BILDUNG UND RELIGIÖSER PLURALISMUS Meine Damen und Herren, in meinem Beitrag möchte ich mich mit bestimmten Auffassungen russischer und slowenischer Denker befassen, die meines Erachtens ein interessantes Licht auf das inzwischen drängende Problem des Dialogs zwischen den Kulturen und Religionen werfen. Religiöses Prinzip „Der Anfang allen Mystizismus ist die Vorstellung vom Ich jenseits der Grenzen des Individuums, genauso wie die, dass Wunder der Ausgangspunkt der Philosophie sind. Ekstase ist der Beginn einer jeden religiösen Existenz; sie ist das Alpha und Omega des Zustands der Religiosität.“ (Wjatscheslaw Iwanow, Die hellenische Religion des leidenden Gottes, 1905) „Glaube im strengen Wortsinne ist die Anerkennung der bedingungslosen Existenz eines anderen.“ (Solowjew, Kritik der abstrakten Prinzipien) Solowjew zeigt, dass die Grunddimension des Glaubens eine Beziehung bzw. eine zwischenmenschliche Beziehung ist, d. h. die Beziehung zwischen Mensch und Gott. In dieser Beziehung sind alle Beziehungen verankert, und aus ihr erwachsen alle Beziehungen. Die unterhaltene Beziehung ist Liebe. Der Mensch braucht Liebe, um seinen Blick von sich selbst abzuwenden und auf den anderen zu richten und um diesen anderen in seiner ganzen Objektivität zu erkennen. Solowjew verweist also auf den interessanten Zusammenhang zwischen einem religiösen Prinzip, d. h. Glaube, und der Liebe. DI\710373DE.doc Externe Übersetzung DE 1 DE Abkehr vom Wunsch nach ausschließlicher Selbstbehauptung „Der Mensch muss sein anderes Ich als seinen Kern finden. Durch Liebe und Glauben, der in der Liebe lebt und sie ergänzt, muss er seinem ‚Du bist‘ Geltung verschaffen.“ (Wjatscheslaw Iwanow, Dostojewski)1 „Die Falschheit und das Übel der Selbstsucht liegen eben gerade darin begründet, dass wir ausschließlich uns selbst den absoluten Wert zugestehen, den wir anderen verwehren. Die Vernunft zeigt uns, dass all das jeder Grundlage entbehrt und ungerecht ist; allein die Liebe schließt diese ungerechte Sichtweise aus und bringt uns dazu, den absoluten Wert anderer nicht nur in unserem abstrakten Bewusstsein, sondern auch in unseren Gefühlen und in unserem Willen zu leben anzuerkennen. (...) Nur eine Kraft ist in der Lage, Selbstsucht von innen heraus und vollständig zu verdrängen, und diese Kraft – die Liebe – verdrängt sich wirklich.“ (Wladimir Solowjew, Der Sinn der Liebe) In diesem Sinne heißt es zu Recht, dass ein gesundes religiöses Prinzip selbstsüchtige Zurückhaltung und ungesunde Hinwendung zu sich selbst heilt. Überdies zeigt dies, dass Kult, d. h. Anbetung, bewirkt, dass der Mensch die gesunde Offenheit, die Hinwendung zum anderen und die tiefe Erkennung des anderen entwickelt, die dazu führt, dass er sich eben gerade aufgrund seines lebhaften Dialogs mit anderen äußert. „Kult ist eine so fundamentale Anerkennung des Absoluten, dass der Mensch ihn in sichtbare Zeichen hüllt. Er ist etwas ‚Begründetes‘, d. h. eine umfassende Wahrnehmung durch den Verstand. 1 Sämtliche Zitate wurden aus dem Englischen übersetzt – Anm. des Übersetzers. DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 2 DE Kult ist der Ausdruck einer grundlegenden Wahrheit aus der Lebenswelt des Menschen, nämlich des Bedürfnisses nach Kommunikation.“ (Wladimir Truhlar, Leksikon duhovnosti). Kultur und Religion als Anknüpfungspunkte Bei Truhlar heißt es, dass die grundlegende, gründliche Anerkennung des Absoluten den Menschen zu bestimmten Gesten und Handlungen veranlasst, mit denen er seiner Anerkennung Ausdruck verleiht. Daraus entsteht dann die Kultur der Religion. Darin haben Dichtung, Riten, Musik usw. ihren Ursprung. „Kultur leitet sich – wie dessen etymologische Bedeutung offenbart - von Kult her.