C Christian von Weizsäcker

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C Christian von Weizsäcker
Beitrag zur Festschrift Lambsdorff
Oktober 2006
Freudloser Sozialstaat –Freudloses Wachstum: Glauben wir noch an den Fortschritt?
"Limits to Growth", "No-Growth", "Small is Beautiful", "The Greening Of America" waren
wirkungsmächtige Parolen der siebziger Jahre. Sie feuerten eine Jugend an, eine Grüne
Bewegung zu gründen, die dann in den achtziger und neunziger Jahren zunehmend Einfluss
auf die praktische Politik gewann. In dem Maße allerdings, in dem diese grüne Bewegung
Regierungsverantwortung
übernehmen
konnte,
wandelte
sich
ihre
Rhetorik.
Das
wirtschaftliche Wachstum wurde nicht mehr ausschließlich und immer weniger als
Krebsgeschwür der kapitalistischen Wirtschaftsform und immer mehr als notwendige
Voraussetzung zur Durchsetzung konkreter Projekte einer ökologischen und sozialen Politik
gesehen. Heute müssen Grüne Parteien, die Regierungsverantwortung haben, zum
wirtschaftlichen Wettergott der Konjunktur beten, dass er für die nächste Wahl gutes Wetter,
sprich wirtschaftliches Wachstum bringe. Aus einer "No-Growth"- Partei ist eine Partei
geworden, die dem wirtschaftlichen Wachstum im Kern positiv gegenübersteht.
Wenn wir uns fragen, weshalb dieser Sinneswandel, dann ist es vor allem die Erkenntnis, dass
ohne wirtschaftliches Wachstum der Sozialstaat heutigen Zuschnitts nicht zu finanzieren ist.
Dieser ist ein Kind der Epoche starken wirtschaftlichen Wachstums im vergangen Jahrhundert
und ist in seinen institutionellen Strukturen auf wirtschaftliches Wachstum angelegt. Es ist ja
bemerkenswert, wie viel rascher das "Sozialbudget" in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist
als das Sozialprodukt.
Der Hauptgrund dafür, dass die Stabilität des Sozialstaats auf das wirtschaftliche Wachstum
angewiesen ist, ist die durchgängige Dynamisierung der Leistungen. Indem Altersrente,
Sozialhilfe, Arbeitslosenversicherung, an das jeweilige Lohnniveau angepasst werden,
entsteht eine Abgabenbelastung, die mit dem Sozialprodukt mitwächst. Kommen nun
Strukturveränderungen hinzu, wie zum Beispiel die steigende Lebenserwartung, dann ergibt
sich die Perspektive eines jeweils steigenden Anteils der Sozialleistungen am Sozialprodukt.
Diese Perspektive ist quasi "nicht mehrheitsfähig". Sie kann dann immer nur dadurch
verändert werden, dass man sich von einem wachsenden Sozialprodukt für die jeweils
nächsten Jahre eine Entlastung erhofft, da die Einnahmen der öffentlichen Hand inklusive der
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Sozialversicherungen sehr sensitiv auf wirtschaftliches Wachstum reagieren. So bleibt es für
die mittelfristige Finanzplanung immer unabweisbar, in ihren Planzahlen wirtschaftliches
Wachstum zu unterstellen. Andernfalls sähen die Zahlen zu schrecklich aus, um konsensfähig
zu werden.
