Predigt Seßlach April 2013 Dr. Manfred Böhm , Leiter der Betriebsseelsorge im Erzbistum Bamberg Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, im letzten Jahr hatten die Brüder Grimm ein Jubiläum. Vor 200 Jahren wurden ihre Hausmärchen zum ersten Mal veröffentlicht. Und jede und jeder von uns kennt aus diesem Buch wohl das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Vier Gefährten machen sich auf den Weg, um als Musiker in Bremen Beschäftigung und neuen Lebenssinn zu finden. Sie landen letzten Endes in einem Räuberhaus, nisten sich dort ein und lassen es sich gut gehen. Sie sind glücklich miteinander und haben damit erreicht, was sie wollten: ein erfülltes Leben. Das ist erstaunlich, denn immerhin haben sie ihr ursprünglich angepeiltes Ziel ja verfehlt. Weder sind sie nach Bremen gekommen, noch konnten sie sich als Musiker dort entfalten. An ihrem ursprünglichen Ziel gemessen sind sie sogar schmählich gescheitert. Märchen sind nicht nur harmlose Kindergeschichten, sondern offenbaren uns eine oft tiefer liegende Wahrheit. Wer von den Älteren unter uns kann schon sagen, dass sich sein Leben genauso entwickelt hat, wie er sich das in jungen Jahren vorgestellt und erträumt hat? Wer hat in diesem Sinn sein Ziel hundertprozentig erreicht? Aber wer würde deswegen gleich sagen, er sei gescheitert? Natürlich werden wir vielleicht mit Wehmut mancher verpassten Chance nachträumen, aber unser gesunder Menschenverstand bewahrt uns in der Regel davor, uns in nostalgischen Träumereien zu verlieren. Das, was und so, wie wir geworden sind, haben wir vielleicht nicht immer so 2 angestrebt, aber es hält doch Chancen, Glück und Zufriedenheit für uns bereit, die für uns im Vorhinein gar nicht absehbar und planbar gewesen sind. Auf jedem Lebensweg gibt es Weggabelungen und wir müssen uns für einen Weg entscheiden. Und anfangs sind wir uns bisweilen nicht sicher, ob das auch das Richtige für uns ist. Oft wissen wir das erst im Nachhinein. Und es gibt Wegbegleiter, Menschen oder auch Ereignisse, die uns prägen und in eine bestimmte Richtung lenken. Seit inzwischen 15 Jahren bin ich als Betriebsseelsorger in unserem Erzbistum tätig. Ich habe das nicht angestrebt. Ja, es war all die Jahre vorher noch nicht mal auf meinem Schirm, wie man so sagt. Es ist mir zugefallen und heute weiß ich, dass es genau das Richtige ist für mich. Wenn ich sage, es sei mir zugefallen, heißt das also, dass sich mein Leben rein „zufällig“ so entwickelt hat, oder gibt es nicht doch eine gewisse Folgerichtigkeit, die sich aus meinen Begegnungen und Interessen ergeben hat und die man -als gläubiger Mensch- als von Gott gelenkt bezeichnen darf? Drei solcher Aspekte möchte ich ein wenig näher betrachten: Zum ersten sind da persönliche Vorbilder, in meinem Fall kirchliche Hauptamtliche, denen ich begegnet bin und die in ihrem Reden und Handeln für mich glaubwürdig waren. Nicht dass sie allzu aufdringlich und ständig von ihrem Glauben geredet hätten, ich vermute, das hätte mich eher abgeschreckt. Nein, ihre 3 Überzeugung trat eher zwischen den Zeilen und oft indirekt zu Tage. Gerade das hat sie für mich glaub-würdig gemacht. Erst später in meinem Theologiestudium habe ich dann die Erklärung dazu gefunden. Im jüdischen Talmud gibt es einen Satz, der das, was ich da erlebt habe, auf den Punkt bringt. Dort heißt es: „Rede nie ungefragt von Gott, aber lebe so, dass man dich fragt!“ Ein einfacher Satz, der aber eine große Herausforderung für jeden darstellt, dem der Glaube im Leben wichtig geworden ist. Zum zweiten habe ich im Studium eine Theologie kennengelernt, die sich auch im gesellschaftlichen Leben öffentlich einmischt und die mich sofort in ihren Bann gezogen hat. Einen Glauben und eine Theologie, die die Menschen eben nicht auf ein schönes Jenseits vertrösten, sondern die die Welt aus christlicher Verantwortung heraus mit gestalten wollen. Denn auch Jesus selbst hat sich in seiner Zeit eingemischt. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass er mit 33 gewaltsam am Kreuz und nicht mit 83 friedlich in seinem Bett gestorben ist. Er war nicht nur der Friedliche, der Nächstenliebe und Versöhnung gepredigt hat, er war auch der Sperrige und Kantige, der sich -denken wir an die sog. Tempelreinigung- mit den Mächtigen seiner Zeit angelegt hat. Die soziale Gerechtigkeit ist auch ein Thema unseres christlichen Glaubens. „Christsein heißt politisch sein“ nennt dementsprechend der Münchner Kardinal Reinhard Marx sein Buch über den Sozialbischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler. Und die gesamte Katholische Soziallehre des 19., 20. und 21. Jahrhunderts ist Ausdruck eines