ursache für die seherische Fähigkeit des Automaten impliziert. Es ist aber nicht der Automat selbst, sondern eine hinter ihm steckende Macht bzw. Person, die sich das Wissen um die Fragen verschafft. Das degradiert den Automaten zur Marionette (Puppe), denn er ist durch seinen Erbauer oder Meister (möglicherweise Prof. X) manipulierbar. Ferdinand und Ludwig gehen nun zu Prof. X und werden Zeugen einer enormen Anzahl von Spielautomaten, worunter sich ausdrücklich der Vaucansonsche „Flötenspieler“ (S. 418) befindet93. Nach einer Vorführung der Musikautomaten müssen die beiden aber ohne eine befriedigende Antwort wieder gehen. Der Besuch hat ihnen nichts gebracht, sie haben keine neuen Erkenntnisse gewonnen. Ludwig redet davon, wie schrecklich es wäre, wenn ein lebendes Wesen, ein Mensch, mit einem Automaten tanzen würde: „Schon die Verbindung des Menschen mit tote,n das Menschliche in Bildung und Bewegung nachäffenden Figuren zu gleichem Tun und Treiben hat für mich etwas drückendes, unheimliches, ja entsetzliches. Ich kann mir es denken, daß es möglich sein müßte, Figuren vermöge eines im Innern verborgenen Getriebes gar künstlich und behende tanzen zu lassen, auch müßten diese mit Menschen gemeinschaftlich einen Tanz aufführen und sich in allerlei Touren wenden und drehen, so daß der lebendige Tänzer die tote hölzerne faßte und sich mit ihr schwenkte, würdest du den Anblick ohne inneres Grauen eine Minute lang ertragen?“ (S. 418). Hoffmann war sehr konsequent und hat diese Szene später im „Sandmann“ verwirklicht, indem er den Automaten Olimpia den ganzen Abend mit dem Studenten und Enthusiasten Nathanel tanzen lässt. Zweifelsfrei eine Weiterentwicklung in dieser Hinsicht. Als die Freunde schließlich ihre musikalische Diskussion beenden, die einen großen Teil der Erzählung ausmacht, hören sie die Stimme der mysteriösen Sängerin, die das im Text mehrfach vorkommende Liebeslied singt. Ferdinand ist erschüttert, er glaubt sich wieder als Spielball äußerer Mächte. Ferdinand bekommt anschließend einen Brief seines Vaters und muss daraufhin verreisen. Ludwig hingegen findet noch etwas über Prof. X heraus, der ein „geheimnisvolles Laboratorium“ (S. 426) am Stadtrand hat, an welchem die beiden vorbeigingen, als sie die Stimme der Sängerin wahrnahmen. In einem späteren Brief berichtet Ferdinand, dass er die Sängerin zufällig bei ihrer Hochzeit sah und Prof. X dort ebenfalls anwesend war. Somit hat sich die Prophezeiung des Automaten erfüllt, denn als er sie sah, war sie für ihn schon nicht mehr erreichbar. Sie heiratet und wird zur Frau eines anderen. Er hat jede Chance auf eine Liebesbeziehung mit ihr verloren. Nicht, dass er bis jetzt überhaupt eine Chance hatte, doch 48 nun ist sie für immer für ihn Tabu. Allerdings stirbt Ferdinand nicht, so wie man es vermuten könnte, so dass es noch einmal ‚gut’ ausgeht: „Jetzt ist eine nie gefühlte Ruhe und Heiterkeit in meine Seele gekommen. Der verhängnisvolle Spruch des Türken war eine verdammte Lüge erzeugt vom blinden Hintappen mit ungeschickten Fühlhörnern. Habe ich sie denn verloren? ist sie nicht im innern glühenden Leben ewig mein? Du wirst lange nicht von mir hören, denn ich gehe nach K., vielleicht auch in den tiefen Norden nach P.“ (S. 427) Ludwigs Antithese zum Schluss soll nochmals die zweifache Perspektive betonen, die den Ereignissen innewohnt. Es kommt auf die Anfälligkeit für übernatürliche Phänomene an, inwiefern man daran glaubt oder nicht. Das zeigt sich auch beim „Sandmann“, dessen Schluss ebenso offen bleibt und nicht ausdrücklich das Geschehene erläutert oder gar eindeutig festlegt. Kommen wir zurück zum Wesentlichen, zum Automatenmotiv. Es werden ziemlich viele verschiedene Automatenarten erwähnt. Uns interessiert nur der Türke näher, der eine menschliche Nachahmung ist und der direkt auf den Menschen zu wirken scheint. Ihm werden übernatürliche Kräfte zugeschrieben, wobei nicht klar ist ob sich etwas hinter dem Automaten verbirgt. Durch seine Fähigkeiten scheint er dem Menschen in gewisser Hinsicht überlegen. Gleich zu Beginn stellt uns der Erzähler den Automaten vor. Es geht sozusagen in medias res, genau wie beim „Sandmann“. Beschaffenheit und Eigenschaften werden beschrieben, dabei fällt uns das ziemlich umfangreiche Wissen Hoffmanns auf dem technischen Gebiete der Automaten auf. Er wusste ganz genau, wovon er da schrieb. Vor allem die Musikautomaten hatten seine Aufmerksamkeit erregt94. Die Erscheinung des Türken ist aber nicht das, was seine Faszination ausmacht. Vielmehr sind es seine Orakelsprüche, die eine unheimliche Wirkung auf die Menschen haben und eine geheime Verbindung zu einem höheren Wesen ahnen lassen. Die Kräfte, die dahinter stecken, werden nicht genannt. In seinen späteren Werken ändert sich das. Vor allem der Magnetismus bekommt in seinen Geschichten eine große Macht zugesprochen. Der Ursprung der Kraft in diesem Falle ist und bleibt ungeklärt, was wohl auch an der fragmentarischen Form liegt, aber auch wirkungstechnisch so geplant sein konnte. Dem bloßen mechanischen Konstrukt traut niemand diese Kraft zu. Deshalb wird ein außerhalb des Automaten liegendes Medium gesucht. Der mechanische Part wird von Hoffmann ziemlich genau beschrieben, er verursacht keine Angst oder Grauen. Der Automat wird also eigentlich als Werkzeug benutzt, hinter 93 Ein Indiz für den Bekanntheitsgrad des Flötenspielers. Im Text werden sehr viele verschiedene Automaten beschrieben oder angesprochen, doch von Belang ist nur der Türke, da sich nur in Bezug auf ihn die unheimliche Stimmung und höhere Mächte verbinden. 49 welchem sich der wahre Geist und Kopf verbirgt. Trotz seiner Fähigkeiten wird ihm kein richtiges Eigenleben zugetraut95. Hier scheint also ein Betrug vorzuliegen. Hoffmann lässt die Erscheinung nun von einem Freundespaar diskutieren. Auf die „Duplizität“ wurde schon hingewiesen. Ludwig ist eher skeptisch, er mag Automaten nicht sonderlich, das Nachäffen des Menschlichen ist ihm nicht bekömmlich. Seine Abscheu offenbart ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, welches in Hoffmanns nächster Automatenerzählung (dem „Sandmann“) vollends zum Ausdruck kommt. „Was starrst du mich an mit Augen ohne Sehkraft?“ (S. 399) Die Augen sind der verräterische Schlüssel, mittels derer der Tod, der die Automaten durchzieht, ganz deutlich zu identifizieren ist. Sie sind nicht beseelt und nicht lebendig, das sagen ihre Augen ganz klar aus. Eine andere Einstellung zu Automaten hat Ferdinand, der eher der mystischen Seite des Lebens zugetan ist. Bei ihm kommt es auf die Art und Absicht der Automaten an. Für ihn scheint ganz eindeutig eine geistige Macht die Antworten zu geben. Hier kommt der Magnetismus ins Spiel, der einem Experten auf diesem Gebiet durchaus Möglichkeiten bieten könnte, ins Innere eines Menschen zu blicken und ihm entsprechend eine individuell zutreffende Prophezeiung zu geben, die zumindest für den Betroffenen glaubwürdig erscheinen mag. Die beinahe schon typische Erklärung wird also wieder dem Magnetismus oder Somnambulismus zugeschrieben und bleibt damit der zeitgenössischen Wissenschaft verpflichtet. Sie bleibt dadurch aber trotzdem unbegreiflich für all diejenigen, die sich damit nicht auskennen oder daran glauben, also so gut wie für jedermann. Wegen der fragmentarischen Form wird uns leider auch keine endgültige Auflösung zuteil. Damit weicht Hoffmann dem Problem einer Konkretisierung des Geschehenen aus. Ähnlich wie in seinen restlichen Werken, hängt die Deutung sehr stark vom Interesse und der Einstellung des Lesers ab. 3.4 Im Zwiespalt der „Duplizität“: „Der Sandmann“96 3.4.1 Allgemeines E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, die in seinen Erzählband der „Nachtstücke“ gleichsam in den ersten Band einführt, ist in ihrer Anlage genau so, wie es der Name des 94 Was an seiner musikalischen Leidenschaft lag. Die Musik hatte unter den Künsten für ihn immer Priorität. Daneben interessierte er sich brennend für neue Instrumente, was in der Erzählung ebenfalls sehr deutlich zu sehen ist. 95 Allerdings kann man das nur von den beiden Freunden behaupten. Möglich, dass andere Menschen nicht so denken. Wir bekommen hier nur ihre Sicht und Meinung wiedergegeben. 50 Bandes andeutet: dunkel, undeutlich - eben nächtlich. Noch bis in die heutige Zeit liegt in ihr noch viel Verborgenes und Unentdecktes. Obwohl sie in der Forschung stark rezipiert wurde, hat es bislang niemand geschafft, die Erzählung vollständig und für jedermann zufriedenstellend zu deuten. Viele der Interpreten beschränken sich darauf, dem Text eine ganz bestimmte Bedeutung zu geben. Haben sie diese nach ihren Postulaten gefunden, bleiben sie stehen in ihrer (Er-)Forschung. Die Erzählung bietet aber, wie sich zeigt, weitaus mehr. Von vornherein entwickeln der Text und sein Inhalt starken Widerstand gegen zu eindeutige Sinngebungen. Einen wichtigen Faktor spielt hier die Form der Erzählung. Die erste Fassung der Erzählung wurde, laut Hoffmann, „d. 16. Novbr. 1815 Nachts 1 Uhr“ fertig97. Die Zeit der Entstehung ist für unsere Arbeit insofern wichtig, weil sie zeigt, dass der „Sandmann“ in unmittelbarer Nähe zum Roman „Die Elixiere des Teufels“ und der Erzählung „Die Automate“ steht. Alle Werke entstanden in den Jahren 1814 und 1815. Eine Verwandtschaft untereinander besteht in der Motivlandschaft, in unserem Falle den drei zentralen Motiven dieser Arbeit, dem Doppelgängermotiv, dem Automatenmotiv und der IchProblematik. Im „Sandmann“ sind alle drei Motive gleichzeitig vorhanden, deshalb ist der Text zu Vergleichszwecken gut geeignet. Vor allem für die Hoffmannschen, aber auch für die fremden Texte. Das Ziel ist es, die Ich-Problematik an der Person Nathanaels zu untersuchen, sowie das Doppelgängermotiv am Beispiel Coppelius/Coppolas, und das Automatenmotiv anhand der Androide Olimpia. Obwohl wir uns damit ebenfalls auf nur einen Teil der Erzählung beschränken, wird aufgrund der Vertracktheit und Kürze der Handlung trotzdem fast der gesamte Inhalt berührt werden. Einige wichtige Motive, wie das Augenmotiv, welches schon Leitmotivcharakter98 besitzt, werden nur gestreift. Für tiefergehende Analysen bleibt kein Platz. Es werden ausdrücklich keine psychoanalytischen Ergebnisse mit einbezogen. Dafür fehlt zum einen der Platz, zum anderen erscheint diese Methode in Hinblick auf unsere Fragestellung relativ unergiebig zu sein. Der Kernpunkt vieler Interpretationen, die Liebeskonzeption, muss ebenfalls weitgehend außer Acht gelassen werden. 3.4.2 Wissenschaftliche und kulturelle Prozesse der Zeit Um zu verdeutlichen, dass die zu untersuchenden Motive nicht willkürlich in Hoffmanns und auch anderer Künstler Erzählwerk vorkamen, sollen nun kurz einige Informationen zum 96 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Reclam, Stuttgart, 2000. Zu sehen im Faksimile der Handschrift des Sandmanns in E.T.A. Hoffmann, Sämtliche Werke in 6 Bänden, Band 3, hrsg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt am Main, 1985, S. 920. 98 Siehe bei Peter von Matt: Die Augen der Automaten. E.T.A. Hoffmanns Imaginationslehre als Prinzip seiner Erzählkunst, Niemeyer, Tübingen, 1971, S. 79. 97 51 besseren Verständnis vorausgeschickt werden. Ein wichtiger Punkt ist die Philosophie jener Zeit, die vom 18. zum 19. Jahrhundert einen Wandel durchgemacht hatte, und vom Cartesianischen Materialismus, über Kant allmählich dem Subjektivismus zusteuerte. Schließlich kam Fichte mit seinem „subjektiven Idealismus“ und mit ihm die Fragen und Probleme um den Solipsismus, den viele aus seinen Lehren zogen. Der Solipsismus als Resultat einer grenzenlosen Ich-Bezogenheit, also eine Krankheit des reflektierenden Ichs – diese Vorstellung erschreckte viele Menschen. Einer der wichtigsten und witzigsten Widersacher Fichtes damals war Jean Paul. Er hatte sich generell viel mit Philosophie und vor allem mit Fichte befasst. Er thematisierte und gestaltete den Solipsismus an der Figur Schoppes, bekannt aus dem „Titan“99. Auch Nathanael zeigt Symptome des Solipsismus. Diese sind bei Hoffmann zudem noch ‚psychologisch’ profiliert. Es ist also kein Zufall, dass Hoffmann den Solipsismus literarisch verwertet. Das Thema war schon lange nicht mehr exklusiv oder ausgefallen. Der zweite Punkt ist die aufkommende Disziplin der Psychiatrie bzw. Psychologie. In der Zeit um 1800 fingen die größeren Entwicklungen in dieser Disziplin an. Vor allem Dichter waren an diesen Entdeckungen interessiert und beteiligt. So auch Karl Philipp Moritz, der die Zeitschrift „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ (1783-1793) herausgab und darin das Thema des Wahnsinns regelmäßig aufs Papier brachte. Berichte und Fallstudien waren höchst beliebt damals. Hoffmanns Interesse an den ‚Irren’ und ihren Krankheiten, an deren Heilungsmethoden wie dem tierischen Magnetismus, Somnambulismus und anderen Phänomenen ist bekannt. Nicht zuletzt die Freundschaft mit Dr. Marcus100 hat ihm viel in dieser Hinsicht gebracht, doch am wichtigsten für den „Sandmann“ scheint der Aufsatz des französischen Arztes Philippe Pinel, „Traité médico – philosophique sur l´aliénation mentale ou la manie“ 1801, zu sein101. Der dritte Punkt, mit dem sich nicht nur die Gebildeten, sondern generell alle Menschen jener Zeit befassen mussten, waren die aufkommende Mechanisierung, Technologisierung und Industrialisierung mit all ihren Folgeerscheinungen. Ein untrügerisches Zeichen für diese Entwicklung ist die Maschine bzw. der Automat. In unserem Falle ist es die Androide Olimpia, die uns die fortgeschrittene Form des Automaten vor Augen führen soll. Hier schon 99 Jean Paul: Titan, Hanser, München, 1963. Siehe darin vor allem auch den komischen Anhang zum Titan, den „Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“, der in witziger und ironischer Weise die Wirren und den Wahn der Fichteschen Philosophie darstellt. 100 Siehe bei Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, Hanser, Frankfurt am Main, 1984, S. 219f. 101 Vgl. Günter Hartung: Anatomie des „Sandmanns“, in: Weimarer Beiträge 9, 1977, S. 56 und Ingrid Aichinger: E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ und ihre Interpretation Sigmund Freuds, in: Zeitschrift 52 so weit entwickelt, dass er (sie) gesellschaftlich bestehen kann. Hoffmanns Interesse an Automaten ist bekundet, sogar Pläne zum Bau eines eigenen sind erwähnt. Durch die Verbindung der Automaten mit Musik wurden sie für ihn noch attraktiver, er war zugleich fasziniert und erschrocken. Johann Christian Wieglebs „Natürliche Magie“ bot Hoffmann viel Inspiration und Wissen um die Automate102. Ein Charakteristikum der meisten Automaten damals war ihre Darstellung bei kulturell hochwertigen Arbeiten, so wie z.B. beim Musizieren (Vaucansons „Flötenspieler“) oder beim Schreiben oder beim Schachspielen (Baron von Kempelens „Schachspielender Türke“). Dieser beinahe erreichte Gleichstand mit dem Menschen – seine Nachahmung (Mimikri) – hat viele Personen damals erschrocken, was sich auf die Zahl der Maschinenfeinde auswirkte. Selbst der berühmteste Automatenbauer Jacques Vaucanson musste den Hass und die Gewalt der Menschen erfahren, als er im Amte des königlichen Aufsehers der frz. Seidenindustrie die Fertigung durch Modernisierungspläne in Form eines automatischen Webstuhls verbessern wollte. Die Reaktion der Arbeiter war ein Generalstreik und ein Angriff auf seine Person. Er musste sogar fliehen, und der von ihm erfundene Webstuhl kam nicht zum Einsatz103. Das Ausmaß der Bedrohung des Menschen und seiner Existenz ist an diesem Beispiel sehr gut ersichtlich. Die Reaktion ist ebenso heftig wie die aufkommende, jetzt erst bewusst gewordene Bedrohung durch die Technik und ihre Geschöpfe, die Automaten. Dabei ist das Automatenmotiv sehr viel älter. Es lässt sich, wie das Doppelgängermotiv, bis in die Anfänge der Literatur verfolgen. Damit sind die beiden Kernpunkte der Arbeit schon von Beginn an Bestandteil des literarischen Kanons, zugleich also schon längst bekannte und vertraute Phänomene. 3.4.3 Struktur und Motive des „Sandmanns“ Motivisch arbeitet Hoffmann im „Sandmann“ wie in seinen anderen Werken. Er gebraucht mehrere verschiedene Motive, die relativ oft und eindeutig vorkommen und auch verknüpft bzw. zu einer Motivlandschaft „geschichtet“ werden. Einige dieser Motive werden potenziert. Im „Sandmann“ wird auch die Sichtweise der Geschehnisse gedoppelt, indem Hoffmann zwei für deutsche Philologie 95, 1976, Sonderheft E.T.A. Hoffmann, S. 116 und Marion Bönnighausen: „Der Sandmann“, Oldenbourg, München, S. 13. 102 Vgl. Renate Böschenstein: Doppelgänger, Automate, serielle Figur, in: Androiden, Lang, Frankfurt am Main, 1997, S. 172. Originaltext: Johann Christian Wiegleb: Natürliche Magie, aus allerhand belustigenden und nützlichen Kunststücken bestehend. Berlin/Stettin, 1782ff. Über die aus diesem Buch angeregten Kinderspiele Hoffmanns berichtet sein Freund Hippel, zitiert in: E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Hrsg. von F. Schnapp, München, 1974, S. 21. 