Die Dynamisierung der Sozialleistungen, etwa die Dynamisierung der Armutsgrenze, ist
Ausdruck eines Denkens, das Wohlfahrt oder auch menschenwürdige Existenz definiert im
Vergleich zum gesellschaftlichen Umfeld. Wenn ein gleichberechtigter Zugang zu den
Leistungen des Gesundheitssystems ("keine Zwei-Klassen-Medizin"!) gefordert wird, dann
wird ein Mensch, was die gesundheitsbezogenen Komponenten seines Lebensstandards
betrifft,
"ärmer",
sofern
sich
der
Abstand
seiner
Gesundheitschancen
zu
den
durchschnittlichen Gesundheitschancen zu seinen Ungunsten verändert, selbst wenn seine
Gesundheitschancen und seine Lebenserwartung im Zeitverlauf steigen. Wenn sich die
Armutsgrenze in irgendeiner Form an einem Durchschnittseinkommen derjenigen orientiert,
die nicht unter die Armutsgrenze fallen, dann kann die Wirtschaft so schnell wachsen wie sie
will: derjenige, dessen Einkommen nicht mitwächst, sondern stagniert, mag zuerst ein gutes
Einkommen bezogen haben, auf die Dauer fällt er unter die Armutsgrenze. Der materielle
Lebensstandard des heutigen "Armen" liegt bekanntlich weitaus höher als der eines
Studienrats im Jahre 1955. Dennoch ist jener "zu bedauern", während dieser sich ein solches
"Bedauern"
verbeten
hätte.
Wohlfahrt wird in dieser Philosophie definiert aus dem Vergleich mit den anderen
zeitgleichen Mitbürgern, nicht aus dem Vergleich mit der Vergangenheit.
Nun entspricht es aber genau dieser Philosophie, dass Wachstum letztlich zur Wohlfahrt gar
nichts beiträgt. Denn wenn die Wohlfahrt des Einzelnen sich nur aus dem Vergleich mit den
anderen definiert, dann ist ein gleichmäßiges Wachstum des Einkommens aller Bürger um
den gleichen Prozentsatz kein Zuwachs an Wohlfahrt.
Dies nenne ich das Wachstumsparadoxon: wir sind in der modernen Demokratie im Kern
genau deshalb auf wirtschaftliches Wachstum angewiesen, weil dieses Wachstum gar keinen
wohlfahrtssteigernden Effekt hat.
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Dieser vorherrschenden Ideologie ist die grüne Bewegung in starkem Maße verfallen. Ihre
Zugehörigkeit zum Lager der Linken macht dies deutlich. Denn es ist gerade die
sozialdemokratische Tradition, die in der erfolgreichen Dynamisierung der Sozialleistungen
gipfelt, und die von dieser wohl nicht aufgegeben werden will.
Auch die Kirchen, deren Weltsicht doch im Geistigen wurzelt, halten zäh an dieser Sicht des
materiellen Lebensstandards fest. Es ist interessant, den inneren Widerspruch der christlichen
Ethik oder Moraltheologie aufzuzeigen, der diesem Wachstumsparadox entspricht. Es gibt in
einem sehr bekannten Lied, "Die güldne Sonne" von Paul Gerhard die zwei schönen
Strophen:
"Lass mich mit Freuden
ohn alles Neiden
sehen den Segen
den du wirst legen
in meines Bruders und Nähesten Haus
Geiziges Brennen
Unchristliches Rennen
Nach Gut mit Sünde
Das tilge geschwinde
Von meinem Herzen und wirf es hinaus"
Wie für unsere Zeit geschrieben scheinen mir die Zeilen: "Geiziges Brennen – unchristliches
Rennen". Hier also aus der Tiefe der Zeit – nach dem Erleben des Dreißigjährigen Kriegs –
eine christliche No Growth Theologie. Der christliche oder allgemein religiöse Gedanke der
Askese findet sich hier gedichtet und wird bis heute in vielen Gottesdiensten gesungen.
Wem aber die mönchische Askese als Lebensform verwehrt ist, dem wird, um Gott nahe zu
sein, die Nächstenliebe, die Hilfe, auch gerade die materielle Hilfe empfohlen. Wir alle
kennen die dichterische Form, die dieser Rat in Hofmannsthals "Jedermann" gefunden hat.
