Paul Tillich: Die verlorene Dimension Das entscheidende Element in der gegenwärtigen Situation des westlichen Menschen ist der Verlust der Dimension der Tiefe. „Dimension der Tiefe“ ist eine räumliche Metapher – was bedeutet sie, wenn man sie auf das geistige Leben des Menschen anwendet und sagt, dass sie ihm verloren gegangen sei? Es bedeutet, dass der Mensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod. Diese Fragen finden keine Antwort mehr, ja, sie werden nicht einmal mehr gestellt, wenn die Dimension der Tiefe verloren gegangen ist. Und genau dies hat sich in unserer Zeit ereignet. Unsere Generation hat keinen Mut mehr, solche Fragen mit unbedingtem Ernst zu stellen, wie es frühere Generationen taten, und sie hat auch keinen Mut mehr, auf irgendwelche Antworten auf diese Fragen zu hören. Ich beabsichtige, die Dimension der Tiefe im Menschen als seine „religiöse Dimension“ zu bezeichnen. Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern. Eine solche Auffassung macht die Religion zu etwas universal Menschlichem, wenn sie auch von dem abweicht, was man gewöhnlich unter Religion versteht. Religion als Tiefendimension ist nicht der Glaube an die Existenz von Göttern, auch nicht an die Existenz eines einzigen Gottes. Sie besteht nicht in Handlungen und Einrichtungen, in denen sich die Verbindung des Menschen mit seinem Gott darstellt. Niemand kann bestreiten, dass die geschichtlichen Religionen „Religion“ in diesem Sinne sind. Aber Religion in ihrem wahren Wesen ist mehr als Religion in diesem Sinne: Sie ist das Sein des Menschen, sofern es ihm um den Sinn seines Lebens und des Daseins überhaupt geht. […] Wenn wir Religion als das Ergriffensein von einem letzten, unbedingten Anliegen verstehen, müssen wir eingestehen, dass der typische moderne Mensch sich keines solchen Anliegens bewusst ist. […] Wenn wir uns nun fragen, wie die Dimension der Tiefe verloren gegangen ist, so müssen wir sagen, dass hier wie bei jedem wichtigen Ereignis viele Gründe mitspielen; aber bestimmt nicht der eine, den Pfarrer und Massenprediger immer wieder anführen: nämlich die angebliche allgemeine Verderbnis unserer Zeit. Die Menschen sind heute weder besser noch schlechter als früher. Dass der Mensch die Dimension der Tiefe verloren hat, liegt vielmehr in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst. Er hat sich mittels der Wissenschaft die Welt unterworfen und nützt sie mit Hilfe der Technik aus. Dabei drängen ihn die treibenden Kräfte der industriellen Gesellschaft, von der er selbst ein Teil ist, in horizontaler Richtung voran. Sein Leben vollzieht sich nicht mehr in der Dimension der Tiefe, sondern in der horizontalen Dimension. Redensarten wie „immer mehr“, „immer größer“ und „immer besser“ sind für diese Richtung symptomatisch. Man darf die Kraft, die dieser Bewegung zugrunde liegt, nicht gering schätzen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, die Welt zu verstehen und zu verwandeln; und heute ist er sich bewusst, dass dieser Fähigkeit keine sichtbaren Grenzen gesetzt sind. Ein deutlicher Ausdruck für das Vorwärtsdringen in der horizontalen Richtung ist die Durchbrechung des Schwerefeldes der Erde und die Eroberung des Weltraums. [...] Die Frage, was den Menschen in der horizontalen Richtung vorwärts treibt, ist schwer zu beantworten. Manchmal ist man versucht, den Antrieb in dem Rausch der bloßen uneingeschränkten Bewegungen zu sehen. Aber das ist keine genügende Erklärung. Auf seinem Weg durch Raum und Zeit verändert der Mensch die Welt, der er begegnet, und diese Veränderung verwandelt wiederum ihn selbst. Indem er in seinem Drang nach vorwärts alles ihm Begegnende zum Werkzeug macht, wird er schließlich selbst zum Werkzeug. Aber auf die Frage, wozu das Werkzeug dienen soll, weiß er keine Antwort. Man braucht nicht weit nach Beispielen für diese Situation zu suchen: Unser tägliches Leben in Beruf und Familie, mit Auto- und Flugreisen, bei Gesellschaften und Konferenzen, beim Lesen von Unterhaltungsblättern und Reklamen, beim Fernsehen und am Radio ist ein einziges großes Beispiel für ein Leben, das vergeht, indem es jeden einzelnen Augenblick mit etwas ausfüllt, dass getan, gesagt, gesehen oder geplant werden muss. Aber der Mensch kann nicht erfahren, was Tiefe ist, ohne stille zu stehen und sich aus sich selbst zu besinnen. Nur wenn er sich nicht mehr um das Nächste sorgt, kann er die Fülle des Augenblicks hier und jetzt erleben, des Augenblicks, in dem die Frage nach dem Sinn des Lebens in ihm erwacht. Solange die Sorge um das Vorläufige und Vergängliche (wie wichtig und interessant es im Einzelnen auch sein kann) nicht zurücktritt, kann die Sorge um das Ewige nicht Besitz von ihm ergreifen. Hier liegt der tiefste Grund für den Verlust der Tiefendimension in unserer Zeit, für den Verlust der Religion in ihrer eigentlichen und universalen Bedeutung. (Paul Tillich: Die verlorene Dimension, Furche-Verlag, Hamburg 1962, S. 8ff.)