Nr. 7 Zur Rechtslehre vor und nach 1945 I. Die Funktion der Rechtslehre im Nationalsozialismus wird erkennbar, wenn man sich zuvor in einigen groben Umrissen die Rechtslehre der Weimarer Republik vergegenwärtigt. Unter den Bedingungen von Weimar standen sich, grob gesprochen, die Positionen der liberal-demokratischen und der autoritärkonservativen Rechtslehre gegenüber. Das Kräfteverhältnis zwischen diesen Positionen drückte sich in einem Übergewicht derjenigen Hochschullehrer aus, die die Weimarer Verfassung in Frage stellten. Besonders deutlich wurde dies in der Stellung zum Parlamentarismus und zu den politischen Freiheitsrechten. Für führende Staatsrechtslehrer besaß der verfassungsrechtlich institutionalisierte Parlamentarismus, der auch und gerade politischen Repräsentanten der unterprivilegierten Schichten legale Einflussmöglichkeiten zur Gestaltung und Umgestaltung der bürgerlichen Gesellschaft eröffnete, keine legitimatorische Kraft. 1923 veröffentlicht Carl Schmitt seine später vielfach rezipierte antiparlamentarische Schrift, die der Volksvertretung, dem Gestaltungszentrum der Republik, die verfassungstheoretische Legitimität abspricht, weil, ohne dass Schmitt das demokratische Gesetzgebungsverfahren empirisch in den Blick genommen hätte, die Prinzipien von Öffentlichkeit und Diskussion angesichts der Interessenzerklüftung durch die Parteien ihre konstitutive Bedeutung verloren hätten.1 Carl Schmitt verzichtet auf einen historischen Beweis. Er untersucht nicht, wie in der Weimarer Republik, etwa bei der Diskussion nach dem Mord an Rathenau im Jahre 1922, im Parlament tatsächlich diskutiert wurde. Wenn Schmitt sich die Mühe gemacht hätte, diese Diskussion über eine rechtlich angemessene Antwort auf den Mord zu studieren, hätte er festgestellt, dass in ihr Öffentlichkeit in vollem Maße existierte und auch das Ergebnis nicht von vornherein feststand. Es ergab sich aus der Diskussion, in der ein breites Spektrum von Positionen vertreten wurde.2 Die Schmittsche Analyse des 1 C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), 2. Aufl. Berlin 1926. 2 Vgl. J. Perels, Politik am Abgrund. Die Herausforderungen des Reichsjustizministers in den Krisenjahren 1922/23, in: Gustav Radbruch als Reichsjustizminister (1921-1923), hrsgg. von der 1 Weimarer Systems ist durch ein antiparlamentarisches Ressentiment überformt. Auch wenn er bestimmte Dinge analytisch zutreffend beschreibt, zum Beispiel, dass viele Entscheidungen nicht mehr im Parlament fallen, sondern, wie auch heute, in den Ausschüssen oder in Vereinbarungen zwischen den Parteien, kann daraus nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, dass Öffentlichkeit und Diskussion im Parlamentarismus keine Rolle mehr spielten. Die Infragestellung des Parlaments als wesentlicher Entscheidungsinstanz der Demokratie wird von dem damals wohl wichtigsten Verfassungsjuristen, von Heinrich Triepel, gezielt begründet: „Die Launen eines souveränen Volks“, heißt es, „sind kein Grund, der die Vornahme einer Enteignung als dem Volkswohl entsprechend erscheinen lassen könnte.“3 Nach Art. 153 WRV können Enteignungen vorgenommen werden, sogar, unter bestimmten Bedingungen, ohne Entschädigung. Wenn man die Kompetenz des Volks disqualifiziert, obwohl dessen Souveränität verfassungsrechtlich verbürgt ist, wird das Verfassungsrecht nicht ernst genommen. Weiter heißt es bei Triepel: „Die Enteignung ist nicht dazu da, um wirkliche oder vermeintliche Gefühle der Allgemeinheit, etwa einen in größeren Volkskreisen gehegten Wunsch nach Beseitigung bedeutender Vermögen, zu erfüllen.“4 Das ist eine vielfach anzutreffende Position, übrigens auch bei dem jungen Gerhard Leibholz, mit deren Hilfe das parlamentarische Bestimmungsrecht über die ökonomische Ordnung in Zweifel gezogen wird.5 Die Kritiker dieser interpretativen Aushöhlung der demokratisch legitimierten Gestaltungsmacht des Parlaments, vor allem Hans Kelsen und Hermann Heller,6 hatten im Kräftespiel der Staatsrechtslehrer eher eine Außenseiterposition. Die zweite Argumentationslinie, an der man feststellen kann, dass bestimmte zentrale Verbürgungen der Weimarer Verfassung in Frage gestellt werden, bezieht sich auf die politischen Freiheitsrechte. Ein Hinweis muss an dieser Stelle genügen. Carl Schmitt hält im November 1932 einen Vortrag vor der Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, Red. I. Mohr, Berlin 2004, S. 63 ff., 70 f.; s. in diesem Band S. XX. 3 H. Triepel, Goldbilanzverordnung und Vorzugsaktien, Berlin/ Leipzig 1924, S. 23. 4 Ebd. 5 G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz (1925), zweite, durch eine Reihe ergänzender Beiträge erweiterte Auflage, München/ Berlin 1959. 6 Vgl. H. Kelsen, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung, Diskussionsbeitrag, VVDStRL Heft 3, Berlin/ Leipzig 1927, S. 54; H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur, Tübingen 1929. 