Es mag nicht zuletzt die protestantische Wende in der Entwicklung der Neuzeit gewesen sein,
die den Gedanken der Nächstenhilfe mit dem der Effizienz verbunden hat. Die katholische
Kirche ist ihm dann ebenfalls gefolgt. Damit aber wurde aus einer Individualethik der tätigen
Hilfe eine Sozialethik, die in der Verwirklichung des Sozialstaates gipfelte, den heute die
Kirchen mit christlich- theologischen Argumenten verteidigen, dessen weiteren Ausbau sie
auch heute noch fordern. Sieht man aber den Sozialstaat als die "Vergesellschaftung" der
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einstmals individuellen christlichen Pflicht zur Hilfe für die Armen und Schwachen, dann
muss man sich nur daran erinnern, dass die tätige Hilfe natürlich auch nach der
Individualethik bis heute mit dem wachsenden Wohlstand Schritt halten muss. Die Nähe zu
Gott würde verloren gehen, wenn die Leistung für die Bedürftigen bei wachsendem
Wohlstand stagnierte. Sie muss um des Seelenheils des Gebenden willen mit dessen
Wohlstand mitwachsen. Rockefeller hat einen konstanten Anteil seines wachsenden
Einkommens seiner Kirche und den Armen zukommen lassen.
Nun
aber
entsteht
mit
der
Vergesellschaftung
dieses
Gebens
ein
zusätzlicher
Gerechtigkeitsaspekt. Die Gabe muss gerecht vereilt werden, nicht willkürlich. Aus diesem
Gerechtigkeitsempfinden aber entsteht der Anspruch auf einen gerechten Anteil an der Gabe.
Wenn aber das Volumen der Gabe steigt, weil der Wohlstand der Gebenden steigt, steigt
somit der Anspruch der Beschenkten. Ihr Anspruch wächst mit dem Wohlstand des Landes
mit. Von hier ist es dann ein kleiner Schritt, zu sagen, dass die Bedürftigkeit mit dem
Wohlstand mitwächst. So hält die Armutsgrenze mit dem Wohlstand Schritt.
Aus der Pflicht des Reichen zum Teilen um seiner eigenen Nähe zu Gott willen ist durch die
Vergesellschaftung ein Recht des Ärmeren geworden, seinen gerechten Anteil an dem zu
erhalten, was umverteilt werden soll. Die christliche Ambivalenz und Distanz zum Reichtum
sind erhalten geblieben. Aber aus der christlichen Ablehnung des Neids ist durch die
Verrechtlichung und Vergesellschaftung des Gebens und Empfangens ein Zustand
gewachsen, in dem der Neid das konstitutive Prinzip darstellt: Armut definiert sich nicht mehr
aus der Nähe zum Tod, sondern aus dem Vergleich mit dem Mitbürger. Ich bin nicht erst dann
arm, wenn ich nicht genug zu essen habe, sondern schon dann, wenn es anderen wesentlich
besser geht als mir. Wachstum des Wohlstands ist aus der Sicht christlicher Weltüberwindung
sinnlos. Das ist geblieben. Aber daraus folgt nicht mehr der Verzicht, die Askese; sondern die
Forderung nach einer proportional mit dem Wohlstand mitwachsenden Versorgung mit
materiellen Gütern.
Ich bin kein Theologe; aber ich frage mich, ob man in der christlichen Sozialethik schon
darüber nachgedacht hat, wie es kommen konnte, dass man ein System verteidigt, welches
den so ganz und gar unchristlichen Charakterzug des Neides zum Eckpfeiler genommen hat.
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Die Folge dieser Entwicklung ist, wie gesagt, paradoxerweise der Zwang zum Wachstum, ist
das "unchristliche Rennen", das "geizige Brennen". Ohne diesen Charakter unserer Zeit wäre
der Sozialstaat schon zahlungsunfähig geworden.