103 Mehr dazu bei: Alex Sutter: Vom spektakulären Objekt zum Produktionsmittel – Der Automat im 18. Jahrhundert am Beispiel des Werks von Jacques Vaucanson, in: Androiden, zur Poetologie der Automaten, Lang, Frankfurt am Main, 1997, S. 140f. 53 sich entgegengestellte Perspektiven und Erklärungen der Handlung liefert. Hoffmanns Weltbild war ohnehin dualistisch konzipiert und drückt sich in einer Teilung in Gut und Böse aus, also eine Art ‚Schwarz-Weiß-Malerei’. Prägend und sehr bedeutend für diese Erzählung ist die ‚Duplizität des Seins’. „Die »Duplizität« des menschlichen Daseins hat Hoffmann später in dem Zyklus »Die Serapions-Brüder« (1819 – 1821) als wechselseitige Bedingtheit von innerer Schau (Phantasie) und äußeren Gegebenheiten (Realität) zum künstlerischen Prinzip erhoben.“104 Am Beispiel Nathanaels wird gezeigt, wie es ausgehen kann, wenn man dem einen zu sehr verfällt. „Unter keinen Umständen durfte die Phantasie durch den Verstand verdrängt werden, mußte aber von ihm ‚beherrscht‘ sein (III, 127).“105 Das Rationale der Geschehnisse wird zumeist ‚psychologisch’ untermauert, während das scheinbar Irrationale mittels Verschleierungstechniken im Unklaren gelassen wird: „Der Autor selbst trägt offenbar wenig dazu bei, Handlung und Figuren auf Eindeutigkeit festzulegen; ganz im Gegenteil verstärkt das Verfahren eines multiperspektivischen Erzählens die Unsicherheit über den wirklichen Stand der Dinge.“106 Auch I. Aichinger stimmt damit überein: „Multiperspektivität und Ineinander von objektiver Wirklichkeit und subjektiver Innerlichkeit sind so Strukturelemente einer verrätselten Welt.“107 Die Lösung des Rätsels fällt wohl bei jedem anders aus. Die beiden entgegengesetzten Haltungen werden durch die beiden Hauptpersonen Nathanael und Clara repräsentiert. Während er der fühlende Enthusiast und Künstler ist, wird sie als rational denkendes, nüchternes Wesen beschrieben. Dadurch stehen sie in Opposition zueinander. Solch eine Kombination bedeutet immer einen unausweichlichen Konflikt, zu dem es in der Erzählung auch kommt. Hoffmann entscheidet sich für keines der beiden Prinzipe und überlässt es ganz dem Leser, sich mit einer Entscheidung abzuquälen. Der Leser soll durch eine aus sich heraus begonnene Reflexion des Gelesenen zu einem Schluss kommen. Einer der ersten war wohl Wolfgang Preisendanz, der auf die mehrperspektivische Struktur der Erzählung hinwies108. Die Gründe für einen solchen Aufbau liegen mit Sicherheit im Effekt der „Spannungssteigerung“109. Es gibt durchaus Beweise für eine solche Intention Hoffmanns, indem man die erste Fassung mit der zweiten vergleicht. Hoffmann musste bewusst geworden sein, dass der Text nur dann in seiner Wirkung aufgeht, wenn sich die beiden Seiten die Rudolf Drux: Nachwort des „Sandmanns“ der Reclam Ausgabe, Stuttgart, S. 66. Vgl. G. Hartung, S. 47. 106 Ebd. S. 64. 107 Von I. Aichinger, S. 117. 108 Wolfgang Preisendanz: „Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein“. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst, in: Festschrift für Jost Trier, Köln, 1964, S. 411f. 104 105 54 Waage halten. Jede Eindeutigkeit wäre damit schädlich für die Wirkung der Erzählung gewesen. „Die Zweideutigkeit der Hoffmannschen Erzählung beruht im wesentlichen auf der Gleichwertigkeit von Nathanaels und Claras Perspektive, bei denen der Leser zunächst nicht anders denn willkürlich zwischen Wahrheit und Irrtum entscheiden kann, weil nämlich beide kohärente und in sich widerspruchsfreie Deutungen des Geschehens anbieten.“110 So lässt sich auch die Streichung einer kürzeren Passage erklären, deren Inhalt die Blindheit und der baldige Tod Nathanaels jüngerer Schwester ist. Die Krankheit bricht angeblich durch eine Berührung Coppelius’ aus. Sie wird kurz darauf blind und stirbt an den Folgen der Berührung. In diesem Passus wäre mit der Figur Coppelius’ eine zu negative, böse und übernatürliche Komponente verbunden worden, deshalb lässt Hoffmann sie weg111. Alles, was in der ersten Fassung zu eindeutig war, wurde geändert. Das beweist, dass sich Hoffmann vor der Druckgabe damit auseinandersetzte. Wie J. Walter betont, liegt „das Unheimliche nicht im Erzählten, sondern ist Ergebnis eines spezifischen Erzählens, ist Wirkungsfunktion.“112 In dieser Hinsicht ist auch die Form sehr wichtig, denn der Erzähler fängt nicht selbst an, sondern er stellt uns drei Briefe an den Anfang, die uns subjektiv in das Geschehene einführen. Doch auch später, als der Erzähler berichtet, entzieht er sich an wichtigen Stellen einer Wertung oder eines klärenden Kommentars. Er zieht sich zurück und verschmilzt sogar teilweise in Passagen mit der Person Nathanaels. Alles ist beabsichtigt und „[d]ie Wirkung auf den Leser kann nur eine gespannte Ungeduld sein [...]“113. 3.4.4 Die Ich-Problematik am Beispiel Nathanaels Wie so viele seiner Werke, baute Hoffmann den „Sandmann“ auf einem Erkenntniszwiespalt zwischen Innen- und Außenwelt auf, den er als ‚Duplizität des Seins’ bezeichnet. Die ganze Erzählung ist davon geprägt. Im besten Falle sollte der Mensch eine ausgewogene Sicht der Dinge haben und nicht zu sehr ins Innere (Phantasie, Vorstellung) oder Äußerliche abrutschen. Dieses Strukturprinzip hat Hoffmann im „Sandmann“ auf zwei Personen verteilt, die jeweils nur für eine Seite stehen und diese verteidigen. Zunächst zu Nathanaels Sicht der Dinge. Aus dem Inhalt geht hervor, dass Nathanael ein Dichter ist und dass er ein empfindsames „kindisches Gemüt“ (S. 5, 6, 13) besitzt. Das wird an mehreren Stellen erwähnt. Dieser 109 These nach: Jürgen Walter: Das Unheimliche als Wirkungsfunktion. Eine rezeptionsästhetische Analyse von E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 30, 1984, S. 19. 110 Vgl. Stefan Diebeitz: Fernrohr und Sturz. Zur Wirkungsgeschichte von E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ bei Doderer und Jünger, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 2, 1994, S. 121. 111 Weitere Beispiele bei G. Hartung, S. 62f. 112 Vgl. J. Walter, S.23 55 Umstand macht ihn der Imagination und dem Phantastischen in der Welt empfänglich. Bei Daemmrich findet sich eine übereinstimmende Charakterisierung, was die Enthusiasten angeht: „Im Wesen des Künstlers tief begründet ist ein ‚kindlich, frommes Gemüt‘. […] Die ursprüngliche Veranlagung des Künstlers schließt somit eine außergewöhnlich starke Reizbarkeit und Visionsgabe ein, die Hoffmann im Werk symbolisch durch einen ‚Blick nach innen‘ andeutet.“114 Das heißt er kennt diese Welt schon, sie ist für ihn nichts Neues. Schon in seiner Kindheit, so wird berichtet, habe er einen Hang zum Phantastischen gehabt. Er neigt zur geistigen Schwärmerei und befindet sich dann zeitweilig „in einer ganz anderen Welt“ (S.31). Seit dem traumatischen Erlebnis seiner Kindheit hat er ein Wahrnehmungsproblem. Angeregt durch die Geschichte des Sandmanns, in der Version des Kindermädchens und durch die Vorkommnisse im Haus, formt er sich selbst ein noch diffuses inneres Bild vom Sandmann. Irgendwann hält er es dann nicht mehr aus und macht sich auf, das Mysterium zu lüften, welches ihn so sehr beschäftigt. Dabei ereignet sich das erste große Trauma seiner Kindheit, nach welchem er ihn Ohnmacht fällt. Diese Ohnmacht ist uns schon aus den „Elixieren“ bekannt. Sie ist ein Zeichen höchster psychischer Belastung und agiert als ein Schutzmechanismus vor dem drohenden Wahnsinn. Eines Abends schleicht sich Nathanael in das Zimmer seines Vaters, um zu sehen, wer der geheimnisvolle Sandmann ist. Dabei beobachtet er seinen Vater und einen anderen Mann (für ihn der Sandmann) bei einem alchemistischen Experiment; um es mit Kittler zu sagen, bei einer „Urszene“115, die als Produkt einen Homunkulus (künstlichen Menschen) hervorbringen soll. An diesem Abend sollen die Augen gemacht werden und Coppelius ruft dem Vater zu: „Augen her, Augen her!“ (S. 9), was Nathanael fälschlicherweise auf sich bezieht, dadurch gewaltig erschrickt und entdeckt wird. Gleichzeitig erkennt er jetzt, wer der rätselhafte Sandmann ist. Es „ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage ißt!“ (S. 7) Der Schrecken geht noch weiter, denn Coppelius will ihm die Augen nehmen, was der Vater gerade noch verhindern kann. Allerdings wird Nathanael bestraft und wie eine Puppe bzw. ein Automat behandelt: „Und damit faßte er [der Sandmann (Coppelius)] mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein.“ (S. 9) Später wacht er in den Armen der Mutter wieder gesund auf. 113 J. Walter, S. 25. Aus Horst S. Daemmrich: Zu E.T.A. Hoffmanns Bestimmung ästhetischer Fragen, in: Weimarer Beiträge 2, 1986, S. 641. 115 Aus Friedrich A. Kittler: „Das Phantom unseres Ichs“ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan, in: (Hrsg.) Friedrich A. Kittler und Horst Turk: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskussionskritik, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1977, S. 157. 114 56 Wie soll man diese Szene deuten? Ganz sicher ist eine Deutung dieser Stelle nicht einfach. Entweder man glaubt an das Geschilderte oder nicht. Gehen wir davon aus, dass es nicht möglich ist, so stellt sich die Frage, was denn dann geschehen ist. Diese Frage bleibt unbeantwortet. Gehen wir davon aus, dass es möglich ist, dann sind ‚überirdische Phänomene’ am Werk, bzw. ‚dunkle, geheimnisvolle Mächte’, die sich mit dem Schicksal Nathanaels befassen. Nathanael jedenfalls ist sich seiner Erlebnisse sicher. Selbst Jahre danach, ist ihm das Erlebnis noch gegenwärtig und schafft es, ihn in Aufregung zu versetzen. Diese Spaltung der Deutungen war eine ganz zentrale Autorintention der Erzählung116. Sie ist auf die Doppeldeutigkeit seiner Erlebnisse zurückzuführen, die an einigen anderen Stellen noch sichtbar sind. Reales und Phantastisches im Wechsel. Nathanael wird sein Leben lang von diesem Trauma gezeichnet bleiben und psychische Schäden davontragen. Die unerklärlichen Ereignisse seiner Kindheit öffnen ihn den phantastischen Dingen der Welt. Der harte Schlag kurze Zeit später, der durch den Tod des Vaters ausgelöst wird verschlimmert die Situation noch. Der Vater stirbt während eines weiteren alchemistischen Experiments, bei dem wohl auch Coppelius anwesend war. Coppelius verschwindet danach spurlos. Nathanael bleibt traumatisiert ohne einen Elternteil zurück. Seine Entwicklung führt vom ausgewogenen Weg ab ins Schwärmerische. Er flüchtet sich in die Welt der Kunst, der Literatur: „[…] Nathanael, der sich in Wissenschaft und Kunst kräftig und heiter bewegte.“ (S. 20), doch sein schweres Körpertrauma bleibt in seinem Inneren haften. Seine Entwicklung führt weg von der Realität des Philisters zum phantasievollen Enthusiasten. Dadurch wird das Gleichgewicht der ‚Duplizität’ empfindlich gestört. Das Eintreten des Wetterglashändlers Coppola bringt seine Welt wieder aus den Fugen. Er verliert allmählich den Rest seiner Bindung an die ‚reale Welt’. In der Gestalt Coppolas glaubt er den Vatermörder Coppelius zu erkennen, der ihm eine „feindliche Erscheinung“ (S. 11) ist. Zunächst ist alles ganz klar: er kommt erneut in sein Leben, es muss zum Kampf kommen. Nathanaels Sicht der Dinge gerät aber nach Claras Brief etwas ins Wanken. Sie bietet dem Leser, wie auch Nathanael, eine logisch einwandfreie, psychologisch-philosophische Erklärung der Geschehnisse. Zunächst behält Nathanael noch den Kontakt zum ‚Realen’ und die Einsicht in die ‚Duplizität’, die Hoffmann so wichtig war. Das lässt sich aus dem dritten Brief erschließen. Dennoch beschäftigt es ihn weiter, er bringt das Thema bei seinem Besuch bei Clara und Lothar zur Sprache. Eigentlich schwankt er zwischen den beiden Möglichkeiten. Schließlich kommt es deshalb zum Streit, und Nathanael verliert sich immer 116 Vgl. J. Walter, S. 16f. 57 mehr in ein „außer uns selbst liegendes höheres Prinzip“ (S. 21), wobei er ein Gedicht verfasst. Das Gedicht nimmt verschlüsselt etwas der folgenden Ereignisse voraus. Es scheint durch die Inspiration geschrieben worden zu sein, doch ohne die nötige Distanz, die der Dichter besitzen muss. Als Nathanael aus diesem höheren Zustand erwacht, weiß er selbst nicht, wie er das überhaupt dichten konnte. Das erinnert an die Prophezeiung Melücks, die sich später auch nicht daran erinnern kann. Die Symptome sprechen für einen erregten, vielleicht somnambulen Zustand. Hier wird sein Zwiespalt zwischen Innen und Außen wieder sichtbar. Als er das Gedicht endigte, fasste ihn Grausen und wildes Entsetzen und er schrie auf: „Wessen grauenvolle Stimme ist das?“ (S. 23) Seine Worte lassen darauf schließen, dass er mit sich nicht im Reinen ist: „Der Held der Erzählung wird ein »im Innern zerrissene[r]« Mensch genannt (II, 412); ihr Thema ist der Wahnsinn in jener schlimmen Form, wo das gespaltene Bewußtsein sich gegen das Leben selber kehrt.“117 Um es etwas entschärfter zu sagen, denn beim Selbstmord sind wir noch nicht: „Nathanael geht zugrunde, weil er die Augen für die Wirklichkeit verliert.“118 Nachdem er sein Gedicht Clara vorliest, kommt es zum Eklat. Sie möchte, dass er es wegwirft, worauf er heftig reagiert und sie einen „leblosen verdammten Automat“ (S. 24) schilt. Es kommt fast zum Duell zwischen Lothar und ihm, doch Clara kann es noch verhindern. Anhand des Gedichts kann man sehen, wie wichtig Nathanael seine Sichtweise ist. Er steht hinter seiner Meinung, genau wie Clara hinter ihrer, weil beide von der Richtigkeit ihrer Seite überzeugt sind. Der Name Clara ist irgendwie Programm, denn sie sieht ‚klar’119. Sie ist sachlich, registriert die Sachen auf die äußere Art und Weise, ja, beinahe wie eine Philisterin, welche sie aber dann doch nicht ist. Der Zwiespalt zwischen ihnen wird immer größer. Nathanael kehrt zurück in die Stadt und muss nach einem ‚zufälligen’ Brand in seiner Wohnung in eine neue ziehen, die genau gegenüber der Prof. Spalanzanis liegt. Dort sieht er Olimpia zum ersten Mal und bemerkt noch ihre Unbewegtheit und Steifheit, doch das ändert sich. Der unheimliche Coppola taucht erneut bei ihm auf und will ihm zunächst eine Brille verkaufen. Nathanael lehnt erst ab, kauft ihm aber ein Perspektiv ab, weil er jetzt der Meinung ist, dass Coppola doch nicht mit Coppelius identisch ist. Aus ‚Schuldgefühl’ oder Verlegenheit kauft er das Perspektiv. Damit wird er überrumpelt; in einem lichten, rationalen Moment überlistet ihn Coppola. Mit dem Perspektiv schaut er durchs Fenster und entdeckt Olimpia. 117 Vgl. G. Hartung, S. 51. Vgl. Wolfgang Nehring: E.T.A. Hoffmanns Erzählwerk: Ein Modell und seine Variationen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 95, Sonderheft für E.T.A. Hoffmann, 1976, S. 7. 118 58 „Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam und tot. Doch wie er immer schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch – schöne Olimpia betrachtend.“ (S. 27) „So ist im »Sandmann« das Fernrohr ein toter Gegenstand, der einen Automaten – Olimpia – den Anschein der Lebendigkeit verleiht.“120 Nathanaels Wahrnehmung wurde getrübt bzw. getäuscht. Von hier an ist es ein relativ schneller Prozess des Realitätsverlustes, der sich bei ihm abspielt. Er hat sich in Olimpia ‚verguckt’ und möchte sie so schnell wie möglich wiedersehen. Dazu erhält er kurz darauf Gelegenheit, bei Prof. Spalanzanis Fest zu Ehren seiner ‚Tochter’. Diese Zufälle deuten durchaus auf eine gewisse Vorbestimmtheit, die schon in den „Elixieren“ spürbar war. Während Olimpia ihm erst etwas statisch erscheint, wird sie durch den erneuten Blick durch das Perspektiv für ihn vollends zum Leben erwachen. Der Blick durch das Perspektiv belebt sie. Sie wird in dem Moment alles für ihn, nur mit ihr möchte er sein. Sogar ihre anfangs bemerkte körperliche Kälte überspielt und verdrängt er einfach. Ihre Kälte spürt er, als er sie bei der Hand fasst und zum Tanzen führen will. Tatsächlich tanzen die beiden. Diese Szene ist die Realisation eines Gesprächs aus den „Automaten“ (1814!), damals noch als undenkbar bzw. grauenvoll empfunden und als „Kampf gegen das geistige Prinzip“ (s.O.) geltend. Wie Nathanael es selbst sagt, wird Olimpia für ihn zum Spiegel, in dem sich sein „ganzes Sein spiegelt“ (S. 31). Eine Aussage Lothars aus dem zweiten Brief, scheint das zu belegen: „Es ist auch gewiß, fügt Lothar hinzu, da die dunkle psychische Macht, haben wir uns durch uns selbst ihr hingegeben, oft fremde Gestalten, die die Außenwelt uns in den Weg wirft, in unser Inneres hineinzieht, so daß wir selbst nur den Geist entzünden, der, wie wir in wunderlicher Täuschung glauben, aus jener Gestalt spricht. Es ist das Phantom unseres eigenen Ichs, dessen innige Verwandtschaft und dessen tiefe Einwirkung auf unser Gemüt uns in die Hölle wirft, oder uns in den Himmel verzückt.