Unsere Beziehung zum Hinduismus Anand Nayak Der Hinduismus, persischer und abendländischer Name für die Religiositäten auf indischen Boden, datiert aus den Jahren um 2000 v. Chr. Er hat eine religiöse, kulturelle und anthropologische Identität von Millionen von Menschen durch die Jahrhunderte hindurch bis heute geformt und unterstützt. Diese religiöse Ideologie hat die Menschen des Westens seit jeher fasziniert, aber auch oftmals aus der Fassung gebracht. Während der Kolonialisierung (18.-20. Jh.) wurden die Hindus durch das christliche Gedankengut stark (heraus)gefordert und begannen eine tief greifende Reform ihres Gedankensguts, derer sie in der Sprache ihrer Kolonialisatoren Ausdruck verliehen. Mit einer Modernität konfrontiert, die dem Westen entstammt, ist der Hinduismus in Indien und auch im Westen heute immer noch auf der Suche nach einer adäquaten Antwort darauf. Der Hinduismus Wenn wir den Hinduismus mit unserer religiösen Sichtweise und Kategorien bewerten, dann laufen wir Gefahr, ihn zu entstellen, weil er, mehr noch als andere Religionen, eine Religion ganz besonderer Art sui generis ist. Der Hinduismus zentriert sich weder um Götter noch um einen Gott und geht nicht aus einer den Menschen ausgedrückten Offenbarung hervor. Die hinduistische Religion ist grundlegend identisch mit dem Leben an sich; Lebenszyklen der Menschen und auch der Tiere und der Natur bilden ihre Grundlage. Die religiöse Praxis besteht darin, in Harmonie mit diesen Zyklen zu leben. Die Religion hilft ausserdem dabei, dass die Wesen diesem Lebensläufen irgendwann entrinnen können und die höchste Stufe erreichen, von der es keine Wiederkehr mehr gibt. Hinduismus versteht sich in seiner Wirklichkeit als sanaatana dharma, i. e. das Gesetz der guten Ordnung, die ewig besteht und weder Ursprung noch Ende hat. Sie wurde weder von menschlicher Intelligenz oder Vernunft erschaffen noch ausgesprochen, ihr Gehalt wird nicht durch Dogmen weitergegeben. Wie Geburt und Tod, hängt auch die Religion nicht vom Menschen ab, der Mensch kann sie nicht beherrschen. Das Leben selbst überschreitet den Rahmen des Lebens eines Einzelnen wie ein Mensch, der in den heiligen Fluss taucht und von den Wassern überholt wird. Der Hinduismus ist eher mit seinem berühmten Fluss Ganges vergleichbar. Er entspringt in den Wohnungen der Götter im Himalaya, fliesst in aller Ruhe mehr als 1500 km, um im Golf von Bengalen in den Ozean zu münden. Die Hindus nennen ihn „Mutter“, weil er das Leben bringt, indem er zahllosen Menschen und Tieren Nahrung und Wasser spendet, ihren physischen und spirituellen Schmutz mit sich fortspült. An einem ganz besonderen Ort auf seiner langen Reise, in Varanasi (Benares), kommen Tausende und manchmal Millionen von Menschen zusammen, um sich in ihm zu reinigen und ein neues Leben zu finden, indem sie im Fluss tauchen, der sie von den zahllosen Zyklen der Wiedergeburt befreien soll. Junge Menschen suchen dort die Fruchtbarkeit. Die Trauernden finden dort durch Vollführung einiger Riten eine bessere Wiedergeburt für ihre Toten. Kaufleute und Bauern erhoffen sich mehr Wohlstand. Und es gibt auch diejenigen, die diese „Mutter“ welche ihre Kinder in ihrem Bauch ständig behalten will, verlassen, indem sie sie schwimmend durchqueren und das andere Ufer erreichen, um niemals zurückzukehren. Aus der christlichen Sicht Dies ist das Bild der Religion des Hinduismus. Die Religion ist nicht eine absolute Wirklichkeit, sondern ein gegebenes Mittel, um sich zu befreien und den wirklichen Urgrund zu erreichen, das Absolute, das die Wahrheit ist. Die grundlegenden Texte, die Veden, erzählen von uralten Traditionen (dharmaa.ni), die von den Weisen gehört und gesehen wurden, Traditionen, die die nützliche Ordnung (.rta) des Lebens beinhalten. Die späteren Texte erzählen vom dharma (Gesetz der guten und richtigen Ordnung), ein Begriff, der dem, was wir Religion nennen, am nächsten kommt. Das Dharma wird durch das Rad symbolisiert, das sich dauernd, umgeben von harmonischer Ordnung, dreht. Man wird (im Dharma) in dieser Ordnung geboren, man wächst (im Dharma) in der Ordnung, man stirbt (im Dharma) in der