2 Schwerindustrie, vor dem Langnam-Verein. Er entwickelt ein Konzept, das den Prinzipien der Weimarer Verfassung in zwei wesentlichen Punkten widerspricht. Er tritt dafür ein, einen nicht mehr quantitativen, sondern einen qualitativ totalen Staat zu schaffen. Ein qualitativ totaler Staat bedeutet für Schmitt, dass sich die öffentliche Gewalt nicht in die private Ökonomie einzumischen hat, dass der Gedanke der Wirtschaftsdemokratie zu verabschieden ist. Auf der anderen Seite aber hat der Staat auf dem Felde der politischen Freiheitsrechte starke Einschränkungen vorzunehmen. Beispielsweise soll die Meinungsfreiheit durch ein Zensursystem begrenzt werden.7 Im Gegensatz zur Favorisierung eines autoritären Staates hielt der liberaldemokratische Flügel der Staatsrechtslehre, zu dem auch verfassungsjuristisch ausgewiesene sozialdemokratische Juristen wie Franz Neumann und Ernst Fraenkel gehörten, an der konstitutiven Bedeutung der politischen Freiheitsrechte fest. Ernst Fraenkel war zu jener Zeit Anwalt des Metallarbeiterverbands. Zusammen mit Franz Neumann hatte er eine Anwaltspraxis in Berlin. Ernst Fraenkel schrieb viele Aufsätze, insbesondere in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Die Gesellschaft“. In einem dieser Aufsätze macht er besonders deutlich, welches Gewicht die politischen Freiheitsrechte für die sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben. Fraenkel konstatiert: „Die Bedeutung der Freiheitsrechte besteht darin, dass Freiheiten generell gewährt werden. Die herrschende Klasse wird für ihre Angehörigen die Bewegungsfreiheit immer besitzen, deren sie bedarf. Dass auch die nicht-herrschende Klasse Freiheitsrechte als ihr eigen nennt, weil die Grundrechte von dem Gedanken der Freiheit durchtränkt sind, ist die Besonderheit in der klassengespaltenen Gesellschaft. Wenn die liberalen Freiheitsrechte als Gerümpel des 19. Jahrhunderts verhöhnt werden, darf die sozialistische Bewegung sich nicht darüber täuschen, dass die faschistischen Kräfte in Deutschland die liberalen Freiheitsrechte verhöhnen, um die Arbeiterschaft zu entwaffnen.“8 7 C. Schmitt, Gesunde Wirtschaft im starken Staat. Hauptvortrag auf der Mitgliederversammlung des Vereins zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland u. Westfalen vom 23. November 1932, nach dem Abdruck in: G. Brüggemeier, Entwicklung des Rechts im organisierten Kapitalismus, Bd. 2, Frankfurt/M. 1979, S. 92 ff. 8 E. Fraenkel, Abschied von Weimar? (1932), in: ders., Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931-1932, Berlin 1968, S. 57 ff., 69 f. 3 II. Welche Positionen der Staatsrechtslehre bleiben mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 erhalten und werden radikalisiert und welche Positionen verschwinden? Mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, die ihren Ausdruck in der Außerkraftsetzung der wesentlichen Freiheitsrechte mittels der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 und der Beseitigung der Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 fand, verändert sich die Funktion der Rechtslehre grundlegend. Die Gruppe derjenigen, die an den Prinzipien der Weimarer Verfassung, der Geltung der Freiheitsrechte und der Bestimmungsmacht des Parlaments festhielten, wurden fast ausnahmslos durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 aus dem Dienst entfernt. Hierzu gehörten republikanische und jüdische Hochschullehrer wie Gustav Radbruch, Hans Kelsen und Hermann Heller, die in den geistigen Auseinandersetzungen um die Geltung der demokratischen Rechtsordnung in der vordersten Linie standen. Sie verloren ihren wissenschaftlichen Wirkungsraum in Deutschland. Die Rechtslehre wurde diktatorisch homogenisiert.9 Die Rechtslehrer, die vielfach schon vor 1933 die rechtsstaatliche Demokratie durch einen autoritären Gegenentwurf in ihrem jeweiligen Rechtsgebiet in Frage gestellt und ihr Fähnchen nach dem neuen Wind kaum zu drehen brauchten, besaßen nun, trotz mancher Verschiedenheit in der Akzentsetzung, die Interpretationsherrschaft. Die neue politische Machtordnung wurde durch herrschaftstechnische juristische Konstruktionen legitimiert. Nachdem die Regierung Hitler – schnell –fest im Sattel saß, nahm die rechtlich-politische Ordnung eine Struktur an, die Ernst Fraenkel auf der Basis einer Auswertung der Entscheidungen der Gerichte des Dritten Reiches und der Ideologeme des Regimes mit dem Begriff des Doppelstaats belegt hat.10 Die Struktur der nationalsozialistischen Ordnung besteht darin, dass für den gesamten politischen Bereich die Garantiefunktionen der Rechtsnormen, von den Grundrechten über 9 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1914-1945, München 1999; E. Fraenkel, Der Doppelstaat (1941), Frankfurt/M. 1974, S. 135 ff. 10 Fraenkel (Fn. 9). 4 verwaltungsrechtliche Sicherungen bis zu dem das gesamte Normensystem prägenden Gleichheitssatz, außer Kraft gesetzt sind, um den politischen Zielen der nationalsozialistischen Diktatur zum Durchbruch verhelfen zu können. Die Aufhebung der Unverbrüchlichkeit des Rechts bezeichnet Fraenkel mit dem Begriff des Maßnahmenstaats, der die Beseitigung der Garantien der überkommenen Rechtsordnung durch den nationalsozialistischen Exekutivstaat zum Ausdruck bringen soll. Neben der – und das ist Fraenkels zweiter Gedanke – despotisch organisierten Funktionsweise des politischen Sektors bewahrt der NS-Staat im ökonomischen Bereich die Geltung rechtlicher Regeln. Auf diesen Bereich bezieht Fraenkel den Begriff des Normenstaates, aus dem allerdings die Juden und die Arbeiter in unterschiedlicher Weise ausgeschlossen werden. Die Funktion des Normenstaates besteht darin, die privatkapitalistische Ordnung, deren uneingeschränkte Fortexistenz Hitler ausdrücklich proklamiert hatte, rechtlich zu sichern. Alle zivilrechtlichen Normen unterliegen der Bestandsfestigkeit. Aus den Elementen des Maßnahmenstaats und des Normenstaats setzt sich das NS-System zusammen.11 Fraenkel hat diese Analyse in einer besonderen Situation entwickelt. Er war als Anwalt in Berlin tätig und hat sich mit Freunden in der Berliner Staatsbibliothek getroffen. Dort hat er mit ihnen