“ (S. 14) Damit „verliert er sich in einer exzentrischen Wahnwelt“121. Er verschreibt sich einer Passion, die seine Ich-Spaltung und seinen Wahnsinn steigert. Nathanael geht durch seinen Solipsismus zugrunde. Vertieft in sich selbst durch den Spiegel namens Olimpia. Er kommuniziert mit seinem Echo. „Er erbebte vor innerem Entzücken, wenn er bedachte, welch wunderbarer Zusammenklang sich in seinem und Olimpias Gemüt täglich mehr offenbare; denn es schien ihm, als habe Olimpia recht tief aus seinem Innern gesprochen, ja als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt.“ (S. 34) „Spiegelbild und Echo, in Olimpia durchdringen sich beide und besiegeln den Solipsismus 119 Vgl. Detlef Kremer: Romantik, Metzler, Stuttgart, 2001, S. 177 und J. Walter, S. 16. Vgl. S. Diebitz, S. 118. 121 D. Kremer: Romantische Metamorphosen. E.T.A. Hoffmanns Erzählungen, Metzler, Stuttgart, 1993, S.143 120 59 des gleichzeitig wahrnehmenden und verkennenden Subjekts.“122 Die ‚Duplizität’ wird völlig verkannt, das ‚Reale’ ist für ihn als solches nicht mehr erfahrbar. Sogar der gutgemeinte Rat seines Studienfreundes Siegmund bringt nun nichts mehr. Mehr noch, er beschimpft ihn und deutet an, er würde sogar mit jedem um Olimpia kämpfen. Gefangen in seinem Wahn denkt er sogar an eine Heirat, die er mit Olimpia vollziehen will. Als er deshalb zu ihr geht, kommt es zum nächsten Schock. Er muss mit ansehen wie Coppola und Spalanzani seine Geliebte zerstören. Ihm wird schlagartig bewusst, dass sie ein künstliches Wesen, ein Automat ist. Das lässt ihn verzweifeln. Von einem Moment zum anderen wird ihm gewaltsam bewusst gemacht, dass seine vermeintliche große Liebe nur eine tote Holzpuppe ist. Die Szene trägt Züge des Gedichts, in dem Claras brennende Augen in Nathanaels Brust schießen. Dass Olimpia, genau wie Nathanael in der ersten Urszene, wie ein Automat behandelt wird, ist eine Art variierter Wiederholung. Während Coppola fliehen kann, fällt Nathanael den Professor an. Schließlich endet er nach seinem Wahnsinnsanfall wieder in einer Ohnmacht. Wie unsicher sich Nathanael der Identität Coppolas ist, zeigt sich in dieser Szene sehr deutlich. Zunächst hört er beim Hereinkommen Coppelius’ Stimme auf der Treppe, doch als er das Zimmer betritt, erkennt er Coppola, nicht Coppelius. Als Krönung der Konfusion nennt ihn Spalanzani dann selbst wiederum Coppelius. Die Verwirrung ist komplett, akustisch vernimmt er eins, während er optisch wieder etwas anderes zu erkennen vermeint. Diese Symptome sind nach Reil dem partiellen Wahnsinn entsprechend123. Die Szene wirkt wie ein Déjà-vu der ersten Urszene, und da die Rollenverteilung ähnlich ist, verstärkt sich dieser Verdacht. Ohnehin könnte es beide Male derselbe Coppelius gewesen sein. Das ist nicht eindeutig zu klären. Als Nathanael wieder zu sich kommt, scheint er von seinem Wahnsinn geheilt. Es geht ihm augenblicklich gut, doch schon kurze Zeit später geschieht das Unausweichliche. Auf dem Rathausturm zieht Nathanael auf Claras Bemerkung hin - „Sieh dir doch den sonderbaren kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns los zu schreiten scheint“ (S. 39) - zufällig wieder Coppolas Perspektiv aus der Rocktasche. Er schaut hindurch und sieht damit Clara an. Die Reaktion ist wieder ein Wahnsinnsausbruch, denn er erkennt fälschlicherweise eine Puppe, einen Automat in ihr. Das ist das zweite Mal, dass er sie als Automat bezeichnet. Sein Realitätssinn wurde wieder durch das Perspektiv verzerrt. In seinem Wahn will er sie töten, wovon ihn Lothar gerade noch abhalten kann. Er selbst bleibt nicht verschont, denn er stürzt sich vom Turm und bleibt zerschmettert am Boden liegen. Diesmal rettet ihn keine Ohnmacht. 122 D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 184. 60 Der Solipsismus, sein innerer Wahn, der auch zum äußerlichen wurde, kostete ihn das Leben. Durch seine Unfähigkeit das Rationale, das Reale, in den Dingen zu sehen, bleibt ihm kein anderer Ausweg. Die Unmöglichkeit der Vereinigung der beiden Prinzipien der ‚Duplizität’ ist der wahre Grund seines Untergangs. Dadurch, dass die Szenen, in denen Nathanael in Wahnsinn gerät, vom Erzähler zunehmend aus Nathanaels Perspektive geschildert werden, nehmen wir seine subjektive Realität war. „Die resultierende Monoperspektive ist alles durchdringend und läßt in ihrer Ausschließlichkeit keine anderen Perspektiven mehr zu, die zu kennzeichnen wären.“124 Deshalb bildet er auch einen Affektwiderstand gegen psychologische Erklärungsversuche. Eine objektive Realität existiert nicht mehr, nur noch seine Sicht, seine Innenwelt. Für Nathanael sind diese „wahrgenommenen Ereignisse nicht phantastisch, sondern eben real.“125 Nathanael ist also, wenn wir Safranski folgen wollen, „monomythisch“ gefangen. „Monomythisch gefangen sind bei Hoffmann die Figuren, die entweder ganz im bürgerlichen Alltag oder ganz im Jenseits davon untergehen. Monomythisch verstrickt ist also der Registrator Heerbrand, der nur an der Geschichte seiner Amtskarriere teilnimmt und selbst im Traum nicht aufhört, verlorene Aktenstücke zu suchen; ist aber auch Anselmus, der von der Atlantis – Welt mit Haut und Haaren verschlungen wird.“126 3.4.5 Das Automatenmotiv Das Motiv des künstlich geschaffenen Menschen, wird im „Sandmann“ auf eine höchst eigenwillige Weise verwirklicht. Die Androide Olimpia ist keine gewöhnliche Holzpuppe, nein, sie führt gesellschaftlich anerkannte Tätigkeiten aus127. Sie singt, spielt den Flügel, tanzt und besucht mit Erfolg die örtlichen gesellschaftlichen Teezirkel. Allerdings alles, ohne dabei für einen Automaten gehalten zu werden. Mit dem Automatenmotiv werden noch andere Motive verknüpft, die dem Automaten zu mehr machen, als er eigentlich sein sollte. Dazu gehört das Verführungsmotiv, das sie zu einer „romantischen Venus“128 macht. „Hoffmann folgt, wie gesagt, einem romantischen Motiv, wenn er im Namen »Olimpia« auf das Bild der heidnischen Liebesgöttin der Antike anspielt: der kalte, aber klassische (d.h. olympische) Automat als Reduktionsform der in kühlen Marmor gebildeten Venus.“129 Ihre Kühle bleibt, ihr Material verändert sich. Fangen wir beim äußeren Erscheinungsbild an. Olimpia wird als ein hübsches Mädchen bezeichnet, ihr „wunderschön geformtes Gesicht“ (S. 27) war „bewundernswert“ (S. 29). Sie 123 Vgl. M. Bönnighausen, S. 28/29. Aus: I. Schröder: Das innere Bild und seine Gestaltung. Die Erzählung „Der Sandmann“ als Theorie und Praxis des Erzählens, in: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 9, 2001, S. 29. 125 I. Schröder, S. 30. 126 R. Safranski, S. 327. 127 Damit steht sie in einer Linie mit den berühmten Vaucansonschen Automaten und denen anderer Automatenbauer, die im 18. und 19. Jahrhundert bekannt waren. 128 D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 185 124 61 sieht also auf den ersten Blick völlig menschlich aus. Trotz des täuschenden Aussehens hat sie aber ihre Schwachpunkte. Diese liegen einerseits in den Augen, andererseits in Olimpias Beschaffenheit. Die Augen, das „Fenster des Seele“ (Hegel), erscheinen Nathanael beim ersten Hinsehen noch als „hatten ihre Augen etwas Starres, beinahe möchte ich sagen keine Sehkraft, es war mir so, als schliefe sie mit offnen Augen.“ (S. 16) Noch eine zeitlang wird das so bleiben; Nathanael bemerkt noch das ‚steife’ Benehmen der Olimpia, doch irgendwann verfällt er ihr, oder besser gesagt seinem Wahn. Wie kommt es dazu? Um dieses Problem zu lösen, greift Hoffmann in die romantische Trickkiste von Spiegeln und ähnlichen Apparaten, die eine ‚zauberhafte’ Wirkung haben. In unserem Falle ist es ein Taschenperspektiv. Nathanael kauft dieses dem schon bekannten Coppola ab, den er zuvor noch für den grässlichen Coppelius hält. Erst als er durch das Perspektiv schaut, beginnt Olimpia sich zum Leben zu verwandeln. Auffallend ist diese Tatsache, da Olimpia zuvor immer in einem statischen Zustand beschrieben wurde. Ab jetzt nicht mehr. Auf welche Art und Weise dieses Requisit funktioniert, wird nicht geklärt. Genau sowenig, ob es überhaupt an dem Perspektiv liegt. Hier treffen wir wieder auf die angenehme Zurückhaltung, in der sich der Erzähler befindet. Der Leser muss selbst bestimmen, was die Wahrheit ist, und aufgrund der äußeren Indizien und der jeweiligen Sichtweise entscheidet er sich für das eine oder andere. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass das Perspektiv eine verfälschende Wirkung auf Nathanaels Sichtweise hat. Weil die Funktionsweise nicht näher spezifiziert wird, werden nun die Auswirkungen behandelt. Beim ersten Blick durchs Perspektiv ging es folgendermaßen zu: „Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam und tot. Doch wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke. Nathanael lag wie festgezaubert im Fenster, immer fort und fort die himmlisch – schöne Olimpia betrachtend.“ (S. 27) Es bleibt nur eine Schlussfolgerung möglich: das Perspektiv ‚verzerrt’ Nathanael seinen Blick, es bewirkt eine schwere Verkehrung, indem es das Tote als lebendig darstellt – zumindest für Nathanael. „Denn Coppolas Glas führt nicht etwa zur Wahrheit, sondern direkt in den Wahn; das unbewaffnete Auge Nathanaels schließlich war blind gewesen für die trügerischen Reize der Puppe Olimpia.“130 Von einer solchen Annahme muss man ausgehen, da die Schlussszene einen weiteren Beleg dafür liefert. Dort zieht Nathanael „mechanisch“ (S. 38) Coppolas Perspektiv aus der Rocktasche, sieht zufällig Clara dadurch an und wird wieder wahnsinnig. Er beschimpft sie als „Holzpüppchen“ (S. 39), also als Automat. Sie 129 130 D. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 185. Vgl. S. Diebitz, S. 124. 62 erscheint ihm also tot, wieder eine ‚Verzerrung’ und Verkehrung seines Blicks. Vergleichend zum Motivkreis des Zauberspiegels ziehen wir noch einmal die Golem-Bella aus Arnims „Isabella“ heran. Natürlich unterscheiden sie sich in vielen Punkten, doch es gibt auch Ähnlichkeiten. Beide Geschöpfe sind künstlich hergestellt worden und beide erhalten durch Variationen von Zauberspiegeln ihre Lebendigkeit. Beide Figuren haben die Funktion einer Verführerin. Sie werden beide ihrer Rolle zeitweise gerecht, bis sie durchschaut bzw. zerstört werden. Beide besitzen Sprachgabe, zumindest zum Teil. Gemäß ihren Möglichkeiten ist diese Gabe beim Golem ausgeprägter. Durch ihre Erbauer können beide beeinflusst werden. Beim Golem war es „Hochmut, Wollust und Geiz, drei plumpe Verkörperungen geistiger, herrlicher Richtungen, wie alle Laster; […]“131, die der Jude ihr mit auf den Weg gab. Bei Olimpia ist alles reine Einstellungssache, sie besitzt keinerlei Vernunft, keine Gedanken und keinen Willen. Ihre Taten sind vorprogrammiert, genau wie ihr Gesang und überhaupt alles an ihr. Sie ist eigentlich nur ein Werkzeug, wie alle Automaten in Hoffmanns Werk. Durch diese Attribute wird man leicht an den Vaucansonschen „Flötenspieler“ erinnert, der in den „Automaten“ erwähnt wird. Die Nähe zu den zeitgenössischen Automaten ist unverkennbar. Jedoch die Anlagen Olimpias und Golem-Bellas als verschiedenartige Wesen macht weitere eindeutige Parallelen schwer. Zurück zu den Augen und ihrer Schwäche. Bei lichtem Verstand erkennt Nathanael das auch sofort. Das Auge ist, wie bereits erwähnt, als Motiv oder Metapher so oft vorkommend, dass es als Leitmotiv gelten kann. Das ist nicht nur romantischer Kanon, im „Sandmann“ sind die Augen in Anlehnung an Hegel durchaus charakterisierbar in ihrer Funktion und Wichtigkeit: „Fragen wir aber, in welchem besonderen Organe die ganze Seele erscheint, so werden wir sogleich das Auge angeben; denn in dem Auge konzentriert sich die Seele und sieht nicht nur dasselbe, sondern wird auch darin gesehen. Wie sich nun an der Oberfläche des menschlichen Körpers im Gegensatze des tierischen überall das pulsierende Herz zeigt, in demselben Sinne ist von der Kunst zu behaupten, daß sie jede Gestalt an allen Punkten der sichtbaren Oberfläche zum Auge verwandle, welches der Sitz der Seele ist, und den Geist zur Erscheinung bringt.“132 Der zweite verwundbare Punkt Olimpias, der sie verraten kann, liegt in ihrer Beschaffenheit. Sie ist eine Maschine und als solche unterliegt sie mechanischen und physikalischen Gesetzen. So erklärt sich auch ihre „rhythmische Festigkeit“ und ihr „abgemessener und steifer Schritt und Stellung“ (S. 30). Das kann sie nicht verbergen, und einem durchschnittlichen Studenten wie Siegmund fällt so etwas sofort auf, was Nathanael später ignoriert bzw. völlig fehlerhaft interpretiert. Ihre ‚mechanischen Signale’, welche sie aussendet, kann er nicht mehr dekodieren. Er verfällt ihr, doch eigentlich sich selbst, denn es 131 Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe, Reclam, Stuttgart, 2002, S. 76. 63 ist ja nur sein Echo, das er von ihr zurückerhält. Sie ist innerlich vollkommen leer, deshalb ist sie die perfekte Projektionsfläche für ihn. „[…] Olimpia is nothing more than sheer emptiness.“133 „And so Olimpia, the narcisstic projection of Nathanael’s ideal vision of love, emerges in “Der Sandmann” as a kind of sister soul of the hero, an erotically transfigured doppelganger who becomes the mirror image of the solipsistic poet (“nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder”), and whose imagined sensitivity and receptiveness (“O du herrliches, du tiefes Gemüt,” [357]) alone constitute qualities capable of plumbing the depths of the poetic soul.”134 Von ihr erfährt er keine Widerrede, keine Störungen, sie verwandelt sich in den besten Zuhörer, während er immer tiefer in seinen Wahn verfällt. Es sind gewiss narzisstische Töne, die hier anklingen, wenn er sich ständig selbst reden hört. Die Augen sind die Stelle, an der sich das Innere mit dem Äußeren berührt, sie haben eine ganz wichtige Funktion und sind deshalb so wertvoll in der Erzählung. Es zeigt sich, dass ihre Herstellung nicht leicht ist. Aus diesem Grund will sie Coppelius Nathanael auch nehmen. An Olimpias totem Blick erkennt man ihre unschätzbare Bedeutung. Olimpia ist innerlich tot, sie besitzt keine Seele oder Bewusstsein, deshalb strahlen ihre Augen auch keine Sehkraft, keine Lebendigkeit aus. „Denn durch das Auge kommt nicht nur die Außenwelt nach innen, sondern auch das Innere nach außen.“135 Die Augen können nicht lügen, außer man ist verzaubert oder unter andersartigem Einfluss. Die hohe Wertigkeit mag wohl auch der Grund sein für eine so massive Einsetzung des Motivs im Werk. Bevor das Augenmotiv beendet werden soll, nur noch ein Hinweis, der in dieser Hinsicht wichtig ist, nämlich die Namen Coppelius und Coppola. Ihnen liegt die italienische Wurzel *cop– zugrunde; italienisch coppo heißt „Becher, Schale“, im weiteren Sinne auch „Augenhöhle“, womit wir beim Augenmotiv wären. Coppela heißt „Schmelztiegel“ und erinnert an die nächtliche Laborszene. Die Namen haben also Bedeutung, deshalb weiter zu Spalanzani. Der Name war im 18. Jahrhundert bekannt, denn Lazzaro Spalanzani136 war ein Forscher, der sich u.a. mit künstlicher Befruchtung beschäftigte. Damit wären wir beim Thema des künstlichen Menschen. Spalanzani stellt mit Hilfe Coppolas neues Leben her. Auf künstliche Art und Weise, aber viel künstlicher als der Namensgeber Spalanzani. Spalanzani spielt Gott, indem er ein dem Menschen ähnliches Geschöpf herstellt. Olimpias Wirkung auf die Gesellschaft bleibt selbst nach ihrer Vernichtung bestehen. Bei den Menschen schleicht 132 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik I, hrsg. von Friedrich Bassenge, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1965, S. 203. 133 Aus: Allan J. McIntyre: Romantic Transcendence and the Robot in Heinrich von Kleist and E.T.A. Hoffmann, in: The Germanic Review 54, 1979, S. 31. 134 Aus: Thomas A. Kamla: E.T.A. Hoffmann’s „Der Sandmann“: The Narcisstic Poet as Romantic Solipsist, in: The German Quarterly 63, 1988, S. 95. 135 Vgl. G. Hartung, S. 63. 136 Vgl. Rudolf Drux: Erläuterungen zum „Sandmann“, S. 48. 64 sich Angst ein, deshalb verlangen jetzt viele Liebhaber, „daß die Geliebte etwas taktlos singe und tanze […]“ (S. 37). Olimpia verweist auf die Austauschbarkeit des Menschen und ist deshalb so gefürchtet. Sie ist nicht das, was sie zu sein scheint. Ihr trügerisches Äußeres lässt uns an bis dato bestehenden Erfahrungswerten zweifeln. 