Ordnung und man wird dort auch wiedergeboren, wenn man vorab den Weg aus der Befreiung dieses Rads des Lebens nicht findet. Dieser Punkt der Befreiung findet sich in der Mitte des Rades in der Radnabe, die sich nicht dreht, stabil ist, unverrückbar, ewiges Brahman, das die Grundlage der Existenz ist. Es ist gleichzeitig das Selbst (aatman), der die wirkliche Identität des Individuums bildet. Die Wege, dies zu erreichen, sind unzählbar, aber es gibt drei, die als die wirksamsten angesehen werden: die durch Veden vorgeschriebenen Riten (karman), die von Gott gestrahlten und zu Gott empfundenen Liebe (bhakti), die sich in einer sichtbaren Form(avataara) manifestiert, und die Kenntnis (jñana )der wahren Identität. Es ist eine Religion, die vorschlägt und Angebote macht, die aber zu nichts verpflichtet oder nichts erzwingt. Jeder ist frei, sie auszuüben oder nicht, diese Religion zu akzeptieren oder nicht oder einen anderen, wirksamereren Weg zu wählen. Es gibt ein hinduistisches Ordnung des Lebens (Dharma), aber die Hindus erkennen auch andere Ordnungen für andere Völker. Diese grosse Toleranz, für die der Hinduismus bekannt ist, entspringt aus seiner Ansicht über Gott als absolute Wirklichkeit, Urgrund all dessen, was ist, nicht nur eines Menschen, sondern dessen, was einen Menschen wirklich ausmacht: Was durch das Wort nicht aussprechbar ist Wodurch das Wort ausgesprochen wird, erkenne das als Brahmandoch nicht das, was man hier verehrt. (Kena-upani.sad I,5) Vor einer derartigen Sicht verblasst jedes historische und menschliche Unterfangen und relativiert sich. Es ist unsinnig, über Gott zu disputieren, weniger noch, unabänderliche Dogmen zu verlautbaren, weniger noch, Handhabe für mögliche Konflikte oder Kriege zu geben. Diese Toleranz hat aber auch ihre Grenzen innerhalb der Religion selbst. Die Wesen, die durch ein blindes Gesetz und ohne Zugeständnisse in ihre Existenz hineingeworfen werden, der der Ursache und Wirkung (des Karmas), sind in ihrem Status nicht gleich. Je nach ihren mehr oder weniger guten und wirkungsvollen Fähigkeiten, werden die Wesen nach ihrer Geburt gewissen Klassen zugeordnet. Heute spricht man nicht von 4 Kasten, in die die Menschen aufgeteilt sind, sondern je den unterschiedlichen Geburten (jaati), mit denen ein Beruf verbunden ist. Nach dieser Sich hat ein Wesen hat keine Möglichkeit, seine Lebensklasse zu ändern, sondern muss sie von der Geburt bis zum Tod akzeptieren. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Sicherlich finden wir als Religion des Lebens viele gemeinsame Punkte, denn auch für uns Christen ist das Leben heilig. Aber gerade in dieser Richtung der Beziehung bemerkt der Christ einen Unterschied, einen Misston mit dem, was das Christentum als essentiell betrachtet. Gibt es einen Weg, dies zugunsten einer tieferen Synthese zu überwinden? Der Begriff „Gott“ hat für die Hindus nicht dieselbe Bedeutung wie für die Christen. „Gott“ im Christentum ist ein personeller Begriff. Der Hinduismus verwendet den Begriff „Gott“, um bloss die göttliche Manifestationen des Absoluten (Brahman-Atman) zu benennen. So bleibt das Absolute grösser als die Manifestierte. Was man einen hinduistischen Tempel betritt, sieht man nur zeitliche und menschliche Darstellungen des Absoluten. Das Absolute in seinem Wesen ist kein Person, wie die Christen ihren trinitarischen Glauben ausdrücken. Über die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen haben wir viel mit dem Hinduismus gemeinsam. Das Absolute sucht die Beziehung mit den Menschen, in dem es eine begrenzte und zeitliche Form aufnimmt. Auch wenn diese Erscheinungsform nicht mit der christlichen Inkarnation vergelichbar ist, ist das Gefühl des Menschen vor dem Allmächtigen sehr ähnlich wie in Christentum. Die Reinheit und Liebe Gottes im vergleich mit der Niedrigkeit des Menschen in Sünde ist auch in hinduistische Spiritualität ein wichtiges Thema. Das ist der Grund für Gebet, Riten und Feiern. Die grossen mystischen Richtungen in Hinduismus sind die gleichen wie im Christentum : die Wege der Reinigung führen zum Weg der Vereinigung mit dem héchsten Göttlichen. Ein dritter