“ Pawel Florenski (Avtoreferat). Florenski führt anhand des etymologischen Zusammenhangs zwischen Kultur und Kult sogar den Nachweis, dass das religiöse Prinzip, das im Grunde eine Art von „Ekstase“ bedeutet, der Kern der Fähigkeit des Menschen ist, aus sich selbst herauszugehen und sich anderen zuzuwenden. Die Anerkennung des anderen, die Hinwendung zum anderen und der Wunsch nach Kommunikation - dies ist die Quelle der Kultur. Kultur als die Bedeutungen und Werte, die eine bestimmte Gruppe teilt und in der sie lebt und sich mitteilt, ist in der Tat der lebende Beweis für die menschliche Energie, die auf den anderen gerichtet wird. Wenn die wichtigste und fundamentalste Wahrheit im Menschen nicht die Liebe wäre, d. h. die Energie, die den Menschen öffnet, würde es keine Kultur geben. Es gäbe nichts außer selbstsüchtigem Schweigen, dem Schweigen der Sprachlosigkeit, und die Kultur bestünde nur in gegenseitigen Verdächtigungen und im Zweifel am anderen. Selbstbehauptung und die ausschließliche Inanspruchnahme des absoluten Wertes für die eigene Person würden bei der Menschheit eine Art allumfassender Feindseligkeit DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 3 DE erzeugen. Zudem sind Kultur und gesunde Religiosität an sich äußerst schlüssige Belege dafür, dass die Bedeutung des Menschen, wie Basilius der Große im 4. Jahrhundert schrieb, in seiner sozialen Dimension liegt. Nikolai Arsenjew stellt daher zu Recht fest, dass der „Sinn der Kultur in der Liebe liegt“ (Nikolai Arsenjew, O zhizni Preizbytochestvyushchey). Offenheit und Kommunikation als Merkmal lebendiger Kulturen und Religionen Wie lebendig eine Kultur ist, zeigt sich daran, dass sie stets diese völlige Hinwendung zur Erkennung des anderen, zur Offenheit gegenüber anderen in den Vordergrund stellt. Schöpferische Kraft ist in der Tat ein Merkmal einer gesunden Kultur. Es besteht, wie Wjatscheslaw Iwanow in seinen Studien aufzeigte, ein Zusammenhang zwischen Kreativität und lebendiger Erinnerung. Erinnerung ist die bewusste Wahrnehmung des Geschaffenen. Lebendige Erinnerung führt das Geschaffene mit dem tiefen Prinzip der Liebe zusammen, aus dem sie entsteht. Dort, wo sich die Erinnerung und zugleich auch der Fokus von Mensch und Kultur auf das beschränken, was er schafft und woran er hängt (um nicht zu sagen „in das er sich selbstsüchtig verliebt“), kann man zu Recht von einer Erstarrung der Kultur sprechen; in gewissem Sinne gilt dies übrigens auch für die Religion. Die derzeit in Europa ablaufenden Prozesse zeigen, wie sehr es darauf ankommt, das Augenmerk ganz gezielt auf all jene Tendenzen zu richten, die nationalen, ethnischen und kulturellen, aber auch konfessionellen Gruppen in Europa dabei helfen, stetig festere Kontakte zu schmieden. Man kann sagen, dass als europäische Nationen mit unserem kulturellen und religiösen Erbe wir uns unbedingt gegenseitig erkennen und ein gesamteuropäischen Kulturbewusstsein schaffen müssen. Ich würde sogar wagen zu behaupten, dass Europa zu einer kulturellen und geistigen Synthese finden muss, um wieder an Anziehungskraft auf der Weltbühne der Kulturen und Religionen zu gewinnen. Noch gibt es diese Synthese in Europa aber nicht. DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 4 DE Erziehung zum Dialog zwischen den Kulturen und Religionen in Europa Zwei Gefahren gilt es zu vermeiden, und zwar das Vorurteil und das abstrakte Studium von Kulturen und Religionen. Obwohl das Zeitalter der Moderne auf eine Fülle großartiger Errungenschaften verweisen kann, hat es keine wirksame Antwort auf die niederträchtigste Ideologie gegeben, die stärker ist als jede ernsthafte und kalte wissenschaftliche Methode. Ich spreche vom Vorurteil. Vorurteile gegenüber einer nationalen oder ethnischen Identität, d. h. einerseits von einem ethnozentrischen Standpunkt aus und andererseits einhergehend mit einem Überlegenheitskomplex oder mit Aggressivität wegen eines Unterlegenheitskomplexes; Vorurteile aufgrund historischer Ereignisse, die sich ins Gedächtnis eingebrannt haben und die auch zur Versteinerung des anderen führen und ihn daran hindern, sich zu verändern und weiterzuentwickeln; Vorurteile aufgrund der politischen Teilungen Europas, des Kalten Krieges; Komplexe wegen religiöser Überzeugungen - all das sind Komplexe, die sogar dann noch eine Wirkung entfalten, wenn der Glaube längst abhanden gekommen ist. Es mutet äußerst seltsam an, dass dies zu religiöser Intoleranz und massiven Vorurteilen selbst dort führt, wo es keinen Glauben gibt, ist aber eigentlich eine richtige Schlussfolgerung dort, wo der Glaube noch