3.4.6 Das Doppelgängermotiv Als zweites zentrales Motiv des „Sandmanns“ ist noch das für unsere Untersuchung wichtigere Doppelgängermotiv zu nennen. Wie schon in dem kurz vorher beendigten Roman „Die Elixiere des Teufels“, verwendet Hoffmann das Motiv, um Konfusion und Spannung zu erzeugen. Die Werke unterscheiden sich aber im Punkte des Doppelgängermotivs erheblich. Im „Sandmann“ ist es nur peripher und nicht sehr ausführlich behandelt. Der Prozess der Herleitung des doppelgängerischen Verhältnisses verläuft zunächst aus der subjektiven Sicht Nathanaels, der im ersten Brief gleich alle drei Personen, die den Kern des Doppelgängermotivs ausmachen, in die Erzählung einführt. Ganz wichtig scheint auch die Tatsache, dass nicht, wie in den meisten anderen Erzählungen der Untersuchung, der Protagonist verdoppelt wird, sondern eine andere Figur. Dadurch eröffnen sich andere Möglichkeiten, die Hoffmann auch nutzt. Der junge Nathanael wird durch die Geschichte vom Sandmann angeregt und will schließlich entdecken, wer der Sandmann ist und was er abends mit seinem Vater macht. Die Geschichte des Kindermädchens hat für ihn realen Charakter. Als er entdeckt, dass der Advokat Coppelius der nächtliche Besucher ist, identifiziert er ihn als Sandmann. In seiner Phantasie ist er der böse Sandmann, der den Kindern Sand in die Augen streut. Im normalen Leben ist er ein Freund des Vaters. Seine Gestalt wird durchaus mit dämonischen Zügen beschrieben, jedoch mit „zeitgenössischrealistischen Zügen vermischt“137. „Denke Dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigen grauen Augenbrauen, unter denen ein paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogener Nase […]“ (S. 7) Die grünen Augen und die Habichtsnase sind relativ eindeutige Signale, auch das Grau der Augenbrauen und des Rocks deuten in Richtung eines verkappten Teufels, der in solch biedermeierlicher Verkleidung schon im „Schlemihl“ sein Unwesen trieb. Soweit Nathanaels Sicht, die, wie gesagt, nur eine in der Erzählung ist. Am Ende des Briefes wird erst der wahre Grund und Doppelgänger genannt. Nathanael bekam Besuch von einem Wetterglashändler namens Coppola, den er als den Advokaten Coppelius erkannt haben will. „Wenn ich Dir nun sage, mein herzlieber Freund! daß jener Wetterglashändler eben der verruchte Coppelius 137 Vgl. G. Hartung, S. 58f. 65 war, so wirst Du mir es nicht verargen, daß ich die feindliche Erscheinung als schweres Unheil bringend deute. Er war anders gekleidet, aber Coppelius’ Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt, als daß hier ein Irrtum möglich sein sollte.“ (S. 11) Aus dieser Passage erscheint die Sache für Nathanael eindeutig: es ist ein und dieselbe Person, somit kein Doppelgänger. Zumindest nicht für Nathanael, denn ihm kann er nicht vormachen er sei jemand anders. Doch diese Eindeutigkeit stellt Hoffmann geschickt in Zweifel, indem er Nathanael alles im Konjunktiv sagen lässt, was die Wirkung zumindest etwas abschwächt. Er darf schließlich nicht zu eindeutig werden, da noch Claras Sicht kommt und bestehen bleiben muss. Eines ist zumindest sicher, beide Personen – wenn es denn zwei verschiedene sind – treten als reale Personen auf und sind keine Einbildungen oder Trugbilder. Sie bestehen aus Fleisch und Blut. Zwischen den beiden werden bis zum Schluss einige Korrespondenzen hergestellt, so wie das Aussehen und die Namen. Es wird aber keine direkte Verbindung hergestellt, außer von Nathanael selbst. Als der Brief zu Ende ist, wird der Leser mit größter Wahrscheinlichkeit zu Nathanaels Sicht der Dinge tendieren und Coppelius mit Coppola gleichsetzten. Daran schließt sich Claras Brief an, der kürzer, aber nicht weniger eindeutig das Gegenteil von dem behauptet, was Nathanael denkt. Der Leser gerät ins Wanken, er fühlt sich seiner bisherigen Position nicht mehr sicher. Als im dritten Brief Nathanaels seine Einsicht schildert, er denke jetzt: „Übrigens ist es wohl gewiß, daß der Wetterglashändler Giuseppe Coppola keineswegs der alte Advokat Coppelius ist.“ (S. 16), ist die Position noch ungewisser. Es stehen sich zwei Erklärungen gegenüber, die beide akzeptabel erscheinen, aber total entgegengesetzt sind. Beim nächsten Zusammentreffen zwischen Coppola und Nathanael wird ein erster Berührungspunkt zwischen den vermeintlichen Doppelgängern sichtbar – (wieder) die Augen. Während Coppelius Nathanaels Augen nehmen wollte, ist Coppola darum bemüht, ihm eine Brille oder ein Perspektiv zu verkaufen. Bei beiden Personen ist stets starke Augenmetaphorik vorherrschend. Das verbindet sie auf eine gewisse Weise. Während Coppelius beim ersten Mal nicht Nathanaels Augen bekam, hat Coppola mehr Glück und schafft es, ihn später zu manipulieren. Er verkauft ihm das Perspektiv, welches ihm die Wirklichkeit verzerrt. Durch das Medium des Auges wird ihm etwas vorgegaukelt. Das Perspektiv als Apparat wirkt verstärkend, weil man während des Sehvorgangs ‚automatisch‘ immer ein Auge schließt. Die Folge ist, dass man alles um sich herum nur durch das Perspektiv wahrnimmt, der Rest wird ausgeblendet. Bei der nächsten Begegnung der beiden ist auch Spalanzani anwesend. Die Szene wird zur variierten Verdopplung des Jugendtraumas. 66 Die Doppelgänger sind hier auf jeden Fall negative Figuren, so wie das bei Arnim die künstlichen Menschen sind. Sie treiben die Handlung voran, sie manipulieren Nathanaels Familie und Nathanaels Leben. Ihre Kräfte, Fähigkeiten und ihr Wissen setzen sie zerstörerisch und manipulativ ein. Das Doppelgängermotiv entsteht nur, um noch größere Verwirrung zu stiften und das doppelte Erklärungspotential zu verstärken. Es ist nicht strukturbestimmend, sondern eher eine beiläufig realisierte Idee und Möglichkeit, die sich Hoffmann bot. 4. Clemens Brentano: Die Auflösung des Schreckens in der ironischen Potenzierung: „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“138 Clemens Brentano war mit dem Doppelgängermotiv, so wie die meisten Romantiker, ebenfalls gut vertraut, doch er hatte immer Skrupel und Angst, es wie Hoffmann in zu ernster und gefährdender Art einzusetzen. Nicht, dass er Hoffmann nicht schätzte oder mochte, aber dessen Weg konnte er nicht gehen. Die Angst schildert er auch in seinem leider nie abgeschickten Brief an Hoffmann139. Seine Verwendung findet jetzt keinen Platz mehr für übernatürliche Ursachen. Aus ganz anderen Gründen spielt er darauf an, denn er wendet das Motiv ins Parodistische und Ironische. Die angedeutete Ernsthaftigkeit verfliegt schnell wieder. Das Thema und das Motiv haben aber durchaus ernsthafte Züge im Hinblick auf die Kunst und die Kommerzialisierung der Kunst. Alles in allem wird uns hier eine menschliche, fast allzu menschliche Geschichte vorgetragen, dessen Doppelgänger aus dem wahren Leben stammen und deren Ziele nur auf Irdisches ausgerichtet sind. Bei Brentano gehört am wenigsten dazu, um einen Doppelgänger zu schaffen. Einfache Verkleidungen reichen meist aus. Das Plus, was er noch verwendet, hat andere Gründe. Ein Blick auf die Erzählung wird dies bestätigen. 4.1 Allgemein Die eigenwilligste, bunteste und lustigste Erzählung innerhalb dieser Untersuchung ist 138 Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Gesamtausgabe der Werke, Bd. 19, Erzählungen, hrsg. von Gerhard Kluge, Kohlhammer, Stuttgart, 1987. 139 Der erwähnte Brief ist nachzulesen in: E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel, gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp, Band II, Darmstadt, 1968, S. 82. „Was Sie geschrieben, hat mich mannichfaltig gefreut,[...] dann stellen Sie sich vor ich möchte die Lichter ausputzen meinen Schatten nicht zu sehen, die Spiegel verhängen, das Spiegelbild nicht zu erblicken, und dieser Schatten, dieses Spiegelbild von mir in Ihrem Buch hat mich darum oft geängstet, weswegen ich nicht begreifen kann, daß Sie das Ihre selbst drinn sehen und zeigen mochten.“ 67 Clemens Brentanos „phantastische Burleske“140, „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“. Die Erzählung, die wohl aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen den Jahren 1810 und 1817 entstanden ist, gehört zu den letzten weltlich ausgerichteten Arbeiten von Clemens Brentano. Dieser Umstand macht die Erzählung noch interessanter, denn ihr Inhalt steht offenbar nicht unter dem Einfluss der am 27. Februar 1817 abgelegten Generalbeichte, die einen inneren und äußeren Umbruch für ihn bedeutete. Weitestgehend stimme ich mit Hans-Jürgen Schrader überein, wenn er behauptet, „[...] der Dichter [hat] hier ein letztes Brillantfeuerwerk von höchster Farbigkeit und Vollkommenheit abgebrannt und dann letztwillig die Sprühkegel der Romantikkonzeption seiner Jugend ausgelöscht.“141 Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass die Erzählung in der Forschung relativ wenig Beachtung fand. Nur eine Handvoll Abhandlungen existieren überhaupt. Zu der Entstehung und all ihren Einzelheiten, den stofflichen Einflüssen und vielem mehr, gibt Gerhard Kluges Nachwort der historisch-kritischen Ausgabe reichlich Material. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden, da die Fülle der Zeugnisse einfach zu groß ist. Letztlich kommt es doch wieder auf den schon erwähnten Zeitraum zwischen 1810 – 1817 zurück. Wichtig war wohl der Einfluss den die Alt-Wiener Volkskomödie auf ihn gehabt hat. Auch das Doppelgängermotiv kommt dort vor (z.B. bei Schikaneders Stück „Der dumme Gärtner aus dem Gebirge oder die zween Anton“, 1789)142, und zwar, genau wie in der hier behandelten Erzählung, in einer eher humoristischen Verwendungsart. 4.2 Zur Forschung Die Geschichte offenbart eine Menge verschiedenster Motive und Elemente, die für die Romantik sehr spezifisch waren. Leider können nicht alle bearbeitet werden, da sie zumindest direkt nicht viel mit dem Doppelgängermotiv zu tun haben. Während Kluge in seiner Untersuchung überwiegend nur auf die inhaltliche und strukturelle Seite der Erzählung(-en) eingeht, spielt bei ihm noch die „unsichtbare, höhere Fügung“, die er auch als „Schicksal“ bezeichnet, eine bedeutende Rolle143. Mittels ihres Eingreifens endet die Geschichte glücklich, sie vermag, die entstandene Krise zu überwinden und den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, den der „Zufall“ hervorbrachte. Böhler liest die Geschichte aus ihrem zeitgenössischen Diskurs heraus und sieht in ihr die 140 Werner Hoffmann: Clemens Brentano. Leben und Werk. Bern / München, 1966, S. 289. Hans-Jürgen Schrader: Brentanos „Die mehreren Wehmüller“. Potenzieren und Logarithmisieren als Endspiel, in: Aurora 54, 1994, S. 119. 142 Siehe im Nachwort der Sämtlichen Werke von G. Kluge, S. 662. 143 Gerhard Kluge: Clemens Brentanos Erzählungen aus den Jahren 1810–1818. Beobachtungen zu ihrer Struktur und Thematik, in: Clemens Brentano. Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochschulstift, hrsg. von Detlev Lüders, Niemeyer, Tübingen, 1980, S. 131. 141 68 Kritik der aufkommenden Industrialisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Er betont die ausgeprägten aufklärerischen Tendenzen, die sich in der Erzählung finden. Die Deutung David B. Dickens’ konzentriert sich auf die Ironie und Parodie im Werk. Seiner Ansicht nach hat Brentano in dem Werk die romantische Ironie ironisiert. Gleichzeitig versucht er, eine gewisse Korrespondenz zwischen den „Wehmüllern“ und der Geschichte vom „Braven Kasperl und dem schönen Anerl“ herzustellen, die seines Erachtens zusammenhängend sind144. 4.3 Motivik und Aufbau Die Motivlandschaft ist durchdacht zusammengesetzt, um die erwünschte, größtenteils humoristische Wirkung zu erzielen. Dabei wirkt das ganze nicht aufgesetzt oder gekünstelt. Darin liegt mit Sicherheit eine der Stärken der Erzählung. Die Erzählung, dessen Name uns schon zwei der tragenden Motive erschließen lässt, ist aber keinesfalls nur auf den Doppelgänger begrenzt oder ausgerichtet. Vielmehr taucht Bekanntes auf, das wir schon bei Arnim sahen, so z.B. die „Zigeunerromantik“. Einen bleibenden Eindruck von Zigeunern hat Brentano bei seinem Aufenthalt in Bukowan erhalten, wo auch ein Teil der Erzählung entstanden sein könnte. Doch die Zigeuner sind ganz und gar nicht so, wie man sich das in der Romantik gerne vorstellte: „[...] die Zigeuner sind alle zum Galgen reif und gar nicht romantisch.“145 Weitere Parallelen sind im Aufbau zu beobachten. Brentano verwendet hier, ebenso wie Arnim, eine Konstruktion, die aus Rahmenerzählung und Binnengeschichte146 besteht. Jedoch bleibt es nicht, wie bei Arnims „Isabella“, nur bei einer Binnengeschichte, nein, Brentano potenziert diese und reiht gleich drei von ihnen in die Erzählung ein. Die Potenzierung ist eines der Merkmale der Erzählung, welches an vielen Stellen sichtbar wird147 und sie mitunter so interessant macht. Die Binnengeschichten werden jeweils immer in Ich-Form erzählt, sodass uns dadurch gleich ein mehrmaliger Perspektivenwechsel untergeschoben wird. Darin besteht eine Parallele zu Hoffmann, der ebenfalls multiperspektivisches Erzählen bevorzugte, was auch mit seinem ‚serapiontischen Prinzip’ im Einklang ist. Es sind alles ‚Erlebnisse’ aus den eigenen Leben der Ich-Erzähler. Dadurch wird die Plattform für deren Aussagekraft geschaffen, gleichzeitig David B. Dickens: Brentanos „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“. Ein Deutungsversuch, in: The Germanic Review 58/1, 1983, S. 12f. 145 Brief an Jacob und Wilhelm Grimm, vom 3. September 1810. 146 Vgl. G. Kluge, S. 105. 147 H.J. Schrader geht in seiner Untersuchung größtenteils auf das Begriffspaar der Potenzierung und Logarithmisierung ein. Dadurch beschränkt er sich zu sehr darauf und vernachlässigt andere ganz wichtige Elemente und Anklänge, die in der Erzählung vorkommen. 144 69 wird die Erzählung dadurch mehrfach subjektiv gebrochen148. Der Rahmen der Erzählung ist in ihrer Manier Boccacchios „Decamerone“ nachempfunden149. Eine Gesellschaft findet sich unter widrigen Umständen zusammen und vertreibt sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten. Die Ursache ist auch hier die Pest (wie im „Decamerone“), die in diesem Falle als Pest-Cordon Wehmüller, und später auch Devillier und Michaly, am Übergang in ein anderes Gebiet hindert. Die drei Binnengeschichten folgen nacheinander, wobei die dritte den Übergang zur Rahmenerzählung herstellt: mittels einer Unterbrechung durch Devillier, der die Geschichte dann aus seiner Perspektive weitererzählt und somit in die Erzählebene zurückschwenkt. Die „hermetische Abgeschlossenheit der Binnenhandlung“150 wird hier durchbrochen und die Rückkehr zur Rahmenhandlung erreicht. 4.4 Zum Text und zum Doppelgänger Wehmüller Die Handlung beginnt mit einer Nachricht von Wehmüllers Frau Tonerl. Sie schreibt ihrem Mann, er solle schnell zu ihr nach Stuhlweißenburg kommen, da er sonst zu spät kommen könnte, um einem ungarischen Grenadier- und Husarenregiment seine Bilder zu verkaufen, da das Regiment in Kürze ihren derzeitigen Standort verlässt. Wehmüller ist reisender Maler, der seine Porträts vorab malt, ohne die Gesichter und Menschen, denen er sie später verkauft, selbst jemals gesehen zu haben. Er denkt sich einige typische Gesichter aus, denen er „durch wenige Meisterstriche, einige persönliche Züge und Ehrennarben oder die Individualität des Schnurrbartes des Käufers unentgeldlich bei[fügt], für die Uniform aber, welche er immer ausgelassen hatte, mußte nach Maßgabe ihres Reichtums nachgezahlt werden.“ (S. 254) Diesmal hat er 39 ungarische Nationalgesichter gemalt und will mit diesen so schnell als möglich nach Stuhlweißenburg, um dort ein gutes Geschäft zu machen. Mit diesem Thema schneidet Brentano eine ganz empfindliche Stelle der Kunst an, nämlich ihre Kommerzialisierung151. Der Maler Wehmüller hat also durch einen beinahe automatisierten, modernen Herstellungsstil eine Marktlücke entdeckt, die ihm anscheinend ein vernünftiges Einkommen sichert. Im Winter hat er Zeit, die Porträts im Voraus zu malen, um sie in der schöneren Jahreszeit verkaufen zu können. Durch Verwendung von speziellen Mitteln trocknen seine Bilder schneller, womit er eine kürzere Wartezeit hat. Damit schöpft er 148 Vgl. G. Kluge, S. 105. In der deutschen Literatur gibt es ebenfalls prominente Beispiele für solche Konstruktionen, z.B. Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Da die vorliegende Erzählung aber eher komisch-ironisch ist, könnte es auch als eine Reaktion auf Goethe sein. Siehe bei Bettina Knauer, S. 103f. 150 Wolfgang Frühwald: Kindlers Literaturlexikon, Band 7, Darmstadt, 1972, Sp. 2307. 151 Vgl. Michael Böhler: Clemens Brentanos „Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter“. Kunst, Kommerz und Liebe im Modernisierungsprozeß, in: Aurora 54, 1994, S. 145f. 149 70 das Maximale aus seiner Zeit aus. Doch die Situation ist nicht optimal, denn er hat Konkurrenz, die sich in Person des Malers Froschhauer offenbart, der „von der entgegengesetzten Schule“ (S. 255) ist. Froschhauer malt nämlich zuerst die Uniformen, und für das Gesicht muss extra gezahlt werden. Der Unterschied, falls es denn überhaupt einen gibt, besteht ausschließlich darin, dass Wehmüller noch radikaler und individualitätsverachtender ans Werk geht als sein Konkurrent. Eigentlich ist es aber pure Ironie, die Brentano hiermit ausdrückt. Wehmüller konnte sich bisher nicht beklagen; durch die große Auswahl an vorgefertigten Bildern kann sich jeder sein Bildnis selbst aussuchen, „[...] wie einen Weck auf dem Laden [...]