über Themen, an denen er gerade arbeitete, diskutiert. Einer seiner Freunde war der Justitiar des Lutherischen Rats, Martin Gauger. Der Lutherische Rat war der Zusammenschluss der Lutherischen Kirchen nach der Spaltung der Bekennenden Kirche. Gauger, ein konservativ eingestellter Mann, hatte einen unbeugsamen Rechtssinn. Er hat sich geweigert, 1939 Kriegsdienst zu leisten, weil er es ablehnte, an einem rechtswidrigen Angriffskrieg teilzunehmen. Er ist dafür von den Nazis verfolgt und am Ende umgebracht worden.12 Mit Martin Gauger debattierte Fraenkel über die These vom Doppelstaat. In dieser Zeit erreicht es Gauger, mit dem wohl wichtigsten Juristen des Dritten Reiches, der den größten Einfluss im Rechtssystem hatte, 11 Ebd. M. Gauger, in: Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand 19331945, gesammelt von Annedore Leber, hrsgg. in Zusammenarbeit mit W. Brandt und K.D. Bracher, Berlin 1954, S. 108 ff. 12 5 nämlich mit Werner Best,13 ein Gespräch zu führen über Behinderungen der Lutherischen Kirchen. In dem Gespräch lässt er nebenbei die These vom Doppelstaat fallen. Best hört zu. Er war nicht unintelligent und hat sich sozusagen im Kopf seine Notizen gemacht. 1937 publiziert er in einer Reihe der Akademie für Deutsches Recht einen Aufsatz, in dem er die Doppelstaatsthese, die Verbindung von Willkürherrschaft und privatwirtschaftlicher Ordnung, im Gegensatz zu Fraenkel, affirmativ wendet.14 III. Im Vordergrund der Analyse von Fraenkel steht die juristische Konzeptionalisierung des Maßnahmenstaats, der die politischen Freiheitsrechte negiert – mit Folgen für das gesamte öffentliche Recht. Carl Schmitt, der führende Kopf der Rechtslehre, der als Hauptherausgeber der Deutschen Juristenzeitung fungierte, formulierte die neue Leitlinie mit den Worten, es gehe darum „den Vorrang der politischen Führung“15 ins Zentrum zu rücken. Die Rechtfertigung der Aufhebung der Rechtsschranken zugunsten der Machtdurchsetzung des autoritären Staatsapparates sichert insbesondere die Handlungsformen der Gestapo gegen so genannte Staatsfeinde und ihre Einweisung in die Konzentrationslager ab. Bei Ulrich Scheuner, zu jener Zeit Professor in Jena, heißt es übereinstimmend mit Hans Peter Ipsen und vielen anderen: „Für die Stellung der Gerichte im nationalsozialistischen Führerstaate ist grundlegend nicht mehr der Grundsatz der Gewaltenteilung, sondern der Gedanke der Einheit der Staatsführung … Es kann heute als die allgemeine Auffassung der Rechtslehre bezeichnet werden, dass Akte der politischen Führung und Handlungen staatspolitischer Natur unter dem Gedanken des Führergrundsatzes der rechtlichen Prüfung ihrer rechtlichen Voraussetzungen, ihres Umfangs nicht mehr zugänglich sein können.“16 Was Scheuner formuliert, ist dann auch Gesetz geworden. Sämtliche Akte der Gestapo sind 1936 der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle explizit entzogen 13 U. Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996. 14 Fraenkel (Fn. 9), S. 17 mwN. 15 C. Schmitt, Der Führer schützt das Recht (1934), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles (1940), 3. Aufl. Berlin 1994, S. 227 ff., 228. 16 U. Scheuner, Die Gerichte und die Prüfung politischer Staatshandlungen, RVerwBl. H. 21/1936, S. 437 ff., 438; zur Position von Ipsen s. Fraenkel (Fn. 9), S. 179. 6 worden.17 Für den Bereich der Polizei rechtfertigte Theodor Maunz die Freisetzung der nationalsozialistischen Exekutivstäbe von rechtlichen Schranken in folgender Weise: „Aus verständlichen Gründen wandte sich die neue Polizei nach der Machtergreifung gegen das Einfangen ihrer Tätigkeit in Normen, das unter dem Blickpunkt der geschichtlichen Ereignisse als liberal erscheinen musste und das die Durchschlagskraft des politischen Wirkens hemmen konnte. Das politische Wirken gründet auf dem Willen der im Rahmen der völkischen Ordnung handelnden Reichsregierung.“18 Mit Werner Best, der eben erwähnt wurde und dem eine Zeit lang die Aufsicht über die Konzentrationslager unterstand, konstatiert Maunz: „Solange die Polizei den Willen der Führung vollzieht, handelt sie rechtmäßig.“19 Damit wurde der Rechtsbegriff, der die systematische Anwendung der Folter entsprechend den Weisungen der Führung einschloss, pervertiert. Die Willkürakte der Gestapo, deren Opfer Oppositionelle, so genannte Fremdvölkische, Gruppen der Arbeiterbewegung, einzelne Christen, ernste Bibelforscher und viele andere waren, werden zu Rechtshandlungen travestiert. Mit der Bereitstellung der rechtstechnischen Instrumentarien für die Operationsfreiheit des Hitler-Regimes sind die bestimmenden Adepten der Rechtslehre mitverantwortlich für das Begehen der großen Verbrechen des nationalsozialistischen Staates. Die NS-„Euthanasie“, die Ausrottung der europäischen Juden, die massenweise Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener, die systematische Tötung der politischen Oppositionellen hatte die von den meisten Rechtslehrern legitimierte Nichtgeltung verfassungsrechtlicher, strafrechtlicher und völkerrechtlicher Schutzpositionen zur Voraussetzung. Auch das Strafrecht und das Kirchenrecht unterliegen den Regeln des Maßnahmenstaates. Die Durchsetzung der Aufhebung von Rechtsgarantien nimmt im Strafrecht eine besondere Form an. Ihre rechtsstaatliche Dogmatik, welche die 17 § 7 des Gesetzes über die Geheime Staatspolizei v. 10. Februar 1936. In § 7 des Gesetzes heißt es: „Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die Verwaltungsgerichte.