Diesem Grundwiderspruch im vorherrschenden Denken, im "politisch korrekten" Denken ist
aber natürlich nicht nur das rot-grüne Programm verfallen, sondern auch die "Postmoderne",
in der der Gedanke des Fortschritts letztlich verächtlich gemacht, abgelehnt wird – im
Übrigen mit guten Argumenten, solange man im Namen der sozialen Gerechtigkeit an dem
Wohlfahrtskriterium des Vergleichs mit den Mitbürgern festhält.
Aus dem Widerspruch findet man im liberalen Denken, so altväterisch es klingen mag, eben
dadurch heraus, dass Wohlfahrt und Wohlstand gemessen werden am Vergleich zwischen
Vergangenheit und Gegenwart. Nur, wer an dem Begriff des Fortschritts festhält, den wir aus
dem Zeitalter der Aufklärung ererbt haben, befreit sich von dem Zwang zu einem ungeliebten
wirtschaftlichen Wachstum. Nur, wer im Namen des real existierenden Fortschritts, etwa des
Lebensstandards, die Rücknahme der Dynamisierung der Sozialleistungen propagiert, erlöst
sich von dem Wachstumszwang – und kann sich andererseits an dem Wachstum, wenn es
denn ohne Zwang doch eintritt, im Namen des Fortschritts auch wieder freuen.
Nur in einer Gesellschaft ohne das konstitutive Prinzip des Neides ist es psychisch und
ökonomisch für den Einzelnen möglich, auf Wachstum seines materiellen Wohlstands
zugunsten anderer Güter zu verzichten, von dem "geizigen Brennen", dem "unchristlichen
Rennen" Abstand zu nehmen – und dennoch in humaner Weise teilzuhaben an einer
Gesellschaft, in der andere sich dem materiellen Wachstum, der Steigerung ihres Wohlstands
widmen.
In einer solchen – liberalen - Gesellschaft muss natürlich die Umverteilung von Reich zu Arm
nicht aufhören. Es ist durchaus mit dem Gedanken des Fortschritts kompatibel, wenn wir
gemäß der Gerechtigkeitstheorie von Rawls das größte Wohl des Schlechtestgestellten zur
Zielschnur einer neuen Sozial- und Steuerpolitik machen. Aber dem größten Wohl des
Schlechtestgestellten steht eine Sozialpolitik bisheriger Art gerade entgegen. Die neue
Unterschichtdebatte zeigt dies. Der Sozialstaat heutiger Prägung generiert eine Schicht, die
den Antrieb verliert, sich mit eigener Leistung um eine Verbesserung der eigenen Lage zu
bemühen und damit der Gemeinschaft nicht mehr zur Last zu fallen. Es ist dies ein
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entfremdetes Dasein der gesellschaftlichen Isolation. Es ähnelt dem Dasein des Süchtigen, der
trotz der Unzufriedenheit mit seinem Zustand aus diesem nicht herauskommt. Unser
moderner Sozialstaat, unser überregulierter Arbeitsmarkt (reguliert angeblich zum “Schutze
des Schwächeren“) baut die Hürden auf, die zu der Einsperrung und Aussperrung dieser
Schicht der lebenslangen Sozialhilfeempfänger führt.
Auch eine liberale Gesellschaft muss Einrichtungen und Menschen haben, die andere
Menschen führen. Mündig ist, wer dieser Führung nicht bedarf, wer zu seinem eigenen Wohl
autonome Entscheidungen fällen kann. Mündig ist, wer der Gesellschaft nicht zur Last fällt,
sondern im Austausch der arbeitsteiligen Leistungen der Gesellschaft dieser von Nutzen ist.
Wer der Gesellschaft zur Last fällt, ist unmündig. Er muss von anderen Menschen geführt
werden, aus diesem Zustand heraus geführt werden. Der Anspruch des Einzelnen auf Leistung
der Gemeinschaft in der Not kann kein einseitiger Anspruch bleiben. Ihm steht gleichwertig
gegenüber der Anspruch der Gesellschaft, ihn aus diesem Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu
führen.
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