“ (S. 254), sodass sich niemand über Unähnlichkeiten beklagen kann. Es steht jedem frei, welches Porträt er sich aussucht und ob er eines kaufen möchte. Das Geschäft scheint zu laufen, er hat Erfolg. Dass ihm diese Einstellung zur Kunst und zur Individualität noch Ärger einbringt, wird sich zeigen. Wehmüller packt schnell seine Sachen und Porträts und beschließt, sofort nach Stuhlweißenburg aufzubrechen. Doch es stellt sich ihm ein Problem in den Weg, ein PestCordon versperrt den Weg zu seiner Frau und dem lockenden Geschäft. Mit dem Pest-Cordon taucht eine Grenze auf, die überschritten werden muss, um zu seinem Glück zu kommen. Sie stellt, nach Frühwald, eine Grenze zum verlorenen Paradies dar152. Diese Lesart ist durchaus gängig im Rahmen von Brentanos Prosa, die deutliche Anzeichen für solche Interpretationen liefert: die Sehnsucht nach dem goldenen Zeitalter, das wir verloren haben und wiederfinden müssen153. Auf Rat seines Freundes Lury soll er mit einem Bauern sprechen, der ihm mehr über den Cordon erzählen soll. Wehmüller tut dies und wundert sich nicht wenig, als ihn eben dieser Bauer wiedererkennen will und ihn beschuldigt, er würde ihm noch seinen Lohn schulden, für die er für die Überführung durch den Cordon von ihm bekommen sollte. Zu seiner Bestürzung zieht er als Beweis noch ein angebliches Bild von ihm hervor, auf welchem das Gesicht seiner Frau zu sehen ist. Das Doppelgängermotiv tritt hier also zum ersten Mal als Verwechslung auf. Wehmüller wehrt sich gegen den Vorwurf, beteuert, er könne es nicht gewesen sein. Der abergläubische kroatische Bauer ist verwirrt und hält Wehmüller für einen „Teufel“ (S. 257). Der hat aber ganz andere Sorgen, denn ihm fällt seine Frau ein, die ja in Stuhlweißenburg auf ihn wartet, dort, wohin der andere Wehmüller angeblich unterwegs ist. Er bricht sofort auf, will keine Zeit verlieren. Auf dem Weg zum Cordon wird er vom Grafen Giulowitsch eingeholt, der von dem Vorfall schon gehört hat und der ihn ein Stück auf seinem 152 W. Frühwald, Sp. 2307. Wolfgang Frühwald: Clemens Brentano, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. von Benno von Wiese, Schmidt, Berlin, 1983, S. 350. 153 71 „Wurstwagen“ (S. 257) mitnimmt. Er befragt ihn gleich nach den Umständen der Verwechslung und ob er nicht jemanden kenne, der so aussehe und male wie er. Ein erster Versuch, die Verwechslung bzw. die Doppelgängerei rational zu erklären. Wehmüller antwortet voreilig und behauptet, er kenne niemanden, der so aussieht und malt wie er. Was ihn aber noch mehr verunsichere sei das Bild seiner Frau, „[...] denn dadurch zeige sich eine Beziehung des falschen Wehmüllers auf seine Frau, welche ihm besonders fatal werden könnte.“ (S. 258) Hier wird auf eine geheime Beziehung oder höhere Macht angespielt, die man vor allem bei Hoffmann oft findet, doch Brentano lässt diese Andeutungen kurze Zeit später durch eine eindeutige rationalistische Erklärung als lächerlich erscheinen bzw. enttarnt sie als falsch. Diese Beziehung, auf die Brentano anspielt, existiert gar nicht, ja, sie wird noch jäh als absolut falsch und abwegig erkannt werden. Deshalb ist es eher eine ironische Verspottung des Schauerromantischen, was ihm gleichzeitig dazu diente, die Spannung zumindest etwas zu erhöhen. Eine tiefergehende Bearbeitung findet nicht statt. Schon in der Anfangspassage des Werks, also in der Rahmenerzählung, werden uns diese beiden gegensätzlichen Tendenzen vorgeführt. Auf der einen Seite steht der Aberglaube und die mit ihm verbundene Unaufgeklärtheit, auf der anderen die rationalstisch-aufklärerischen Tendenzen, die vor allem in Devilliers Rolle verkörpert wurde. Der Graf verunsichert den armen Wehmüller noch mehr, indem er seine eigene Theorie äußert, die besagt: „[...] der falsche Wehmüller sey wohl nur eine Strafe Gottes für den ächten Wehmüller, weil dieser alle Ungarn über einen Leisten male, so gäbe es jetzt auch mehrere Wehmüller über einen Leisten.“ (S. 258) Damit deutet der abergläubische Kroate den Vorfall als von höheren Mächten, von Gott bestimmt. Zugleich wäre es auch Kritik an ihm und seiner Einstellung zur Kunst und zum Geld. Es wäre also eine Strafe, die sich in einer Potenzierung manifestiert, die das Gegenteil von dem ist, was er selber durch seine Malerei macht; denn er vereinfacht alles, indem er alles über einen Leisten malt. Die Potenzierung hat aber dieselbe Wirkung wie seine Malerei, sie beraubt ihn seiner Individualität. Freilich nur für kurze Zeit und rein äußerlich, denn er zweifelt niemals an seiner Existenz oder Wahrnehmungsfähigkeit. Das unterscheidet ihn von den üblichen Doppelgängern. Der Grund dafür könnte in seiner Geschäftigkeit liegen, die das nicht zulässt. Er steht mit beiden Beinen fest im Leben, ist eigentlich selbstbewusst und so nicht anfällig für Identitätsprobleme und persönliche Krisen. Zudem gilt er eigentlich nicht als wahrer Künstler, sodass er die Prädispositionen dafür nicht mitbringt, wie das Hoffmanns Künstlerfiguren tun. Auf seinem Weg zum Pest-Cordon kommt er ins Grenzdorf. In der Dorfschenke wird er zum 72 zweiten Mal als der Maler Wehmüller erkannt. Erneut beteuert er, dass er es unmöglich sein konnte, denn er war niemals vorher hier, doch niemand glaubt ihm. Der Zwischenfall beunruhigt ihn und er gerät „[...] beinahe in Verzweiflung.“ (S. 259) Schnell verlässt er die Schenke und läuft in Richtung des Cordons, an welchem er auch ankommt. Dort wird er zum dritten Mal als Wehmüller erkannt, es läuft ihm „[...] eiskalt über den Rücken [...]“ (S. 260), als er dies vernimmt. Der Soldat behauptet, er hätte vor einigen Tagen schon hier passiert. Da wird Wehmüller klar, dass sein Nebenbuhler bzw. Doppelgänger schon in Stuhlweißenburg sein muss. Um das Missverständnis zu lösen, wird ein Chirurg gerufen, der ein Bild von Wehmüller bekommen haben soll. Der hat zunächst Angst vor dem zweiten Wehmüller und will nur getrennt durch ein Feuer aus Wachholderholz mit ihm sprechen. Eine typisch abergläubische Einstellung, wie die des Bauern, der ihn als Teufel bezeichnet hatte. Nach kurzem Plausch holt der Chirurg schließlich das Bild, welches er von dem ersten Wehmüller bekommen hat, und zeigt es Wehmüller. Der muss zugeben: „[...] er würde nie dies Bild von den seinigen unterscheiden können [...]“ (S. 260/261) Das zeugt von mangelnder Individualität, schlechter und profilloser Massenware, die ein halbwegs geschickter Maler locker nachahmen kann, und nicht auf eine Art geheimer oder gar telepathischer Beziehung zwischen den beiden, wie sich anschließend zeigt. Zu Wehmüllers Gunsten ändert sich die Situation, als der Chirurg behauptet, er habe dem ersten Wehmüller, für den er ihn halte, einen Zahn gezogen. Wehmüller zeigt ihm seine Zähne, und dadurch wird die Verwechslung endlich aufgeklärt. Durch eine rationale Erklärung, die sich auf eine medizinische Tatsache stützt, wird Wehmüller doch noch seine Individualität zugesprochen. Er bekommt sogar noch ein Attest vom Chirurgen, welches ihm bescheinigt, „[...] daß seine Person eine ganz andre sey, als die des ersten Wehmüllers [...]“ (S. 261). Dadurch wird klar, dass es sich bei dem anderen Wehmüller um einen Intriganten oder Hochstapler handelt. Jeglicher Schrecken und übernatürliche Einfluss wird dem Motiv damit genommen, doch das Interesse an der Identität des Hochstaplers bleibt bestehen. Wehmüller kümmert sich nicht weiter darum, er hat nur seine Frau im Kopf, er hat Angst, sie könnte vom anderen getäuscht werden und ihn für den ‚echten’ Wehmüller halten. Damit spielt Brentano auf die Doppelgängerkonstellation aus Plautus’ „Amphytrion“154 an. Dort erschleicht sich der Buhle, durch Annahme von Amphytrions Gestalt, eine Liebesnacht mit der Frau des kopierten Gatten. Die Übernahme einer der frühesten bekannten Dopplegängervarianten. Allerdings kommt es hier nicht zur Liebesnacht. Der Grundgedanke 154 Vgl. M. Böhler, S. 146 und H.J. Schrader, S. 138. 73 besteht allerdings. Trotz aller Überredungsversuche kommt Wehmüller nicht durch den Pest-Cordon. Der Chirurg schickt ihn in die Schenke zurück, aus der er ihn holen lassen will, sobald er ihn passieren lassen kann. Als er zur Dorfschenke kommt, sind dort schon etliche Personen versammelt, die sich gerade über die doppelten Wehmüller unterhalten. Zunächst erschrecken sie, als sie ihn wieder erblicken, und lassen ihn nicht in die Schenke herein. Als der Vizegespann, vom Lärm angelockt, hinzukommt, besticht ihn Wehmüller mit einem seiner Porträts, wenn er ihm dafür Einlass und ein Nachtquartier verschaffe. Deutlich kommt hier Wehmüllers Händlercharakter zum Vorschein. Drinnen wird derweil über ihn diskutiert und allerlei Theorien über ihn geäußert, immer passend zum Bild (Klischee) des nationalen Charakters des jeweiligen Redners. „Wehmüller holte seine Nationalgesichter aus der Blechbüchse und der Vizegespann hatte bald sein Portrait gefunden, versprach auch dem Maler ins Ohr: daß er ihm morgen über den Cordon helfen wolle, wenn er ihm heute Nacht noch eine Reihe Knöpfe mehr auf die Jacke male.“ (S. 264) Währenddessen ist die Mehrheit der Gesellschaft raus aus der Schenke zum Tanzen unter eine Linde gezogen. Nach kurzer Zeit entsteht ein Aufruhr, denn ein dritter Wehmüller soll eben draußen aufgetaucht sein. Es klärt sich aber sehr rasch auf, dass Devilliers sich nur wie Wehmüller verkleidete und so die arme Kammerjungfer Nanny genarrt hat. Daran zeigt sich eindeutig die humoristische, parodistische Seite der Erzählung, gleichzeitig führt uns Brentano dadurch vor, wie einfach es ist die Menge zu täuschen. Es genügen Mantel, Hut und Ofenrohr, um eine halbwegs akzeptable Verwechslung hervorzurufen. Darauf folgt die erste Binnengeschichte vom kroatischen Edelmann, der durchwegs namenlos bleibt. Es folgen noch zwei Binnengeschichten, die inhaltlich nicht viel mit dem Rahmen gemeinsam haben, dafür aber andere Parallelen besitzen. Sie haben viel Eigendynamik. Die Gesellschaft ist eine bunte Truppe, recht eigenwillig und deshalb erinnert das ganze etwas an Arnims „Isabella“, insbesondere an das Haus der Frau Nietken und die Kutschenfahrt des Alrauns, des Bärnhäupters, der alten Braka und des Golems. Die Binnengeschichten werden übersprungen, weil sie zur Thematik dieser Arbeit nichts Wesentliches beitragen. Nachdem die persönlichen Verhältnisse geklärt sind, haben sich Wehmüller, Devillier und Michaly entschlossen, mit dem Vizegespann morgen früh den Cordon zu überschreiten. Dort angekommen hören sie, dass die Pestkranken den Cordon stürmen, worauf der Vizegespann davonläuft. Die drei nutzen die Chance und wollen über den Cordon, als sie plötzlich von einem bewaffneten Reiter gestellt werden. Der Reiter ist Mitidika (Michalys Schwester und Devilliers ehemalige Geliebte), die sich ihnen zu erkennen 74 gibt und daraufhin auf Wehmüller losgeht und ihn beschimpft. Dadurch wird er zum vierten Mal verwechselt und gerät deshalb in Wut und Verzweiflung. Wehmüller behauptet weiterhin felsenfest, er sei der wahre Wehmüller. Mitidika geht und will ihrerseits den wahren Wehmüller holen. Währenddessen trifft der falsche Wehmüller auf den echten und es entsteht ein Kampf zwischen den beiden. Genau in dem Moment kommt noch der dritte Wehmüller mit Mitidika dazu. Jetzt haben wir drei Wehmüller in einem Raum. Eine dreifache Potenzierung, die sich aber bald ganz logisch auflöst, da sich Tonerl und Franz, also Frau und Herr Wehmüller, erkennen und in die Arme fallen. Tonerl hat sich nämlich zu ihrer Sicherheit die Kleidung ihres Mannes angezogen und sich so als Mann verkleidet, was erklärt, wieso sie für Wehmüller gehalten werden konnte. Ein Spezifikum des Textes ist die Kleidung, die, wie aus den Beispielen hervorgeht, ausreicht, um verwechselt zu werden. Das Gesicht ist dabei zweitrangig. Damit steht das ganze im Einklang mit den Porträts Wehmüllers, die ebenfalls das Gesicht als zweitrangig werten, die Uniform aber viel wichtiger einstufen. Bleibt noch zu klären, wer der Dritte ist, der sich als echter Wehmüller ausgibt und der dem echten überall einen Schritt voraus war. Nach kurzer Weigerung, seine wahre Identität preiszugeben, beichtet der Hochstapler unter Druck und gibt zu, der Maler Froschhauer aus Klagenfurt zu sein. In höchster Erzürnung verbietet Wehmüller ihm, ihn jemals wieder zu kopieren, weder in Aussehen, noch in seiner Malerei. Froschhauer verspricht es letztlich und das „Mißverständnis“ (S. 307) um den Pest-Cordon wird auch noch geklärt, indem der Vizegespann bekannt gibt, es wäre nur ein Fehler gewesen, der Cordon ist schon weiter gezogen. Die gesamte Gesellschaft zieht auf das Gut des Grafen Giulowitsch, um weitere Geschichten zu erzählen. Dabei wird die eigentliche Ursache für die Imitation Wehmüllers geklärt. Alles war nur wegen einer Wette entstanden, in der es um eine Braut und 25 Dukaten ging. Froschhauer sollte Wehmüller den Rang ablaufen, weil der als bekannter und erfolgreicher Porträtist gilt, weshalb Froschauer seine Bilder genau studiert hat und nun ganz in seiner Manier arbeite. Anschließend schlägt er ihm eine Zusammenarbeit vor, die Wehmüller nicht abschlagen kann, denn sie bringt ihnen offensichtlich nur Vorteile. Wehmüller ist bereit, ihm ein Attest auszuhändigen, welches ihn als ihm ebenbürtig auszeichnet und mit welchem er vielleicht sogar noch die Braut und die Dukaten bekommt. Selbst Tonerl freut sich, da sie damit eine mögliche Begleitung bekommen könnte, und sie nicht mehr so alleine bei ihren Reisen wäre. Damit löst sich alles in Wohlgefallen auf und Wehmüller vergrößert sein Geschäft, indem er sich mit Froschauer zusammenschließt. 75 4.5 Die Eigenheiten des Doppelgängermotivs In seiner Erzählung handhabt Brentano das Motiv in einer für die Romantik eher untypischen Weise155. Tieck, Arnim und Brentano verwenden es vorwiegend in der äußerlichen Form der Verwechslung oder der Lösung verwickelter Handlungen durch Identifizierung verschiedener Personen156. Der Doppelgänger weist zwar anfangs einige Merkmale auf, die durchaus für romantische Doppelgänger üblich sind, doch diese verlieren sich schnell wieder. Eigenartig und eigenwillig ist die Potenzierung des Doppelgängers. Nicht nur einer, nein, sogar bis zu drei verschiedene Doppelgänger scheint Wehmüller zeitweise zu haben. Diese Eigenart erklärt sich durch die ironisch-parodistische Intention des Motivs. Es wird z.T. maßlos übertrieben. Die potenzierten Wehmüller sind aber nicht von langer Dauer, jeder einzelne wird, sobald er in die Nähe des Originals kommt, sofort enttarnt. Wie schon erwähnt, verbindet Brentano mit seinen Doppelgängern, eine ganz alte Konstellation, die aus Plautus’ „Amphytrion“ bekannt ist. Diese Variation wird die Haupttriebfeder seines rasch erhofften Übertritts des Cordons, da Wehmüller große Angst hat, seine Frau könnte den Intriganten tatsächlich für ihn halten und einen Ehebruch begehen. Darin sieht man die Unsicherheit Wehmüllers in die Intelligenz und Wahrnehmungsfähigkeit seiner Frau. Das Doppelgängermotiv ist passend zu Wehmüllers Beruf und seinem Umgang mit der Kunst gewählt. Die abgesprochene Individualität, die er seinen Kunden entgegenbringt, kommt auf ihn zurück. Das zeigt sich ganz deutlich daran, dass er jedes Mal verwechselt wird, obwohl: „[...] der andre Wehmüller viel glatter und auch etwas fetter sey, ja daß sie Beide, wenn sie neben einander ständen, kaum verwechselt werden könnten[...]“ (S. 261). Wie schon an Devilliers Scherz deutlich wird, genügt es, sich passende Kleidung zu besorgen, um für seinen Doppelgänger bzw. für ihn gehalten zu werden. Die Ursache ist aber nicht etwa Gottes Rache, Schicksal oder Einwirkung einer höheren Macht, so wie es in den restlichen Dichtungen überwiegend der Fall ist. Das ist der markanteste Unterschied der Handhabung des Motivs. Hervorgerufen wird der Doppelgänger durch Wehmüllers geschäftlichen Erfolg, den er durch seine Idee und seine Art der Kunsthandhabung hat. Schließlich muss Froschhauer ihn imitieren, weil Wehmüller als ein anerkannter Maler und Geschäftsmann in der Gesellschaft angesehen wird. Dass Wehmüller dabei weniger virtuoser Künstler als Geschäftsmann ist, zeigt sich durch die relativ leichte Nachahmung seiner Bilder, die Froschhauer nach einiger Übung ganz wie der echte Wehmüller zu leisten vemag. 155 Vgl. D.B. Dickens, S. 14. Auch Böhler nennt Brentanos Umgang eher „atypisch“, S. 146. 