“ 18 T. Maunz, Gestalt und Recht der Polizei, in: E.R. Huber (Hrsg.), Idee und Ordnung des Reiches, Bd. 2, Hamburg 1943, S. 8. 19 Ebd. S. 9. 7 Eingriffskompetenz des Staates begrenzt, wird in einem umfassenden Prozess aufgelöst. Das liberale Tatbestandsstrafrecht, das sich an der Sicherung objektiver Rechtsgüter orientierte und die Binnensphäre der Individuen prinzipiell staatlichem Zugriff entzog, wurde durch einen, wie Georg Dahm sich ausdrückte, „mutigen Verzicht auf tatbestandliche Begrenzung“20 unterminiert. Die neue Konstruktion entsprach einer schon vor 1933 entwickelten autoritären Umdeutung des Strafrechts, welche die Strafbarkeit eines Verhaltens an die so genannte rechtliche Gesinnung und nicht mehr an die Verletzung objektiver Rechtsgüter gebunden hatte.21 Friedrich Schaffstein, der die Aufklärung, in der das liberalrechtsstaatliche Denken entstanden ist, als „Gift“22 denunzierte, konnte seine in der Endphase der Weimarer Republik entwickelte Konzeption mit Hilfe des neuen Regimes in weitem Maße realisieren. Programmatisch erklärte Schaffstein: „Für uns ist der Sinn der Strafe und des Strafrechts nicht mehr der Schutz von Individualgütersphären, sondern Reinigung und zugleich Schutz der Volksgemeinschaft durch die Ausscheidung der Entarteten. So liegt nichts näher, als dem Ausdruck einer entarteten Gesinnung unmittelbare Unrechtsbedeutung zuzumessen.“23 Was diese methodische Negation der liberalen Strafrechtsdogmatik bedeutete, zeigt die Auslegung des Hochverratstatbestands, die die umfassende Bekämpfung der Widerstandsgruppen der Arbeiterbewegung durch die Justiz bestimmte. Im führenden Strafrechtskommentar von Kohlrausch und Lange von 1941 wird der Anknüpfungspunkt für die Vorbereitung des Hochverrats, der durch die Planung eines gewaltsamen Umsturzes definiert ist, auf eine positive Staatsgesinnung ausgeweitet, die mit einem gewaltsamen Angriff auf den Staatsapparat nichts zu tun hat, nun aber pönalisierbar wird. In dem Kommentar heißt es: „Sympathiekundgebungen für staatsfeindliche Organisationen fallen, soweit sie kommunistischen und anderen staatsfeindlichen Bestrebungen Vorschub leisten, objektiv regelmäßig unter § 83 Vorbereitung zum Hochverrat.“24 Die Verfolgung der illegalen Gruppen der Arbeiterbewegung, der Kommunisten, der Sozialdemokraten und kleinerer Gruppen wird wesentlich durch diesen, durch die 20 K. Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, Berlin 1975, S. 125 mwN. Vgl. G. Radbruch, Autoritäres oder soziales Strafrecht? (1933), in: ders., Der Mensch im Recht, 2. Aufl. Göttingen 1961, S. 63 ff. 22 Marxen (Fn. 20), S. 180 Anm. 71 mwN. 23 Ebd. S. 189 mwN. 24 E. Kohlrausch/ R. Lange, Deutsche Reichsgesetze. Kommentare, Berlin 1941, S. 42. 21 8 Justiz neu interpretierten Tatbestand gerechtfertigt.25 Das Verteilen von Flugblättern, die gesamte illegale Arbeit galt als Vorbereitung zum Hochverrat und entsprechend wurden die politischen Gegner verurteilt. Auch bekannte Juristen, die nach 1945 eine erhebliche Rolle spielten, zum Beispiel der Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Richard Schmid, oder Wolfgang Abendroth, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Marburg und Mitglied der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer, sind im Dritten Reich als Widerstandskämpfer wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden.26 Auch im Kirchenrecht werden liberale Rechtspositionen zugunsten einer staatlichen Verfügung über den kirchlichen Bereich zur Disposition gestellt. Für die Bekennende Kirche, die das Eindringen der nationalsozialistischen Ideologie in die kirchliche Sphäre abzuwehren suchte, und, wie es in der Barmer Theologischen Erklärung hieß, die „falsche Lehre verwarf, dass die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung noch andere Ereignisse und Mächte als Gottes Offenbarung“27 anerkenne, bildete die in der Weimarer Verfassung festgelegte Trennung von Staat und Kirche die Leitschnur. Gegen diese Position zielt die maßgebende Gesamtdarstellung des öffentlichen Rechts des Dritten Reiches von Ernst Rudolf Huber. Auch im kirchlichen Bereich gilt das Primat der Diktatur. Huber schreibt: „Das Reich, wenn es Maßnahmen zur Sicherung der Kirche trifft, handelt nicht als bloßer Bewahrer einer äußeren Ordnung und Ruhe, sondern hier kommt es auf die innere Einigkeit und wahren Frieden in der Kirche an. Es trifft seine Maßnahmen nicht als Inhaber der Polizeigewalt, sondern als Treuhänder der Kirche.“28 Indem der Staat sich zum Treuhänder der Kirche aufwirft, geht sie ihrer Selbständigkeit verlustig. Dies ist die Funktion der so genannten Kirchenausschüsse, die von der NS-Regierung seit 1935 eingesetzt werden. Gegen diese Verstaatlichung der Kirche, durch die innerkirchliche Aufgaben – 25 R. Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945, Frankfurt/M. 1990, S. 133 ff.; W. Abendroth, Vorbereitung zum Hochverrat? (1955), in: J. Perels (Hrsg.), Wolfgang Abendroth, Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt/M. 1975, S. 83 ff. 26 J. Perels, Ein Jurist mit Rückgrat. Richard Schmid zum 85. Geburtstag, Vorgänge H. 3/1984, S. 5 ff.; W. Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und herausgegeben von B. Dietrich und J. Perels, Frankfurt/M. 1976, S. 171 ff. 27 Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Evangelischen Kirche (1934), in: J. Beckmann (Hrsg.), Kirchliches Jahrbuch 1933-1944, Gütersloh 1948, S. 64 ff., 64. 28 E.R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. Hamburg 1939, S. 509. 