solchen, Gesellschaft gestaltenden Glaubens. Und gerade in der heutigen Zeit, in der die soziale Kluft in unserem Land, aber auch weltweit wächst, muss aus gläubiger 4 Verantwortung daran erinnert werden, dass die Wirtschaft dazu da ist, die Lebensgrundlagen für alle Menschen zu sichern und nicht, um die oberen Zehntausend noch mehr zu bereichern. Zum dritten habe ich eine vielfältige Kirche erlebt, die, ganz beseelt vom Geist des 2. Vatikanischen Konzils, den Dialog mit allen möglichen Gruppen geführt hat und in der alle möglichen Überzeugungen -von konservativ bis alternativ- eine Heimat gefunden haben. Die kirchliche Vielfalt ist Ausdruck der Glaubensvielfalt. Natürlich, die Bibel als Glaubensgrundlage ist für alle gleich. Aber es kommt ja darauf an, die biblischen Wahrheiten mit unserem konkreten Leben in Beziehung zu setzen. Und da das Leben von jeder und jedem von uns individuell geprägt ist, ist es auch der entsprechende Glaube. So glaubt jeder von uns anders an die gleiche Botschaft Jesu, weil jeder aus seiner Lebenserfahrung heraus andere Fragen an den Glauben hat und andere Antworten sucht und braucht. Das Entscheidende dabei ist, dass wir dem anderen seinen Glauben nicht absprechen und den eigenen Glaubensausdruck als den einzig möglichen und richtigen hinstellen. Das ist die Gefahr des Fundamentalismus, eines Glaubens also, der sich absolut setzt und nicht mehr in Beziehung treten will mit anderen. Als Betriebseelsorger komme ich in der Arbeitswelt viel rum und hab viel mit Menschen zu tun, die entweder nichts mehr mit Glaube und Kirche zu tun haben oder nur noch sehr lose Anknüpfung daran haben. Aber dennoch gibt es dort große Erwartungen an die Kirche: Die Kirche soll die gesellschaftliche Wirklichkeit in unserem Land und auf der Welt sozialethisch reflektieren und kritisch begleiten, 5 soll Unrecht Unrecht nennen und die Vision einer gerechteren Gesellschaft hochhalten. Sie soll auftreten als Anwalt der Armen und Schwachen. Gerade in Zeiten der Finanzkrisen und den von ihnen produzierten Opfern bei uns und weltweit ist das eine wichtige Aufgabe. Und sie soll die Menschen in der Arbeitswelt vor Ort, am Arbeitsplatz sozusagen, begleiten. Die Betriebsseelsorge versucht diese Erwartungen aufzugreifen und Kirche in der Arbeitswelt erlebbar zu machen. Die katholische Soziallehre ist ein ausgezeichnetes Werkzeug, für die Menschen in der Arbeitswelt einzutreten und vor allem auch für die, die davon ausgeschlossen sind: Die Erwerbsarbeitslosen. Sie begleitet die Menschen in der Arbeitswelt gerade auch in schwierigen Situationen wie Betriebsschließungen, Mobbing oder beruflicher Überbeanspruchung. Nicht selten muss sie ähnlich den alttestamentlichen Propheten auftreten und Zustände anprangern, die im Namen einer christlichen Sozialethik unhaltbar sind. Das Entscheidende dabei ist immer, deutlich zu machen: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Die Wirtschaft ist für den Menschen da, nicht der Mensch für die Wirtschaft. Liebe Schwestern und Brüder im Glauben, egal, welche Wege wir gehen, welchen Abzweigungen wir schließlich folgen, welche Berge wir vielleicht dabei überqueren müssen und welche Durststrecken wir zu überwinden haben, wichtig ist, dass es unser Weg ist, dass wir uns dabei uns selber näher kommen und dem was in uns steckt. Und uns allen, besonders aber den jungen Menschen, die noch 6 viele offene Wege vor sich haben, wünsche ich dabei, was ich als hilfreich erfahren durfte: Dass wir den Glauben nicht als Belastung und Einschränkung, sondern als Lebenshilfe und –orientierung erfahren, als etwas Motivierendes, Stärkendes und Heilendes. Dass wir Menschen begegnen, die uns auf die richtige Spur setzen, auch wenn wir das im Augenblick vielleicht noch nicht so überreißen können. Dass wir die Kirche als Heimat erfahren, als Ort an dem wir absolut erwünscht und gewollt sind, so wie wir nun mal sind. Vielleicht werden manche, gerade die Älteren, einwenden, dass vieles oder das Meiste im Leben doch schon gelaufen ist, dass sich das Meiste doch schon so oder so entschieden hat. Da ist doch keine Richtungsänderung mehr möglich, oder? Ein letzter Blick ins Märchen kann uns da noch mal behilflich sein. Die Vier, die sich da auf den Weg machen, der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn, sind keine Jugendlichen mehr, sondern fühlen sich alt und verbraucht. Und gerade von denen wird erzählt, dass sie sich von einer Idee, einer Vision für einen Neuanfang leiten lassen. Umorientierung, Umkehr und Neuanfang sind demnach durchaus keine Privilegien der Jugend. Für Umkehr ist es nie zu spät, das ist die einhellige Botschaft des Evangeliums.