vorhanden ist, wie es bereits an anderer Stelle im Zusammenhang mit dem gesunden religiösen Prinzip hieß. Jetzt kommt es vor allem darauf an, konsequent so zu handeln, dass Vorurteile zwischen Ost und West überwunden werden. Wie können Vorurteile ausgeräumt werden? Die aus der Zeit der Aufklärung herrührende Überzeugung, dass gute Ideen dazu führen, dass auch der Mensch gut ist, reicht allein nicht aus. Es genügt nicht, dass der Mensch in gewisser Weise gezwungenermaßen Vorurteile ignoriert und sich dem Studium einer anderen Kultur oder Religion widmet. Es besteht die Möglichkeit, dass nach einer gewissen Zeit die Ergebnisse derartiger Studien erneut mit den Vorurteilen behaftet sind, die er die ganze Zeit in seinem Innern mit sich herumtrug, was zur Folge hat, dass er stärker an Vorurteilen festhält und DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 5 DE diese sich weiter verfestigen. Am gründlichsten können Vorurteile im Grunde durch Studium und gegenseitiges Kennenlernen überwunden werden, aber auf eine Art und Weise, die der Kultur und der Religion per se innewohnt. Wenn Kultur und Religion aus starker Energie und festem Streben nach einer Beziehung, nach Kontakten erwachsen, folgt daraus, dass das Studium von Kulturen und Religionen ebenfalls in das Geflecht aus Beziehungen und Kontakten eingebunden werden muss. Schon in Platons Dialogen finden wir grundlegende Weisheiten zu diesem Thema. Dort heißt es: „Ich weiß, dass Du mich nicht verstehst, denn wir haben nicht lange genug miteinander gelebt.“ Es mutet heute vielleicht befremdlich an, doch noch immer gilt, dass es auch der Liebe bedarf, um Kulturen und Religionen kennen zu lernen – der Liebe als anerkanntes Prinzip. Boris Wjatscheslaw behauptet zu Recht, dass eine solche Vertrautheit die Frucht der Liebe ist. Was das Erkennen des anderen anbelangt, so können wir uns nur den Worten von Solowjew anschließen, bei dem es heißt: „Wenn wir im Dienste der Liebe die Wahrheit anderer nicht theoretisch, sondern materiell anerkennen und das Zentrum unseres Lebens tatsächlich über die Grenze unserer empirischen Unverwechselbarkeit hinaustragen, geben wir unsere Wahrheit und unseren absoluten Wert zu erkennen und lassen sie zum Tragen kommen. Diese Wahrheit und dieser Wert beruhen aber gerade auf der Fähigkeit, die beschränkte Natur unserer manifesten Existenz zu überwinden, auf der Fähigkeit, nicht nur in uns selbst, sondern auch in anderen zu leben.“ (Wladimir Solowjew, Der Sinn der Liebe) Mitgefühl für andere Personen als das eigene Ich hat Vorrang Aus den bisherigen Ausführungen folgt, dass die Voraussetzungen für eine positive Vertrautheit mit Kulturen und Religionen sowie einen positiven kulturellen und religiösen Dialog geschaffen werden, wenn Bildungseinrichtungen und die Medien im Hinblick auf die Beziehungen DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 6 DE zwischen kulturellen Identitäten in Europa für ein günstiges Klima Sorge tragen. Sinnvollerweise sollte all den Programmen Vorrang eingeräumt werden, die es jungen Menschen ermöglichen, sich getragen von Sympathie zu begegnen und miteinander vertraut zu machen und auf diesem Wege in das kulturelle Erbe des jeweils anderen einbezogen zu werden. Meines Erachtens kommt es auch darauf an, dass in diesem Prozess der Herstellung von Verbindungen Extreme jeder Art, sei es nun Globalisierung oder Regionalisierung, die sich gegenseitig in Frage stellen und selbst befördern, vermieden werden. Dies kann durch Konzentration auf wesentliche Fragen anstelle von Details gelingen. Bei den beiden Extremen Regionalisierung und Globalisierung handelt es sich im Grunde um Prozesse, die durch Oberflächlichkeit und Beschränkung geprägt sind. Die entscheidende und grundlegende Hilfe besteht jedoch darin, einen Gesamtüberblick zu geben eine Gesamtvision. Die Herstellung von Beziehungen und die Erleichterung von Kontakten im Studienprozess rücken die Möglichkeit in greifbare Nähe, dass die Vertrautheit Eingang in das Leben findet; dies ist von fundamentaler Bedeutung für den Dialog zwischen den Kulturen und Religionen. Marko I. Rupnik DI\710373DE.doc Externe Übersetzung 7 DE