9 wie die Besetzung von Pfarrstellen – staatlich legitimierten Kirchenleuten29 übertragen werden, bezogen Vertreter der Bekennenden Kirche, allen voran Martin Niemöller, auf der Synode von 1936 in Bad Oeynhausen, aber auch in Gutachten theologisch und juristisch entschieden Stellung.30 Friedrich Justus Perels, Justitiar der Bekennenden Kirche, schrieb in einem Gutachten: „Kirchliche Organe, Bekenntnissynoden, Bruderräte und Landeskirchenregierungen sind vor der Verkündigung der neuen staatlichen Bestimmungen nicht gefragt worden. Die Ausschüsse sind staatlicher Herkunft. Sie tragen in Aufbau und Verfassung ein staatliches Gepräge. Eine kirchliche Legitimierung besitzen sie nicht.“31 Über dieser Frage brach die Bekennende Kirche auseinander. Der lutherische Teil der Bekennenden Kirche war bereit, in den Kirchenausschüssen mitzuwirken. Die Bekennende Kirche im engeren Sinne – ihr Schwerpunkt lag in Preußen –, trennte sich von den durch die Anlehnung an die Diktatur intakten Landeskirchen und ging einen eigenen, regimekritischeren Weg, der insbesondere durch die rechtsstaatlich begründete Verwerfung des Systems der Konzentrationslager und der deutlichen Kritik an der Vorbereitung des Krieges im Jahre 1938 bestimmt war.32 IV. Der Maßnahmenstaat bestimmt nicht nur die innenpolitische Ordnung. Er wurde in den völkerrechtlichen Doktrinen des Regimes, die Ende der 30iger Jahre noch vor Kriegsbeginn entwickelt wurden, zum Organisationsprinzip der nationalsozialistischen Außenpolitik. Viele Autoren sind an der Entwicklung dieser Doktrinen beteiligt. Der scharfsinnigste ist wiederum Carl Schmitt. Er erklärt, dass der Völkerbund, der auf die Geltung völkerrechtlicher Regeln auf der Basis der Gleichberechtigung der Staaten gegründet war, in vollem Gegensatz zur neuen nationalsozialistischen Lehre steht, denn der Völkerbund habe es nicht verstanden, die Rangordnung von Staaten auch rechtlich zu fassen. Dies richtet sich gegen das Kernprinzip des geltenden Völkerrechts, das die Souveränitäten 29 Beckmann, Kirchliches Jahrbuch (Fn. 27), S. 102 ff. Ebd. S. 117 ff., 109 ff., 107 ff, 101 ff., 105 ff. 31 F.J. Perels, Zur rechtlichen Lage in der DEK (1936), Schreibmaschinenfassung, S. 4. 32 Erklärung der Vorläufigen Leitung an den Führer und Reichskanzler vom Frühjahr 1936, in: Beckmann, Kirchliches Jahrbuch (Fn. 27), S. 130 ff., 134; Gebetsliturgie vom 30. September 1938, ebd. S. 263 ff. 30 10 der Staaten in keiner Weise rechtlich hierarchisiert. Dem setzt Carl Schmitt die Lehre von der Herrschaft des Großraums entgegen, durch die die Souveränität der Staaten relativiert, ja tendenziell aufgehoben wird. Deutschland wurde die entscheidende Großraumposition in Europa zugeschrieben. Für die Rechtfertigung der Großraumlehre, eine Konzeption für ein imperialistisch denaturiertes Völkerrecht, bezieht sich Schmitt ausdrücklich auf Adolf Hitler, der 1939 als Reichskanzler in einer Rede erklärt hatte, dass die Monroe-Doktrin der USA, die für den südamerikanischen Kontinent galt und Einflusspositionen über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus gewährte, auf Europa zu übertragen sei. Das hatte weitreichende Folgen für die Niederreißung des überkommenen Völkerrechts.33 Die Umwandlung des Völkerrechts in ein politisches, von den bisherigen rechtlichen Schranken freies Instrument Nazi-Deutschlands hatte barbarische Wirkungen. Vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion, aber auch in der Besatzungspolitik in Griechenland und Italien, wurde die Vernichtung der geschmähten universellen Garantien, etwa der Haager Landkriegsordnung von 1907, zum Inhalt der verbrecherischen Regierungspraxis gegenüber dem militärischen Gegner und der Zivilbevölkerung, zu der auch die Millionen unter dem Schirm der Wehrmacht ermordeten Juden in Osteuropa gehörten.34 Der legitimatorische Kampf gegen das tradierte Völkerrecht räumte der Regierung Hitler den Weg für unermessliche Untaten frei. V. Auch der Normenstaat galt nicht absolut, sondern unterliegt klar bestimmten Begrenzungen. Der Normenstaat hat Gültigkeit für die nichtjüdischen Wirtschaftsbürger. Für sie galt das Zivilrecht, das BGB, das Handelsgesetzbuch, die Grundbuchordnung etc. Dies lässt sich in den rechtswissenschaftlichen Zeitschriften in einer Fülle von Entscheidungen und Aufsätzen nachlesen. 33 C. Schmitt, Neutralität und Neutralisierungen (1939), in: ders., Positionen und Begriffe (Fn. 15), S. 309 ff.; ders., Der Reichsbegriff im Völkerrecht (1939), ebd. S. 344 ff.; ders., Der Großraum gegen Universalismus (1939), S. 335 ff. 34 R. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden (1961), 3 Bde., Frankfurt/M. 1990; H. Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid, Berlin 1997; H. Krausnick, Hitlers Einsatzgruppen, Frankfurt/M. 1985; G. Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien, München 1996; Von Lidice bis Kalavrita. Widerstand und Besatzungsterror, in: L. Drousila/ H. Fleischer (Hrsg.), Studien zur Repressalienpraxis im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1999. 