76 Der Schluss, in welchem die Doppelgänger erstmals zusammentreffen, ist wieder in klassischer Doppelgängermanier. Größtenteils treffen sich die Doppelgänger erst am Schluss persönlich (oder zumindest noch einmal, falls sie sich vorher schon getroffen haben). Ein Beispiel wäre „Amphytrion“, aber auch Hoffmanns „Doppeltgänger“ folgt diesem Schema. Der Doppelgänger hat im Werk eigentlich eine reine Verwechslungsfunktion, die zwar für Verwirrung und allerlei Spekulationen gut ist, doch in keinster Weise auch nur annähernd in Richtung Ich-Problematik oder gar Ich-Spaltung führt. Ein ganz wesentlicher Grund ist die zahnmedizinische Untersuchung, die ziemlich zu Beginn der Erzählung (für den Leser) keinen Zweifel an der Individualität Wehmüllers aufkommen lässt. Die schrecklichen, grausamen, spukhaften Elemente des Doppelgängers, wie wir ihn bei Hoffmann präsentiert bekommen, gehen der Erzählung ganz ab. Das liegt schon im Ton und der Stimmungslage der Erzählung selbst, die in ihrer ironischen, witzigen, schnellen und bunten Stimmung ganz andere Ziele hat als ‚herkömmliche’ romantische Doppelgängerdichtungen. Der Doppelgänger ist eine Bedrohung im doppelten Sinne. Erstens in der Ehe und zweitens im Geschäft. Nicht so sehr für Wehmüllers Identität, daran zweifelt er nicht. Brentano lässt seinen Helden nicht über sich selbst reflektieren. Zwar wird reflektiert, aber vom restlichen Personal, oder dem Leser. Wehmüller hat nur im Sinne, so schnell wie möglich zu seiner Frau zu kommen und den möglichen entstandenen Schaden zu verhindern bzw. zu begrenzen. Damit zeigt Brentano eine ganz andere Seite, die durch das Doppelgängermotiv erzeugt werden kann. Es findet sich keinerlei philosophischer oder psychologischer Hintergrund zum Motiv. Brentano waren „alle philosophisch-spekulativen Systeme suspekt“157. Man darf aber nicht den Fehler machen, den Doppelgänger zu verharmlosen, denn harmlos ist er keinesfalls. Er bedeutet im finanziellen Sinne eine große Bedrohung, da er der Beweis ist, dass Wehmüller ersetzbar ist. Da er nicht an Ort und Stelle ist, kann der Doppelgänger das Geschäft machen. Was die Gefahr für seine Ehe betrifft, so erfährt man, dass es dafür keinen Anlass zur Sorge gab, doch Wehmüller war sich dessen nicht so sicher. Auch die Tatsache, dass der Cordon, der die ganze Aufregung und Abgrenzung verursachte, ein „Mißverständnis“ war, mildert in keinster Weise die Geschehnisse. Er zeigt nur noch eindeutiger, wie der Zufall das Potential besitzt, vieles zu bewirken. 156 Vgl. Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie, Internationaler psychoanalytischer Verlag, Leipzig/Wien/Zürich, 1925, S. 283. 157 H.J. Schrader, S. 120. 77 5. Der fehlende Doppelgänger: Adelbert von Chamisso: „Peter Schlehmihl’s wundersame Geschichte“158 Bei unserem letzten Fall der Doppelgängerdichtung betreten wir ein neues, bisher unbekanntes Gebiet dieser Dichtungsart. Vermutlich hatte Chamisso nicht direkt die Absicht, eine Doppelgängerdichtung zu schreiben, doch sein „Schlemihl“ wurde es dennoch. Der Schatten, in diesem Falle der verlorene Schatten, kann und muss in die Reihe der Doppelgänger gezählt werden, genau wie das mit dem Spiegelbild und dem Porträt der Fall ist. Die Eigenart hier ist das Fehlen159, ein Manko an Entsprechung (Doppelgängertum) also, welches Hoffmann später literarisch verarbeitet und in die „Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ und den „Abenteurn der Sylvester-Nacht“ einbaut. Damit ist diese Art der Doppelgängerdichtung eine invertierte Variante. Der Normalfall der Verdopplung gestaltet sich hier in einer Halbierung. Der Schatten, wie das Spiegelbild, sind feste Bestandteile eines jeden Menschen, sie verleihen ihm einen Anschein von Vollständigkeit. Der Schatten ist im Normalfall ein passiver Doppelgänger. Während ein Zwilling oder menschliche Doppelgänger körperlich unabhängig vom Original sind, ist es der Schatten oder auch das Spieglbild nicht. In unserem Falle wird diese Abstrahierung mittels phantastischer Mittel bewerkstelligt. Dieser Umstand, bringt uns der Arnimschen Phantastik näher, doch es vollzieht sich auch eine Ich-Problematik des Helden, sodass Chamisso auch in Hoffmanns Nähe gerät. Vielleicht ist die persönliche Krise im Leben der beiden ausschlaggebend für eine ernsthaftere Beschäftigung mit dem Ich. Chamisso hatte Probleme mit seiner Nationalität, Hoffmann hatte lange Zeit finanzielle Probleme. Beide waren existentiell bedroht. Die phantastischen Elemente zieht Chamisso aus Märchen und anderer Literatur, nur der Schattenverkauf ist seine Erfindung. Hoffmann dagegen zieht seine phantastisch anmutenden Szenen aus dem wissenschaftlichen Bereich, vor allem der Psychologie und der damals beliebten Disziplin des tierischen Magnetismus. 5.1 Allgemein Den letzten Abschnitt dieser Arbeit möchte ich mit einem ungewöhnlichen Fall zur Doppelgänger- und Ich-Thematik abschließen, nämlich mit Adelbert von Chamissos Alle Zitate (in Klammern) folgen der Ausgabe: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte, hrsg. von Joseph Kiermeier – Debre, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1999. 159 Die Form und Gestaltung des Doppelgängers ist hier also grundlegend anders. Seine Funktion ist ebenfalls eine andere als bisher gesehen. Er stellt nicht das Unbewusste (Viktorin) o.ä. dar. Deshalb ist er auch so vielfach und verschieden gedeutet worden. 158 78 Novellenmärchen160 „Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte“ (1813). Die Geschichte besitzt in der Literaturwissenschaft eine Ausnahmestellung, weil ihr Hauptmotiv, der verlorene bzw. der verkaufte Schatten, hier zum ersten Mal in dieser Form literarisch verwirklicht wurde161. Damit ist Chamisso der Begründer dieses Motivs in seiner uns heute bekannten Form. Aus diesem Grunde lassen sich auch nur begrenzt Quellen und Einflüsse feststellen. In der Untersuchung bildet die Geschichte ebenfalls eine Ausnahme, weil das Doppelgängermotiv in Form des Schattens präsentiert wird, bzw. hier eben nicht präsentiert wird – da er ja fehlt. Der Held leidet unter einem Mangel an Schatten. Obwohl es auch anders lautende Meinungen gibt162, wird der „Schlemihl“ hier zu den Doppelgängerdichtungen gezählt. Der Schatten verweist auf ein Subjekt, denn er existiert nur durch, und mit ihm. Chamisso verändert diese Vorstellung. Die durchaus materielle Handhabung des Schattens in der Geschichte deutet schon auf das hin. Die auf den Schattenverlust folgende persönliche Krise, die der Held durchlebt, weist ebenfalls in eine ernsthafte Richtung. Die Krise wird zwar nicht allzu psychologisch oder gar philosophisch untermalt, doch sie ist vorhanden. Diese Krise näher am Text zu untersuchen, wird Ziel sein, neben der Frage, was denn der Schatten symbolisieren soll (falls er überhaupt etwas symbolisieren soll). Am wichtigsten wird es sein herauszufinden, welche Funktion sein Verlust hat. 5.2 Einflüsse Zu den Einflüssen der Entstehung, gibt es nicht allzu viel zu sagen. Literarisch gab es kaum ähnliche Stoffe, die Chamisso nachgewiesen werden können. Höchstens die Geschichte um „Des Esels Schatten“ wäre hier zu registrieren, die eine Schattenthematik beinhaltet, den Schatten aber noch nicht von seinem Urheber abstrahieren kann163. Es ist aber eher davon auszugehen, dass ein Gespräch zwischen Chamisso und Fouqué der Auslöser für die Entstehung des „Schlemihl“ war: „Wenn ich selber eine Absicht gehabt habe, glaube ich es dem Dinge nachher anzusehen, es wird dürr, es wird nicht leben, - und es ist, meine ich, nur das Leben, was wieder das Leben ergreifen kann. [...] Der Schlemihl ist auch nicht anders entstanden. Ich hatte auf einer Reise Hut, Mantelsack, Handschuhe, Schnupftuch und mein ganzes bewegliches Gut verloren; Fouqué frug: ob ich nicht auch meinen Schatten verloren habe? Und wir malten uns das Unglück aus. Ein andrer Mal ward in einem Buche von Lafontaine [...] geblättert, wo ein sehr gefälliger Mann in einer Gesellschaft allerlei aus der Tasche zog, was eben gefordert wurde – ich meinte, wenn man dem Kerl ein gut Wort gebe, zöge er noch Pferd´ und Wagen aus 160 Zur Gattungsfrage an späterer Stelle noch etwas ausführlicher. Es gab auch schon vorher den Schatten als Thema oder gar Motiv in der Literatur, aber niemals wurde dieser Schatten als abstrahierbar gesehen. Chamisso hat also weiter gedacht und ihn mit dem Motiv des Verkaufs verbunden. Wie weit er gegangen ist, zeigt sich noch im Verlauf der Analyse. 162 Vgl. Gero von Wilpert: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs, Kröner, Stuttgart, 1978, S. 32. 163 Vgl. G. von Wilpert, S. 25. 161 79 der Tasche. Nun war der Schlemihl fertig und wie ich einmal auf dem Lande Langeweile und Muße genug hatte, fing ich an zu schreiben.“164 Obwohl diese Aussage fast 20 Jahre später gemacht wurde, braucht ihr Wahrheitsgehalt nicht angezweifelt werden, da sie sich mit noch zwei anderen Quellen deckt. Aus drei verschiedenen Briefen geht dies klar hervor. Wenn auch jeweils verschiedene Versionen des Gesprächs auffallen, so bleibt das Motiv des Schattenverlusts doch überall gleich165. Der Anstoß war ganz klar das Gespräch zwischen den beiden. Dort taucht das Thema zum ersten Mal wissentlich und nachweisbar auf. Dass sich Chamisso gründlich mit dem Schattenverlust und dem Phänomen des Schattens auseinandergesetzt hat, zeigt sich an der konsequenten Durchführung der Geschichte. Desweiteren beschäftigte Chamisso sich auch mit dem Doppelgängermotiv, wie sein zu spät gekommenes Kapitel zu „Den Versuchen und Hindernissen Karls“ beweist. Erst seit seiner Geschichte gibt es literarisch den doppelgängerischen Schatten. Im Aberglauben verschiedendster Kulturen hatte der Schatten schon viel früher eine vergleichbare Bedeutung. 5.3 Entstehungszeit Der Zeitpunkt der Entstehung ist ebenfalls interessant. Im Jahre 1813, zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon, schreibt Chamisso die Geschichte. Bei Chamisso entsteht vor großen Ereignissen fast immer ein Werk166. Für den französischstämmigen Chamisso war das eine sehr schwere Zeit. Der innerlich ‚zerrissene’ wollte sogar selbst in den Krieg ziehen und gegen Frankreich und sein Volk kämpfen, doch er wird von Freunden davon abgehalten und nach Kunersdorf bei Berlin geschickt, wo der „Schlemihl“ entsteht. Der eindeutige Einschlag autobiographischer Fakten, der sich in der Geschichte feststellen lässt, hatte eine autobiografische Deutung zur Folge, die den Peter der Geschichte dem Dichter Adelbert von Chamisso gleichsetzte. Dadurch wurde Peter zu Chamissos Doppelgänger gemacht, was er aber keinesfalls ist. Von so einer Interpretation ist aufs Eindringlichste abzuraten; sie besitzen vielleicht Gemeinsamkeiten, doch sind sie nicht gleich und schon gar nicht ein und dieselbe Person. 5.4 Bisherige Deutungen Die Problematik der Deutung des Schattens, wird mit einem kurzen Blick auf die bisherigen 164 Brief vom 11. 4. 1829. In: Julius Eduard Hitzig: Leben und Briefe von Adelbert von Chamisso. (5. Und 6. Bd. Von Chamissos Werken. Leipzig 1836.) 5., verm. Auflage. Berlin 1864. Bd. 6., S. 114f. 165 Vgl. G. von Wilpert, S. 29 166 Vgl. Norbert Miller: Chamissos Schweigen und die Krise der Berliner Romantik, in: Aurora 39, 1979, S. 115. 80 Forschungsergebnisse deutlich. Seit der Erstausgabe der Geschichte hat der Schatten sehr verschiedene Deutungen erfahren. Diese hängen erheblich mit dem jeweiligen Zeitgeist der Forscher zusammen. Deshalb schließe ich mich von Wilpert an, wenn er meint, „[e]s sei schon hier darauf hingewiesen, daß die Deutungsgeschichte des Schattens starke Affinität zur Geistesgeschichte aufweist, indem die Werte, die für den Schatten eingesetzt werden, sich stets mit den Werthaltungen der jeweiligen Gesellschaft berühren, […]“167. Neben der Deutung des Schattens war die Gattungsfrage offenbar das zweitwichtigste Thema der Forschung. Diese Frage soll uns nur ganz peripher interessieren. „Wie schon im »Peter Schlemihl« fordern die besten seiner Stücke den Verstand zu einer Sinnsuche heraus und entziehen sich ihm zur gleichen Zeit.“168 Das Hauptproblem des „Schlemihl“ scheint mir die Suche nach einer konkreten Entsprechung für den Schatten zu sein. Der Schatten wurde in der Forschung entweder allegorisch oder symbolisch verstanden und dadurch entweder sehr speziell oder sehr allgemein gehalten. Er wurde als „Beglaubigung voller Wirklichkeit“169 oder als „Volkstum, Bekenntnis, Familie, Rang, Stand, Beziehungen, Ruf und Name“170 gesehen. Thomas Mann sah in ihm das „Symbol aller bürgerlichen Solidität und menschlichen Zugehörigkeit“171, während H. J. Weigand ihn mehr als ein Symbol für bürgerliche Scheinwerte sieht. Dergleichen Deutungen, die sich auf etwas mehr oder weniger bestimmtes festlegen, gibt es viele. Das war nur ein kurzer Auszug der wichtigsten Erkenntnisse. Wie dem auch sei, für unser Ziel ist eine konkrete Entsprechung des Schattens irrelevant, weil er einfach zu vieles sein kann, aber eben auch nur das, was er ist – ein Schatten. Seine Abwesenheitswirkung scheint doch das Ausschlaggebende zu sein. Um es mit den Worten J. Kiermeier-Debres zu sagen, die Geschichte: „[…] belegt erneut eindrucksvoll die von allem Anfang an fesselnde Unausdeutbarkeit von Chamissos Erzählung insbesondere ihres Zentralmotivs, des verlorenen Schattens.“172 Die neuere Forschung schließt sich dieser Tendenz an. 167 Aus G. von Wilpert, S. 32. N. Miller, S. 119. 169 Vgl. H. A. Korff: Geist der Goethezeit, Versuch einer ideellen Entwicklung der klassizistisch-romantischen Literaturgeschichte, Amelang, Leipzig, 1956, S. 349. 170 Vgl. Josef Nadler: Die Berliner Romantik 1800–1814, Ein Beitrag zur gemeinvölkischen Frage: Renaissance, Romantik, Restauration, Reiß, Berlin, 1921, S. 122. 171 Vgl. T. Mann: Chamisso, in: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Band 9, Reden und Aufsätze, Fischer, Frankfurt, 1960, S. 55. 172 Aus dem Nachwort zu Adelbert von Chamisso „Peter Schlemihl´s wundersame Geschichte“, hrsg, von Joseph Kiermeier-Debre, DTV, München, 1999, S. 128. 168 81 5.5 Aufbau Kommen wir zum Text und seinem Aufbau. Auffällig ist die Form der Geschichte, denn sie ist in Form eines verkappten Briefes geschrieben. Das ähnelt dem Aufbau der „Elixiere des Teufels“ und dem Anfang des „Sandmanns“, wo ebenfalls in der ersten Person (schriftlich) berichtet wird. Diese Methode eignet sich gut, um innere Prozesse darzustellen und um eine stärkere Identifikation des Lesers mit dem Helden zu erreichen. Der gesamte Erzählton, wie auch die Vorgehensweise der Handlung, fallen sehr nüchtern aus. Man ist fast gewillt zu sagen: extrem rationalistisch. Darin besteht sicherlich ein Grund für die Streitigkeiten in der Gattungsfrage173. Durch den auffallenden Zwiespalt der märchenhaften und der realistischen Züge wird der Leser etwas verunsichert, doch nur, weil die wunderbaren, phantastischen Dinge und Ereignisse von den Personen im Text nicht als wunderbar angesehen werden. Der überwiegende Teil der Handlung ist sehr realistisch gestaltet, nur die Märchenmotive, die im Text vorkommen, verströmen den Duft von Exotik. Doch nicht bei den Gestalten der Geschichte (außer Peter), diese nehmen alles sehr selbstverständlich hin. „Die märchenhaften Utensilien werden also insgesamt einfach als noch nicht erforschte, aber dem Bereich der Empirie und ihren Gesetzen unterstellte Phänomene betrachtet.“174 Für Peter, dem das alles als einzigem merkwürdig vorkommt, ist alles Neuland, das untersucht werden muss. Das beweist sein wissenschaftlicher Umgang mit der Schattenlosigkeit. „Das Phantastische wird bis hinein in die eigenste Substanz modifiziert und so – nicht wie etwa bei E.T.A. Hoffmann ein Parallelismus von Phantasie- und Wirklichkeitswelt, - sondern ein Übergewicht der Wirklichkeit geschaffen […]“175. Die Konfusion, die diese relativ kurze Erzählung seit ihrer Veröffentlichung verbreitet hat, ist bemerkenswert, deshalb sei ebenfalls darauf hingewiesen, dass der Text sich einer einzigen Deutungsweise geschickt entzieht176. Darin liegt wohl sein Reiz, den er bis heute behalten hat. „Die Suche nach einer eindeutigen Entsprechung für den verlorenen Schatten kann der 173 Um es nicht ausführlich zu formulieren, nenne ich nur einige der zur Diskussion stehenden Begriffe für die Geschichte: Märchen, Kindermärchen, romantisches Märchen, allegorisches Märchen, Kunstmärchen, romantisch-allegorische Stimmungsnovelle, Novellen-Märchen, Märchennovelle und phantastisches Märchen. Vgl. bei Franz Schulz: Die erzählerische Funktion des Motivs vom verlorenen Schatten in Chamissos „Peter Schlemihl“, in: The German Quarterly 45, 1972, S. 429; Benno von Wiese: Die deutsche Novelle. Von Goethe bis Kafka, Band 1, Bagel, Düsseldorf, 1956, S. 97 und Dagmar Walach: Adelbert von Chamisso: „Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814)“, in: Romane und Erzählungen der Romantik, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Reclam, Stuttgart, 1981, S. 286f. 174 Ernst Fedor Hoffmann: Spiegelbild und Schatten. Zur Behandlung ähnlicher Motive bei Brentano, Hoffmann und Chamisso, in: Lebendige Form, Fink, München, 1970, S. 184. 175 Ernst Loeb: Symbol und Wirklichkeit des Schattens in Chamissos „Peter Schlemihl“, in: GermanischRomanische Monatsschrift, Neue Folge, Band 15, 1965, Winter, Heidelberg, S. 401. 