Bereich, in dem der Hinduismus und das Christentum viel gemeinsam haben, bezeichnet die Traditionen der Entsagung. Je mehr sich ein Wesen Gott nähert, desto weniger ist er an die weltlichen und materiellen Werte gebunden. Die grossen Traditionen des christlichen Mönchstums haben eine grosse Ähnlichkeit mit denen des Hinduismus, die noch weitaus älter sind als die christlichen monastischen Bemühungen. Der Hinduismus setzt so grossen Akzent auf das Göttliche das er oft zur Vernachlässigung, so gar Verachtung des Materiellen et des Meschlichen. Das gab es auch in manchen christlichen Traditionen, aber die christen glauben an einem Gott der Mensch geworden ist, bis zum Tod am Kreuz, eine Perspektive, die für den Hinduismus schwer zu verstehen und zu akzeptieren ist. Trotzdem kann die christliche Sicht den relativen Wert der Materie und der Geschichte, den der Hinduismus stark betonnt, wahnehmen und annehmen. Ein letzter Punkt, in dem sich das Christentum und der Hinduismus ähneln, ist der der grössten und wichtigsten Gaben: die des Friedens, der Liebe, des wahren Heils, als wahre Geschenke von Gott oder dem Göttlichen. Nur wenn sich der Mensch diesen Dimensionen öffnet, wird er die Gaben erhalten. Seine Bemühungen, auch wenn sie gross und kräftig sind, sind nutzlos ohne die Göttliche Intervention. Unsere Beziehung Wie kann man nun also von einer Beziehung mit dieser hohen mystischen Religion sprechen, die auf gewisse Art und Weise die historischen und menschlichen Tatsachen bis zu dem Punkt hin relativiert, an dem sie belanglos werden? Eine Beziehung aktiver Toleranz Kontemplation dessen, was wahr und gut ist Diese Religion hat die Menschen während Jahrhunderten unterstützt und sie besitzt eine hohe Konzeption von Gott, die man nicht in einer anthropomorphen Sprache auszudrücken sucht. Gott wird als zentrales Mysterium der Existenz und der Existenz des Einzelnen gesehen. Eine derartige Sichtweise birgt natürlich ein Korrektiv der Perspektiven der Geschichte gegenüber und gegenüber historischen Tatsachen, welche durch den Tod ausgelöscht werden. Aus einer derartigen Perspektive heraus sind die Dogmen nichts weiter als Wegweiser. Es ist wichtig, das Ziel zu erreichen und nicht darüber zu diskutieren, welchen Weg man nun dafür nimmt. Die Religionen, wie der Hinduismus sie sieht, sind nicht als Begriffe zur Diskussion und Bewertung gemacht. Ihre Wirksamkeit erkennt man schlicht am Sinn, den sie für das Leben bringen. Eine Beziehung aktiven Zeugnisses christlicher Werte Der Hinduismus schätzt die unterschiedlichen und wahrhaftigen Zeugnisse. Die Christen werden für ihr Engagement gegen das Leid der Menschen anerkannt. Das christliche Zeugnis, dass der Mensch Abbild Gottes ist und daher das grundlegende Recht der Gleichheit und Würde hat, dies ist wichtig zu betonen: „Und das Wort ist Fleisch geworden Und hat unter uns gewohnt Und wir haben seine Herrlichkeit gesehen.“ (Joh 1,14) Das Dharma Die kosmische Ordnung zeigt in seiner Auswirkung die Herrlichkeit Gottes und hat einen intrinsischen Wert. Es führt zu Gott. Eine Beziehung zur Erschaffung einer ausgeglichenen Ökologie Es geht darum, die Potentiale beider Religionen zusammenzulegen. Der Mensch ist Herr über die Schöpfung, nicht im Sinne eines Tyrannen, der durch Unterwerfung und Zerstörung der Natur von ihr profitiert, um seinen Durst zu stillen, sondern als Gärtner, der zum Wohle aller kultiviert und produziert. Er ist der Priester, der das Natürliche und Menschliche mit dem Göttlichen verbindet. Eine Beziehung der Hilfe untereinander In eine konkretere Richtung als eine Hilfe für die Hindus auf der Suche nach religiösen Werten innerhalb westlicher Moderne. Wenn die im Westen lebenden Hindus weiter in ihren althergebrachten Traditionen verbunden bleiben, lässt sich über ihre hier im Westen geborenen und aufgewachsenen Kinder nicht so dasselbe sagen. Die Eltern fühlen sich oft in ihrem Unvermögen, die Tradition mit der Moderne zu verbinden, verloren. Das Christentum hat bereits einige Schritte in diesem Sinne gemacht und kann vielleicht Wege zeigen, um eine richtige und gerechte Beurteilung der Moderne anzubieten.