11 Insoweit war der Unterschied zu der Zeit vor 1933 gering. Aber der Normenstaat hat insoweit eine strukturelle innere Schranke, als die Kompetenz-Kompetenz nicht bei ihm, sondern beim Maßnahmenstaat liegt, der das Letztentscheidungsrecht über die jeweils eingesetzten Herrschaftsformen besitzt.35 Der für eine berechenbare Rechtsordnung konstitutive Gleichheitssatz wird für die Durchsetzung zentraler politischer Ziele des Regimes, der Bekämpfung der Juden und der Zerstörung der Arbeiterbewegung, außer Kraft gesetzt. Die Juden verlieren ihre zivilrechtliche und staatsrechtliche Gleichstellung mit den deutschen Staatsbürgern und die Arbeiterschaft ihre rechtlich verbürgte Organisationsfreiheit, zu der wechselseitig bindende Vertragsbeziehungen mit den Unternehmern gehören. Die Diskriminierung der Juden wird von Ulrich Scheuner, übereinstimmend mit der herrschenden Rechtslehre in einem Aufsatz von 1939, ein Jahr nach der vom Hitler-Regime organisierten Pogromnacht, durch eine judenfeindliche Verkehrung des Gleichheitssatzes legitimiert. Scheuner schreibt: „Aus der rassischen Substanz der völkischen Gleichheit ergibt sich … die grundlegende, wesensmäßige Unterscheidung des Artgleichen und des Artfremden“; als „artfremde Elemente“ erfahren die Juden eine differentielle Behandlung.“36 Das Ziel einer völligen Ausgliederung der Juden aus der deutschen Rechtsordnung wurde durch eine Fülle von diskriminierenden Einzelregelungen verfolgt, die Ernst Rudolf Huber in seiner Darstellung „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ in lehrbuchhafter Vollständigkeit aufführt. Huber konkretisiert das antisemitische Konzept des Staates mit herrschaftstechnischer Perfektion: „Juden und jüdische Mischlinge können nicht Beamte werden. Sie werden nicht als Rechtsanwalt, Patentanwalt, Verwaltungsrat, Notar oder Schriftleiter zugelassen. Sie erhalten nicht die Bestallung als Arzt oder Tierarzt. Sie werden nicht zur Kassenpraxis zugelassen. Sie erhalten die Erlaubnis zur Ausübung der Krankenpflege und zur Tätigkeit des Heilpraktikers nicht.“ 35 Fraenkel (Fn. 9), S. 88. U. Scheuner, Der Gleichheitsgedanke in der völkischen Verfassungsordnung, ZStW, Bd. 99/1939, S. 245 ff., 273, 267. 36 12 Und weiter: „Die Wiederherstellung der vom 8. bis 10. November beschädigten jüdischen Gewerbebetriebe und Wohnungen wurde den Inhabern auferlegt.“37 Den inneren Kern der juristisch vermittelten Struktur der NS-Herrschaft hat Otto Kirchheimer schon 1941 auf den Begriff gebracht: „Das ökonomisch atomisierte Individuum wird zum bloßen Objekt der Herrschaft von monopolistischen Gruppen und Staatsmaschinerie. Gleichzeitig verliert die Legalität ihre Funktion als Waffe zum Schutz des Individuums. Sie wird völlig bedeutungslos und löst sich in technische Rationalität auf. Letzteres ist nunmehr das Strukturprinzip der Rechtsinstitutionen, des Gesetzesapparats und das Anwendungsinstrument der Richterschaft. Das System der technischen Rationalität als Basis von Recht und Rechtspraxis hat jedwedes System zur Erhaltung individueller Rechte verdrängt und Recht und Rechtspraxis zum Instrument erbarmungsloser Herrschaft und Unterdrückung im Interesse derer werden lassen, die an den wichtigsten Hebeln wirtschaftlicher und politischer Macht sitzen.“38 VI. Die wichtigste Frage der Rechtslehre nach dem Ende des Hitler-Regimes lautete: Was ist mit dem Staat des Dritten Reiches durch die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 geschehen? Die Antwort ist nach Kriegsende eindeutig. Am 6. Juni 1945 wird von den Alliierten, die die Regierungsgewalt übernommen haben, eine ausführliche Erklärung über die Ausübung der obersten Autorität, der supreme authority, abgegeben, die die gesamte, zuvor bestehende deutsche Staatsgewalt in die Hände der Sieger über Nazi-Deutschland legt: Die Regierungsentscheidungen des Kontrollrats, seine Normierungen und die von ihm konstituierten Gerichte bilden die neue Staatsgewalt in Deutschland.39 Die Frage der Kontinuität oder Diskontinuität des Staates des Nationalsozialismus war entschieden. Derjenige, der die Frage seinerzeit maßgebend thematisiert hat, ist der aus dem Dritten Reich emigrierte, in Amerika lehrende Staatsrechtler und Rechtsphilosoph Hans Kelsen, der wohl bedeutendste Antipode von Carl Schmitt. 37 Huber (Fn. 28), S. 182 ff. O. Kirchheimer, Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus (1941), KJ H. 4/1970, 356 ff., 370. 39 Keesings Archiv der Gegenwart (1945), 257. 38 13 Er schreibt 1944 und 1945 zwei Aufsätze in amerikanischen Zeitschriften und interpretiert insbesondere jene alliierte Festlegung vom Juni 1945 über die Übernahme der supreme authority in Deutschland. Kelsen argumentiert: Der deutsche Staat, der am 8. Mai 1945 kapituliert hat, ist untergegangen, weil die Staatsgewalt nun in den Händen des Kondominiums der Alliierten liegt. So gibt es nun einen von den Alliierten dominierten Zwischenstaat, der später wieder ein deutscher Staat werden soll. Das ist rechtlich und politisch so gewollt. Die staatliche Diskontinuität ist auch mit der administrativen Praxis der Alliierten – wie der Aufhebung von NS-Normen und der Strafsanktionen gegen die Funktionsträger des alten Regimes – verbunden. Das Ziel ist, jede institutionelle Form der Verknüpfung des neuen deutschen Staates und des Staates des Dritten Reiches auszuschließen. Damit ist erst die Vorraussetzung dafür gegeben, dass ein neuer demokratischer Staat überhaupt entstehen kann. Diese Sichtweise war im Jahre 1945/46 in der Völkerrechtslehre der Alliierten und im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess communis opinio.40 Die strukturelle Diskontinuität zwischen dem Nazi-Regime und der neuen politischen Ordnung nach 1945 ist aber in einem längeren Prozess, vor allem von Staatsrechtlern, die das Hitler-Regime auf unterschiedliche Weise legitimatorisch mit getragen hatten, zurückgedrängt und ins Gegenteil verkehrt worden. Seit 1947 gab es eine Gegeninterpretationsoffensive von Erich Kaufmann, Rolf Stödter und Wilhelm Grewe. Sie formierten die Antithese zur