176 Eine Parallele zu Hoffmanns „Sandmann“. 82 Vielschichtigkeit des Motivs nicht gerecht werden.“177 Im Schatten eine konkrete Entsprechung zu suchen, hat Chamisso selbst abgelehnt und sich „über diese ‚kuriosen Hypothesen’ mokiert“178. Dass der „Peter Schlemihl“ eine Doppelgängerdichtung ist, wird sich noch zeigen, obwohl die Geschichte auf den ersten Blick durch keinen realen, körperlichen Doppelgänger gekennzeichnet ist – so wie das in den restlichen Texten dieser Arbeit der Fall ist. Seine Zugehörigkeit zu diesem Phänomen besteht dennoch, zumal die IchProblematik einen Großteil der Handlung ausmacht, wie bei fast allen Doppelgängergeschichten. Und um diese geht es uns schließlich auch. 5.6 Interpretation Peter kommt nach einer langen Seereise ans Land. Mit einem Empfehlungsschreiben hofft er, bei einem Herrn Thomas John Hilfe „bei [s]einen bescheidenen Hoffnungen“ (S. 13) zu bekommen. Er findet Herrn John inmitten einer illustren Gesellschaft, die sich mit allerlei Dingen den Tag verkürzt. Erstes Thema, welches zur Sprache kommt, ist das Geld. Aus dem kurzen Gespräch werden gleich zwei Dinge klar. Zunächst der zynische und überhebliche Umgang des Herrn John mit Geld und Peters Affinität zum selben. „»Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million« warf er hinein, »der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft!« »O wie wahr!« rief ich aus mit vollem überströmenden Gefühl.“ (S. 14) Geld ist also für beide eine wichtige Motivation, für Peter noch mehr, weil er momentan keines besitzt. Noch etwas fällt auf, nämlich dass er in die Gesellschaft eigentlich gar nicht hineinpasst. Er unterscheidet sich von ihnen, deshalb verkauft er später auch den Schatten, weil er ihm nichtig ist, während die Gesellschaft sehr großen Wert auf ihn legt. Die Probleme, die Peter bekommt, entstehen aus der Diskrepanz seiner Wertvorstellungen und denen der restlichen Welt. Dass Peter eigentlich der Gesellschaft (der Welt) fremd ist, zeigt schon die Eingangsszene. Ohne Geld und Ansehen ist er ein Nichts in der Gesellschaft, das wird ihm schnell klar. Peter fällt sofort der graue Mann auf, der nach und nach verschiedene Dinge aus seiner Rocktasche hervorzieht und zur Belustigung der Gesellschaft herumreicht. Das Wunderbare der Geschichte fängt eigentlich mit dem Fernrohr an, welches der Graue aus seiner Tasche zieht und welches eigentlich viel zu groß für diese ist. Die Tatsache fällt Peter gleich auf. Die weiteren Dinge, die der Graue noch aus der Tasche hervorzieht, dienen eigentlich nur der Ausschmückung der Szene. An dieser Stelle ist die Verwirrung und Anspannung Peters besonders deutlich zu sehen. Er gerät von Verwunderung in Betroffenheit, 177 E.F. Hoffmann, S. 429. 83 Furcht, Schauer und letztlich erschrickt er sogar vor dem Grauen, als er sieht, was er alles aus seinem Rock hervorzieht. Die ganze Szenerie ist ihm anscheinend als einzigem unbegreiflich. Die restliche Gesellschaft sieht nichts Ungewöhnliches darin, sie nehmen es einfach so hin. Nicht ein Kommentar fällt dazu! Ein deutliches Anzeichen für die Diskrepanz zwischen ihm und der restlichen Welt. Aus Verlegenheit und Unwissenheit traut er sich zunächst nicht zu fragen, was da vor sich geht und wer der wunderliche Mann ist. Als er sich doch entschließt zu fragen, geht er von der Hierarchie aus und sucht sich „[...] einen jungen Mann [...] der mir von minderem Ansehen schien [...]“ (S. 17) aus. Doch er bekommt eine unbefriedigende Antwort. Er hilft ihm nicht im Mindesten weiter. In diesem Augenblick merkt er selbst – der Leser übrigens auch –, wie unpassend er in dieser Gesellschaft in seiner jetzigen Lage ist. Er entschließt sich deshalb, so unauffällig wie möglich zu gehen. Aufgeregt und verängstigt durch die merkwürdigen Ereignisse schleicht er von dannen, doch der Graue folgt ihm und bittet ihn untertänigst um einen Handel. Peter ist zunächst verwirrt, denn es scheint ihm unmöglich, seinen Schatten, den der Graue ihm abkaufen will, von sich zu lösen. Der Graue redet wie ein wahrer Geschäftsmann unermüdlich und in tiefster Demut weiter, und als er nach und nach die Gegenleistungen für den „unschätzbaren Schatten“ (S. 21) aufzählt, die er bereit ist, Peter zu geben, wird Peter beim „Fortunati Wunschhütlein“ schwach. „»Fortunati Glücksseckel«, fiel ich ihm in die Rede, und wie groß meine Angst auch war, hatte er mit dem einen Wort meinen ganzen Sinn gefangen.“ (S. 20f.) Hier ist das Offensichtlichste aber nicht das Naheliegendste. Weil er der Sache noch nicht recht traut, probiert er den Säckel erst aus, und wie im Rausch kann er nicht aufhören, Dukaten aus ihm zu ziehen. Er zeigt hier eine wissenschaftliche, empirische Art des Umgangs mit neuen Phänomenen. Durchaus rational und naturwissenschaftlich. Anhand dieses wunderbaren Dinges lernt Peter später, dass es in seiner Wirkung nicht umkehrbar ist. Solche Erfahrungen macht er, als er sieht, wie die verschiedenen Sachen aus der Tasche des Grauen herauskommen, aber nicht wieder zurück in die gleiche gehen. Dasselbe passiert mit den Golddukaten und mit seinem Schatten. Den kann er nur durch noch größeren Einsatz wiedererlangen, das Geschäft einfach so rückgängig machen kann er nicht. Überwältigt von dem Potential, welches sich ihm dadurch erschließt, glaubt er, noch einen guten Handel zu machen und hält dem Grauen sogleich die Hand hin, um den Handel zu besiegeln. Der Graue schlägt ein, faltet den Schatten vor seinen Augen zusammen und steckt 178 Aus Volker Meid: Metzler – Literatur – Chronik. Stuttgart, 1993, S.350. 84 ihn ein. In Windeseile hat er Peter überlistet und ihm den Schatten abgeluchst. Geblendet vom Gold, nach welchem er sich sehnte, schließt er einen überhasteten Handel, der ihn für immer kennzeichnen wird. Sein Wunsch nach Anpassung und Anerkennung konkretisiert sich im Wunsch nach Gold179. Was können wir aus dieser kurzen, aber sehr ereignisreichen Einleitung der Geschichte entnehmen? Stofflich bzw. motivisch ist es eine reichhaltige Passage. Ganz wichtig ist der Graue, der ursprünglich aus einer von Lafontaines Erzählungen stammt und in diesem Falle ein Stellvertreter des Teufels ist. Doch er sieht ganz und gar nicht so aus und benimmt sich noch weniger wie einer. Dadurch ähnelt er Hoffmanns „Sandmann“, der auch nicht eindeutig als Teufel beschrieben wird. In der Tat wirkt er eher wie ein gelassener, „biedermeierlicher Mephisto“180, der mehr von einem Geschäftsmann hat, als vom Herrscher der Hölle. Darauf weist auch Schulz hin, der in der Person die Kritik am aufkommenden Kapitalismus verewigt sieht. In seinem Repertoire an Kleinodien befinden sich fast ausschließlich Dinge, die aus dem Volks- und Aberglauben bekannt sind, die aber literarisch schon verarbeitet wurden181. Das Wichtigste allerdings ist der Handel mit dem Teufel bzw. der Verkauf des Schattens. Den Teufelspakt, der ihm aus Goethes „Faust“ schon hinlänglich bekannt war, hat Chamisso182 modifiziert und in zwei Teile getrennt. Der erste Teil ist hier als Schattenverkauf realisiert, der zweite Teil sollte dann tatsächlich die Seele beinhalten. Die zentrale Frage bleibt, was hinter dem Schatten steckt, für was er steht – falls er überhaupt irgendeine Entsprechung hat – und was das alles mit den Doppelgängern zu tun hat? Peters Doppelgänger in der Geschichte ist sein Schatten. Er ist eine „oberflächliche Verdoppelung“183 Peters. Der Schatten ist, wie das Spiegelbild, ein Äquivalent für ein einzelnes Individuum, das normalerweise von seinem Urheber (dem Original) nicht abstrahiert werden kann. Er ist also ein fester Bestandteil und Doppelgänger, der sich ständig und in jedem Moment dem Original anpasst bzw. ihn nicht verläßt. Sein Nachteil im normalen Leben ist der, dass er unfassbar bleibt, er ist sichtbar (durchsichtig) aber nicht greifbar, er hat keine materielle Note. Wir können ihn zwar verändern, indem wir uns bewegen oder die Lichtverhältnisse ändern, wir können ihn anschauen und sogar zeitweise verschwinden lassen, doch er bleibt dennoch unfassbar und unantastbar, da er normalerweise 179 Vgl. F. Schulz, S. 432. Aus Peter A. Kroner: Adelbert von Chamisso, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. von Benno von Wiese, Schmidt, Berlin, 1983, S. 452. 181 Vgl. G. von Wilpert, S. 25. 182 Chamisso selbst hat in seiner Jugend (1803) an einem Faust-Fragment gearbeitet, was uns schließen lässt, dass er das Thema sehr wohl gekannt hat. 183 Vgl. Alice A. Kuzniar: „Spurlos... verschwunden“: „Peter Schlemihl“ und sein Schatten als der verschobene Signifikant, in: Aurora 45, 1985, S. 195. 180 85 immaterieller Natur ist. So nah und doch so fern, so könnte man ihn charakterisieren. Er ist das Gegenteil von dem, was Peter will, nämlich materielles Gut. Es ist erstaunlich, dass der Rationalist und spätere Naturforscher Schlemihl ausgerechnet etwas dem Naturgesetz Widersprechendes macht, was ihn dann lebenslang zeichnet und der Welt der Menschen entfremdet184. Der Schatten ist ein optisches Phänomen, das auf physikalischen Gesetzen beruht, also auf Naturgesetzen, die dem Wissenschaftler das Heiligste sind. Der „Schlemihl“ bildet also eine Ausnahme in der Doppelgängerdichtung bis dahin, denn bei ihm ist es die Abwesenheit des Doppelgängers, die die Handlung kennzeichnet und die Peters Ich-Problematik in Gang setzt185. Sein Fehlen ist der Motor der Geschichte. Seine Bewältigung des Verlusts ist der Inhalt der Handlung. Auf jeden Fall lässt sich sagen, dass Peter für Geld, in diesem Falle in seiner „ursprünglichsten Form als Gold“186, seinen Schatten und damit einen festen Bestandteil seiner Person (nicht der Identität oder Seele) dem Teufel verkauft hat. Damit verliert er einen seiner natürlich gegebenen Doppelgänger, und er wird ihn nicht mehr zurückbekommen! Die Motivation für diesen Handel ist einerseits bedeutend, genau wie die Tatsache, dass Peter seinen Schatten anscheinend nicht zu schätzen wusste bzw. eine andere Werteskala besitzt als seine restliche Umwelt. Anders ist dieser Handel nicht zu erklären. Damit wird ihm durch eigene Torheit, Geldgier und Unwissenheit der Schatten vom Grauen abgeluchst. Viel wichtiger als seine Entsprechung scheint dagegen seine Funktion, die der Schatten in der Geschichte einnimmt. Damit schließe ich mich der Meinung von F. Schulz an, der ebenfalls darauf hinweist, dass es leichter und nützlicher ist, „[…] wenn man nicht nach direkten Entsprechungen für den verlorenen Schatten sucht, sondern nach seiner Funktion innerhalb des Erzählwerks fragt.“187 Welche Funktion hat er denn eigentlich? Sein Verlust hat die Funktionn einer Selbstfindung. Peter fühlt sich von Beginn an in der reichen Gesellschaft nicht wohl. Daran ändert sein Schatten, den er anfangs noch hat, auch nichts. Die Gesellschaft und die Welt, in der er ankommt, sind nicht gerade nach seinem Geschmack. Er wird ausgegrenzt und fühlt sich Vgl. Willy R. Berger: Drei phantastische Erzählungen. Chamissos „Peter Schlemihl“, E.T.A. Hoffmanns „Die Abentheuer der Sylvesternacht“ und Gogols „Die Nase“, in: Arcadia, Sonderheft für Horst Rüdiger, 1978, De Gruyter, Berlin, S. 118. 185 Das bleibt aber nicht lange so, denn E.T.A. Hoffmann nimmt dieses Thema auf und verarbeitet es in seinen „Abenteuern der Sylvester-Nacht“. Dort realisiert er, neben dem doppelgängerischen Schatten, auch das doppelgängerische Spiegelbild. 186 D. Walach, S. 286. 187 F. Schulz, S. 431. 184 86 irgendwie „wesensfremd“188. Sein Wunsch, sich anzupassen, ist vom ersten Gespräch mit Herrn John an merkbar. Der Graue spürt das gleich und bietet ihm deshalb genau das an, was „seinen ganzen Sinn gefangen“ (S. 21) nimmt. Die Realisation der Anpassung denkt Peter, nur mittels des Geldes vornehmen zu können. Dabei erscheint ihm der Schatten – den er noch für nichtig hält – ein geringer Preis zu sein, weshalb er den Handel auch überstürzt eingeht. Das sieht seine Umwelt anders. Durch die Isolation, die er sich dadurch einhandelt, muss er sich zwangsläufig mit einer wichtigen Frage auseinandersetzten, der nach seiner Identität und nah dem Wert des Schattens in der Gesellschaft. Durch die äußeren Umstände wird er zur Anpassung getrieben und verkauft deshalb sich selbst bzw. einen Teil von sich. Er wird zum Sklaven des Geldes, welches aber nicht erarbeitet, sondern durch den Teufelspakt erhandelt wird. Der Verlust des Schattens macht Peter zu einem noch größeren Außenseiter als er ohnehin schon war. Er wird dadurch gezwungen, sich intensiver mit sich selbst, aber auch mit seiner Umwelt zu beschäftigen, die einen Schattenlosen nicht als vollwertig akzeptiert. Peters Problem ist, dass er unbedingt in dieser Gesellschaft leben will. Es gibt Menschen, denen der Schatten nicht so viel bedeutet. Das wird an der Figur Bendels gezeigt, der zu seinem Herrn hält, auch wenn er weiß, dass dieser keinen Schatten hat. Wäre Peter nicht auf Anerkennung aus, hätte er besser leben können. Die Funktion des Schattenverlustes, die Chamisso vorschwebte, liegt in der Erkenntnis der Welt und ihrer Werte bzw. Scheinwerte. Zurück zur Handlung. Dort sehen wir Peter, wie er, immer noch berauscht vom vielen Gold und seinen schier unendlichen Möglichkeiten, in die Stadt zurückkehrt. Gleich die erste Person, auf die er trifft, spricht ihn auf seine Schattenlosigkeit an. Nicht nur das, sie spricht ihm auch eine Warnung aus: „Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben ihren Schatten verloren.“ (S. 22) Doch Peter schlägt die Warnung in den Wind und speist die Alte überheblich mit Goldstücken ab. Noch ist er sich nicht bewusst, was er da tut und welchen Wert der Schatten in der Gesellschaft hat. Die nächsten Personen, denen er begegnet, entdecken ebenfalls sofort seine Schattenlosigkeit. Merkwürdig in diesem Zusammenhang ist, dass alle Personen auf ihn reagieren, aber niemand es für notwendig hält, seinen Standpunkt zu erläutern, weshalb es so schlimm ist, keinen Schatten zu haben. Dieses Wissen wird als vorausgesetzt empfunden. Genau deshalb wird es wohl nicht erläutert. Merkwürdig ist nur, dass Peter es auch nicht weiß, oder nicht begreift. Damit ist der Leser auf demselben Erkenntnisstand wie Peter. Andererseits deutet es auf seine Weltfremdheit hin, in einer Welt, in der jeder über solche Dinge Bescheid weiß. Chamisso tut damit der Auflösung des Rätsels keinen Gefallen, was auch sicherlich von ihm so intendiert war. 188 F. Schulz, S. 432. 87 Dieser Umstand lässt eindeutig darauf schließen, dass der Schatten eine große Rolle im Wertesystem der Menschen in der Geschichte spielt, denn es scheint, als achten alle peinlichst genau auf diesen. Wäre ihm das heutzutage passiert, glaube ich, dass es kaum jemandem auf Anhieb auffallen würde. Erst jetzt begreift Peter dass er in einer Welt des Scheins lebt, in der nur das Sichtbare zählt und geachtet wird, während das, was sich hinter den Kulissen abspielt, bedeutungslos ist, solange es auch dort bleibt. Ein Schatten kann durchaus eine große Rolle spielen, und ohne ihn gilt man als gebrandmarkte Person. Ihm wird allmählich klar, was für einen Fehler er gemacht hat. Das ganze Geld bleibt wertlos, solange sein äußerer Schein nicht vollständig ist. So sind die Regeln der Welt. Darin besteht der Unterschied zwischen ihm und Herrn John, der gleich seine Seele verkauft hat und somit einen äußerlich vollständigen Eindruck macht, folglich auch von allen respektiert wird. Peter gibt sich nicht zufrieden und will seine Schattenlosigkeit noch einmal überprüfen. Dabei fällt seine Haltung als Naturforscher189 (Wissenschaftler) auf, indem er alles zu untersuchen pflegt, was seine Schattenlosigkeit angeht. Von der Wirkung auf die Mitmenschen, über die Einrichtung der Lichter um nicht aufzufallen, bis zur Auswahl seines Dieners Bendel, der eine „treue und verständige Physiognomie“ (S. 25) hat. Alles, was jetzt folgt, ist Peters Versuch, durch das einzige, was ihm geblieben ist, das Gold, sich sein Leben so einzurichten, dass sein Makel niemandem auffällt. Deshalb macht er jetzt noch keine psychische Entwicklung durch. Er versucht zwar gleich am nächsten Tag, als ihm bewusst wird, was er da getan hat, den Grauen zu finden und den Handel rückgängig zu machen, doch es gelingt ihm nicht Generell muss er feststellen, dass jegliche Tat und jegliches Geschäft unumkehrbar ist. Deshalb wendet er alle erdenklichen Mittel an, um seinen Makel zu verbergen. Seine Bereitschaft diese Gesellschaft und ihre Scheinhaftigkeit aufzugeben, weshalb er ja letztlich in diese Lage kam, ist noch nicht erreicht. Zunächst wechselt er die Identität. Durch seine veränderten Verhältnisse, die sich einerseits im Verlust des Schattens und andererseits im Gewinn des Goldes äußern, sieht er sich gezwungen, eine andere Rolle zu spielen190. Das macht er nur, weil er den Besitz des Geldes öffentlich ausleben will. „Ansehen, Geltung und Reichtum scheinen ihm immer noch wichtige Werte.