Diskontinuitätslehre, die 1950 von Ulrich Scheuner in einem zentralen Aufsatz zusammengefasst und pointiert wurde. Das wesentliche Argument lautete: Der deutsche Staat ist nicht untergegangen. Er war nur kurzzeitig, also etwa eineinhalb Jahre, handlungsunfähig. Daher existiert er weiter.41 Diese These ist in der Staatsrechtslehre die absolut herrschende Meinung geworden, wie dies auf der Staatsrechtslehrertagung von 1954 besonders deutlich wird. Auch wenn in der Debatte auf dieser Tagung die Kontinuitätsthese noch einmal kritisch, etwa von Willibald Apelt und Wolfgang Abendroth, diskutiert wird, ändert dies nichts an 40 H. Kelsen, The International Legal Status of Germany to be established immediatly upon Termination of the War, American Journal of Law, Bd. 38 (1945), S. 689 ff.; ders., The Legal Status of Germany According to the Declaration of Berlin, ebd. Bd. 39 (1945), S. 518 ff.; R. Stödter, Deutschlands Rechtslage, Hamburg 1948, S. 36 ff., 52 Anm. 42. 41 Stödter (Fn. 40); W. Grewe, Ein Besatzungsstatut für Deutschland, Stuttgart 1948; E. Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung, Stuttgart 1948; U. Scheuner, Die staatsrechtliche Kontinuität in Deutschland, DÖV H. 10/1950, 481 ff., 484. 14 der allgemeinen Durchsetzung der Kontinuitätsthese, die sich parallel zur Rekonstituierung des Staats- und Justizapparates der NS-Diktatur in den Westzonen und später in der Bundesrepublik entwickelt.42 In der Politik der Regierung Adenauer findet sie Gesamtdeutschland, der auf der durch den Identität Allvertretungsanspruch von Deutschem für Reich und Bundesrepublik beruhe, ihren Niederschlag. Die politisch-soziologische Problemstellung, die hinter diesem Interpretationsstreit steht, hat Scheuner in dem erwähnten Aufsatz klar zum Ausdruck gebracht. Wenn der deutsche Staat nicht untergegangen ist und nur handlungsunfähig war, dann haben auch die Träger des Staatsapparats einen Wiedereinstellungsanspruch, während die Diskontinuitätsthese einen solchen Wiedereinstellungsanspruch ausschloss.43 Sie war mit einer Politik der – weitgehenden – Wiederherstellung des Staatsapparats der untergegangenen Diktatur unvereinbar. Dazu eine Seitenbemerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Frage der Fortexistenz des Dritten Reiches zwar keine Entscheidung gefällt, aber doch zu der umstrittenen Frage Stellung genommen und zwar in den berühmten Beamtenentscheidungen 1953 und von 1957. Das Bundesverfassungsgericht hatte in den Entscheidungen ähnlich wie Kelsen die These vertreten: Die Beamten waren integraler Bestandteil des Herrschaftsapparats des Nationalsozialismus. Daher endete ihre staatliche Stellung am 8. Mai 1945. Sie haben keine Wiedereinstellungsansprüche. In diesem Urteil gibt es einen längeren Abschnitt über die Frage, ob der deutsche Staat 1945 untergegangen ist. Dabei wird auf die Kelsensche Argumentation verwiesen, freilich mit der Bemerkung, dass zu ihr nicht Stellung genommen werden muss. Der Sache nach aber hat das Bundesverfassungsgericht, in dem Gegner des Hitler-Regimes ein starkes Gewicht hatten, die Diskontinuitätsthese im Blick auf die beamteten Träger des 42 Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL H. 13/1955, S. 59 ff. (Abendroth), S. 64 ff. (Nawiasky); zur Durchsetzung der Kontinuitätsthese s. J. Perels, Die Restauration der Rechtslehre, in: ders., Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, Frankfurt/M. 1999, S. 71 ff., 82 ff.; J. Perels, Die Übernahme der Beamtenschaft des Hitler-Regimes, in: ders., Entsorgung der NSHerrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004, S. 137 ff.; H. Rottleuthner, Krähenjustiz, in: D.W. de Mildt (Hrsg.), Staatsverbrechen vor Gericht, Amsterdam 2003, S. 259 ff. 43 Scheuner (Fn. 40), S. 484. 15 Hitler-Regimes vertreten. Dafür ist das Gericht von den meisten Staatsrechtslehrern – bis auf die, die sich der NS-Diktatur verweigert hatten – heftig angegriffen worden.44 VII. Ein Ausschnitt aus dieser gesamten Problematik besteht in der Frage, ob das Recht, das im Dritten Reich geschaffen wurde, für die Bundesrepublik unter den Bedingungen einer demokratisch-liberalen Verfassung grundsätzlich weiter Gültigkeit besitzt. Das ist eine Fragestellung, die erst relevant wird, wenn man erkennt, dass die Diskontinuitätsthese, der rechtliche Bruch zwischen der Diktatur und der Demokratie auf der Ebene des Staatsapparats, bald die Mehrheitsfähigkeit verlor und die Kontinuitätsthese sich durchsetzte. In der Justiz sind erhebliche Teile der nationalsozialistischen Rechtsordnung und Rechtspraxis als weiter verbindlich qualifiziert worden. Ihre Geltung wurde ins System der Bundesrepublik verlängert. An der Übernahme des Bezugsrahmens der Diktatur-Justiz gegen Widerstandskämpfer und an der Weiterverwendung von judenfeindlichen Normen und entsprechenden Auslegungsmaximen lässt sich dies ablesen. Das maßgebliche Verfahren der bundesdeutschen Justiz richtete sich gegen den Ankläger und den Richter, die Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris und andere führende Widerstandskämpfer im Konzentrationslager Flossenbürg am 9. April 1945 zu Tode gebracht hatten. Das seit 1951 durch mehrere Instanzen gehende Verfahren endet 1956 mit der rechtskräftigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der begrifflich nicht mehr zwischen einer Despotie und einer rechtsstaatlichen Ordnung unterschied. Der Ankläger, Walter Huppenkothen, wird zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, aber nur deswegen, weil er nicht die Urteilsbestätigung, etwa von Hitler, eingeholt hat. Hätte er sie – worüber gar kein Zweifel besteht – erhalten, wäre auch er freigesprochen worden. Die Logik des 44 BVerfGE 3, 58 ff.; 6, 132 ff.; M. Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität? Die Stellung der Jurisprudenz nach 1945 zum Dritten Reich, Berlin 1972; J. Feest, Die Bundesrichter. Herkunft, Karriere und Auswahl der juristischen Elite, in: W. Zapf (Hrsg.), Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, Tübingen 1965, S. 104 f.; zur Kritik an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts s. insbes. E. Forsthoff, Das Bundesverfassungsgericht und das Berufsbeamtentum, DVBl H. 1/1954, 69 ff. 16 nationalsozialistischen Rechts wurde selbst noch in der Verurteilung des Anklägers übernommen. Der der SS angehörende Vorsitzende Richter, Dr. Thorbeck, der im KZ Flossenbürg das Verfahren zu verantworten hatte und der den KZ-Kommandanten von Flossenbürg als Beisitzer verwendete, ist freigesprochen worden. Die Begründung lautete, dass auch „dem nationalsozialistischen Staate das Recht auf Selbstbehauptung nicht von vornherein abgesprochen“ werden kann. Der Gültigkeit des despotischen, nationalsozialistischen Rechts wurde unter den Bedingungen des Grundgesetzes die Rechtmäßigkeit zuerkannt, als gäbe es die Grundrechtsnormen – wie das Recht auf Leben (Art. 2 GG), das den Widerstandskämpfern genommen wurde – nicht.45 Parallel zur Neulegitimation von Repressionsnormen der NS-Diktatur behalten die judenfeindlichen Gesetze in der Justiz in nicht geringem Maße ihre Gültigkeit. Zwar verurteilen die Gerichte diejenigen, die über das Blutschutzgesetz hinausgegangen sind und eine künstliche Zusatznorm herangezogen haben, um einen Juden zu Tode zu bringen. Gleichzeitig werden die Normen des Blutschutzgesetzes als gültiger Maßstab der Beurteilung richterlicher Tätigkeit im Dritten Reich zugrunde gelegt. Geprüft wird allein, ob das judenfeindliche Gesetz richtig angewandt worden ist. So heißt es in der entsprechenden Entscheidung, dass für die verbotene Beziehung zwischen einem Deutschen und einem Juden zwar nicht die Todesstrafe, wohl aber eine Zuchthausstrafe hätte verhängt werden können. Zur Begründung wird – nota bene – der Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen von Wilhelm Stuckardt und Hans Globke von 1936 herangezogen.46 Obgleich alle Gerichte nach dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 3 GG) in ihren Entscheidungen an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden sind, wurde das nationalsozialistische Recht, das sich gegen die Grundrechte, insbesondere gegen den Gleichheitssatz, richtete, weiterhin angewandt –als sei das Rückwirkungsverbot eine Garantie für die Unangreifbarkeit des NS45 BGH 1956, in: C.F. Rüter (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen, Bd. VIII, Amsterdam 1975, S. 345 ff., 352; s. hierzu G. Spendel, Die „Standgerichtsverfahren“ gegen Admiral Canaris u.a. in der Nachkriegsrechtsprechung, in: ders., Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, Berlin 1984, S. 89 ff.; J. Perels, Die schrittweise Rechtfertigung der NS-Justiz. Der Huppenkothenprozess, in: ders., Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“ (Fn. 42), S. 181 ff. 46 J. Perels, Antisemitismus in der Rechtsprechung, in: ders., Entsorgung der NS-Herrschaft? (Fn. 42), S. 183 ff., 186 f. mwN. 17 Willkürsystems, das doch von der Bonner Verfassung negiert wurde. Die Justiz hätte, wenn sie sich am Grundgesetz orientiert hätte, beispielsweise nachweisen können, dass die Verurteilung von Bonhoeffer und anderen Widerstandskämpfern durch die SS-Justiz und die Diskriminierungen der Juden durch die Blutschutzjudikatur im Gegensatz zur Verbürgung der Meinungsfreiheit und den Diskriminierungsverboten stand. Dass dies nicht geschah, hängt damit zusammen, dass die Schlüsselkategorie für den Umgang mit dem NS-System ihre Wirksamkeit weitgehend verlor. Gustav Radbruchs Begriff des gesetzlichen Unrechts, der das Rechtssystem des Dritten Reiches auf den Begriff brachte,47 wich der Umdeutung des nationalsozialistischen Rechts in ein allgemein gültiges, auch für einen Rechtsstaat verbindliches Recht.48 Dies war um so eher möglich, als damit die einstigen Richter der NS-Diktatur, die ganz überwiegend zu Trägern der Justiz der Bundesrepublik wurden,49 ihre frühere Tätigkeit in der Justiz der Diktatur indirekt legitimieren, ja als rechtlich geboten ausgeben konnten. Die Relegalisierung von Teilen des nationalsozialistischen Rechts durch die Justiz ist nach langen Jahren durch eine Entscheidung des Deutschen Bundestages definitiv aufgehoben worden. Das Parlament beschließt 1998 einstimmig, dass die Unrechtsurteile aus der Zeit des Nationalsozialismus aufgehoben werden.50 Auf diese Weise wurde auch das Urteil gegen meinen Vater, Friedrich Justus Perels, der vom Volksgerichtshof wegen der Beteiligung an der Verschwörung des 20. Juli 1944 am 2. Februar 1945 zum Tode verurteilt wurde, von der Berliner Staatsanwaltschaft 1999 aufgehoben.51 Die Entlegitimierung nationalsozialistischen Terrorrechts kam für viele Überlebende zu spät. Sie ist gleichwohl ein wichtiges Zeichen für die bereits mit dem Grundgesetz von 1949 normierte Absage an die Gültigkeit des NS-Rechts. 47 G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: ders., Der Mensch im Recht (Fn. 21), S. 111 ff. 48 J. Perels, Die Umdeutung der NS-Diktatur in einen Rechtsstaat, Leviathan H. 2/2007, 230 ff. 49 Ebd. 243 f. mwN. 50 BGBl. I 1998, 2501. 51 Perels (Fn. 48), 246 f. 18