“191 Hier kommen wir zu einer wichtigen Stelle, dem ersten Traum Peters. Er träumt von Chamisso, der in der Erzählung öfters als Figur angesprochen wird und der in der Geschichte als sein Freund auftritt. Es ist ein toter Traum, den er träumt, in dem nichts lebendig erscheint und die Zeit stehengeblieben ist. Um etwas weiter vorzugreifen und einen Vergleich 189 Vgl. E.F. Hoffmann, S. 182. Vgl. E. Loeb, S. 405. 191 Ebd. S. 435. 190 88 anzustellen, soll die Sprache hier auf den zweiten Traum Peters kommen, der nach der Lossagung vom Grauen und dem Geld geträumt wird. Dieser ist das Gegenteil vom ersten Traum, der noch unter dem Einfluss des Geldes (Grauen) geträumt wurde. In ihm ist alles lebendig und alle Personen sind ohne Schatten; „[…] und was seltsamer ist, es sah nicht übel aus,-“ (S. 80) Das zeigt schon, dass er sich mit seiner Schattenlosigkeit abgefunden hat. Der erste Traum zeigt deutlich, in welcher Verfassung er sich befindet, denn der Graue hat durch den Säckel stets Kontakt zu ihm: „O dieser Seckel! – Und hätten gleich die Motten Ihren Schatten schon aufgefressen, der würde noch ein starkes Band zwischen uns sein.“ (S. 78) Erst, nachdem er sich davon befreite, war auch der Einfluss des Grauen über ihn verschwunden. Gleichzeitig hat sich auch ein innerer Wandel vollzogen, der sich in der Absage an die Scheinwelt manifestiert. Er sieht keine Möglichkeit, den Handel rückgängig zu machen, ohne seine Situation noch weiter zu verschlimmern. Dadurch verändert sich sein Verhältnis zu Chamisso, den er jetzt lebendig träumt. Die nächste, für das Verständnis des Werkes wichtige Passage, scheint die Liebe zu Mina zu sein. Immer noch gebunden an die Werte der Gesellschaft und getrieben durch die trügerische Sicherheit des Geldes, legt er es darauf an, sie zu heiraten. Doch Rascal, der schurkische Diener, der als Gegenpart Bendels fungiert, macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Er lässt ihn auffliegen und verhindert so seine Heirat. Im Moment der größten seelischen Verzweiflung kommt der Graue zurück und bietet Peter mit den untertänigsten Gebärden den Seelenhandel an. Der Moment ist günstig für den Grauen, doch Peter lehnt trotz aller Überredungsversuche ab. Das geschieht aber nicht aus Vernunft, wie zumindest jetzt schon zu vermuten wäre, sondern weil der Graue ihm „von Herzensgrunde verhaßt“ ist und er einen „persönlichen Widerwillen“ (S. 55) gegen ihn hegt. Der Graue ist hartnäckig und startet mehrere geschickte Manöver, um ihn zur Unterschrift zu bewegen. Dabei zeigt er sein wahres Talent zum Handel und Manipulation192. Schließlich lockt er ihn zur Laube, wo sich die Hochzeit von Mina und Rascal vollziehen soll. Peter ist schon so weit zu unterschreiben, als er in eine „tiefe Ohnmacht“ (S. 67) fällt193. Dadurch verhindert wahrscheinlich eine höhere Macht („dritte Macht“194) den Handel, den er ansonsten nicht nur seinetwegen, sondern vielmehr um Minas Willen getätigt hätte. 192 Am Beispiel des Vogelnestes wird die Körperlosigkeit des Schattens probeweise demonstriert. Mit der Tarnkappe wird gleichzeitig die Körper- und Schattenlosigkeit vorgeführt. Diese Märchenelemente passen ausgezeichnet zum Hauptmotiv, weil sie als Spielarten des Themas angesehen werden können. 193 Chamisso macht es geschickt und lässt Peter nicht selbständig diese Entscheidung treffen, weil er als wahrer Schlemihl (Pechvogel), wahrscheinlich die falsche Wahl getroffen hätte. Auch hier ist die Ohnmacht positiv zu bewerten, so wie wir das bei Hoffmann schon bemerkt haben. 194 Ausdruck von F. Schulz, S. 437. 89 „Nach dem übereilten Fehltritt, der den Fluch auf mich geladen, hatt’ ich durch Liebe frevelnd in eines andern Wesens Schicksal mich gedrängt; was blieb mir übrig, als wo ich Verderben gesät, wo schnelle Rettung von mir geheischt ward, eben rettend blindlings hinzuzuspringen? Denn die letzte Stunde schlug. – Denke nicht so niedrig von mir, mein Adalbert, als zu meinen, es hätte mich irgend ein geforderter Preis zu theuer gedünkt, ich hätte mir irgend Etwas, was nur mein war, mehr als eben mit Gold gekargt.“ (S. 66) Als er wieder aufwacht, ist die Hochzeit vollzogen. Bewusst will er jetzt sein Leben ändern. Er verabschiedet sich noch von Bendel und stellt ihn frei, wobei er ihm den Rest des Goldes schenkt, um damit etwas Sinnvolles anzufangen. Niedergeschlagen verlässt er die Stadt und sucht die Einsamkeit. Der Graue unternimmt noch einen Versuch und gesellt sich zunächst getarnt zu Peter. Er versucht, den in sich gekehrten und schweigenden Peter durch „eine rationalistische Metaphysik mit wenig Phantasie“195 von der Nichtigkeit der Seele zu überzeugen und sie ihm doch noch abspinstig zu machen. Die Wirkung bleibt aber aus, Peter hat, wie sein „Seelenverwandter“196 Chamisso, keinen sonderlichen Bezug zur Philosophie. Die Macht, Peter zu überzeugen, hat der Graue also nicht. „Er entfaltete seine Ansichten von dem Leben und der Welt, und kam sehr bald auf die Metaphysik, an die die Forderung erging, das Wort aufzufinden, das aller Räthsel Lösung sei. Er setzte die Aufgabe mit vieler Klarheit aus einander, und schritt fürder zu deren Beantwortung. Du weißt, mein Freund, daß ich deutlich erkannt habe, seitdem ich den Philosophen durch die Schule gelaufen, daß ich zur philosophischen Spekulation keinesweges berufen bin, und daß ich mir dieses Feld völlig abgesprochen habe; ich habe seither Vieles auf sich beruhen lassen, Vieles zu wissen und zu begreifen Verzicht geleistet, und bin, wie Du es mir selber gerathen, meinem geraden Sinn vertrauend, der Stimme in mir, so viel es in meiner Macht gewesen, auf dem eigenen Weg gefolgt. Nun schien mir dieser Redekünstler mit großem Talent ein fest gefügtes Gebäude aufzuführen, das in sich selbst begründet sich empor trug, und wie durch eine innere Nothwendigkeit bestand. Nur vermißt´ ich ganz in ihm, was ich eben darin hätte suchen wollen, und so ward es mir zu einem bloßen Kunstwerk, dessen zierliche Geschlossenheit und Vollendung dem Auge allein zur Ergötzung diente; [...]“ (S. 72f.) In einem Gefühl von völliger Fremdheit der Welt und ihren Bewohnern gegenüber, entschließt er sich, der Gesellschaft zu entsagen und im Bergbau, unter Tage, sein zukünftiges Leben zu fristen. Durch Zufall oder die Einwirkung einer höheren, „dritten Macht“ gelangt er in den Besitz von Siebenmeilenstiefeln. Das Motiv kommt in Tiecks „Phantasus“ vor, auf welchen er sich am Schluss bezieht, als er die Hemmschuhe einführt, die eine Weiterentwicklung des Motivs der Siebenmeilenstiefel darstellen197. So wird ein altbekanntes Märchenmotiv in die Handlung eingebaut, welches Peters Zukunftsperspektive erheblich verbessert und ihm neue Möglichkeiten bietet. Trotzdem bleibt er von der Menschheit isoliert und in seinem „[…] beweglichen Wander-Exil […]“198 gefangen. Ob der Erwerb nun durch bloßen Zufall, oder doch eine Art Belohnung für die Abkehr vom Bösen, dem Gelde und der 195 Benno von Wiese, S. 107. F. Schulz, S. 459. 197 Auch hier zeigt sich die praktische Untersuchung des Phantastischen, durch Hemmschuhe und durch erneutes Besohlen werden neue Erkenntnisse gewonnen. 198 N. Miller, S. 117. 196 90 scheinheiligen Gesellschaft ist, bleibt offen. Durch die Siebenmeilenstiefel findet Peter doch noch zu einer sinnvollen Berufung und untersucht die Pflanzen- und Tierwelt. Hierbei werden ihm auf schmerzliche Weise neue Grenzen gesetzt, denn er kann zu seinem Leidwesen nicht nach „Neuholland“ schreiten und somit bleibt seine Arbeit Fragment. Eine beliebte Form in der Romantik, wie bei Hoffmanns „Automaten“ schon zu sehen war. Durch ein letztes Abenteuer gelangt Peter noch einmal zurück unter die Menschen und erwacht nach einem Unfall im „Schlemihlium“ (S. 93), einem Hospiz für arme und bedürftige Menschen. Wie er erfährt, hat es Bendel mit Hilfe seines Geldes gegründet. Mina, seine große Liebe, hat nach dem Tode ihres Gatten Rascal dort ebenfalls eine Anstellung gefunden, in der sie viel Gutes tun kann. Auffällig ist, dass die Schattenlosigkeit hier von niemandem bemerkt wird. Eine Erklärung wäre der Ort, an dem er sich befindet. Es ist ein Ort der Güte und Wärme. Hier bricht nicht der Schein der äußerlichen Welt ein, sondern es ist ein Ort der Mithilfe, Nächstenliebe und des Wesentlichen, in welchem der Schatten keinen Wert hat. Eine andere, viel lapidarere Erklärung, wäre physikalischer Natur. Peter liegt im Krankenhaus auf einem Bett. In dieser Position wirft der Mensch keinen Schatten, oder nur einen sehr kleinen, deshalb merkt es auch niemand. Peter gesundet wieder und verlässt das Schlemihlium im Wissen, dass mit seinem Geld etwas Gutes geschaffen wurde und dass es seiner Mina besser geht. Schließlich hätte er ihretwegen sogar seine Seele verkauft. So endet die Geschichte mit einer Moral, die passend zum Inhalt gestaltet den Schatten und das Geld herausstreicht und ihre Bedeutung nochmals unterstreicht: „Du aber, mein Freund, willst Du unter Menschen leben, so lerne verehren zuvörderst den Schatten, sodann das Geld. Willst Du nur Dir und Deinem bessern Selbst leben, o so brauchst Du keinen Rath.“ (S. 96) Allein der Ausgang der Geschichte ist nicht so märchenhaft, wie man sich das vorstellen könnte. Ein richtiges Happyend gibt es nicht. 6. Synopsis Wir haben bis hierher einiges über Doppelgänger und Automaten der romantischen Literatur erfahren. Es bleiben noch ein Paar zusammenfassende Worte, die uns das Wichtigste noch einmal vor Augen führen. Als Fakt gilt die vielfältige Realisation/Gestaltung beider Motive. Der Doppelgänger wurde in vielfacher Weise verwirklicht und hat verschiedene Funktionen zu erfüllen gehabt. So verschieden sind auch die Einflüsse, die das Motiv geprägt haben und die zur Entstehung von Doppelgängerdichtung beigetragen haben. Hier ist Arnim seinen Quellen treuer als 91 Hoffmann. Obwohl für beide gesagt werden kann, dass sie Literatur aus Literatur geschaffen haben, ist Arnim seinen Vorbildern doch verbindlicher. Dennoch ist seine Phantasiekraft so stark, dass er einige Umformungen und Neukreationen erschafft. Was den Doppelgänger angeht, so ist er der einzige Autor der Untersuchung, dessen Doppelgänger nur durch künstliche Wesen verwirklicht werden. Bei Hoffmann werden diese beiden Motive streng getrennt und einzeln für sich behandelt. Bei Hoffmann fällt uns ein ganz anderes Bild des Doppelgängers auf. Das Motiv hat eine gewisse Wichtigkeit und Schwere, die ihm anhaftet. Bei ihm gibt es keinen spielerischen Umgang in dieser Hinsicht. Der Grund liegt wohl in der schicksalhaften Wirkung und Bedeutung für den/die Betroffenen. Während das Motiv bei Arnim verhältnismäßig wenig psychologischen Charakter aufweist, ist es bei Hoffmann stark psychologisch durchflochten. Diese Psychologie steht in Verbindung mit dem naturphilosophischen Hintergrund, zu dem Hoffmann Kontakt hatte. Wie er selbst öfters erwähnt, las er den Pinel und den Reil und andere naturphilosophische Abhandlungen. Sein Umgang mit Dr. Marcus hat ihn viel in dieser Hinsicht gebracht. Auch die Naturphilosophen Schelling und Schubert hatten starken ideologischen Einfluss auf ihn. Allen waren der Glaube und die Beschäftigung mit übernatürlichen Phänomenen gemeinsam. Der tierische Magnetismus, der Somnambulismus und die menschliche Psyche waren die drei essentiellen Punkte, mit denen sich auch Hoffmann auseinandersetzte. Die „Nachtseiten“ waren eine anziehende Macht, von der er nicht lassen konnte. Diesen Phänomenen wurde eine enorme Wirkung zugeschrieben. Deshalb nutzt Hoffmann das auch literarisch. Immer werden Ansspielungen auf diese Phänomene eingebaut, es gibt keine Ausnahmen. Das ist Beweis seiner persönlichen Überzeugung. Er glaubte wirklich daran. Auch andere Dichter haben dieses Gebiet gekannt, ihr Glaube daran war allerdings nicht so stark. Hier ist es Brentano, der bewusst auf übernatürliche Verbindungen hinweist, um seine Doppelgänger zu erklären, doch nur um diese Anspielungen jäh ad absurdum zu führen und als lächerlich zu verspotten. Brentano ist ohnehin ein Sonderfall der Untersuchung, insofern, als es bei ihm nichts, aber rein gar nichts Übernatürliches gibt. Bei allen anderen sind übernatürliche Phänomene notwendig, um die Doppelgängergeschichte in Gang zu bringen oder zu erklären. Nicht bei Brentano. Bei ihm wird alles auf eine natürliche Art und Weise erklärt. Wenn es denn Übernatürliches gibt, so ist es sehr gut versteckt. Die Doppelgängerei wird letztlich als leicht realisierbar dargestellt und verliert also an Einfluss, vor allem an psychischem Einfluss auf den Menschen bzw. Betroffenen. Wie Brentano uns präsentiert, ist es eher der finanzielle Einfluss, den der Doppelgänger hier ausübt. Auch in der Liebe wird er 92 als Störfaktor empfunden, doch eine Ich-Problematik löst er nicht aus. Das Geld hatte auch Chamisso zum eigentlichen Thema erkoren. Seine Geschichte fällt aufgrund der Beschaffenheit und des Zustandes aus dem Rahmen. Der doppelgängerische Schatten, der für etwas x-beliebiges stehen kann, ist wahrlich ein Meisterwerk der deutschen romantischen Literatur. Geld und Schatten im Tausch, dazu ist auch etwas Phantastik notwendig, die in der Romantik nicht zu knapp kommt. Mit dem „Schlemihl“ wurde die Doppelgängerdichtung um ein Werk und eine neue Spielart des Phänomens reicher. Schon wegen seiner Einmaligkeit ist er schwer vergleichbar. Das hat ihn aber nicht vor Nachahmung und Fortsetzungen bewahrt. Vor allem Hoffmann bedient sich bei Chamissos Werk, dessen Helden er in einer seiner vielen Dichtungen auftreten lässt. Dabei ist Chamissos Werk durch eine sehr ernste Haltung und Thematik gekennzeichnet, was ihn Hoffmann nahe bringt. Die eigentliche Tragik des Handels Peters, die den Schluss der Geschichte noch einmal unterstreicht, ist ebenso näher an Hoffmann und Arnim, als es bei Brentano der Fall ist. Eine gute Vergleichsmöglichkeit bietet der Ausgang doppelgängerischer Begenungen. Bei Hoffmann nehmen die Begegnungen meist ein negatives, tragisches Ende. Sie bedeuten eine schwere Verunsicherung für das eigene Ich. Die eigene Einzigartigkeit wird zwangsläufig in Frage gestellt. In seinen späteren Werken scheint ein tödliches Ende nicht mehr Pflicht zu sein. Die Doppelgänger Arnims nehmen auch ein tödliches Ende. Zumindest die Kopie muss ihr künstliches Leben lassen. Die Auswirkungen auf die Psyche und das eigene Ich bleiben allerdings begrenzt bei Arnim. Vielleicht liegt es daran, dass seine Doppelgänger keine richtigen Menschen sind. Sie besitzen keine echten Gefühle und haben auch keine entwickelte Persönlichkeit. Damit sind sie zu keiner vollständigen Ersetzung befähigt; die Bedrohung sinkt dadurch. Die Funktion des Doppelgängers ist fast überall anders. Ob als kurzzeitiger Spaß (Devillier), als begrenzter zeitweiliger Ersatz (Golem-Bella), oder als Spiegel des eigenen Ichs (Viktorin), ist relativ unwichtig. Das Motiv und seine Einsatmöglichkeiten sind vielfältig. Die Verwechslungsfunktion ist allerdings fast überall gebräuchlich. Sie ist mit Abstand die ureigenste und innewohnendste Eigenschaft dieses Motivs. Einen tieferen, geistigen Kontakt zwischen den Doppelgängern gibt es nur bei Hoffmann, dort aber sehr ausgeprägt. Die Gründe dafür wurden schon genannt. Was das Automatenmotiv und das Motiv des künstlichen Menschen betrifft, so haben wir in dieser Arbeit nur bei Arnim und Hoffmann solche Fälle vorliegend. Hoffmann bevorzugt den Automaten, weniger allgemein künstliche Menschen oder Wesen. Der Automat wird bei ihm 93 in eine ähnlich schauerliche, unheimliche Umgebung integriert wie der Doppelgänger. Ihm wird die Möglichkeit eines menschlichen Ersatzes bedingt zugesprochen. Allerdings ist er keine vollständig selbständige Kreatur. Ein Lenker im Hintergrund wird stets vermutet oder vorausgesetzt. Psychische Auwirkungen verursacht er auch, genau wie der Doppelgänger, doch nur als Mittler bzw. Werkzeug einer höheren Macht. Ansonsten ist sein erschreckender Effekt Resultat der Verblüffung des Menschen, der sich bewusst wird, dass er von einer Maschine genarrt wurde. Sein Typ des Automaten wird auf einem zeitgenössischen Verständnis aufgebaut. Die Vorbilder sind die damals bekannten Automatenbauer und ihre Meisterwerke der Automatenbaukunst. Zumindest in technischer Hinsicht gleichen sie den realen Vorbildern. Arnims künstliche Menschen entstammen, wie erwähnt, dem literarischen Bereich. Sie sind sehr unterschiedlich und bilden eine bunte Truppe, die letztendlich zum vorzeitigen Untergang geweiht ist. Sobald sie ihre vorgesehene Funktion erfüllen, werden sie entbehrlich. Im Sinne einer weitergehenden Untersuchung zu diesem speziellen Thema, wäre es positiv, wenn noch weitere romantische Texte mit derselben Motivik zu Vergleichszwecken untersucht werden würden. Stoff und Anreiz ist ausreichend vorhanden und eine Fortsetzung nicht ausgeschlossen. 94 7. 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